eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 39/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2010
391 Gnutzmann Küster Schramm

Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ?

121
2010
Franz-Joseph Meißner
flul3910132
* Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Franz-Joseph M EI ß NER , Justus-Liebig-Universität, Institut für Romanistik, Didaktik der romanischen Sprachen, Karl-Glöckner-Str. 21 G, 35394 G IE ß EN . E-Mail: franz-joseph.meissner@sprachen.uni-giessen.de Arbeitsbereiche: Romanische Mehrsprachigkeitsdidaktik, Didaktische Lexikographie, Didaktik des gesprochenen Französisch, Quantitative Lernerforschung. ** Gerne danke ich meiner Mitarbeiterin Tanja Prokopowicz für die wirksame Unterstützung bei der Beschaffung der historischen Texte. 39 (2010) F RANZ -J OSEPH M EI ß NER * Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu ** Abstract. Fostered by the European Union the concept of didactics of plurilingualism, (or Mehrsprachigkeitsdidaktik, didactique du plurilinguisme) is a neologism that has become a key-word in the field of learning and teaching foreign languages. Its essence is the notion of ‘intercomprehension’, which implies the competence to understand a foreign language without having acquired it under natural conditions or by having learned it formally. Intercomprehension takes place when the individual exploits relevant knowledge to identify structures and functions of the target language. The concept of intercomprehension has become popular in recent theories about learning which underline the importance of previous knowledge for the successful acquisition of a foreign language. Although the concept is relatively new, its origins go back to the beginnings of the teaching and learning of modern European languages. The paper attempts to trace a tradition that has been more or less ignored in the historiography of language teaching and learning. 1. Einleitung Die etwas grobflächige Leitfrage, ob eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram existierte, verlangt vorab die Fixierung dessen, was im Wesentlichen diese Didaktik ausmacht und welches die Kriterien sind, die den Blick in die Vergangenheit leiten. Der inzwischen zum Hochwertwort der Fremdsprachendidaktik avancierte Begriff Mehrsprachigkeitsdidaktik (didactics of plurilingualism, didactique du plurilinguisme…) und seine zahlreichen Nachbarbegriffe - integrierte Didaktik, kohäsive Didaktik, Interkomprehensionsdidaktik, lebensweltliche Mehrsprachigkeit, Common Curriculum, classes bilangues, auch ‚echte‘ Mehrsprachigkeitsdidaktik (sic) und weitere (M EI ß NER 2005) - ist ein Orientierungsbegriff der europäischen Sprachenpolitik (L UTJEHARMS 2007). In seinem Kern steht der Wunsch, den Erwerb der Mehrsprachigkeit durch Nutzung von in interlingualen ‚Ähnlichkeiten‘ materialisierten Synergiepotenzialen zu erleichtern. Solche Ansätze verstehen den Erwerb von Mehrsprachigkeit weniger als das Produkt einzelner zu erlernender Sprachen, d.h. additiv, als vielmehr integrativ, in pädagogisch abgestimmter und damit konkret förderbarer Weise. Hier hinter steht die Einsicht, dass der Aufbau Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu 133 39 (2010) individueller Mehrsprachigkeit oder Plurilingualismus plan- und steuerbar ist - im Gegensatz zur gesellschaftlichen Vielsprachigkeit oder zum Multilingualismus z.B. als Ergebnis von Migration. Die Komplementärbegriffe Mehr- und Vielsprachigkeit haben zahlreiche gemeinsame Schnittmengen. Die Nutzung von Synergien beim Erwerb mehrerer Sprachen ist lernerseitig im lernrelevanten Vorwissen begründet. Dies betrifft sowohl den lernerbiographisch günstigen Aufbau solchen Wissens - Stichwort Sprachenfolge - als auch seine Beachtung durch die didaktische Steuerung. Schon dies verortet den Ansatz fünfpolig, und zwar zwischen den Faktoren Lerner und seiner kognitiven - d.h. wissensbezogenen, attitudinalen und volitionalen - Dimension, den diesem bereits mental verfügbaren Sprachen und den Zielsprachen, den Lernzielprofilen und dem didaktisch-methodischen Ausbau. Dem Mehrsprachenansatz kommt zugute, dass der heute gültige Lernbegriff - bei aller Unterschiedlichkeit - Faktoren wie Vorwissen, Vernetzung des Lernstoffs, reflexives Lernen, aber auch die beim Lernen wirksamen individuellen Faktoren betont und stark auf die förderliche Rolle der Metakognition setzt. Im Kern der Mehrsprachigkeitsdidaktik und des Gedankens der Lernökonomie stehen Transferprozesse. Auch damit befindet sich die Mehrsprachigkeitsdidaktik auf dem soliden Boden mehrerer Wissenschaften; hierunter die Deskriptive Linguistik, die Kognitionswissenschaften und die Sprachlehr- und -lernforschung. Von den spezifischen Forschungszugriffen dieser Disziplinen profitiert sie in unterschiedlicher Weise. Dies betrifft die linguistische, aber auch didaktisch-empirische Beschreibung interlingual transferabler und nicht-transferabler Wissensschemata zwischen Sprachen, wie sie bei unterschiedlichen Lernerpopulationen empirisch nachweisbar vorzufinden sind, sowie die Beschreibung der für das Lehren und Lernen, die Lehrenden und Lernenden des Mehrsprachenansatzes relevanten Faktoren. Wer also die historischen Vorläufer der heutigen Mehrsprachigkeitsdidaktik aufspüren will, wird unter semasiologischen und onomasiologischen Aspekten nach folgenden Kriterien suchen müssen, die den Kern dieses Ansatzes ausmachen: 1. Mehr als eine einzelne Sprache in den Blick nehmen; gemeint ist die Orientierung an Mehrsprachigkeit in Verbindung mit einer pädagogischen Absicht bei gleichzeitiger Berücksichtigung einer und/ oder mehrerer Ausgangssprachen. 