eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 39/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
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2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2010
391 Gnutzmann Küster Schramm

Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon ?

121
2010
Felicitas Strehlow
flul3910053
* Korrespondenzadresse: Felicitas S TREHLOW , Wissenschaftliche Assistentin, LMU München, Department für Anglistik und Amerikanistik, Schellingstraße 3, 80799 M ÜNCHEN . E-Mail: felicitas.strehlow@anglistik.uni-muenchen.de Arbeitsbereiche: Geschichte des Fremdsprachenunterrichts, Theorie und Praxis des kommunikativen Unterrichts. 1 ‚Nationalerziehung‘ bezieht sich hier und im Folgenden auf das am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts auftretende spezifisch deutsche Phänomen eines Erziehungskonzepts, das zunehmend nationalistisch geprägt war. 39 (2010) F ELICITAS S TREHLOW * Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon ? Abstract. At the end of the 19 th century the concept of Nationalerziehung, which had as its core the subjects of German and History, had already been widely discussed for more than 100 years. Even in the modern languages - at the time usually French and English - teachers were expected to train students to become ‘consciously German’. Since the teachers of modern languages were looking for arguments to ensure the future continuity of their subjects, they reverted to the concept of a national slant in education, a step which eventually led to the Kulturkunde-movement. The increasing importance of English as a school subject seems to be closely connected with this development, as the concept of Nationalerziehung placed particular emphasis on the knowledge of the English language and culture. 1. Einleitung Bei einem Blick in die Literatur zu Bildung und Erziehung in den Ländern des ehemaligen Deutschen Reiches trifft man das Schlagwort ‚Nationalerziehung‘ 1 seit dem 18. Jahrhundert immer wieder an, also seit dem Entstehen der politischen Strömung des Nationalismus. Wie Horst Joachim F RANK in seiner Geschichte des Deutschunterrichts (1973) zeigt, spielte dieses Konzept vor allem in der Unterweisung in der Muttersprache eine herausragende Rolle: „Nichts hat die Entwicklung des Deutschunterrichts vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Ende des Nationalsozialismus stärker bestimmt als die Überzeugung, daß es seine höchste Aufgabe sei, alle Schüler zu einem bewußten Deutschtum zu erziehen“ (F RANK 1973: 375). Es gibt Hinweise darauf, dass diese Erziehung zu einem ‚bewussten Deutschtum‘ auch als Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts gesehen wurde, auch wenn uns dies aus heutiger Perspektive vielleicht paradox anmuten mag. Wie kann ein solches Konzept in einem Unterricht umgesetzt werden, der ja im Grunde nicht die eigene, sondern vor allem die Zielkultur zum Inhalt hat? 54 Felicitas Strehlow 2 Für den Deutschunterricht wird das Konzept der Nationalerziehung in Frank (1973) ausgiebig erläutert. 3 Vgl. hierzu die Werke von L EHBERGER (1986), R ADDATZ (1977) und A PELT (1967). 39 (2010) Die Sichtung der Quellen zeigt: Zwar existierte das Konzept der Nationalerziehung bereits seit dem 18. Jahrhundert, und auch die Forderung, nationale Inhalte verstärkt zu berücksichtigen, stand in Bezug auf den Deutschunterricht bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Raum. 2 Dieselbe Forderung wurde für den Unterricht in den modernen Fremdsprachen jedoch erst viel später laut, nämlich mit Einsetzen des Ersten Weltkrieges. Interessant ist, dass dies zu einer Zeit geschah, in der die durch Krieg und Kriegsgeschehen zunehmende Entfremdung vom Ausland vermehrt als Argument gegen den Unterricht in den modernen Sprachen ins Feld geführt wurden. Diese gerieten unter Druck, und die Rechtfertigungsdebatte unter den Neuphilologen, die sich bis weit in die Nachkriegszeit hinein zog, lässt erkennen, dass das Konzept Nationalerziehung nun auch verstärkt für die neueren Sprachen diskutiert wurde. Vieles deutet darauf hin, dass deren Verteidiger damals auf das Konzept der nationalen Erziehung, das sich bereits vor 1914 in anderen Fächern hatte durchsetzen können, zurückgriffen, um eine Begründung für die Daseinsberechtigung ihrer Fächer zu finden. In der Mitte der 1920er Jahre etablierte sich dann mit der Kulturkunde eine inhaltliche Füllung des Fremdsprachenunterrichts, die dafür sorgte, dass deutschkundliche Themen Eingang in den Unterricht auch in den modernen Fremdsprachen fanden. Damit war der Weg zur rassekundlichen Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts im Nationalsozialismus nicht mehr weit. 3 Der vorliegende Beitrag ist Teil einer größeren Studie, die noch nicht abgeschlossen ist. Deshalb wird es hier in erster Linie darum gehen, wie die Umsetzung der Idee der Nationalerziehung im Englischunterricht vor und nach dem ersten Weltkrieg diskutiert wurde. Die Frage, inwieweit dies im Unterrichtsalltag in die Tat umgesetzt wurde, muss erst noch geklärt werden. Nach einem Blick auf die Entwicklung des Nationalismus in Deutschland, vor deren Hintergrund eine Diskussion von Nationalerziehung immer gesehen werden muss, soll die Bedeutung des Englischunterrichts für dieses Erziehungskonzept dargestellt werden. Als Hauptquellen dienen Monographien von Schulmännern, wie man sie damals nannte, aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, die aufzeigen sollen, welche Vorstellungen von einer Integration von Nationalerziehung in den Englischunterricht als denkbar propagiert wurden. 