Fremdsprachen Lehren und Lernen
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Narr Verlag Tübingen
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Gnutzmann Küster SchrammLiteratur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts
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2010
Herbert Christ
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* Korrespondenzadresse: Prof. em. Dr. Herbert C HRIST , Im Heidkamp 2, 40489 D ÜSSELDORF E-Mail: herbert.ingeborg.christ@t-online.de Arbeitsbereiche: Geschichte der Fremdsprachendidaktik und des Fremdsprachenunterrichts, Didaktik der Mehrsprachigkeit und der Mehrkulturalität. 39 (2010) H ERBERT C HRIST * Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts Abstract. In the course of the 19 th century, French teaching was implemented in schools. Only those teachers who received a specific university education and passed the academic examinations were employed. Depending on the teachers’ university education, the quality and function of teaching literature altered. The so-called “language masters” (maîtres de langue) of preceding centuries made use of literature in order to teach languages. However, the philologists belonging to the new generation intended to achieve further aims by teaching literature. How those aims were developed is shown by giving examples of didactic theory, by the choice of authors as well as texts, and by methods of teaching literature. 1. Der sozialhistorische Rahmen Im 19. Jahrhundert wurden moderne Fremdsprachen in den Fächerkanon der Gymnasien und der Realanstalten aufgenommen. Damit kündigt sich ein folgenreicher Bruch in der Entwicklung der Lehre der modernen Sprachen an, gehörten sie doch bis dahin - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - zum Bereich der privaten Unterweisung. Nun wurden sie zu „Fächern“, die staatlich reguliert, beaufsichtigt und auf ihre Ergebnisse überprüft wurden. Nunmehr wird der Fremdsprachenunterricht von der öffentlichen Hand alimentiert: die Lehrer werden regelmäßig besoldet, von den Schülern werden für diesen Unterricht keine besonderen Beiträge erwartet (wie etwa für den Musik- oder den Tanzunterricht). Die Zahl der „höheren“ Schulen nimmt zu, sie werden von einer größeren Zahl von Schülern frequentiert. Die Lehrer müssen eine besondere Ausbildung nachweisen und Eignungsprüfungen bestehen (z. B. das examen pro facultate docendi). Dass die Vorbereitung für das höhere Lehramt in Deutschland den ausdrücklich nicht für die berufliche Ausbildung vorgesehenen Philosophischen Fakultäten anvertraut wurde, hatte weitreichende Folgen. In diesem Beitrag wird die Rolle untersucht, die die „schöne Literatur“ im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts spielte und wie und in welcher Absicht und zu welchem Zweck sie in den schulischen Lehrgang integriert wurde. Literatur spielte beim Lehren und Lernen fremder Sprachen zwar immer schon eine Rolle. Die maîtres wie auch vor allem die demoiselles hatten sie ihren Schülerinnen und Schülern im privaten Unterricht keineswegs vorenthalten. Hier soll nun dargestellt werden, wie sich in dieser Traditionslinie der schulische Literaturunterricht entwickelte. Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts 27 39 (2010) 2. Ein Beispiel zum Literaturunterricht aus der ersten Jahrhunderthälfte Les aventures de Télémaque, Fénelons für die Prinzen des Hauses Bourbon verfasster Erziehungsroman, 1699 publiziert, war im 18.und 19. Jahrhundert weit verbreitet und wurde in viele Sprachen übersetzt. Das Buch machte auch eine beispiellose Karriere als Lehrmittel für den Unterricht in Französisch als Fremdsprache (M INERVA 2003a, 2003b). Dazu musste es allerdings annotiert und kommentiert werden. Als Beispiel einer didaktischen Bearbeitung ziehe ich eine Ausgabe von Johann Ludwig K ÖHLER (1798) heran, die uns ins 19. Jahrhundert führt. Köhler überarbeitete und ergänzte die erste didaktisierte Ausgabe für das deutschsprachige Publikum von Joseph Antoine VON E HRENREICH (1732), die im 18. Jahrhundert mehrere Auflagen erlebt hatte. Für ihn sind Les aventures de Télémaque lt. „Vorrede“ „ein classisches und unentbehrliches Schulbuch für alle diejenigen […] welche die französische Sprache lernen wollen“, denn „Herr von Fenelon (sic) [habe] in diesem unsterblichen Werk alle Reichthümer und Schönheiten der französischen Sprache aufgeschlossen und dargestellt“ (Köhler 1798, zit. nach C HRIST 2003: 12; [Hervorhebungen von H.C.]). Die ästhetische und die sprachliche Qualität, aber - wie an anderer Stelle ausgeführt - auch seine erzieherische moralische, empfehlen den Télémaque als Lehrwerk für den Französischunterricht. Köhler bearbeitete den Text, indem er erstens in Fußnoten „durch deutsche Anmerkungen schwere Wörter, Redensarten und Constructionen, Gallicismen, Antiquitäten, Mythologie, Historie und Geographie deutlich [und das heißt auch unmittelbar am Text] erklärt und erläutert“ (a.a.O.: 12), indem er zweitens dem Text ein Register beigibt, „welches alle Worte, Wortfügungen oder Constructionen, Gallicismen und dergleichen vorzüglich merkwürdige Redensarten, die etwas Besonderes haben“ (a.a.O.: 21) im systematischen Zusammenhang darstellt und drittens ein „Zweytes Register“, das „eine Erklärung der vorkommenden Fabeln, Historien, die Namen und Beschreibung der Personen, Götter, Helden, Städte, Landschaften, Flüsse, Berge und dergl.