2. Der Wunsch, lernökonomische Effekte dadurch zu erzielen, dass Sprachen nebeneinander gehalten und miteinander verglichen werden. Der komparatistische Aspekt schließt immer das schon vorhandene Wissen, das dem Lerner die ihm schon bekannten Sprachen und die Erfahrung mit Sprachen liefern, ein. 3. Der deutliche Wunsch nach einer Methodik, die synergetische Effekte zu Gunsten des Mehrsprachenerwerbs erleichtert. Im Kern dieses Gedankens begegnen inhaltlich die Begriffe von Inferenz und Transfer bzw. das von ihnen Bezeichnete. 4. Die Sensibilität für eine Optimierung des Sprachenlernens. 134 Franz-Joseph Meißner 1 Beachtenswert ist für die Fremdsprachendidaktik, dass „das (Hoch-)Deutsche in den Niederlanden erst in der zweiten Hälfte des 18. Jh.“ (G LÜCK 2002: 29), also lange nach der Beschreibung des Niederländischen als 39 (2010) 2. Apropos Quellen: Lernberichte, Lehrwerke, Grammatiken und Mehrsprachenglossare im Spannungsfeld von Varietäten und Sprachen Der Blick in die Vergangenheit verlangt ein Wort zu den schriftlichen Quellen und zu der sie einbettenden geschichtlichen Situation. Wie in historischen Arbeiten zu den Fremdsprachendidaktiken üblich, spielen auch für die vorliegende Fragestellung die Lern- und Lehrmaterialien - historische Wörterbücher, Grammatiken, Sprachlehrwerke - eine herausragende Rolle. Es ist daran zu erinnern, dass frz. manuel und grammaire und deren Serien (sp. gramática, manual, it. grammatica, manuale usw.) über Jahrhunderte hinweg Synonyme waren. Neben den Lehrwerken signalisieren mehrsprachige Wortlisten ein Interesse am Lernen und Lehren ‚mehrerer‘ Sprachen (H ÜLLEN 1989). An der Seite dieser Materialien stehen zeitgenössische Berichte über das Sprachenlernen. Zu all diesen Quellenkreisen sind (mir) nur ganz wenige Studien aus mehrsprachigkeitsdidaktischer Sicht bekannt. Der Begriff Fremdsprachenunterricht unterstellt stillschweigend, dass der zu erlernenden linguistischen Varietät überhaupt der Status einer ‚Sprache‘ zuerkannt wird. Schon dies verbindet die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts der Volkssprachen mit ihrer Benennung und Normierung. In De vulgari eloquentia (vor 1305) unterscheidet Dante die romanischen Varietäten - viel zu grob - nach dem Bejahungspartikel in die si-, oc- und oil-Sprachen. Zur Frage der Benennung erläutert M IGLIORINI (1978: 266) mit Blick auf das 15. Jahrhundert: „Quanto al nome della lingua, ancora si adoperano promiscuamente e quasi indifferentemente i termini di volgare, fiorentino, toscano, italiano: non sono ancora nate le dispute a chiarire le differenze (o, piuttosto, a invelenire la questione senza chiarirle)“. Wie unsicher der Status Sprache war, beobachtet auch G LÜCK (2002: 29): Der Autor der ersten Grammatik des Niederländischen, von Twe-spraak van Nederduitsche letterkunst (1584), sieht „den Zusammenhang seiner Muttersprache mit dem Dänischen, Friesischen und Englischen und nennt sie zusammenfassend verscheyden Duytsche spraak“. Dergleichen Zeugnisse begegnen bis weit ins 18. Jahrhundert hinein: Matthias Kramer berichtet 1716, dass Sprecher des Niederdeutschen und des Hochdeutschen einander nicht ohne weiteres verstanden, und der Abbé Grégoire bilanziert in den Jahren der Französischen Revolution, dass von den über 25 Millionen citoyennes et citoyens nur drei Millionen des republikanischen Idioms wirklich mächtig waren und weitere 12 es mehr oder weniger radebrechten (B ALIBAR / L APORTE 1976). Im Kontext von Interkomprehension ist also zu resümieren, dass über viele Jahrhunderte hinweg weniger die innerhalb einer gewissen (engen) Bandbreite realisierte statistische Norm das Erlebnis der meisten Menschen mit der eigenen Sprache prägte als vielmehr deren zahlreiche, nicht unbedingt interkomprehensible Varietäten. Manches legt also die Vermutung nahe, dass eine Varietät erst einen Status als fremde ‚Sprache‘ erworben haben musste, ehe sie auch als Fremdsprache im institutionellen Zusammenhang gelehrt werden konnte 1 . Dies hat viel mit dem ‚Prestige‘ einer Sprache zu Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu 135 einer eigenen Sprache, eingeführt wurde, während das Französische in den dortigen Schulen bereits im 16. Jh. unterrichtet wurde. 