2. Der politische Kontext: Nationalismus als politische und gesellschaftliche Strömung Der Begriff ‚Nationalerziehung‘ existiert seit Entstehen des Nationalismus im 18. Jahrhundert. Deshalb muss er bei jeder Betrachtung stets im jeweiligen historischen Kontext der Begrifflichkeiten von ‚Nation‘ und ‚Nationalismus‘ gesehen werden. Genauso wie sich deren Bedeutung im Laufe ihrer Entwicklung veränderte, verstanden die Menschen im 18. Jahrhundert unter Nationalerziehung etwas anderes als dies zum Ende des 19. Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon? 55 4 Wehler sieht neben der Frage, ob eine groß- oder kleindeutsche Lösung, also die Gründung eines Nationalstaats unter Ein- oder Ausschluss Österreichs, bevorzugt werden sollte, den Grund für das Scheitern der Revolution von 1848/ 49 darin, dass die Vielzahl von zu bewältigenden Modernisierungsaufgaben, von der Gründung eines liberalen Verfassungsstaats über die Neuordnung der Wirtschaft bis hin zum Umbau des sozialen Systems „schließlich eine unüberwindbare Hürde schuf“ (W EHLER 2007: 74). 39 (2010) Jahrhunderts der Fall war. Da „Unterricht in den modernen Fremdsprachen […] zu allen Zeiten immer auch Ausdruck auswärtiger politischer Einflüsse oder aber eigener politischer Bestrebungen gewesen“ (S CHRÖDER 2004: 124) ist, soll zunächst ein Blick auf die Entwicklung des Nationalismus als politische und gesellschaftliche Strömung deutlich machen, vor welchem Hintergrund die Idee der Nationalerziehung gesehen werden muss. Nach Norbert Elias tritt Nationalismus „immer dann auf, wenn eine Gesellschaft unter Modernisierungsdruck gerät“ (E LIAS 1992: 196). Das heißt, die Gesellschaft gerät in Umbruch; alte Strukturen weichen auf und müssen durch neue ersetzt werden, mit deren Hilfe es gelingen soll, die Komplexität des modernen Lebens zu strukturieren (vgl. J ANSEN / B ORGGRÄFE 2007: 10). „Nationalismus ist demnach eine Ideologie, die Zerfall und Zerstörung der überlieferten Ordnung legitimiert und an deren Stelle etwas Neues setzen will - vom Anspruch her, dieses Neue als eine Gesellschaft mit einer egalitären Wertordnung, verfaßt als Staat mit einem kollektiven, ebenfalls egalitären Souverän“ (L ANGEWIESCHE 1994: 14). „Historisch als Befreiungsideologie entstanden“ (ebd.) erfuhr der Nationalismus je nach Nation und Entwicklungsstufe unterschiedliche Ausprägungen. In den Gebieten des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation setzte der Nationalismus als politische und gesellschaftliche Strömung gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein. Vor allem in der Literaturszene waren dieser Entwicklung bereits seit Mitte des Jahrhunderts Debatten über eine deutsche Kulturnation vorausgegangen. Als Schlagworte nennt der Historiker Hans-Ulrich W EHLER (2007: 63) die Diskussionen über deutsche Nationalliteratur, deutsches Nationaltheater und eine deutsche Nationalsprache. Erst die napoleonische Fremdherrschaft bewirkte, dass sich nationale Kräfte auch auf politischem und gesellschaftlichem Gebiet durchsetzen konnten. Zu Beginn definierte sich der Nationalismus über eine „vornehmlich bildungsbürgerliche soziale Trägerschicht“ (ebd.: 64), deren erklärtes Ziel die „Förderung der Nation in einem ihre Einheit garantierenden Nationalstaat“ (ebd.: 65) war. Anfang des 19. Jahrhunderts konnte sich „die neue politische Religion“ (ebd.), wie Wehler den frühen deutschen Nationalismus bezeichnet, jedoch noch nicht durchsetzen. Obwohl sie bei der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress (1815) durchaus als politische Kraft wahrgenommen wurde, gelang es der viel stärkeren reaktionären Seite, diese neue Entwicklung völlig zu übergehen (vgl. ebd.: 63-65). In der Zeit bis 1848 gewann dieser frühe Nationalismus immer mehr an Boden, so dass er bei Ausbruch der Revolution „bereits ein beachtliches Reservoir an Aktivisten und Sympathisanten [besaß], die auf die Gründung eines liberalen, konstitutionellen, gesamtdeutschen Nationalstaats hindrängten“ (ebd.: 73 f). Diese große Möglichkeit, einen liberalen deutschen Nationalstaat zu gründen, scheiterte aus diversen Gründen 4 , so dass die 56 Felicitas Strehlow 5 Die italienische Nationalstaatsbildung erfolgte 1861, also zehn Jahre früher als die deutsche. 39 (2010) antirevolutionären Kräfte schnell wieder die Oberhand bekamen. Trotz dieses Rückschlags gelang es letztendlich, die verschiedenen Teile des deutschen Nationalismus nach italienischem Vorbild 5 im ‚Deutschen Nationalverein‘ zu bündeln. Welche Bedeutung diese politische Kraft damit rasch erlangte, zeigt sich an einem Zitat des späteren ‚Reichseinigers‘ und ersten Reichskanzlers Otto von Bismarck, in dem er bereits 1858 seine Erkenntnis zugab, dass sich „künftige preußische Politik großen Stils […] nurmehr in Kooperation mit der deutschen Nationalbewegung betreiben“ (vgl. W EHLER 2007: 75) lassen werde. Trotz dieses Bedeutungsaufschwungs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte die Gründung des deutschen Nationalstaates nicht ‚von unten‘ durch „eine machtvolle, populäre Nationalbewegung“ (ebd.), sondern ‚von oben‘ durch „die großpreußische Expansionspolitik Bismarcks“ (ebd.). Vergleichbar mit der Situation in Italien, wo ein Abgeordneter in der ersten Sitzung des neuen Parlamentes sagte: „Wir haben Italien geschaffen, jetzt müssen wir Italiener erschaffen“ (zitiert nach W EHLER 2007: 75), musste auch im neu geschaffenen Deutschen Kaiserreich