Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
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Narr Verlag Tübingen
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2010
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Gnutzmann Küster SchrammGibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung?
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2010
Frank G. Königs
flul3910160
* Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Frank G. K ÖNIGS , Philipps-Universität Marburg, Informationszentrum für Fremdsprachenforschung, Hans-Meerwein-Straße, 35032 M ARBURG E-Mail: koenigs@staff.uni-marburg.de Arbeitsbereiche: Konzeptbildungen der Sprachlehrforschung, Psycholinguistik des Fremdsprachenlernens, Methodik und Didaktik der Fremdsprachenvermittlung (insbesondere Deutsch als Fremdsprache und Romanische Sprachen), Übersetzungsdidaktik, Curriculumentwicklung, Lehrerbildung. 39 (2010) F RANK G. K ÖNIGS * Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? Abstract. In this article the author defines the term „myth“ and analyses whether there are myths in foreign language research. The analysis covers the period from the Critical Age Hypothesis through Reflective Language Learning to Multilingualism. Subsequently, the topics of Vocabulary Learning, the New Media, Group Work and Standards are investigated. After an in-depth analysis of why such myths originated and continue to exist, the focus of the paper shifts to the importance of empirical research and critical thinking in understanding how to deal with the problems arising from FLT myths. Such myths certainly exist; however, they need to be researched more thoroughly and objectively in order to ascertain whether they have ever had any basis in reality. 1. Einleitung Das Thema meines Beitrags könnte den Eindruck erwecken, als läge da ein Irrtum vor, und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Die Mythen gelten als ein Wahrzeichen der Zentralschweiz und bezeichnen zwei Gebirgszüge, deren höchster bei etwas über 1800 Metern liegt. Die dürften mit Fremdsprachenforschung allenfalls insofern etwas zu tun haben, als die in dieser Region gesprochene Varietät sicher sprachlich eine Herausforderung darstellt. Vielleicht denkt der Leser bei „Mythos“ aber auch an Heldensagen; also im Grunde an tradierte und erfahrungsgeronnene Erzählungen, in denen die Gegenwart durch den Rekurs auf die Vergangenheit begründet und erleuchtet wird. Mythen haben die Menschen immer wieder beschäftigt. Insbesondere in der Romantik nehmen Versuche zu, durch Erzählungen Tradiertes in einem natürlichen Gegensatz zum wissenschaftlich Fundierten zu sehen. Was sich der Ratio entzieht und von ihr nicht zu fassen ist, wird durch die Irrationalität argumentativ salonfähig gemacht. Dies setzt allerdings voraus, dass sich größere Teile einer Gesellschaft dazu verstehen, auf diese Tradierungen zu rekurrieren. Dabei nimmt man konzeptuell durchaus in Kauf, dass durch Mythen nicht unbedingt Wahres transportiert wird, sondern dass es sich zu einem gewissen Anteil um Projektionen handelt, also um Zuschreibungen, die sich durch häufige und flächendeckende Wiederholungen verfestigen. Es verwundert von daher nicht, dass Mythen und Mythenbildung zum einen eher in die mit Glauben befassten Wissenschaften fallen sowie Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? 161 1 Diese sowie die folgende Darstellung sind dem unveröffentlichten Beitrag von W OLF (2006) entnommen. 