39 (2010) tun (G REIVE 2001) und führt zu den Ursprüngen der questione della lingua-Debatte. Als eine Voraussetzung für ihr hohes Ansehen galt die Fähigkeit einer Volkssprache, dass sich auch ‚sublime‘ Themen in ihr behandeln ließen. Zugleich begann die Emanzipation der Volkssprachen von dem lateinischen Gelehrtenadstrat. Schon angesichts der späten Kodifizierung unserer europäischen Sprachen zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert leuchtet es ein, weshalb deren Unterricht methodisch in der Tradition des Lateinischen stehen musste, das ja über tausend Jahre als gelehrtes Adstrat und Vorbild fungierte. Seine Verwendung als lingua franca auch in den Lehrmaterialien sicherte, dass die Metasprache der beschriebenen Sprachen das Lateinische war, was das Werk einem breiten Publikum überall in Europa verständlich machte. Als vortreffliches Beispiel für den Einfluss der lateinischen Grammatiken gilt die Ars grammatica des Aelius Donatus aus der Mitte des 14. Jahrhunderts (S CHÖNBERGER 2008). Mag die Tatsache der Benennung der ersten ‚volkssprachlichen‘ Grammatik, des Donat (sic) Provençal des Hugo Faidit, aus dem 12. Jahrhundert, ebenso für sich sprechen wie die zahlreichen Auflagen der Ars grammatica in der frühen Neuzeit. Alle Grammatiken der Zeit ordnen den Stoff in der Weise, wie sie seit dem Aelius Donatus bekannt war, und zwar u.a. nach den partes orationis (Nomen, Pronomen, Verben, Adverben, Partizipien, Konjunktionen, Präpositionen, Interjektionen; zu denen sich im Falle der Volkssprachen Ausspracheregeln gesellen). Da der grammatikographisch-methodischen Filiation ebenso wenig wie dem folgenden Gedanken in diesem Beitrag weiter nachgegangen werden kann, sei zumindest noch der enge Bezug erwähnt, der sich zwischen den in den Grundzügen weitgehend ähnlichen Beschreibungsschemata der Alten Sprachen, der Allgemeinen Grammatik und den volkssprachlichen Grammatiken feststellen lässt. Für das Französische lässt sich eine Linie zeichnen, die von der Grammaire générale et raisonnée (1660) von Antoine Arnauld und Claude Lancelot, besser als Port Royal-Grammatik bekannt, zu den einschlägigen Werken von François-Séraphin Regnier-Desmarais (1705), Claude Buffier (1709), Pierre Restaut (1730), Gabriel Girard (1747) und Nicolas Bauzée (1771) verläuft, dessen Werk den aufschlussreichen Titel trägt Grammaire générale ou Exposition raisonnée des éléments nécessaires du langage, pour servir des fondements à l’étude de toutes les langues. Die pädagogische Essenz der Allgemeinen Grammatik liegt in der Annahme begründet, dass deren Kenntnis das Verstehen der für ‚alle Sprachen‘ gültigen Prinzipien erleichtere. Im Falle der romanischen Interkomprehension erscheint eine solche Annahme durch die ungezählten Parallelitäten zwischen den romanischen Schwestersprachen besonders augenfällig … und verführerisch. Hieran sollte auch die Tatsache nichts ändern, dass Dieudonné Thiébault in seiner Grammaire philosophique ou la métaphysique, la logique, et la grammaire, réunies en un seul corps de doctrine (1802) den überhöhten Erwartungen an die grammaire générale mit guten Argumenten (ehe man eine Allgemeine Grammatik behauptet, müsse man alle Sprachen kennen) ein Ende setzte. Das Interesse an Mehrsprachigkeit und Lernökonomie war jedoch viel zu stark, um derlei 136 Franz-Joseph Meißner 39 (2010) Bedenken aufzunehmen. Dies bezeugt ebenfalls zu Beginn des 19. Jahrhunderts Samuel Barnards A polyglot grammar of the Hebrew, Chaldee, Syriac, Greek, Latin, English, French, Italian, Spanish and German languages, reduced to one common syntax and an uniform mode declension and conjugation as far as practicable, with notes explanatory of the idioms of each language; a succinct plan of their prosody and an extensive index. The whole intended to simplify the study of the languages (Philadelphia). Doch gehen wir noch einmal zurück zum Konnex von Lateinlernen, Allgemeiner Grammatik und Mehrsprachenlernen in das Jahr 1611. Damals erschien in Salamanca die für das Lateinlernen ausgelegte Ianua linguarum sive Modus maxime acommodatus, quo patefit aditus ad omnes linguas intelligendas des Jesuiten W. Bathes. S ÁNCHEZ P ÉREZ (1992: 129) zitiert in diesem Zusammenhang aus einem Brief des Paters Hernando Vázquez de Guzmán an einen irischen Bruder: „Recibi el methodo breve para aprender lenguas […] he leydo las sentencias todas, y me parece la casa mas ingeniosa […] que jamas he visto a este proposito, fuera de ser un methodo para aprender cualquier lengua muy breve [...]“ 3. Mehrsprachenglossare vor 1750 im Überblick Dass die Volkssprachen vor allem aus Gründen ihrer praktischen Verwendbarkeit gelernt wurden, belegen die zahlreichen, in Umfang und Form sehr heterogenen, zumeist zu praktischen Zwecken verfassten und metalexikographisch schwer einzuordnenden Mehrsprachenglossare (H AENSCH 1991: 2910). Zu ihrem pädagogischen Gehalt bemerkt G LÜCK (2002: 413) mit Blick auf eine frühe Quelle: „In zwei Handschriften des vocabularius quadriidiomaticus [...] des […] Schulmeisters Dietrich Engelhus (um 1362-1434) […] vom Anfang des 15. Jh. wird die Möglichkeit erwogen, diesen Texttyp auch für aliud ydioma ut […] ungaricum, anglicum, bohemicum, jtalicum […] vorzusehen.