erst noch ein deutscher Nationalgeist erschaffen werden. Die Aufgabe der politischen Sozialisation kam dabei neben den anderen Bildungseinrichtungen des Reiches wie Universitäten und Rekrutenanstalten der Schule zu, wie unter 3.1. genauer dauergestellt wird. Das Hauptziel des Nationalismus, die Schaffung eines Nationalstaates, war also mit der Gründung des deutschen Kaiserreiches erreicht worden. Dass sich in der Folgezeit eine zunehmende Aggressivität nach außen entwickelte, lag unter anderem daran, dass die Ausrichtung dieses Staates eine ganz andere war, als den Anhängern des frühen Liberalnationalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorgeschwebt hatte. Durch die Verbindung des ursprünglich revolutionären linken Nationalismus mit der beharrenden Kraft des Konservativismus vollzog sich ein grundlegender Wandel, an dessen Ende der rechte, konservative Nationalismus des Kaiserreichs stand (vgl. L ANGEWIESCHE 1994: 14): Der neue Nationalstaat beruhte auf einer „erfolgreich stabilisierte[n] Fürstenherrschaft“ (W EHLER 2007: 77), das vom Volk gewählte Parlament spielte eher eine untergeordnete Rolle. Neben der Forderung nach autoritärer politischer Führung des Nationalstaats begünstigte diese gewandelte Auffassung von Nationalismus auch die Ausdehnung völkischer Ideen und kulminierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Auslösung des Ersten Weltkriegs. Dieser selbst wurde als „Verteidigungskampf“ (ebd.: 83) angesehen, bei dem es um die Existenz der Nation ging. Nach dessen Scheitern und der heftig empfundenen Demütigung des Nationalstolzes im Frieden von Versailles in Kombination mit der wirtschaftlichen Belastung in der Weimarer Republik, war der Weg frei für „eine radikal-nationalistische Massen- und Protestbewegung“ (ebd.: 84), an deren Spitze sich schon bald Adolf Hitler stellte. Der Historiker Dieter Langewiesche beurteilt die Geschichte des Nationalismus als widersprüchlich und zeigt auf, dass diese politische Strömung auch heute noch nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat: Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon? 57 6 Der zunehmende Zuspruch, den euroskeptische Parteien in vielen Ländern erfahren, bestätigt diese Einschätzung. 39 (2010) „Im Rückblick zeigt sich die Wirkungsgeschichte des Nationalismus zwar voller Widersprüche, in ihren großen Linien aber doch klar erkennbar: Im 18. Jahrhundert als eine antiständische, egalitäre Befreiungsideologie entstanden, veränderte der Nationalismus die staatliche und auch die gesellschaftliche Ordnung Europas im Laufe eines Jahrhunderts völlig, griff im Gefolge der imperialistischen Eroberungszüge weltweit aus und wurde zu einem zentralen Bestandteil der Europäisierung der Welt, häutete sich aber erneut zur Befreiungsideologie, entlegitimierte die imperialistischen Zentren und half so, die Kolonialreiche, die er zuvor mitgeschaffen hatte, wieder aufzulösen“ (L ANGEWIESCHE 1994: 7). Auch wenn das Ende des Zweiten Weltkriegs häufig als „das blutige Ende des nationalistischen Zeitalters begriffen" (ebd.) wurde, das durch die Gründung supranationaler Organisationen wie der Europäischen Union überwunden werden konnte, so sieht Langewiesche jedoch den Nationalstaat noch immer als „vorrangige Ordnungsmacht im Leben des einzelnen Bürgers“ (ebd.: 8) 6 und erkennt in der Entwicklung nach Zusammenbruch der Sowjetunion nicht nur das Wiedererstehen alter sondern auch das Neuenstehen neuer Nationalstaaten (vgl. ebd.: 7 f). 3. Englischunterricht im Zeichen des Nationalimus An der bewegten Geschichte des Nationalismus, allein in Deutschland, wird deutlich, wie wichtig es ist, Nationalerziehung in ihrem historischen Kontext zu betrachten, und zwar sowohl im Hinblick auf politische als auch pädagogische Aspekte. Im Rahmen des Beitrags werden sich die Ausführungen auf die für die Nationalerziehung wichtigsten Entwicklungen und insbesondere auf den Englischunterricht beziehen. 3.1. Bildungsgeschichtliche Rahmenbedingungen Als sich die Idee der Nationalerziehung am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte, verstand man darunter zunächst im aufklärerischen Sinne die Erziehung des ganzen Volkes, die alle Bevölkerungsschichten einschließen sollte (vgl. R OCHOW 1962 [1779]). Aber auch ein anderes Deutungsmuster existierte bereits zu dieser Zeit: Nationalerziehung im Sinne einer Erziehung zur Liebe zur Nation, wobei die deutsche Nation damals zumeist über die Sprache definiert wurde. Wer die deutsche Sprache sprach, gehörte zur deutschen Kulturnation. Je mehr die Schaffung eines eigenen Nationalstaats Ziel der Nationalbewegung wurde, desto mehr trat auch diese Auffassung von Nationalerziehung in den Vordergrund. Bereits Johann Gottfried Herder definierte den Nationalcharakter eines Volkes über dessen Sprache und wies somit insbesondere dem schulischen Unterricht in der Muttersprache eine besondere Rolle bei der Nationalerziehung zu. Seiner Ansicht nach sollte erst dann mit dem Unterricht fremder Sprachen begonnen werden, wenn ausreichende Kennt- 58 Felicitas Strehlow 7 Zum Ausbau der Realschulen vgl. K EMPER (1990: 167 ff). Zu den wichtigsten Stationen für den Ausbau des Englischen als Unterrichtsfach an Realschulen vgl. H ÜLLEN (2005: 76 f) sowie K LIPPEL (1994: 287-294). 