“ liefert (a.a.O.: 24). Von den „Schönheiten der französischen Sprache“ ist in den Kommentaren und Registern nur wenig die Rede, dagegen sehr viel von Lexik und Grammatik sowie von Mythologie und Geographie. Zu Köhlers Methodenarsenal gehören Übersetzung ins Deutsche, kontextuelle Erklärung der Inhalte, semantischer und grammatischer Kommentar und der 64-seitige, deutschsprachige, alphabetisch geordnete beschreibende Text zur Mythologie und zu den „Sachen“. Die Literaturlehre ist Sprachlehre und vor allen Dingen Inhaltslehre. Auf der Basis solcher kommentierter und annotierter Ausgaben konnten Lehrer ihre Schüler „Fenelons (sic) Schrift: les Aventures de Télémaque übersetzen lassen, und die Übungen im Sprechen fortsetzen“, wie der Königlich Westfälische „Allgemeine Lehrplan für das Lyceum und die Bürgerschule“ aus dem Jahr 1812 es verlangt (C HRIST / R ANG 1985: III, 14). 28 Herbert Christ 1 Zu Daulnoye: C HRIST (1992), H AUPTMANN (1986). 39 (2010) 3. Wie Heinrich Heine mit der französischen Literatur Bekanntschaft machte Der Französischlehrer von Heinrich Heine war ein Zeitgenosse von Köhler: Jean-Baptiste Daulnoye, geb.1765, ehemaliger Priester, 1790 aus Frankreich geflohen. In Deutschland lebte er zunächst als Privatlehrer, publizierte in rascher Folge Lehrbücher und Anthologien. 1799 wurde er Professor am Gymnasium in Dortmund, 1805 am Lycée de Düsseldorf (damals Grand Duché de Berg), zunächst als professeur de seconde classe, nach langer Korrespondenz mit den Behörden von 1810 ab - Napoleon war auf dem Höhepunkt seiner Macht - als professeur de première classe mit den doppelten Bezügen, welche ihm die preußische Verwaltung sogleich nach der Eroberung des Rheinlandes im Jahr 1814 wieder entzog. Er verbrachte seine letzten Berufsjahre im Herzogtum Nassau in Weilburg. 1 Daulnoyes Lebenslauf spiegelt die wechselhafte Konjunktur des Französischunterrichts zwischen 1790 und 1820 wider. Auf dem Höhepunkt dieser Konjunktur war nach dem „Programm“ des lycée de Düsseldorf von 1812 der Französischunterricht folgendermaßen gestuft: Im ersten Jahr wurden die Redeteile, im zweiten die Syntax unterrichtet. Im dritten und vierten Lehrjahr folgten Übersetzungen ins Deutsche, Übersetzungen ins Französische und Stilübungen (version, thème und exercices de style): Eine Komödie von Florian und ein Abriss der deutschen Geschichte wurden ins Deutsche, Texte über die deutsche Geschichte ins Französische übersetzt. Jede Woche schrieben die Schüler einen französischen Aufsatz, der korrigiert wurde. In den letzten beiden Jahren standen die Rhetorik und die Poetik auf dem Programm, und zwar in folgender Form: Vorlesung zur Literaturgeschichte, explication littéraire, praktische Übungen u. a. zur metrischen Übersetzung von Gedichten. Heinrich Heine erregt sich noch 30 Jahre später in seinen Memoiren, dass Daulnoye ihn die Hexameter aus Klopstocks Messias in französische Alexandriner übersetzen ließ: „Es war ein Raffinement von Grausamkeit, die alle Passionsqualen des Messias selbst übersteigt, und die selbst dieser nicht ruhig erduldet hätte“ (H EINE 1968: IV, 531). Literaturunterricht ist für Daulnoye in erster Linie praktischer Unterricht. Die Sprachlehre wird in der Beschäftigung mit der Literatur fortgeführt. Sie ist kontrastiv angelegt: daher die Vielzahl der Übersetzungen in beiden Richtungen, inklusive der Versuche zur metrischen Übersetzung von Dichtung. Aber Literaturunterricht ist nicht nur praktisches Tun; Daulnoye lehrt Literatur auch geschichtlich und systematisch. Als Grundlage hierfür hat er einige Bücher verfasst, Chrestomathien auf der einen und einen Abrégé des règles de l’art oratoire und einen Abrégé des règles de l’art poétique auf der anderen Seite. Zu diesen seinen Schulbüchern schreibt Heine in seinen Memoiren: Er hatte mehrere französische Grammatiken sowie auch Chrestomathien, worin Auszüge deutscher und französischer Klassiker, zum Übersetzen für seine verschiedenen Klassen, geschrieben; für die oberste veröffentlichte er auch eine « Art oratoire » und eine « Art poétique », zwei Büchlein, Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts 29 2 Karl Mager, 1810 in Gräfrath bei Solingen geboren, studierte u. a. in Bonn, Examen pro facultate docendi, Dr. phil. Nach Tätigkeit als Deutschlehrer in Frankreich und in Genf Gymnasiallehrer in Stuttgart, Aarau und Eisenach, 1856 in Wiesbaden verstorben. 