39 (2010) zum anderen in die Literaturwissenschaft oder die Soziologie. Ist also die Frage nach einer Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung damit falsch gestellt? Ich möchte auf diese Frage mit einem Beispiel antworten: Sicher „wissen“ wir, dass wir eingehende Informationen in Abhängigkeit von den Wegen speichern, auf denen wir uns mit diesen Informationen auseinandersetzen. In einem 2004 erschienenen Lese- und Sprachbuch (deutsch.ideen 5: S. 14) findet sich dazu unter der Überschrift „Sich leichter etwas merken“ die folgende Darstellung 1 : Und in einem ebenfalls 2004 erschienenen Biologiebuch (Biologie heute 2 aktuell: S. 270) sind dazu sogar noch Prozentzahlen aufgeführt: 162 Frank G. Königs 2 „Was du mir sagst, das vergesse ich. Was du mir zeigst, daran erinnere ich mich. Was du mich tun lässt, das verstehe ich.“ (Konfuzius, http: / / www.zitate-online.de/ autor/ konfuzius, zuletzt eingesehen am 4.1.2010). 39 (2010) Diese Befunde kommen uns bekannt vor. Sie entsprechen wohl dem, was wir zu wissen meinen und was wir vielleicht auch aus unserer Erfahrung bestätigen können. Interessant ist nun, dass sich nirgendwo ein empirischer Beleg für diese Prozentzahlen findet. Nach ebenso intensiven wie vergeblichen Versuchen, die Quellen für derartige Angaben zu ermitteln, und unter Verweis auf ähnliche Erscheinungen in der amerikanischen Lernforschung zieht W OLF (2006: 12) den Schluss: „Da in der Pädagogik der Zweck nicht die Mittel heiligt, sind und bleiben die prozentuierten Behaltensquoten in Abhängigkeit von Aneignungsformen oder Lernwegen eine (überflüssige) Manipulation! “ Nun kann man an dieser Stelle einwenden, dass sich dieses Fazit lediglich auf die Prozentangaben bezieht und nicht auf das untersuchte Phänomen selbst, also die Abhängigkeit des Lernens oder Behaltens von der Lernform, und auch W OLF (2006: 6) räumt ein, dass „[d]er Grundgedanke dieser [Darstellungsformen] ... bedenkenswert [ist]... Aber warum wird ihm mit fiktiven Zahlen ein pseudowissenschaftlicher Anspruch verliehen? Konfuzius, wenn er sich denn dazu geäußert hätte, hätte das wohl einfacher auf eine nachvollziehbare Lebensweisheit gebracht“. 2 Aber interessant ist doch, dass sich derartige Aussagen über einen langen Zeitraum halten und - offenbar durch häufige Verwendung - in einem Ausmaß verselbständigen, dass ihr Wahrheitsgehalt als gesichert gilt und nicht mehr hinterfragt wird. Ich bin mir nicht sicher, ob wir unser Beispiel allein mit einer gewissen Autoritätsgläubigkeit gegenüber Zahlen erklären können - wenngleich dies zweifelsohne eine denkbare Ursache ist. Möglicherweise liegen die Ursachen aber auch tiefer. Wie es scheint, bringen wir diese Ungewissheit auch in unserem Gebrauch der Alltagssprache zum Ausdruck: ‚Das ist doch ein Mythos‘ bedeutet, dass wir eine bestimmte Annahme eigentlich ablehnen oder zumindest bezweifeln; die Verwendung des Begriffs ‚Mythos‘ enthält also eine Abwertung, zumindest aber eine skeptische Distanz - ein Umstand, der dem ‚eigentlichen‘ Mythos gar nicht innewohnt, wenigstens nicht notwendigerweise: Ein Mythos ist nicht per se etwas Schlechtes oder etwas Falsches, aber es fehlt der empirische Nachweis dafür, dass der ihm zugrunde liegende Sachverhalt tatsächlich gegeben ist. Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass Mythen für menschliche Verstehensbzw. Erkenntnisprozesse ebenso unabdingbar sind wie z.B. Stereotype. Auch diese lassen sich bekanntlich nicht verhindern, sondern ‚nur‘ im Nachhinein hinterfragen oder aufbrechen - aber dazu müssen sie ja erst einmal entstehen. Wir alle wissen nur zu gut, dass sie das auch gerne tun, eben weil wir als Menschen so ‚funktionieren‘. Vor diesem Hintergrund scheint die Frage nicht ohne Berechtigung, ob es denn Mythen in der Fremdsprachenforschung gibt. Um dieser Frage etwas intensiver nachzugehen, lade ich den Leser im Folgenden ein, sich mit mir auf die Suche nach möglichen Mythen in der Fremdsprachenforschung zu begeben. Diese Suche wird sich in den folgenden Etappen vollziehen: Zunächst werde ich einige in der Fremdsprachenforschung allgemein und überwiegend akzeptierte Ansichten zum Lehren und Lernen fremder Sprachen darstellen und zu klären versuchen, in welchem Umfang sie als verallgemeinerungsfähig angesehen werden können (Kapitel 2). Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? 163 39 (2010) Danach werde ich erläutern, inwieweit es sich dabei um Mythen handelt und auf welche Ursachen sie ggf. zurückgeführt werden können (Kapitel 3). Abschließend werde ich daraus einige Überlegungen für die Fremdsprachenforschung und ihren Umgang mit Erkenntnissen ableiten (Kapitel 4). 2. Mythen in der Fremdsprachenforschung - oder was wissen wir wirklich? Ich werde im Folgenden einige Positionen der Fremdsprachenforschung wiedergeben und schicke vorweg, dass es sich dabei keineswegs automatisch um Mythen handelt. Vielmehr ziehe ich diese Positionen heran, um im Anschluss daran zu zeigen, an welchen Stellen und unter welchen Bedingungen diese Positionen den Status eines Mythos erhalten (haben). Dazu werde ich diese Positionen zunächst darstellen und mit Fragen an ihre Verallgemeinerungsfähigkeit versehen. Im Anschluss daran werde ich etwas grundsätzlicher hinterfragen, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit fremdsprachendidaktischen Erkenntnissen der Status eines Mythos zugesprochen werden muss. Vorweg sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Auswahl dieser Positionen weder vollständig ist noch zufällig erfolgt. Und wichtig ist mir auch der Hinweis, dass es im Folgenden nicht um den alltagssprachlichen, negativ konnotierten Mythenbegriff geht. Ich beginne mit dem Faktor Alter. Jüngere Lerner - so wird häufig behauptet - seien erwachsenen Lernern überlegen. Als Gründe für diese Behauptung wird auf Untersuchungen verwiesen, wonach Fremdsprachenlerner, die in jüngeren Jahren mit dem Fremdsprachenerwerb begonnen haben, eine bessere Aussprache erzielten und außerdem die Fremdsprache spielerisch lernten, während ältere Lerner dazu mehr mentale Mühe aufwenden müssten. Nicht zuletzt diese Annahme spielt bei den Befürwortern eines fremdsprachlichen Frühbeginns eine nicht unwesentliche Rolle. Verstärkt wird diese Position durch die sicher intuitiv sofort einleuchtende Annahme, dass Erwachsene anders lernen als Kinder. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Fremdsprachenangebote für Kindergartenkinder durchaus Konjunktur haben; erinnert sei an Kinder, die bereits in dieser Altersphase mit Chinesisch konfrontiert werden, um ihnen möglichst rasch Kompetenzen in einer Sprache zu ermöglichen, von der man annimmt, dass sie in späteren gesellschaftlichen Konstellationen von großer Bedeutung sein kann. Analysen einschlägiger Arbeiten zum Faktor Alter haben indes keinerlei Indizien dafür ergeben, dass jüngere Lerner tatsächlich besser lernen als ältere (vgl. G ROTJAHN / S CHLAK 2010). Wie aber kommt dann diese Meinung zustande? Sind wir so beeindruckt von der phonetischen Kompetenz von Lernern im fremdsprachlichen Frühbeginn, dass wir nur allzu bereitwillig glauben wollen, dass jüngere Lerner besser sind? Oder wirken sich Äußerungen darüber, wie mühsam Fremdsprachenlernen grundsätzlich ist (und auch sein muss) (vgl. B UTZKAMM 2004) hier meinungsbildend aus? Oder lassen wir uns durch den Umstand blenden, dass mit zunehmendem Lernalter Lerner einer Fremdsprache auch zum Ausdruck bringen, dass die Aneignung eines fremdsprachlichen Systems nicht