“ Es ist im vorliegenden Rahmen nicht beabsichtigt, die Mehrsprachenglossare im Detail zu beleuchten. Aus fremdsprachenpädagogischer Sicht ist die ‚Anordnung‘ des Wortmaterials aufschlussreich. H ÜLLEN notiert (1997: 33): „Die enzyklopädische Ordnung selbst (des onomasiologischen Inventars) wurde zum didaktischen Prinzip. Während bei alphabetischen Glossaren immer nur die einzelne Gleichung zwischen dem lateinischen und dem nationalsprachlichen Ausdruck interessierte, war bei dem onomasiologischen die Anordnung insgesamt das Mittel des Sprachenlernens. Der in ihr gesehene ‚natürliche‘ Zusammenhang galt als Lernmethode“. Extrapoliert man diese Notiz mit Blick auf die Mehrsprachenförderung, so ist zu bemerken, dass die Machart der Mehrsprachenglossare auch mit dem Alter der Adressaten in Bezug stand: Wenn der Orbis sensualium pictus…/ Die sichtbare Welt. Aller vornehmsten Welt Dinge und Lebensverrichtungen Vorbildung und Benahmung (Nürnberg: Michaelis Endteri 1658) des Jan Amos Comenius, der im Übrigen für eine strenge Trennung der Sprachen im Unterricht plädierte, die Lemmata in kleinen mentalen Szenarien in Bildern und kurzen Texten (Kollokationen) veranschaulichte, so richtet sich dies an Kinder: Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu 137 2 Vgl. zur Problematik der Erfassung von Referenzwerken Z ÖFGEN (1998: 298). 39 (2010) „agnus balat, das Schaf blöcket; cornix cornicatur, die Krähe krächzet,…“ (vgl. R EIN - FRIED 1992). Wurden allerdings anderssprachige Versionen desselben Werkes sukzessiv für den Erwerb weiterer Sprachen benutzt, so bedeutete dies einen eindeutigen Rückgriff auf das zuvor aufgebaute Vorwissen. Eine viersprachige Version des Orbis pictus (Latein, Deutsch, Italienisch, Französisch) erschien im Jahre 1666. Offensichtlich ist es für die didaktisch-historische Einstufung von Lehrmaterial auch wichtig zu wissen, wie dieses pädagogisch genutzt wurde. Die folgenden chronologischen, aus S TENGEL (1890) bzw. N IEDEREHE (1976), P UREN (1988), M INERVA / P ELLANDRA (1991), S ÁNCHEZ P ÉREZ (1992), G ERMAIN (1993), C ARA - VOLAS (1994), B IERBACH (1997), L ÉPINETTE (2001) und G LÜCK (2002) kompilierten Auflistungen bezeugen das durchgehende Interesse an mehrsprachigen Glossaren und Grammatiken bis zum Jahre 1750. Beide Listen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 2 1502: Ambrosius Calepinus B ERGOMATES , Dictionarium latinarum et graeco pariter derivantium earumque [....]. (1555 Venetiis: Ioann. Gryphius). 1520: A NONYMUS , Vocabulario para aprender Franches, Espannol y Flaminco. (Antwerpen: Willem Vosterman). 1531: Franciscus G ARONUS , Quinque linguarum utilissimus vocabulista Latine, Tusche, Gallice, Hispane, et Alemanice valde necessarius. (Nurimbergae: F. Peypus). 1546: C ALEPINUS , Pentaglottos, hoc est quinque linguis, nemque Latina, Gaeca, Germanica, Flandrica & Gallica constans. (Antwerpiae). 1551: A NONYMUS , Vocabulario de quatro lenguas. Tudesco, francés, latino y español, muy provechoso para los que quisieren aprender estas lenguas. (Louvain). 1554: Noël B ERLAIMONT , Colloquia et dictionariolum septem linguarum. Belgicae, Anglicae, Teutonicae, Latinae Italicae, Hispanicae, Gallicae. (Liège: Henri Hus). 1555: Noël B ERLAIMONT : Vocabulaire (français, flamand, latin, espagnol). (Louvain: B. de Graves). 1572: C ALEPINUS , Dictionarium, quanta maxima fide et diligentia fieri potuit accurate emendatum, ac multis hinc inde locis auctum; in quo latinis dictionibus adiectae sunt graecae, gallicae, italicae et hispanicae; accesserunt insignes loquendi modi, lectiones, etymologiae ... (Antwerpen). 1572: C ALEPINUS , Dictionarium linguarum septem. Auch: Dictionarium septem linguarum iam demum accurata emendatione, atque infinitorum locorum augmentatione, collectis ex bonorum authorum monumentis, omnium vocum significationibus flosculis …; respondent antem latinis vocabulis, graece, italica, gallica, hispanica, germanica, belgica. 1589: A NONYMUS , Colloquila y diccionariolum linguarum Belgicae, Teutonicae, Latinae, Italicae, Hispanicae, Gallicae. (Bruxelles: Apud Henricum Houium). 1624: Isaac H ABRECHT , Janua linguarum quadrilinguis Latina, Germanica, Gallica, Hispanica. 1626: Angel de Z UMARÁN : Thesaurus linguarum, in quo facilis via Hispanicam, Gallicam, Italicam attingendi etiam per Latinam et Germanicam sternitur. (Ingolstadt) Verschiedene Auflagen. 1659: Philemon F ABRI , Dialogues en cinq langues, y compris le latin, revus et augmentés. 2. Auflage der 1656 in Amsterdam gedruckten Dialogues en quatre langues, français, espagnol, italien, allemand. 