3 Auf das methodische Konzept gehe ich aus Raumgründen nicht ein. Mager versteht die „genetische Methode“ als eine Weiterentwicklung von analytischer und synthetischer Methode. 39 (2010) wovon das erstere Beredsamkeitsrezepte aus Quintilian enthielt, angewendet auf Beispiele von Predigten Fléchiers, Massilions, Bourdaloues und Bossuets, welche mich nicht allzu sehr langweilten. Aber gar das andere Buch, das die Definitionen von der Poesie: l’art de peindre par les images, den faden Abhub der alten Schule von Batteux, auch die französische Prosodie und überhaupt die ganze Metrik der Franzosen enthielt, welch ein schrecklicher Alp! (H EINE 1968: IV, 530-531) L’Abbé Daulnoye unterrichtete im französisch dominierten Rheinland Literatur methodisch gestuft, historisch und systematisch, nicht immer zum Vergnügen von Heinrich Heine. 4. Literatur im Rahmen „Moderner Humanitätsstudien“: Karl Wilhelm Eduard Mager 2 Drei Stichworte charakterisieren Magers didaktischen Ansatz: der „schulmäßige Unterricht“, die „genetische Unterrichtsmethode“ 3 und die „Modernen Humanitätsstudien“. Schulmäßiger Unterricht ist diejenige Art des Unterrichtes, welche der Schule und ihren Zwecken gemäß ist, also erstens kein Unterricht, wie ihn das Leben gibt […]: wer also hier eine sogenannte Naturmethode kennen zu lernen hofft, eine Anleitung auf ähnliche Weise in der Schule fremde Sprachen zu lernen, wie wir als Kinder die Muttersprache gelernt haben, der kehre nur gleich wieder um - der Unterricht […] ist Kunst […] Schulmäßiger Unterricht [ist] zweitens kein bloßes Doziren, wie es bis auf den heutigen Tag mißbräuchlich von vielen Professoren unsrer Universitäten geübt wird. Ein Lehrer, der dem Schüler gegenüber nur ein sich selbst ablesendes Buch ist, unterrichtet nicht schulmäßig. […] Schulmäßiger Unterricht verbindet mit der Lehre […] daß der Schüler die Lehre auch verstehe, merke, einübe, anwende, mit einem Worte, daß er auch lerne, wenigstens lernen zu können (M AGER 1851: 492-493). Gegenstand des schulmäßigen Unterrichts sind die „modernen Humanitätsstudien“. Diese schulischen Studien grenzt Mager deutlich von dem wissenschaftlichen Studium an der Universität ab, etwa dem Studium der Philologie. So wenig aber der Unterricht in alten Sprachen, Litteraturen und Geschichte auf unseren Gymnasien Philologie ist oder classische Philologen bilden soll, was billig der Universität verbleibt, so wenig ist es von mir darauf abgesehen, als solle der Schulunterricht in neueren Sprachen und Litteraturen moderne Philologie sein. Nur studium humanitatis soll er sein (M AGER 1844: 26). Moderne Humanitätsstudien betreffen Sprache, Literatur und „Leben“ (an anderen Stellen spricht Mager von „Cultur“). Es erscheint ihm falsch, sie einengend unter der Rubrik „Sprachunterricht“ zu führen, wie es in den Lehrplänen steht. Richtig wäre es, Sprache 30 Herbert Christ 39 (2010) bzw. Sprachen und die sie bearbeitenden Wissenschaften in das anthropologische Fach, die übrigen Wissenschaften dagegen in das natürliche Fach einzuordnen. Ein Drittes ist nicht gegeben, denn „Recht, Sitte, Staat und Völkerleben“ wie auch Kunst und Religion sind Hervorbringungen des Menschen und der Menschheit und sind also dem anthropologischen Fach zugeordnet, das die (modernen und klassischen) Humanitätsstudien vermittelt. In dem Kreise dieser ethischen (oder historischen, oder anthropologischen) Wissenschaften und Künste haben die Sprachen und Literaturen nun die doppelte Stellung, dass sie einerseits rein als solche (dies ist der Gesichtspunkt der Linguisten und Philologen), andererseits als Inhalt der ganzen sittlichen und natürlichen Welt betrachtet werden können (M AGER 1843: 220-221). Moderne Humanitätsstudien betreiben Sprachbetrachtung und Sprachlehre „rein als solche“ wie auch Literaturlehre „rein als solche“. Dies ist jedoch nur die eine, die formale Seite dieser Studien. Der anderen Seite, der inhaltlichen, gebührt im Schulunterricht der Vorrang. Denn Sprachen und Literaturen transportieren den Inhalt der „ganzen sittlichen“ und auch der „natürlichen“ Welt. Die pädagogische Beschäftigung mit den Sprachen und Litteraturen, die somit zugleich ein Reale sind […] läßt den letzteren Gesichtspunkt vorwalten, so daß ein himmelweiter Unterschied zwischen wissenschaftlichem und schulmäßigem (humanem) Sprach- und Litteraturstudium ist (M AGER 1843: 221-222). Somit geht der Sprach- und Literaturunterricht in den Schulen ein neues Verhältnis zu den anderen Schulfächern - den Sach- oder Inhaltsfächern - ein. „Sprachen“ und „Litteraturen“ und „Wissenschaften“ sollen sich in der Schule auf neue Weise begegnen. Seiner wahren Natur und Bestimmung nach ist aber der Sprach- und Litteraturunterricht nicht nur dieses, er ist zugleich ein hochwichtiger Theil des Realunterrichts, ohne den der sonstige Unterricht in Naturkunde, Geographie, Geschichte u.s.w. gar nicht gedeihen kann; er ist endlich die wirksamste Schule der Denk- und Redekunst, wie denn auch eine hochwichtige Seite der praktischen Bildung (die ethische) großentheils auf ihm beruht (M AGER 1843: 223). Sprachenlernen und Sprachlehre sind demnach für Mager nur ein Moment des Sprach- und Literaturunterrichts, aber nicht deren Zentrum. 