nur komplex, sondern auch kompliziert ist? 164 Frank G. Königs 39 (2010) Mein zweites Beispiel aus der Fremdsprachenforschung schließt hier unmittelbar an: Es darf als zumindest überwiegender Konsens gelten, dass die Reflexion über Lernen dessen Erfolg wohl positiv beeinflusst. Seit den achtziger Jahren wird in der deutschen Fremdsprachenforschung der Lernerorientierung konzeptuell der Weg bereitet; damit wurde das Erkennen und die Beschreibung fremdsprachlicher Lernvorgänge in das Zentrum der Forschung gerückt. In diesem Gefolge konnten sich Konzepte zur Aufgabenorientierung, zur Lernberatung oder zum expansiven Lernen Bahn brechen (vgl. M ÜLLER - H ARTMANN / S CHOCKER VON D ITFURTH 2005, 2010; S CHMELTER 2004; H OFFMANN 2008) - und mehr noch, sie wurden als so wichtig etikettiert, dass ihnen der Status eines eigenen Ausbildungsmoduls zugesprochen wurde (K LEPPIN 2003). Fachgeschichtlich ein durchaus erklärbarer Umstand, denn in der Tat hatte sich in empirischen Studien gezeigt, dass die Reflexion über die eigenen Lernvorgänge den Lernvorgang effektiviert (vgl. z.B. S CHMELTER 2004, H OFFMANN 2008). Allerdings nicht um jeden Preis und in jeder Situation, sondern jeweils unter spezifischen Bedingungen des Lernens. Wie anders sollte sich sonst erklären, dass Lehrwerke, die anstelle eines Lehrerhandbuchs nun ein Lernerhandbuch anboten (vgl. z.B. die Eurolingua-Reihe), weder besonders hohe Verkaufszahlen erzielten noch zu einer grundlegenden Umorientierung des tatsächlichen Fremdsprachenunterrichts führten? Die uneingeschränkte Propagierung des Lernenlernens übersieht bisweilen, dass Lernreflexion nur dann erfolgreich ist, wenn es in ein entsprechend lernkulturelles Umfeld eingepasst wird. Warum würden sonst Lerner aus anderen Lernkulturen mit vermeintlich didaktisch zurückgebliebenem Fremdsprachenunterricht, der aus traditionellen Grammatik-Übersetzungsübungen oder permanentem Auswendiglernen besteht, gleichwohl (sehr) gute Ergebnisse erzielen können? Um nicht missverstanden zu werden: Ich vertrete sehr wohl die Auffassung, wonach Reflexion des Lernens zu seiner Effektivierung beitragen kann und dass man die Bewusstmachung der eigenen Lernvorgänge zur Lernförderung einsetzen und sogar zu einem Prinzip des Fremdsprachenlernens erheben kann (vgl. K ÖNIGS 2010), aber man muss die Bedingungen angeben (können), unter denen dies tatsächlich der Fall ist. Mein drittes Beispiel knüpft hier unmittelbar an und greift ein durchaus aktuelles Themenfeld auf, nämlich die Mehrsprachigkeitsdidaktik. Sie zielt auf die Nutzbarmachung bereits vorhandenen fremdsprachlichen Wissens zur Erleichterung des Erwerbs einer weiteren Fremdsprache. Auf der Grundlage struktureller Ähnlichkeiten und unter der Maxime, dass Reflexion über Lernen und über vorhandene Lernerfahrungen den Aneignungsvorgang positiv beeinflusst, wird nicht nur der Transferbegriff anders als bisher gefüllt, sondern es werden auch über das Konzept der Hypothesengrammatik Erschließungsstrategien systematisch geübt und im Kontext einer übergeordneten Interkomprehensionsdidaktik verortet (vgl. M EI ß NER 2005, 2010; H UFEISEN / M ARX 2005); deren Anliegen ist eine Vernetzung des Sprachlernens insgesamt und damit einer Einpassung in mehrsprachige Bildungs- und Erziehungskonzepte (vgl. H ALLET / K ÖNIGS 2010). Entwickelt wurde dieser Ansatz überwiegend aus der romanistisch orientierten sowie der auf Deutsch als Fremdsprache bezogenen Fremdsprachenforschung; anglistische Fachvertreter sind hier deutlich zurückhaltender (vgl. die entsprechenden Beiträge in B AUSCH / K ÖNIGS / K RUMM 2004). Gerade diese Zurückhaltung und die damit verbunde- Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? 