1666: Johann Amos C OMENIUS , Orbis sensualium pictus quadrilinguis, Hoc est, Omnium fundamentalium in mundo rerum, et in vita actionum, Pictura et Nomenclatura Germanica, Latina, Italica et Gallica; Cum Titulorum juxta, atque Vocabulorum Indice. (Noribergae: Endterus) (mehrfacher Nachdruck, u.a. 1777). 1741: C ALEPINUS , Septem linguarum Calepinus. Hoc est lexicon latinum, variarum linguarum interpretatione adjecta in usum Seminarii Patavini. 1762: Ignatius W EITENAUER , Hexagloton sive modus addiscendi intra brevissimum tempus linguas: gallicam, italicam, hispanicam, graecam, hebraicam, chaldaicam, anglicam, germanicam, belgicam, latinam, lusitanam et syricam. Usw. 138 Franz-Joseph Meißner 39 (2010) Vieles bliebe zu den einzelnen Glossaren im Kontext der Interkomprehensionsmethode zu bemerken, was an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Kein Einzelfall ist, dass die Listen oft die Grenzen eines Glossars zum Lehrwerk hin überschreiten und lexikalische mit grammatikalischen Informationen vermengen. Symptomatisch ist die Beobachtung von S ÁNCHEZ P ÉREZ (1992: 189) zum Hexagloton: „Weitenauer incorpora su propia teoría sobre cómo aprender una lengua. Y para ello se vale del método comparativo y de la traducción interlineal“. Elemente des Hexaglotons waren 1. Ein Grundschema für eine jede Sprache, 2. Ein Vokabularium (soweit es im Hexagloton benutzt wurde), 3. Formenlisten, 4. praktische Beispiele und 5. eine Beschreibung der Ausspracheregeln. 4. Lehrwerke und Grammatiken im Überblick Eine sprachenübergreifende Lernökonomie lässt sich hinter folgenden vor 1750 erschienenen Lehrwerkstiteln vermuten: 1558: Gabriel M EURIER , Coniugaisons, régles et instructions mout propres et necessairement requises pour ceux qui desirent apprendre français, italien, espagnol et flamen, dont la plus part est mise par manière d’interrogations et de reponses. 1560: Mario Alessandro D ’U RBINO , Il parangone della lingua toscana e castigliana. (Napoli: M. Cancer). 1586: Antonio DEL C ORRO : Reglas gramaticales para aprender la lengua española y francesa. (Oxford) 1589: Scipio L ENTULUS , Grammatica italica et gallica in Germanorum, Gallorum et Italorum gratiam latine acuratissime conscripta… huic nuper adjecata interpretatio Gallica tam nominum quam verborum, caeterumque particularum orationis autore Antonio Francisco Madio. 1590: Antonio DEL C ORRO : The Spanish Grammar with certeine Rules teaching both the Spanish and the French. By which they that haue some knowledge in the French tongue, may easier attaine to the Spanish, and likewise… (London: John Wolfe). 1590: John T HORIUS , The Spanish Grammar. With certain rules teaching both the Spanish and the French Tongues. By which they that have some knowledge of the French tongue, may the easier attain to the Spanish, and likewise they that have the Spanish, with more facilitie learne the French: and they that are acquainted with neither of them, learne either of both. 1614: Heinrich D OERGANG , Institutiones in linguam Gallicam, admodum faciles, quales antehac nunquam visae. Quibus omnes eius linguae difficultates ad viuum quàm luculentissime resecantur & dissoluuntur, adeò ut diligens ac generosus proprio eam Marte ex hic addiscere possit. Germanos inprimis qui eius linguae fragrant desiderio, explebunt gaudio & reliquis nationibus multum poterunt adferre fructus. (Colonia: mehrere Auflagen). 1625: Pietro D URANTE , La grammatica italiana per imparare la lingua francese / utilissima per tutti quelli, che saranno / studiosi di detta lingua (Roma: Franceso Corbelletti). 1626: Antoine F ABRE , Grammaire / pour apprendre / les langues / italiennes, francoise et espagnole (…) en la quelle se declairent amplement auec grand fa-/ clitè & propiertè les parties de l’oraison, en Francois, Italien & Espagnol… (Venise: Pour les Guerigl Libraire). NA: 1627, 1637, 1646, 1655, 1656. 1636: Emericus C HAPPIN , Grammatica Trilinguis idiomati trino Italico, Gallico, Hispanico. (Monachi). 1637: Pierre B ENSE , Analogo-Diaphora seu concordantia descrepans et discrentia concordans trium linguarum Gallicae, Italicae et Hispanicae. (vgl. Sánchez Pérez 1993: 127). 1655: Giovanni Alessandro L ONG - CHAMPS & Lorenzo F RANCIOSINO , La novissima / grammatica / delle tre lingue / italiana, franzese / e spagnuola, cioè la franzese e l’italiana di Alessandro Longchamps, et la spagnuola di Lorenzo Franciosino (Venetia : Giunti). NA: 1664, 1667, 1668, 1669, 1673, 1681. 1666: Bartolomé Labrioso DE LA P UENTE , Paralelos de las tres lenguas. Castellana, Francesa y Italiana; dirigidos a los hijos de los señores y de toda la nobleza de España,… (Paris). 1673: Giovanni Alessandro L ONGCHAMPS , Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu 139 39 (2010) Grammatica delle lingue italiana e francese con la spagnuola di Lorenzo Franciosini. 1674: Pierre B ESNIER , La réunion des langues ou l’art de les apprendre toutes par une seule. (Louvain/ Paris). (Ein Jahr später erscheint in Oxford eine englische Übersetzung). 