5. Das Problem der Auswahl der Literatur und die Suche nach einem Literaturkanon In den theoretischen Schriften Magers findet man keine Antwort auf die Frage, welche literarischen Texte für den Unterricht in der Schule auszuwählen seien. Diese Entscheidung wurde von den Behörden bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts weitgehend den Lehrern überlassen. Ein einziger Richtlinientext aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts ging auf die Auswahlfrage ansatzweise ein, der badische „Lehrplan der Gelehrtenschulen“ von 1836. Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts 31 4 Der Allgemeine Deutsche Neuphilologen Verband setzte in den 90er Jahren „Kanonausschüsse“ für die Fächer Französisch und Englisch ein, die Vorschläge zur Auswahl von literarischen Texten und Textausgaben machten. Zum Ergebnis dieser Arbeiten s. exemplarisch T APPERT (1912). 5 Abgedruckt in C HRIST / R ANG 1985: II, 74-76. 39 (2010) In der vierten Klasse: fortgesetzte Uebung in dem Uebersetzen aus dem Französischen ins Deutsche, und umgekehrt, […] Gebrauch von Berquins Jugendschauspielen, von Florians und Lafontaines Fabeln; im zweiten Jahre von Voltaires Charles XII. In der fünften Klasse wird eine ausführliche Chrestomathie eingeführt, welche prosaische und poetische Stücke enthält […]. In der sechsten Klasse fortgesetzter Gebrauch der Chrestomathie, mit besonderer Berücksichtigung auf Redner und Dramatiker (C HRIST / R ANG 1985: III, 21). In der zweiten Jahrhunderthälfte häufen sich allerdings die Äußerungen zur Auswahl literarischer Texte. In der preußischen „Unterrichts- und Prüfungsordnung der Realschulen und der höheren Bürgerschulen“ von 1859 heißt es dazu: Das Französische und das Englische sind für die Realschule nicht nur als moderne Verkehrssprachen wichtig, sondern auch deshalb, weil beide Sprachen im Gebiete der Realwissenschaften eine reiche Literatur besitzen, deren Verständniß auf der Schule vorbereitet werden muß. […] Das Ziel des Unterrichts ist diejenige Sicherheit in der Grammatik und eine solche Kenntniß des Wortvorraths und der eigenthümlichen Ausdrucksweisen, welche zum Verstehen der prosaischen und poetischen Literatur beider Sprachen befähigt […] Französische Theaterstücke sind nicht unbedingt vom Schulgebrauch auszuschließen; doch ist alles Unpassende fernzuhalten. Die Schule hat es am meisten mit der historischen, beschreibenden und oratorischen Prosa, wobei die Auswahl nach ethisch-pädagogischen Gesichtspunkten zu treffen ist (C HRIST / R ANG 1985: II, 62-63). Angaben zu Autoren werden hier nicht gemacht und von einem Kanon der zu lesenden Texte ist nicht die Rede. Zwei Anweisungen fallen jedoch auf: die Studien sind in den Realanstalten auf die „Realwissenschaften“ auszudehnen (s. Magers Konzept der Humanitätsstudien) und die Auswahl muss nach ethisch-pädagogischen Gesichtspunkten getroffen werden. Daher sollte man bei französischen Theaterstücken besondere Vorsicht walten lassen. Ein Kanon wird jedoch spätestens in der Periode der neusprachlichen Reform von Lehrern auf Tagungen debattiert. 4 Es bestand offensichtlich auf ihrer Seite ein Bedürfnis der Abstimmung und der Absicherung, zumal sich manche mittleren Schulbehörden über die Auswahl literarischer Texte berichten ließen und zu der Praxis übergingen, diese zu genehmigen bzw. abzulehnen. So wurden Lehrer und Schulen mit einer nicht offen gelegten Kanonisierung konfrontiert, wie von Seiten des Provinzialschulkollegiums Koblenz im Jahr 1897: Nachdem es sich bei Gelegenheit der jährlich einzureichenden Vorschläge für die Schriftstellerlektüre gezeigt hat, daß innerhalb unseres Bezirks hinsichtlich der französischen und englischen Werke auch nach unserer Rundverfügung vom 12. Juni 1894 5 vielfache Unsicherheit nicht blos in der Wahl der Schriftwerke an sich, sondern insbesondere auch in der Abschätzung ihrer Schwierigkeit und in der entsprechenden Vertheilung auf die Schulklassen geblieben ist, lassen wir den Anstalten anliegend ein Verzeichnis derjenigen neusprachlichen Schriften zugehen, bei deren Wahl für die mitverzeichnete Klassenstufe unsere Genehmigung mit Sicherheit erwartet werden kann. 32 Herbert Christ 6 Z. B. Skandinavien, Russland, Ungarn, Norditalien. 7 Ich begann mit 1845, weil mit diesem Jahr die Programmschriften in Bayern obligatorisch wurden. Zu bemerken ist, dass die Pfalz im genannten Zeitraum zu Bayern gehörte. 