39 (2010) nis der Muttersprache vorhanden sei (vgl. H ERDER 1961 [1769]: 104 f). Aufgegriffen und weiter ausgeführt wurde diese Idee durch den Philosophen Johann Gottlieb Fichte, der sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seinen „Reden an die deutsche Nation“ (F ICHTE 1967 [1808]) gegen die territorialen Unterschiede innerhalb des seit Napoleon in Einzelstaaten zerfallenen Deutschen Reiches wandte und für den Erhalt der Nation nur ein Mittel sah: „eine gänzliche Veränderung des bisherigen Erziehungswesens“ (F ICHTE 1967 [1808]: 27). Zu seiner Auffassung von Nationalerziehung gehörte neben dem Bezug auf die Bildung aller Schichten der deutschen Bevölkerung insbesondere der kulturelle Führungsanspruch des deutschen Volkes, der es erforderte, die Schüler zum Deutschsein zu erziehen (vgl. F RANK 1973: 419 ff oder F ICHTE 1967 [1808]: 19-31). Diese Sichtweise von nationaler Erziehung, wie sie Herder und Fichte vertraten, setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts im Zuge der Nationalstaatsbewegung immer mehr durch. Noch eine weitere Entwicklung gewann im Laufe des 19. Jahrhunderts an Bedeutung: der Aufstieg des Englischen zu einer bedeutenden modernen Fremdsprache an den Schulen des Deutschen Reiches. Ein wichtiger Grund dafür war, dass die politische Ideologie der Zeit vor der Revolution von 1848/ 49 das Englische dem traditionell gelehrten Französisch, der Sprache der napoleonischen Besatzer, vorzog, da die Länder, in denen Englisch gesprochen wurde, in mehrfacher Hinsicht als Vorbilder empfunden wurden: Englisch war die Sprache der Freiheit, des freien Handels sowie der konstitutionellen Monarchie, die vielen auch als die für Deutschland am besten geeignete Staatsform erschien (vgl. S CHRÖDER 2004: 104 f). Schulpolitisch wurde die Ausbreitung des Englischen als Unterrichtsfach vor allem durch den Ausbau des Realschulwesens vorangetrieben. In dieser neuen Schulform, als deren Grundlage „ein politisch durchaus national geprägtes, wissenschaftlich und wirtschaftlich rational-pragmatisches Denken“ (H ÜLLEN 2005: 76) diente, spielten die alten Sprachen eine untergeordnete Rolle. Das Hauptaugenmerk lag auf der so genannten realistischen Bildung, also auf den Naturwissenschaften und den modernen Sprachen. Neben dem Ausbau der Realschulen 7 gewann das Englische vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch an den Gymnasien immer mehr an Bedeutung: Im Lehrplan für die höheren Schulen in Preußen von 1892 wird erstmals die Forderung nach „Verstärkung der modernen insbesondere nationalen Bildungselemente“ (C HRIST / R ANG 1985 II: 31) erwähnt. Dass die preußische Schulverwaltung dieser dann auch tatsächlich entsprach, lag in erster Linie am Druck, den Kaiser Wilhelm II. auf sie ausübte. Die Rede, die er bei der Eröffnung der Berliner Schulkonferenz 1890 hielt, markiert einen gewissen Wendepunkt: „Wer selber auf dem Gymnasium gewesen ist und hinter die Coulissen gesehen hat, der weiß, wo es da fehlt. Und da fehlt es vor allem an der nationalen Basis. Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer“ (V ERHANDLUNGEN ÜBER F RAGEN DES HÖHEREN U NTERRICHTS 1891, S. 72). Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon? 59 39 (2010) Diese Forderung war für das Gymnasium nahezu revolutionär und wurde erst nach und nach umgesetzt. Der Kaiser nahm auch weiterhin Einfluss auf das Unterrichtswesen. In seinen „Allerhöchsten Erlassen“ betonte er immer wieder die herausragende Bedeutung der englischen Sprache und forderte ihre Stärkung insbesondere im gymnasialen Kontext (vgl. C HRIST / R ANG 1985 II: 42; 46). Er setzte damit nicht nur eine deutliche Stundenerhöhung und Stärkung von Deutsch als Abiturprüfungsfach durch, sondern zeichnete auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass Englisch zunächst wahlfreies Fach wurde und 1901 schließlich sogar als Abiturfach an den Gymnasien in Preußen anerkannt wurde (vgl. C HRIST / R ANG 1985 II: 42; H ÜLLEN 2005: 76 f). Konrad Schröder sieht einen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg des Englischen in den Fächerkanon der deutschen Schulen und der Ausbreitung der Idee der nationalen Erziehung: „[Es wird] deutlich, daß sich der Aufstieg des Englischen als Schulsprache in einem für das deutsche höhere Schulwesen wenig rühmlichen Klima aus neuhumanistisch-idealistischer Halbbildung, teutonischer Kraftmeierei und nationalem Dünkel vollzieht, in einem Klima, das Rassenhaß begünstigt und das Dritte Reich von langer Hand vorprogrammiert“ (S CHRÖDER 1989: 58). Die Kenntnis der Sprache des Landes, das als wichtigste Kolonial- und Handelsmacht empfunden wurde, war für die imperialistischen Ziele des jungen Wilhelm II. genauso unverzichtbar wie die Ausrichtung des Unterrichts auf eine Erziehung zum ‚Deutschsein‘. 3.2 Erziehung zu nationaler Einheit im Kaiserreich Der Blick auf die politischen und bildungsgeschichtlichen Hintergründe macht deutlich, dass die Idee der nationalen Erziehung in ihrer Ausprägung als Erziehung zum ‚Deutschsein‘ nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871 und insbesondere unter Kaiser Wilhelm II. verstärkt Eingang in den Unterricht an den Schulen des Reichs fand. Es stellt sich also die Frage, wie diese Idee im Hinblick auf den Fremdsprachenunterricht und vor allem den Englischunterricht diskutiert wurde, dessen Bedeutungszuwachs ja zu keinem geringen Teil mit ähnlichen Argumenten verteidigt wurde. Im Folgenden soll deshalb die Diskussion exemplarisch an zwei Monografien zu nationaler Erziehung aus der Zeit des Kaiserreichs dargestellt werden. Das Werk von M ARQUARDT (1872), erschienen als wissenschaftliche Beilage des Schulprogramms des städtischen Gymnasiums mit Realabteilung in Greiz, stammt aus der Zeit direkt nach