1674: J. S MITH , Grammatica quadrilinguis, or: Brief instructions for the French, Italian and Spanish tongues. With the proverbs of each language, fitted for those who desire to perfect themselves therein. (London). 1675: Roberto P ARIS , Nuova / Grammatica / francese, e italiana / nella quale / sono contenute tutte le Rego/ le per imparare a ben leggere/ pronunciare, intendere, parla/ re, e scriuere la lingua France-/ se con molta facilità (Messina: Bisagni). Interessant erscheint der Hinweis: “Il francese si può imparare nello spazio di tre o quattro mesi” und die “lettura (…) in solo otto giorni grazie alle regole semplici di questo metodo“ (Messina: stamperi del Bisagni). NA: 1679, 1681. 1677: Michele B ERTI , L’art d’enseigner / la langue francoise / par le moyen de l’italienne / ou la langue italienne / par la francoise (Florence : A la Conduitte). NA: 1682, 1685, 1689. 1682: Jacques D U B OIS DE G OMICOURT , Nuova grammatica / francese, / spiegata in italiano (...) seconda edizione reuista, corretta e accresciuta dall’autore (...), (Roma: Crozier Librario vicino/ L’Orologia della Chiesa Nuova). NA: 1693. 1728: Josef Anton VON E HRENREICH & Louis P OITEVIN , Le parfait entonnoir des langues, ou la nouvelle grammaire théorique-pratique français - allemand - italien. (Ludwigsburg). Erwähnenswert erscheint, dass von Ehrenreich auch eine italienische Übersetzung des viel gelesenen Télémaque von Fénelon besorgte. 5. Kleinere Fallbeispiele zu einer historischen Mehrsprachigkeitsdidaktik: Scipio Lentulus, Heinrich Doergang, J. Smith, Pierre Besnier Aus der Fülle möglicher Belege für eine Mehrsprachigkeitsdidaktik avant la lettre seien vier herausgegriffen, die zu unterschiedlichen Bereichen der sprachlichen Architektur und zu unterschiedlichen Sprachen den Wunsch nach Förderung der Mehrsprachigkeit bezeugen. Vorab ist zu erwähnen, dass das Nebeneinanderhalten von vergleichbaren Sprachformen dem pädagogischen Prinzip des auch von E HRENREICH vertretenen difficilis per praecepta via, facilis per exempla entspricht. Zweifellos ist es gerade zwischen Sprachen, deren Formen einander stark ähneln, von besonderer Wirksamkeit. Scipio L ENTULUS (a.a.O.: 13) liefert zahlreiche Beispiele hierfür. Wir greifen das Thema Deklination des Italienischen heraus, das er in den Vergleichssprachen Italienisch, Französisch und Latein präsentiert. No. Sing. Egli, ei, e, quéllo, coluí il, luy is, ille Genit. de lui, colúi, quéllo de luy cuius, illius Dati. a lúi, colúi, quéllo à luy ei, illi Acc. lúi, colúi, quéllo luy eum, illum Ablat. da lúi, colúi, quéllo de luy eo, illo Auch in Heinrich D OERGANG s Institutiones in linguam hispanicam… (1664: 60) ist das explizite interlinguale Vergleichen eine Strategie des Erwerbs. Ein Beispiel hierzu aus dem Bereich der Morphemik: „Latina in ensis, & Italica in ese, Hispanicè terminantur in 140 Franz-Joseph Meißner 39 (2010) és, ut: Boloniensis, Boloniese, Boliniés, Coloniensis, Coloniese, Coloniés…“ Oder: „Ablativi in ctione & tione mutant ct & t in c, […] ut: Lectione, lecion, actione, acion, corruptione, corrupcion…“ (ebd.) Auch Doergang bietet zahlreiche Belege für sprachenübergreifendes Vergleichen (hierzu G REIVE 1996). Bei J. Smith geht es 1664 in der Grammatica Quadrilinguis. Or Brief Instructions for the French, Italian, Spanish and English Tongues… um die - modern gesprochen - Fehlerprophylaxe in Richtung Spanisch nach Französisch und Italienisch für englischsprachige Lerner: „Cúyo, cúya is both, an Interrogative, and Relative, it makes cúyos, cúyas in the Plural Number, and signifies whose, of whom, whereof, of which. It alwayes agrees with the thing possessed, contrary to the French, which regards the possessor“ (1664: 155). Wie P AUCHARD (2004) notiert, entwickelte der schon erwähnte Pierre Besnier mit La réunion des langues ou l’art de les apprendre toutes par une seule (1774) eine Methodik zum integrativen Erlernen fremder romanischer Sprachen. Dem Titel nach fördert die Methode zwar die (Inter)Komprehension, weniger dagegen die produktive Fähigkeit. Bereits im Jahr darauf erscheint in Oxford eine englische Übersetzung: A Philosophicall Essay for the Reunion of the Languages, or the Art of Knowing all by the Mastery of one (Oxford by Hen Hall for James Good 1975). Auch Besnier, der Ménages Dictionnaire étymologique de la langue françoise (1750) die Abhandlung Sur la Science de l’Etymologie beigefügt hat, nennt interlingual-phonologische Korrespondenzregeln (CADERE, cadere, caer, pikardisch kêr/ câr, choir). Auch er kennt - avant la lettre - so etwas wie den interlingualen Transfer (der ja immer auch einen Lern- oder Erwerbstransfer beinhaltet). Als Voraussetzung für einen solchen nennt er zwei Bedingungen: die Verbreitung (universalité) des Phänomens - er grenzt hier allgemeine deutlich von idiolektalen Merkmalen ab - und seine Stabilität (certitude) in Abgrenzung zum in diachronischen und diatopischen Kategorien entgegentretenden Wandel. 