39 (2010) Dieses Verzeichnis bezweckt nicht, einen Kanon darzustellen, an welchen die Schulen gebunden wären. Keineswegs sollen andere als die aufgeführten Schriftwerke ausgeschlossen sein. Vielmehr werden dahin gehende Vorschläge, namentlich wenn frühzeitig hierher eingereicht, von uns einer gebührenden Prüfung unterzogen werden, während bei den aufgeführten - die übrigens wesentlich nach den uns seither am häufigsten vorgeschlagenen Werken zusammengestellt sind - von vorn herein die Gewißheit der Genehmigung bis auf weiteres besteht (C HRIST / R ANG 1985: II, 77 [Hervorhebung von H.C.]) . Für das Französische werden 49 Textausgaben bzw. Sammlungen aus den Gattungen Geschichtsschreibung und -betrachtung, Reden, Erzählungen, „Naturwissenschaftliches, Geographisches, Technisches“, Dramen und „sonstige Dichtungen“ genannt. Das ist eine geringe Zahl. Die Bandbreite der Gattungen ist jedoch beachtlich. Die fiktionale Literatur ist gut repräsentiert, aber keineswegs dominant. Die Gattung „Naturwissenschaftliches, Geographisches, Technisches“ ist, so ist zu vermuten, vor allem mit Rücksicht auf die Realanstalten vertreten. „Geschichtsschreibung und Geschichtsbetrachtung, Zeitschilderung, Biographisches“ sollten ebenso den Gymnasien empfohlen werden. Die am Ende des Jahrhunderts sich etablierende „Realienkunde“ findet keine ausdrückliche Erwähnung, ihre Anhänger konnten jedoch in den historischen, geographischen und naturwissenschaftlichen Gattungen ausreichend Textbeispiele finden. Die Beteuerung der Behörde, sie bezwecke nicht, einen Kanon darzustellen, an welchen die Schulen gebunden wären, sicherte den Lehrern eine gewisse Freiheit zu, konnte aber auch als Erwartung verstanden werden, dass sie das behördliche Auswahlangebot akzeptierten. 6. Die Auswahl seitens der Französischlehrer Welche Autoren und welche Texte wählten nun die Lehrer tatsächlich aus? Wir können uns davon ein ziemlich genaues Bild machen, denn seit den 30er Jahren mussten die höheren Schulen jährlich gedruckte „Schulprogramme“ vorlegen, die neben einer wissenschaftlichen Abhandlung eines Lehrers der jeweiligen Schule einen statistischen Teil enthielten, in dem auch die Lehrbücher und die Lektüren in den einzelnen Sprachen, nach Klassen eingeteilt, aufgeführt wurden. Die Zahl der Programme, die unter den Schulen ausgetauscht wurden und daher eine rasche Verbreitung fanden, ist sehr groß. Franz K ÖSSLER (1987) hat ca. 50 000 aus dem gesamten deutschen Sprachraum und einigen angrenzenden Gebieten 6 für die Zeit zwischen 1825 und 1914 erfasst. Ich habe exemplarisch die bayerischen Schulprogramme von 1845 bis 1913 analysiert - insgesamt 4708 Programmschriften 7 (C HRIST 1990). In 2178 Programmen fanden sich Angaben über die Klassenlektüre in Französisch. In den übrigen wurden darüber keine Angaben gemacht. Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts 33 8 Zur Diskussion um die Literaturgeschichte im Französischunterricht im 19. Jahrhundert s. das Kapitel « Traiter l’histoire littéraire? » in C HRIST (1999: 256-260). 39 (2010) Die Zählung ergab 203 Autoren und annähernd 550 Werktitel - das ist im Vergleich zu der oben zitierten rheinischen Liste eine beachtliche Zahl, wobei allerdings zu bedenken ist, dass hier die Daten von einigen Jahrzehnten festgehalten sind. Die Mehrzahl der Titel sind „Ganzschriften“. Außerdem wurden 33 Anthologien und 13 Titel zur Literaturgeschichte genannt, die darauf schließen lassen, dass die Schüler auch damit befasst wurden, obwohl die Richtlinien und Lehrpläne in der Regel von einer systematischen Beschäftigung mit dieser abrieten. 8 Unter den ca. 550 Titeln (C HRIST 1990: 189-211) ist die klassische Literatur des 17. Jahrhunderts stark vertreten (u.a. Texte von Boileau, Bossuet, Corneille, Descartes, Fénelon, La Bruyère, La Fontaine, La Rochefoucauld, Molière, Racine, Madame de Sévigné), während aus dem 18. Jahrhundert erheblich weniger Autoren gelesen wurden (z. B. Beaumarchais, André Chénier, Montesquieu, Rousseau und Voltaire). Die Autoren des 19. Jahrhunderts - also die Vertreter der zeitgenössischen Literatur - stellen die weitaus größte Zahl. Dieses Interesse findet seine Rechtfertigung vor allem in der Modernität ihrer Sprache und ihrer Themen, so P LOETZ (1866). Allerdings wird die große Zahl der Titel aus dem 19. Jahrhundert relativiert, wenn man diese im Einzelnen betrachtet. Spitzenreiter ist Fénelon mit « Télémaque ». Er wurde in 289 Klassen gelesen, allerdings im Wesentlichen nur bis 1860. Voltaires « L’Histoire de Charles XII » nimmt den zweiten Platz ein: das Werk wurde in 279 Klassen studiert. Molière folgt mit « L’Avare » an dritter Stelle: er wurde 252 mal behandelt, öfter als « Le Misanthrope », « Les femmes savantes », « Le bourgeois gentilhomme » und « Le Malade imaginaire ». Auf dem vierten Platz steht Racines « Athalie » (229), allerdings im Wesentlichen vor 1880, auf dem fünften « Les considérations sur les causes de la grandeur et de la décadence des Romains » von Montesquieu (189), weit vor Corneilles « Cid » (145 mal). Einige Titel des 19. Jahrhunderts seien zum Vergleich den älteren gegenübergestellt: An der Spitze stehen Erckmann & Chatrian, vor allem wegen « L’histoire d’un conscrit de 1813 » (114 mal). Philippe Paul Ségur folgt mit « Histoire de Napoléon et de la Grande Armée » auf dem zweiten Platz (103 mal). Eugène Scribe besetzt mit « Le verre d’eau » den dritten Platz (94 mal). Hippolyte Adolphe Taines « Les Origines de la France contemporaine » bringt es auf 75 Erwähnungen, Alphonse Daudet « Lettres de mon moulin » steht 74 mal in unserer Liste. Prosper Mérimées « Colomba » ist 70 mal studiert worden. Flaubert, Maupassant und Stendhal werden nicht genannt, Balzac und Zola spielen eine ganz marginale Rolle. Interessant ist der starke Anteil von Historikern, Geschichtserzählern und Biographen. Das entspricht durchaus der Absicht der Richtlinienverfasser. 34 Herbert Christ 9 Diese Anthologie hat bis 1910 vierzehn Auflagen erreicht. - Zu Ploetz: geb. 1819, gest. 1881. Dr. phil., 39 (2010) 7. Ganzschrift oder Anthologie Die Frage Ganzschrift oder Anthologie wurde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts diskutiert. Im Programm der Realschule in Krotoschin (Bezirk Posen) von 1852 schreibt G. Rodovicz: Quant au choix des auteurs […] les professeurs de langue se sont divisés en deux camps opposés […] Les uns préfèrent les pièces en entier; ils lisent, du moins dans les classes supérieures, d’un bout à l’autre, quelques traités touchant l’histoire, la morale, la philosophie, quelques peintures poétiques en vers ou en prose, et principalement quelques drames tant de l’école classique que du temps moderne. […] Les autres maîtres de langue […] n’hésitent pas de blâmer grandement cette allure, en applaudissant la maxime suivant laquelle on a, de toute ancienneté, accordé la préférence aux chrestomathies, aux anthologies, aux bons recueils des plus beaux morceaux, mûrement choisis dans l’intention d’écarter des jeunes âmes sensibles tout ce qui pût leur porter atteinte (R ODOVICZ 1852: 44-45). Rodovicz plädiert - du moins dans les classes supérieures - für die Ganzschrift, denn kein Lehrer der klassischen Sprachen und kein Deutschlehrer würde seinen Schülern in den Oberklassen das Studium von Textauszügen zumuten und man gelange aus dem Studium vieler Einzelteile nie zu einer Sicht des Ganzen. Sein Kollege Heinrich Neubauer von der Realschule Halle/ Saale unterstützt Rodoviczs Argumentation. Un des buts principaux de la lecture française en première, c’est de former, de corriger, d’ennoblir les expressions dont l’élève se sert en écrivant et en parlant. Il faut donc qu’il fasse attention au style de son auteur ; ce qu’il ne peut faire s’il en lit un autre tous les quinze jours (N EUBAUER 1860: 9). In der Sekunda dagegen sei es sinnvoll, Anthologien zu benutzen. Denn dort gehe es den Schülern darum, « de se convaincre par l’apparence, c’est-à-dire la lecture, que la grammaire n’existe pas seulement dans les têtes des savants ». Sie sollen also im Sprachkunstwerk die Sprache in Funktion erleben. Die Diskussion führte im Ergebnis zu einer Teilung der Aufgaben zwischen Anthologien und Ganzschriften. T IMME (1882) schlägt vor, vom fünften Lernjahr an ausschließlich mit Ganzschriften zu arbeiten, weil die Schüler eine „persönliche Beziehung“ zu den gelesenen Werken aufbauen sollten. Das ist ganz im Sinne der preußischen Lehrpläne für die höheren Schulen aus dem gleichen Jahr, die nachdrücklich fordern: „Es ist […] möglichst bald von dem Gebrauche der Chrestomathien zur Lektüre von ganzen Schriftwerken fortzuschreiten, deren Inhalt und Darstellung dem Standpunkte der einzelnen Klassen entspricht“ (C HRIST / R ANG 1985: II, 66). 8. Exemplarische Betrachtung einer Anthologie Ich wähle das Manuel de Littérature française eines außerordentlich erfolgreichen Lehrbuchautors: Karl Ploetz (P LOETZ 1866). 9 In seinem Avant-propos schreibt der Autor: Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts 35 Gymnasiallehrer, seit 1860 Privatgelehrter. Zu seiner didaktischen Konzeption vgl. P LOETZ (1868). 39 (2010) Mon livre a pour but non seulement d’initier les élèves à la connaissance élémentaire de la littérature, mais encore d’offrir aux jeunes étrangers des lectures par lesquelles ils puissent apprendre la langue. Voilà ce qui explique la part considérable que j’ai accordée à la forme dramatique dans ce Manuel, qui contient l’analyse de plus de trente tragédies, drames et comédies (P LOETZ 1866: VI). Ploetz nimmt Magers Begründung für die Auswahl von Texten in veränderter Form wieder auf. Das erste Ziel der Sammlung ist die elementare Kenntnis der Literatur (als Teil der Humanitätsstudien), das zweite die Sprachlehre. Was versteht Ploetz unter „elementarer Kenntnis der Literatur“? Dazu gehört zuerst ein Überblick über die Geschichte der Literatur. Dieser wird im Manuel geliefert. In einer Introduction von 30 Seiten gibt Ploetz einen Überblick über die Entwicklung der französischen Sprache und Literatur von den Anfängen bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts. Dann