der Reichsgründung und greift die unmittelbare Bedeutung einer nationalen Ausrichtung der schulischen Bildung für den neu gegründeten Nationalstaat auf, während R ICHTER (1903) das Konzept Nationalerziehung in seiner Ausprägung um die Jahrhundertwende vorstellt. Dabei ist zu beachten, dass insbesondere in Bezug auf den Englischunterricht gegen Ende des 19. Jahrhunderts ganz andere Fragen, wie z. B. die neusprachliche Reform, die Sprachenfolge oder die Überbelastung der Schüler die Aufmerksamkeit der bildungspolitischen Öffentlichkeit beschäftigten. Die Diskussion einer nationalen Erziehung kann zu diesem Zeitpunkt sicherlich noch nicht als vorherrschend bezeichnet werden, noch dazu, da sich ihr Konzept nur schwerlich mit den Inhalten des Sprachenlernens in Einklang bringen ließ, wie insbesondere bei Marquardt deutlich wird. 60 Felicitas Strehlow 8 Religion sollte insbesondere der „geistigen Wehrhaftmachung des Volkes“ dienen (R ICHTER 1903: 75). 39 (2010) In seinem kurz nach der Reichsgründung erschienenen Werk über nationale Erziehung an preußischen Gymnasien macht es sich der Pädagoge Paul Marquardt zur Aufgabe, für ein Konzept von nationaler Erziehung insbesondere an Gymnasien zu plädieren, da er die nationale Bildung der Jugend als Voraussetzung für die Entsprechung der nationalen Einheit auf politischer Ebene sieht. Dabei schließt er den Unterricht in den neueren Sprachen für sein Unterrichtskonzept aus (vgl. M ARQUARDT 1872). „Für eine gründliche innere und nationale Bildung“ (ebd.: 100) sei er nicht notwendig. Zwar gesteht er den Fremdsprachen an sich bildenden Wert zu, dieses Ziel könne jedoch im Unterricht in den alten Sprachen wesentlich besser verfolgt werden. In seinen Ausführungen wendet er sich insbesondere gegen das Französische, das seiner Meinung nach in seinem literarischen Wert hinter dem Englischen zurückstehen müsse (vgl. ebd.: 101). Als Hauptargument gegen den Unterricht in den modernen Fremdsprachen führt er den sonst so hochgelobten Nützlichkeitsaspekt an; es sei schließlich nicht die Aufgabe des Gymnasiums, „auf die praktischen Bedürfnisse des Lebens ausschließlich und unmittelbar vorzubereiten“ (ebd.: 103). Interessanterweise bezeichnet er das Erlernen möglichst vieler moderner Fremdsprachen trotzdem als „wünschenswert“ (ebd.: 104). Dieses solle aber lieber privat stattfinden, am besten durch einen Auslandsaufenthalt, da man sich nur dabei profunde Sprachkenntnisse aneignen könne (vgl. ebd.). Zwanzig Jahre später beschäftigte sich der Gymnasiallehrer Otto Richter ebenfalls mit der nationalen Bewegung und ihrem Verhältnis zur Bildung. An seinen Ausführungen wird deutlich, dass das Konzept nationale Erziehung mittlerweile auch in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wurde. Unter Bezugnahme auf die Forderungen von Presse, Parteien und Verbänden wie dem Alldeutschen Verein, verschiedener Schriften und nicht zuletzt auf Kaiser Wilhelm II. setzt er sich für eine Ausrichtung des Unterrichtswesens auf die „nationale Weltanschauuung“ (R ICHTER 1903: 39) ein (vgl. ebd.: 40). Dabei steht für ihn, genauso wie für Marquardt, die Bildung der Jugend im Mittelpunkt, insbesondere die Erziehung der „Führer der Massen“ (ebd.: 48), weshalb er sich besonders für die nationale Prägung des höheren Schulwesens und der Universitäten stark macht. Dabei stellen seiner Meinung nach die Fächer Deutsch und Geschichte neben Sport und Religion 8 die wichtigsten Bildungsinhalte dar (vgl. ebd.: 73-81). Was den Fremdsprachenunterricht angeht, so kann man beobachten, dass er im Gegensatz zur späteren Debatte nicht zwischen alten und neueren Sprachen unterscheidet. Obwohl es Ziel seiner Schrift ist, dem Leser als Orientierunghilfe in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Meinungen im Bereich Nationalerziehung zu dienen, scheint die Argumentation mit der besonderen Bedeutung insbesondere des Englischen für die nationale Erziehung für ihn noch keine Rolle zu spielen. Der Frage, ob das Ziel nationaler Erziehung „durch Bevorzugung des eigenen oder des fremden Volkstums“ (ebd.: 76) besser erreicht werden könne, nähert er sich, indem er die zwei in der zeitgenössischen Diskussion vorherrschenden Meinungen anführt: Während auf der einen Seite behauptet werde, dass höchste Bildung nur „durch möglichst frühzeitige und gründliche Einführung in das Griechen-, Römer- , Franzosen- oder Engländertum“(ebd.) erreichbar sei, führe die andere Seite als Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon? 61 39 (2010) Argument an, dass „die Beschäftigung mit demselben für die deutsche Jugenderziehung nur insofern Wert hat, als dadurch das Verständnis für das eigene Volkstum gefördert wird“ (ebd.). Deshalb dürfe der Fremdsprachenunterricht erst einsetzen, wenn sich der Schüler „als Deutscher hat fühlen lernen“ (ebd.). Im Rahmen des Konzepts von Nationalerziehung, wie es sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts präsentiert, scheint genau dieses Argument, nämlich die Bedeutung, die der Erwerb einer fremden Sprache für die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft hat, der zentrale Anknüpfungspunkt für den neusprachlichen Unterricht zu sein. Dies betont auch Anna Ohlemann in ihrem Beitrag in der Zeitschrift Die Mädchenschule: „Die richtig geleitete Beschäftigung mit dem fremden Volkstum führt ohne Zweifel zu einer besseren Würdigung des heimatlichen Kulturlebens“ (O HLEMANN 1897: 207) und diene der „Vertiefung und Läuterung des nationalen Bewußtseins“ (ebd.). Obwohl es für viele Schulmänner in der Kaiserzeit schwer vorstellbar war, den Fremdsprachenunterricht, insbesondere den in den neueren Sprachen, auf nationale Inhalte auszurichten (vgl. die Ausführungen zu M ARQUARDT 1872), zeigt sich vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts, dass es doch auch damals schon Pädagogen gab, die eine Einbeziehung des Fremdsprachenunterrichts in das Konzept der Erziehung zum ‚bewussten Deutschtum‘ für möglich hielten. Dabei stand der Rückbezug des Fremden auf das Eigene im Mittelpunkt, eine Entwicklung, die zwar Ende des 19. Jahrhunderts noch kaum offensichtlich wurde, in der Folgezeit aber weiter an Bedeutung gewinnen sollte. 