6. Schlözer als Sprachensammler und Erfinder der ‚Wurzel-Methode‘ S CHRÖDER (1983: III, 88 ff) präsentiert in seiner Quellensammlung auch die Erfahrungen des Russlandreisenden und Publizisten August Ludwig von Schlözer (1802), der 1751 an der Universität Wittenberg ein Studium der Theologie aufnahm, das er bei dem Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis fortsetzte. Zur Vorbereitung einer Reise nach Palästina studierte er orientalische Sprachen, darunter Arabisch. In Schweden verbrachte er drei Jahre als Hauslehrer. Zwischen 1761 und 1770 war er in Russland tätig; u.a. als Adjunkt der Petersburger Akademie. Mit seinem Aufbruch nach Russland verband sich eine akute Sprachnot: „Meine erste Sorge war es nun, Russisch zu lernen“ (zit. bei S CHRÖDER : ebd.; dort auch die weiteren Bemerkungen zu von Schlözer). Von Schlözer war neben dem Deutschen vor allem des Altgriechischen und des Lateinischen, aber auch des Französischen mächtig; rezeptiv kannte er weit mehr Sprachen, darunter das Arabische. Für „das Russischlernen stand ihm Grönings russische Grammatik in schwedischer Sprache (Stockholm 1750…)“ zur Verfügung. Des Weiteren nutzte er einen cellarius, „wo alle Wörter unter ihren (freilich oft ser verfelten) Wurzeln mit der lateinischen Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu 141 3 August Ludwig Schlözers öffentliches und Privatleben, von ihm selbst beschrieben. 1. Fragment: Aufenthalt im Dienste in Rußland, vom Jahre 1761-1765. Literarnachrichten von Rußland in jenen Jahren. Göttingen. 39 (2010) Bedeutung standen“. Seinen Aufträgen gemäß wählte Schlözer den Weg über das Übersetzen, was eine gewisse Transparenz der Zielsprache, die sich keineswegs auf den ersten Blick erweisen muss, voraussetzt. Er sicherte sich - modern gesprochen - die Verarbeitung eines erheblichen Inputs, indem er einen Folianten von 781 Bögen einfach abschrieb. Das von ihm gewählte Ensemble von Strategien belegt die äußerste Nähe seines procedere zur heutigen Interkomprehensionsmethode (S CHLÖZER 1802: 40) 3 : In der Verzweiflung fing ich (18. Januar 1762) an, das Opus wörtlich abzuschreiben, die radices mit gröberer Schrift, die derivata und composita kleiner und eingerückt. Ich setzte diese Fron fort, so oft ich von gescheiteren Arbeiten müde war, […] Die noch fehlenden 6 Buchstaben vollendete ich […] bis 26. Juli 1764 […]. Nun hatte ich ein zum Aufschlagen sehr bequemes Lexikon, 34 Alfabete in Folio auf 3 Alfabete in Quarto reduziert, mit breitem Rande; auf dem nun […] unablässig etymologische Bemerkungen, Verbesserungen, Ergänzungen, Vergleichungen und dergleichen eingetragen sind. […] Die russische Sprache kam mir schwerer vor als alle, die ich bis dahin gelernt hatte: dennoch hatte ich in kurzer Zeit ihre HauptSchwierigkeiten überwunden, - wol zu merken, nur um sie zu verstehen, nicht zu schreiben, und noch weniger, sie zu sprechen. Einen großen Vorteil gewährten mir hierbei überhaupt meine bisherigen SprachStudien. Ich hatte bis auf 15 Sprachen (falls ich Plattdeutsch und Chaldäisch besonders zählen darf) grammatisch traktieret. Nun, je mehr Sprachen man versteht, desto leichter lernt man neue hinzu: Ihre Eigenheiten fallen nicht mehr auf, man hat sie auch schon anderswo vorgefunden. Der Walache (Rumäne) hängt den Artikel dem Worte hinten an, das tut ja der Schwede auch: das Russische apud me est für ich habe ist das lateinische est mihi, das griechische, schwedische und russische Medium und das hebräische Hitpael hellen einander wechselweise auf, das w sprechen Briten und Araber auf gleiche Weise aus, das a des Japaners in dem Namen seiner HauptStadt Mako klingt völlig wie das russische ja, usw. „Die ersten 100000 sagt der Millionär, sind mir sauer geworden, mit den folgenden 900000 ging es leichter.“ Nächstdem kam mir auch mein Griechisch […] beim Russischen besonders, und zwar auf eine doppelte Art und Weise zustatten. 1. Es ist immer abschreckend, wenn man bei einer neuen Sprache erst ein neues ABC lernen muss. […] Aber nicht bloß zum Lesen, sondern auch 2. zum Verstehen half mir das Griechische. Alle russischen KirchenWörter, deren eine ungeheure Menge ist, sind griechisch, so wie die der übrigen Christenheit lateinisch sind […]. Das übrige verdanke ich einer SprachMethode, auf die ich, 15 Jahre alt, von selbst verfallen war, die mir aber nachher Hiller in Wittenberg und Gesner und am meisten Michaelis in Göttingen ausbildeten; einer lustigen Methode, die durch Denken weiter als durch Memorieren führt, und den, der Denkens fähig ist, des stupiden Fleißes überhebt. Junge Leser finden hier vielleicht etwas nicht allgemein Bekanntes, wenn ich sie ihnen beschreibe. a.) Seit meinem 11. Jahr an lernte ich Hebräisch und bekam darüber den Kopf voll mit Wurzel(Stamm-)Wörtern (radicibus). In der Folge fiel mir ein, dergleichen WörterGenealogien möchten wohl auch in anderen Sprachen erfindlich sein, und die dem Anschein nach verschiedensten