folgt auf mehr als 700 Seiten der Überblick über die Literatur seit Corneille, mit der Darstellung des Lebens und des Werks von ca. 90 Autoren und der Präsentation und dem Abdruck von ca. 150 Auszügen oder kurzen Texten (z. B. Gedichten, Briefen). Ploetz diskutiert nicht über den Sinn und Unsinn literaturgeschichtlicher Unterweisung, sondern präsentiert die Texte im Rahmen eines historischen Handbuchs zur Literatur (und Sprache) Frankreichs. An einem Auszug aus einer Komödie von Scribe (« Bertrand et Raton ou l’art de conspirer ») soll Ploetz’ Konzept der elementaren Kenntnis der Literatur näher erläutert werden. Der Auszug wird durch eine den Autor betreffende Notice biographique et littéraire eingeleitet (1866: 502-503). Leben und Werk werden dargestellt, Scribes herausragende Produktivität - er hat ca. 350 Stücke geschrieben - wird kritisch beurteilt. Sein Stil - « qui est vif et léger, [mais qui] manque souvent de force et de correction » - verdient nach Ansicht von Ploetz gelegentlich Tadel. « Mais un mérite qu’on ne peut pas lui contester, c’est l’art de la mise en scène et l’agrément du dialogue ». Nach dieser Notice folgt eine Einführung in das Stück, die den Inhalt erläutert und die abgedruckten Textpassagen in ihren Zusammenhang einordnet (1866: 503-504). Sodann folgen quelques scènes du second acte de la pièce. (1866: 504-513). Diese Szenen werden in Fußnoten sparsam erklärt und kommentiert. Einige Beispiele zur Erklärung und Kommentierung: Der Ladendiener Jean bezeichnet seinen Herrn als « le bourgeois ». Erklärung: « Bourgeois était la dénomination dont se servaient les ouvriers, les domestiques, les garçons de boutique, etc. pour désigner leur maître ; dans ce sens, le mot patron tend aujourd’hui à remplacer bourgeois » (1866: 505, Fn. 1). Pérorer, Erklärung: « parler, discourir longuement et avec emphase» (1866: 506, Fn. 1) Par exemple ! Erklärung: « exclamation qui s’emploie souvent dans le langage familier pour exprimer l’étonnement, l’incrédulité ou l’indignation ». Toast, Erklärung und Kommentierung: « (on prononce tōste) un des mots que la langue française de nos jours a empruntés à l’anglais sans nécessité, car on dit très bien en français : porter une santé à quelqu’un, boire à la santé de qn. etc. » (1866: 512, Fn 1). Die Satzkonstruktion « tu l’as fait entrer auprès d’un grand seigneur, où il n’a éprouvé que des chagrins » wird kritisch kommentiert: « Chez qui ou chez lequel serait plus exact » (1866: 506, Fn. 6). 36 Herbert Christ 10 Vgl. hierzu das Kapitel « En quelle langue enseigner la littérature française? » in C HRIST (1999: 251-255). 39 (2010) Aus den Beispielen geht hervor, dass Ploetz normativ erklärt und kommentiert. Bourgeois ist in der gegebenen Bedeutung veraltet und durch patron zu ersetzen, Anglizismen sind unnötig, où als Relativpronomen mit Bezug auf eine Person ist unexakt, umgangssprachliche Ausdrücke wie Par exemple ! akzeptiert Ploetz zwar, aber er macht ihre Stilebene kenntlich. Das angestrebte Lernziel ist der gute Gebrauch - le bon usage -, der gehobene Stil. Dementsprechend ist das Lehrbuch geschrieben. « Un manuel de littérature française destiné [aux grandes classes] doit être écrit en français » (P LOETZ 1866: I). Die Lehrer sollen mit ihren Schülern konsequent Französisch sprechen. Denn « toute leçon, qu’elle soit consacrée spécialement à l’étude de la grammaire ou à celle de la littérature, doit être en même temps une leçon d’usage pratique. Il faut que les élèves des classes supérieures soient assez avancés pour que le maître puisse, sans inconvénient, leur parler la langue qu’il leur enseigne (P LOETZ 1866: I). In Sachen Unterrichtssprache war die Meinung der Französischlehrer jedoch keineswegs einhellig. Im Gegenteil: Diese Frage wurde bis in die Periode der Reform (und darüber hinaus) heftig diskutiert. 10 9. Zum Schluss: Ausbildung der Französischlehrer im 19. Jahrhundert Wenn ich zum Schluss nach der Ausbildung der Französischlehrer im 19. Jahrhundert frage, dann gerade auch im Hinblick auf den Literaturunterricht und auf das zuletzt behandelte Thema der Wahl der Unterrichtssprache. Es stellt sich natürlich die Frage, wie die Neuphilologen auf den Französischunterricht und auf den Literaturunterricht vorbereitet wurden. Ploetz’ Manuel war von einem gebildeten Neuphilologen für Neuphilologen geschrieben. Diese hatten in der Regel (wie er selbst) ein dreijähriges Universitätsstudium (das sogenannte Triennium) zu absolvieren und mit einem Staatsexamen abzuschließen. Daran schloss sich ein Kandidatenjahr an. Was wurde im Universitätsstudium vermittelt? Wer z. B. sein Studium für Französisch 1868 am Giessener Romanischen Seminar unter Ludwig Lemke aufnahm, (ich habe den Fall exemplarisch in C HRIST 2003: 54-56 dargestellt) dem wurde in seinem ersten Semester ein Seminar „Altfranzösische Grammatik“ und eine dreistündige Vorlesung „Literaturgeschichte der abendländischen Völker im Mittelalter“ angeboten, im folgenden Wintersemester ein Seminar „Italienisch“ und eine dreistündige Vorlesung „Geschichte der französischen Literatur seit dem 16. Jahrhundert“. Im Sommersemester 1869 stand ein Seminar „Die drei ersten Gesänge von Ariostos Orlando furioso“ auf dem Programm sowie eine zweistündige Vorlesung „Syntax der französischen Sprache Erster Teil“. Im nächstfolgenden Semester wurden ihm zwei Vorlesungen, „Einleitung in die romanische Philologie“ und „Französische Syntax Zweiter Teil“, sowie ein Seminar „Provenzalische Grammatik und Erklärung ausgewählter Gedichte der Troubadours“ geboten. Daneben wurden Veranstaltungen der Lektoren und Übungen im Interpretieren und Anleitungen zu Literatur im Französischunterricht des 19. Jahrhunderts 37 11 Zitiert in Kritischer Jahresbericht über die Fortschritte der romanischen Philologie. IV Unterricht in den romanischen Sprachen und Literaturen, 1911/ 1912, 6-24. 39 (2010) schriftlichen Arbeiten in einer „Gesellschaft für neuere Sprachen“ angeboten, die auch für Anglisten gedacht war. Lemke unterrichtete also Geschichte der romanischen Literaturen vom Mittelalter bis zur Neuzeit (mit Ausblicken auf germanische Literaturen), Grammatik der romanischen Sprachen, historische Sprachwissenschaft und das Handwerk der Philologie. Er leitete auch zum Interpretieren und zum Schreiben in Französisch und Englisch an. Das Lehrprogramm, das er als einziger Professor anbot, mag aus heutiger Sicht als wenig umfangreich erscheinen, es muss jedoch als Teil eines Mehrfachstudiums betrachtet werden. Denn die Studenten wurden nicht nur als Romanisten ausgebildet. Sie studierten Anglistik und Germanistik und die alten Sprachen, in der Regel auch noch Sachfächer wie Geschichte und Erdkunde. Darauf, dass der Student einmal Lehrer werden sollte, wurde wenig Rücksicht genommen. Von Berufsvorbereitung war keine Rede. Eine Ankündigung wie die des Marburger Privatdozenten Hinkel vom Wintersemester 1845/ 1846 « Première partie de la grammaire française accompagnée d’explications de textes français à l’usage de futurs enseignants » 11 ist eine große Seltenheit. Das auf den Hochschulabschluss folgende Kandidatenjahr war ein Jahr der Meisterlehre. Zumeist hatte ein verdienter Lehrer den Auftrag, sich des Neulings anzunehmen. Es war natürlich nicht garantiert, dass er selbst einen Schwerpunkt seiner Tätigkeit im Französischen sah. Es gab nur wenige Schulen, die die Kandidaten in Seminaren empfingen, in denen die Ausbildung systematischer erfolgen konnte, wie z. B. schon am Ende des 18. Jahrhunderts im Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin unter Friedrich Gedikes Leitung. Wir wissen aus zahlreichen Biographien von Fremdsprachenlehrern (s. hierzu C HRIST 1987), dass sie nach einer im Allgemeinen wenig spezifischen Ausbildung ihre Spezialisierung in den Berufsjahren nachholten. Ein beliebter Weg, die Fremdsprachenkenntnisse zu verbessern war ein Auslandsaufenthalt, der häufig durch Deutschunterricht in Universitäten oder Schulen oder durch eine Tätigkeit als Hauslehrer finanziert wurde (so machten es z. B. Mager und Ploetz). Ein anderer Weg der beruflichen Qualifizierung war das, was wir heute als Fortbildung bezeichnen würden, und zwar z. B. Fortbildung durch regelmäßige Diskussion mit Kollegen. Ein Prototyp solcher Diskussionszirkel war der von Adolf Ey 1879/ 1880 in Hannover begründete „Verein für neuere Sprachen“ (zu Ey s. C HRIST 1987), der später zur Keimzelle des „Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverbandes“ wurde. Ein weiteres wichtiges Medium der Fortbildung waren ohne Zweifel die oben genannten Schulprogramme mit den Programmschriften, die die Lehrer bewusst als Diskussionsforen benutzten, wie später dann die neusprachlichen Zeitschriften. Es erscheint heute erstaunlich, wie groß die Zahl der publizierenden Französischlehrer im 19. Jahrhundert war. Schließlich waren die Kongresse ein Ort, an dem man sich fortbilden konnte. Sie vor allem haben die neusprachliche Reform zu einer machtvollen Bewegung gemacht. 38 Herbert Christ 39 (2010) Zusammenfassend: Die Universität bildete nicht zum Französischlehrer aus, sondern zum Philologen. Der bloße Begriff der Ausbildung war verpönt. In der Universität erfuhr man nach deren Selbstverständnis Bildung, man erhielt jedoch durch das Studium die Lizenz zur Lehre. Was der „schulmäßige Unterricht“ (Mager) leisten sollte, das wurde von der Philologie kaum je reflektiert - wohl gelegentlich von den Prüfungsämtern (H AENICKE 1982), in den Richtlinien und in der didaktischen Literatur. Die Französischlehrer waren also auf ihre eigene Initiative zur Ergänzung ihrer Hochschulstudien angewiesen, und wie wir aus vielen Beispielen wissen, ergriffen sie diese. Literatur C HRIST , Herbert (1987): „Fremdsprachenlehrer im Porträt. 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