3.3 Der Unterricht in den modernen Fremdsprachen im Zuge der Rückbesinnung auf die nationale Einheit nach dem Ersten Weltkrieg Obwohl, wie anhand der Beispiele gezeigt, der Gedanke der Nationalerziehung bereits in der Kaiserzeit zumindest in Ansätzen auch für den neusprachlichen Unterricht diskutiert wurde, kam eine vertiefte Diskussion für den Fremdsprachenunterricht erst durch die durch den Krieg ausgelöste Krise des Unterrichts in den neueren Sprachen zustande. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs - einerseits die Krönung der Wünsche der deutschen Nationalisten - stellte andererseits einen so tiefgreifenden Einschnitt in das Leben der Nation dar, dass bereits in den ersten Kriegsjahren etliche Schriften erschienen, die sich damit beschäftigten, wie es nach dem Krieg weitergehen könnte (vgl. F RANK 1973: 553). Die Auseinandersetzung mit dem feindlichen Ausland führte in weiten Teilen der Bevölkerung zu einer noch stärkeren Rückbesinnung auf die eigene Nation. Insbesondere von der Schule erwartete man, „eine Pflegestätte deutscher Kulturideale“ (S PRANGER 1916: Klappentext) zu sein. Im Zuge dessen veranstaltete beispielsweise das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin „eine Reihe von Vorträgen, die für die neue Gestaltung des deutschen Unterrichtes Anregungen bringen sollen“ (ebd.). Der bekannte Pädagoge Eduard Spranger konstatierte in seinem Vortrag, das humanistische Bildungsideal habe seine Aufgabe erfüllt und müsse aus gegebenem Anlass einem politischen Bildungsideal weichen: Nicht mehr die Allgemeinbildung, „die freie, allseitige, schöne Entfaltung der Individualität zum Menschentum“ (ebd.) sondern die Erziehung des Individuums „zum Dienen und Herrschen in einem überindividuellen Zusammenhang“ (ebd.: 15), also 62 Felicitas Strehlow 9 Als Begründung dafür führt er an, dass sich beide Fächergruppen „abseits von allen nationalen Beziehungen“ (T IMERDING 1918: 4) befänden: „Ein mathematischer Lehrsatz, eine physikalische Tatsache, eine fremd- 39 (2010) für die Dienste des Staats sollte in den Mittelpunkt des Bildungswesens rücken. Wie genau dies zu geschehen habe, darüber herrschten verschiedene Meinungen vor. Einig war man sich jedoch über den Kern der Sache, „daß die Bildung zur Individualität nicht mehr das einzige Erziehungsziel sein durfte, sondern daß die Ansprüche der staatlichen, der nationalen oder der Volksgemeinschaft mindestens ebenso sehr, wenn nicht sogar höher zur Geltung kommen mußten“ (F RANK 1973: 568). Auch der Fremdsprachenunterricht sah sich dieser verstärkten Rückbesinnung auf die eigene Nation ausgesetzt. Gerade hier, wo viele Verfechter nationaler Erziehung bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs kaum eine Möglichkeit gesehen hatten, nationale Bildung verwirklichen, entstand somit ein Rechtfertigungsdruck. Die Frage, „in welcher Beziehung der fremdsprachliche Unterricht zu dem Gedanken einer nationalen Erziehung stehe, ob er diesem Gedanken widerspreche oder ob er nicht gerade vielmehr ein Moment in sich schließe, das gerade eine wesentliche Stütze für die Erweckung und Förderung des nationalen Bewußstseins bedeute“ (T IMERDING 1918: 3), spiegelt sich in der pädagogischen Diskussion der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre wider. Als Beispiele für die Reflexion über eine Zukunft des Fremdsprachenlernens mit nationaler Ausrichtung dienen in diesem Beitrag die Schriften von Hans Borbein und Heinrich Emil Timerding. Da beide gegen Ende des Ersten Weltkriegs und unter dem Eindruck der damit verbundenen Ereignisse verfasst wurden, lässt sich an ihnen die Besinnung auf nationale Inhalte im Zuge der Rechtfertigungsdebatte gut darstellen: Bereits 1917 setzte sich der in der preußischen Unterrichtsverwaltung für die neueren Sprachen zuständige Regierungs- und Provinzialschulrat Hans Borbein in seiner Schrift „Auslandsstudien und neusprachlicher Unterricht im Lichte des Weltkriegs“ (B ORBEIN 1917) mit dieser „neu erkannte[n] nationale[n] Aufgabe“ (ebd.: V) auseinander. Schon in seinem Vorwort greift er die Frage auf, „ob wir [vor dem Krieg] überhaupt auf dem richtigen Wege gewesen sind, indem wir Sprache und Kultur unserer jetzigen Todfeinde die Stellung einräumten, die sie bislang in unserem höchsten Bildungswesen eingenommen haben“ (ebd.: III). Den Vorwurf, im Fremdsprachenunterricht sei „Ausländerei“ (R ICHTER 1903: 69) betrieben worden, versucht er zu entkräften, indem er zwar einräumt, der Geist, in dem der Fremdsprachenunterricht erteilt werde, müsse sich ändern, indem er andererseits jedoch damit argumentiert, dass in Zukunft nur das Wissen über die anderen Völker zum Sieg führen könne: Die Freiheit der Meere und den ungehinderten Zugang zu den Ländern, welche sie umspülen, können unsere Waffen uns wohl erringen, auszunützen vermögen wir sie nur, wenn wir rechtzeitig das geistige Rüstzeug schmieden, und dazu gehört […] die Beherrschung der lebenden Fremdsprachen und die Kenntnis der fremden Kultur (B ORBEIN 1917: IV). Der Hochschullehrer und Mathematiker Heinrich Emil Timerding, der nach dem Krieg den Unterricht in den modernen Fremdsprachen in einer ähnlichen Rolle sah wie die schulische Unterweisung in den Naturwissenschaften 9 , beschreibt in seinen Überlegungen Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon? 63 sprachliche Ausdrucksform haben, könnte man sagen, nichts zu tun mit den Gedanken und Empfindungen, die wir als vaterländisch oder national bezeichnen“ (ebd.). 