Bedeutungen müßten einen VereinigungsPunct haben. So grübelte ich über alt und Eltern, trübe und betrüben, fünf und Finger, pecus und pecunia, pes und impedio … bei vielen erriet ich den VereinigungsPunct oder die GrundBedeutung und machte seitdem in allen Sprachen auf die radices Jagd. Hatte ich mir von einer neuen Sprache nur hundert radices bekanntgemacht, so kosteten mich 400 derivata (und noch weit mehr composita, siehe unten) wenig neue Mühe; 142 Franz-Joseph Meißner 39 (2010) one aufzuschlagen erriet ich ihre Bedeutung oder behielt sie doch sehr leicht. - Nach dieser WurzelMethode griff ich nun auch das Russische an. Und da sonst, neue radices zu behalten, eine lästige MemorienSache ist; so war ich selbst hier dieser Mühe durch meine Bekanntschaft mit anderen Sprachen beinahe enthoben. Ich fand nämlich sehr früh, dass unter 10 russischen (oder slavonischen) GrundWörtern zuverlässig immer 9 waren, die sich auch entweder im Deutschen oder Lateinischen oder Griechischen oder wohl gar in allen drei Sprachen zugleich fanden und deren ursprüngliche Identität nach sicheren Regeln ohne kindisch-gewaltsames Etymologisieren, bewiesen werden konnte. […] Das Ende meiner WurzelMethode […] war nach ein paar Jahren, daß, als mir die meisten russischen radices geläufig waren, mir nun alle slawischen Dialekte, Böhmisch, Kroatisch, Lausitzisch usw. offen standen. Die GrundWörter sind in allen einerlei, die Abweichungen in den Flexionen kosteten ein vierwöchiges Studium der Grammatik: also, nachdem ich das Russische überwunden hatte, fand ich, daß ich zugleich 4, 5 anderen Sprachen verstände, oder sie in 4 Wochen verstehen könnte. Aus Gründen des begrenzten Platzes können von Schlözers recht deutliche Ausführungen hier nicht eingehend kommentiert werden. Schlözers Versuch, das Vorwissen für die Identifikation und die Memorierung ‚neuer‘ Strukturen aus ‚neuen‘ Sprachen zu nutzen, betrifft alle Bereiche der sprachlichen Architektur, auch die Morphologie und Flektionen. Schlözers ‚Sprachen-Portfolio‘ umgreift alle eingangs genannten Kriterien für die Identifikation der Interkomprehensionsmethode, insbesondere auch den gezielten Einsatz von metakognitiven Strategien auf verschiedenen Ebenen: das Lernmanagement („so oft ich von gescheiteren Arbeiten müde war“; er sucht sich geeignete Materialien; organisiert das persönliche Kontaktlernen), das Memorisieren (systematische Umwälzung und Wiederholung des Vokabulars durch Erstellung einer strukturierten Wortliste; Sammeln von grammatischen Fragen zur Disambiguierung seiner Sprachhypothesen - im Kern begegnen hier die Hypothesengrammatik und der Didaktische Mehrsprachenmonitor [M EI ß NER 2007]), die Überprüfung des Lernerfolgs und die Strategien zur Erhöhung der Selbstmotivation (Selbstwirksamkeit „in 4 Wochen weitere slawische Sprachen verstehen“ können), die Nutzung von social support (den er bei Müller in Petersburg breit einfordert) usw. Wie andere Zeitgenossen erkennt und nutzt Schlözer Phänomene, die seine Zeit noch nicht auf den Begriff gebracht hatte. Ein augenfälliges Beispiel dafür liefert das Wort „Vereinigungspunct“ von zwei Phänomenen aus unterschiedlichen Sprachen. Das tertium comparationis begegnet in heutiger Terminologie in den Etiketten Transfer, Transferbasis, Transferauslöser und Transferkontrolle. Ebenfalls spricht es für Schlözers didaktische Einsicht, wenn er die Grenzen der „Wurzel-Methode“ erkennt: Sie führt im ersten Schritt dazu, „zu verstehen, nicht zu schreiben, und noch weniger, sie zu sprechen“. Soweit in aller Kürze das vielleicht Auffälligste. 7. Ergebnis An zahlreichen historischen Referenzen konnte die Existenz einer Didaktik der Mehrsprachigkeit ante litteram im eingangs beschriebenen Sinne nachgewiesen werden. Wie jede Methodik war diese von den Bedingungen der jeweiligen Zeit geprägt. Hierzu zählte Gibt es eine Mehrsprachigkeitsdidaktik ante litteram ? Ein historisches Aperçu 143 4 Die historischen Titel werden innerhalb des Aufsatzes genannt und aus Gründen des begrenzten Platzes hier nicht erneut aufgeführt. 39 (2010) auch der Entwicklungstand der Bezugswissenschaften. Den zahlreichen Autoren von Mehrsprachenglossaren und auf Sprachenvergleich beruhenden Lehrwerken ging es immer darum, das plurilinguale Vorwissen der Lerner für den Erwerb weiterer Sprachen zu nutzen. Da die Autoren selbst Sprachenkundige waren, verwerteten sie ihre eigenen Erfahrungen - Sprachen- und Sprachlernbewusstheit - für die entwickelten Materialien. Nicht zuletzt zeigen die Ergebnisse aber auch die hier offen gebliebenen Fragen. Dies signalisiert, dass die historische Sprachlehre auch unter solchen Gesichtspunkten neu zu beleuchten ist, die erst die heutige Didaktik der Mehrsprachigkeit entwickelt hat. Literatur 4 B ALIBAR , Renée / L APORTE , Dominique (1976): Le français national. Politique et pratique de la langue sous la Révolution. Paris: Hachette. 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