39 (2010) zur Zukunft dieses Faches dasselbe Problem: Er fragt sich, ob man tatsächlich danach streben solle, die Sprache von Völkern zu erlernen, „die auf das Entschiedenste jegliche Kulturbeziehung zu uns abgelehnt haben“ (T IMERDING 1918: 18 f). Er spricht sogar von einer möglichen ‚Hemmung‘ des nationalen Erziehungsgedankens durch eben diesen Unterricht (vgl. ebd.: 3).Wie Borbein gelangt aber auch er zu der Einsicht, dass Kenntnisse in den modernen Fremdsprachen für eine genaue Beobachtung der verfeindeten Nationen unerlässlich seien. Nur so könne man die dortigen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen verfolgen: „Ob freundlich oder feindlich, die Beziehungen zu den Westmächten sind vorhanden und bleiben bestehen. Nichts ist wichtiger, als gerade die Sprache seiner Feinde zu kennen“ (ebd.: 19). Beide Pädagogen betonen, dass sich die Beschäftigung mit Sprache, Literatur und Kultur anderer Völker von nun an nur noch daran orientieren sollte, „welche inneren und äußeren Vorteile sie uns als Einzelmenschen und Gliedern des deutschen Volkes bieten“ (B ORBEIN 1917: 6). Aller Schulunterricht müsse nun eine „Beziehung […] zu den nationalen Aufgaben“ (T IMERDING 1918: 6) herstellen und damit „zur Bereicherung und Veredelung unserer nationalen Eigenart“ (ebd.) beitragen. Neben der Erleichterung des Lebens an der Front, wo die Kenntnis der fremden Sprache den Soldaten die Kommunikation mit dem Feind ermöglicht hätte, betont Borbein, dass die offensichtlich falsche Einschätzung der verfeindeten Völker durch eine entsprechend andere Ausrichtung des Unterrichts hätte vermieden werden können (vgl. B ORBEIN 1917: 7 f). Dabei bemängelt er insbesondere das fehlende Wissen über die angelsächsischen Völker, denen er im Grunde zwar eine enge Beziehungen zur deutschen Nation attestiert, die jedoch aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung zu den Feinden gezählt und deshalb aufs Gründlichste studiert werden müssen, um „mit der äußeren die geistige Überlegenheit [zu] verbinden“ (ebd.: 11). Bisher habe man Großbritannien und die USA in verschiedener Hinsicht - von der Politik bis hin zur Literatur - viel zu sehr als Vorbild gesehen; dies müsse sich nun ändern (vgl. ebd.: 11-13). Unter dem Eindruck der Erlebnisse im Ersten Weltkrieg und der damit verbundenen Suche nach Argumenten für ihre zukünftige Daseinsberechtigung beginnt also nun auch der Unterricht in den modernen Fremdsprachen, sich der Idee der nationalen Erziehung zu öffnen: Sowohl Timerding als auch Borbein fordern in ihren Schriften eine veränderte Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts im Rahmen eines Konzepts der nationalen Erziehung in allen Unterrichtsfächern (vgl. B ORBEIN 1917: 6-14; T IMERDING 1918: 4-6). Dabei steht eben jener Nützlichkeitsaspekt im Vordergrund ihrer Argumentation. Neben den oben erwähnten praktischen Gesichtspunkten zählt für Timerding insbesondere auch der Bildungswert der modernen Fremdsprachen zu diesem dazu. Neben der Literatur Großbritanniens und Frankreichs ist ihm vor allem wichtig, dass die Schüler und Schülerinnen an der fremden Sprache „Fähigkeiten des Gedächtnisses, des Denkens, des Sprachgefühles und damit der allgemeinen sprachlichen Ausdrucksfähigkeit“ (T IMERDING 1918: 27) erlernen. Es geht ihm also nicht nur um den Erwerb von Kenntnissen über die 64 Felicitas Strehlow 10 Bei Timerding ‚Auslandskunde‘ genannt, die er aufgrund der sprachlichen Komplexität eher im Geschichts- und Geographieunterricht angesiedelt sähe (vgl. T IMERDING 1918: 18-22). 11 Siehe Kapitel 3.1. 12 Wie zum Beispiel das Reformgymnasium in Altona mit der Sprachenfolge Französisch - Englisch - Latein, gegründet 1877 (vgl. H ÜLLEN 2005: 77). 39 (2010) Sitten und Gebräuche des Auslands 10 oder um die perfekte sprachliche Beherrschung, sondern auch um ganz allgemeinbildende Aspekte (vgl. ebd.). Borbein argumentiert zudem, dass ein möglichst großer Anteil der deutschen Bevölkerung die Beherrschung fremder Sprachen anstreben sollte, um die fremdsprachliche Presse und Literatur zum einen in ihrer ganzen Fülle ohne Beschränkung auf Übersetzungen und zum anderen ohne mögliche „Verschiebung des Urteils“ (B ORBEIN 1917: 37), bedingt durch die Meinung des Übersetzers, lesen zu können. Dies sei nicht nur wichtig, um über die Geschehnisse im Ausland informiert zu sein, sondern auch um die Beurteilung des eigenen Landes in der fremden Publizistik verfolgen zu können (vgl. ebd.: 36 f). Aus demselben Grund setzt er sich auch für einen Auslandsaufenthalt angehender Neuphilologen ein: Sie sollten in die Lage versetzt werden, sich über die Vorgänge im In- und Ausland ihr eigenes Urteil bilden zu können (vgl. ebd.: 81 f). In Bezug auf die Frage, welche der neueren Sprachen denn nun besonders geeignet sei, die Ziele nationaler Erziehung zu verwirklichen, geben beide Autoren einhellig der englischen Sprache den Vorzug gegenüber dem Französischen, wenn auch mit unterschiedlichem Nachdruck. Timerding führt neben der leichteren Erlernbarkeit des Englischen, zumindest in der Anfangsphase, vor allem die größere Nähe der englischen Sprache und Literatur zur deutschen als Argumente an: Aufgrund von „Stammesverwandtschaft und […] Gleichartigkeit von Wesen und Denkweise“ (T IMERDING 1918: 30) könnten die Schüler die Struktur und Entstehung der Muttersprache besser nachvollziehen „als durch das stammesfremde Französisch“ (ebd.: 31). Borbein, der dem Französischen zwar in literarisch-ästhetischer Hinsicht eine höhere Stellung einräumt, argumentiert zusätzlich mit der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung Großbritanniens und vor allem der Vereinigten Staaten (B ORBEIN 1917: 57). Borbeins und Timerdings Ansicht nach verliehen all diese Gründe dem Englischen eine größere Bedeutung für die nationale Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts als dem Französischen. Sowohl Borbein als auch Timerding fordern im Zuge dessen institutionelle Folgen: Statt einer Einschränkung des neusprachlichen Unterrichts unterstützen sie seine Ausdehnung: So sollte nach Borbein das Lernen der ersten modernen Fremdsprache so frühzeitig wie möglich einsetzen (vgl. B ORBEIN 1917: 39-41). Für die Gymnasien wünschte er sich unter Bezug auf die Vorkriegsforderungen des Kaisers 11 und die mit Englisch oder Französisch statt Latein beginnenden Reformschulen 12 eine Stärkung des Englischunterrichts mit Erhebung zum Pflichtfach (vgl. ebd.: 50-52; 60), während Timerding noch einen Schritt weitergeht und für die Mittelschulen den Französischunterricht vollständig abschaffen und durch Englischunterricht ersetzen möchte (vgl. T IMER - DING 1918: 35). Nationale Erziehung im Englischunterricht: Ein Paradoxon? 65 39 (2010) Beide Autoren sind sich also darin einig, dass der neusprachliche Unterricht trotz aller Vorwürfe, denen er sich im Zuge des ersten Weltkriegs ausgesetzt sah, auch weiterhin seine Berechtigung in der Stundentafel der mittleren und höheren Schulen haben sollte. Um dies zu begründen, greifen beide auf das Konzept der nationalen Erziehung zurück, indem sie die Bedeutung insbesondere des Englischunterrichts für die nationale Ausrichtung der Schulbildung aufzeigen. Mit dieser Auffassung waren Borbein und Timerding keineswegs allein. Ebenfalls unter den Eindrücken des Weltkriegs verfasst, erschien 1920 Hans Richerts Schrift zur deutschen Bildungseinheit, in deren Einleitung er insbesondere der höheren Schule den Vorwurf macht, dem Ziel der Nationalbildung in der Vergangenheit nicht gerecht geworden zu sein (vgl. R ICHERT 1920: 1-15). Seine Überlegungen mündeten 1925 in einer Umgestaltung der preußischen Lehrpläne, in den so genannten Richert’schen Richtlinien. Dass diese von den Lehrern gerade der neusprachlichen Fächer keineswegs als „Reform von oben“ wahrgenommen wurden, sondern vielmehr einem in der Lehrerschaft weit verbreiteten Konsens entsprachen, bestätigt der Neuphilologe Paul Hartig in seinen Lebenserinnerungen: [Die Richtlinien] entsprachen […] voll und ganz unserem eigenen philosophischen und pädagogischen Bewußtsein und auch dem, was wir von der Universität an philosophischem, psychologischem, weltanschaulichem und pädagogischem Gedankengut mitgebracht hatten (H ARTIG 2 1983: 30). Auch diese Äußerung zeigt, dass das Gedankengut der nationalen Erziehung spätestens nach dem Ersten Weltkrieg auch in den Unterricht in den modernen Fremdsprachen Einzug gehalten hatte. 4. Das Paradoxon der Erziehung zum ‚Deutschsein‘ im Fremdsprachenunterricht Aus der Darstellung des historischen Hintergrunds wurde deutlich, dass es nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 allseits wünschenswert erschien, die politische Einheit des Nationalstaats auch auf anderen Ebenen zu erwirken. Eine besondere Rolle sollte dabei die Bildung und Erziehung der Jugend spielen. Auch der Unterricht in den modernen Fremdsprachen, der in derselben Zeitspanne zunehmend an Bedeutung gewann, kam nach anfänglichem Zögern eben dieser Forderung nach national ausgerichteten Bildungsinhalten nach. Dabei konnte der Englischunterricht aufgrund der politischen und historischen Konstellation der Länder, deren Muttersprache er zum Gegenstand hatte, auf besonders gute Argumente zählen. Dass Erziehung zum ‚Deutschsein‘ auch im Fremdsprachenunterricht möglich sein sollte, war im 19. Jahrhundert noch keineswegs selbstverständlich. Erst der drohende Bedeutungsverlust nach dem Ersten Weltkrieg veranlasste die Neusprachler, das Konzept der nationalen Erziehung auch auf ihren Fachbereich anzuwenden. Die Frage, inwiefern sich dies auch anhand von Unterrichtsinhalten zeigen lässt, wird im Rahmen einer größeren Forschungsarbeit untersucht und kann hier noch nicht beantwortet werden. 66 Felicitas Strehlow 39 (2010) Literatur 1. Quellen B ORBEIN , Hans (1917): Auslandsstudien und neusprachlicher Unterricht im Lichte des Weltkrieges. Leipzig: Quelle & Meyer. C HRIST , Herbert / R ANG , Hans-Joachim (Hrsg.) (1985): Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung 1700 bis 1945. Eine Dokumentation amtlicher Richtlinien und Verordnungen. Band II. Tübingen: Narr. F ICHTE , Johann Gottlieb (1967 [1808]): Reden an die deutsche Nation. München: Goldmann. H ARTIG , Paul ( 2 1983): Lebenserinnerungen eines Neuphilologen. Augsburg: Universität (I & I Schriften). H ERDER , Johann Gottfried (²1961 [1769]): Herders Reisejournal. 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