165 39 (2010) nen Warnungen vor einer allzu weitreichenden Generalisierung tragen zu einem genaueren Hinsehen bei und verhindern - so ist zumindest zu hoffen - die Entstehung eines neuen Mythos. Denn: Die Mehrsprachigkeitsdidaktik geht von der logisch ja nachvollziehbaren Annahme aus, dass vorhandene Informationen bei der Aufnahme neuer Informationen mental aktiviert werden können und damit zu einem erleichterten Lernvorgang beitragen. Gilt diese Annahme aber immer und unter allen Bedingungen? Wenn wir z.B. an einen Lerner denken, der in seinem vorangehenden Fremdsprachenunterricht subjektiv schlechte Erfahrungen mit seinem fremdsprachlichen Lernen gemacht hat, so könnte es ja durchaus sein, dass er gut beraten ist, beim Lernen einer neuen Fremdsprache mit all seinen Erfahrungen zu brechen und einen neuen Lernanfang zu wagen. Das würde nahelegen, auf systematisches Aufspüren von Strukturähnlichkeiten im Lerngegenstand, aber auch im Lernweg zu verzichten. Als Vertreter der Mehrsprachigkeitsdidaktik könnte man hier entgegnen, dass auch dieser Vorgang eine Integrationsleistung darstellt, dass also der aktuelle Lernvorgang dadurch gefördert wird, dass er explizit von vorangehenden Lernerfahrungen abgesetzt wird. Aber rechtfertigt dies bereits, jegliches Lernen einer zweiten oder weiteren Fremdsprache über die erste Fremdsprache laufen zu lassen? Tun wir damit allen Lernern überhaupt einen Gefallen? Mein viertes Beispiel mag zunächst überraschen: In den 1990er Jahren führte die gestiegene Bedeutung psycholinguistischer Arbeiten zu einer verstärkten Beschäftigung mit dem Wortschatzlernen. Die Verlagerung des Forschungsinteresses weg vom Erwerb grammatischer Strukturen hin zur Aneignung fremdsprachlicher Lexik ließ die Frage aufkommen, ob wir im Fremdsprachenunterricht tatsächlich eine Wortschatzwende brauchen (so der Titel von G NUTZMANN 1995). Diese programmatische Titelfrage wurde relativ deutlich mit einem „Jein“ beantwortet: Natürlich soll und muss die Aneignung fremdsprachlicher Lexik erforscht werden, aber nicht unter Abwertung anderer Forschungsfragen, wie z.B. der nach der Vermittlung grammatischer Strukturen. Diese hatten ein Jahrzehnt zuvor im Zentrum fremdsprachendidaktischer Forschung gestanden. Ich erwähne hier nur exemplarisch das Stichwort ‚Didaktische Grammatik‘; diese war in den 1980er Jahren ein zentraler Forschungsgegenstand gewesen und drohte durch die kognitive Neuorientierung ins Hintertreffen zu geraten, zumal neben der nicht ganz zu Unrecht befürchteten Wortschatzwende Ausdifferenzierungen des kommunikativen Ansatzes explizit oder implizit Stellung gegen eine Intensivierung der Erforschung und Erteilung des Grammatikunterrichts bezogen und darauf verwiesen wurde, dass fremdsprachliche Kommunikation und Interaktion im Zweifelsfall eher mit grammatischen als mit lexikalischen Unzulänglichkeiten leben könnte. Anders als in meinen ersten Beispielen kann hier aber allenfalls dann von einer Mythenbildung gesprochen werden, wenn man den Grammatikunterricht per se als langweilig etikettiert - ein Mythos, der durch zahlreiche kreative Übungs- und Lernangebote allerdings in der Zwischenzeit zu erheblichen Teilen als widerlegt gelten darf, wenngleich konzeptuelle Weiterentwicklungen zur Didaktischen Grammatik seither eher die Ausnahme als die Regel darstellen dürften. Auf die Notwendigkeit einer lernerseitigen Beschäftigung mit sprachlichen Strukturen im Allgemeinen und mit grammatischen Strukturen im Besonderen hat Gnutzmann soeben erneut hingewiesen (vgl. G NUTZMANN 2010). Warum - so möchte ich mit Bezug auf mein Thema 166 Frank G. Königs 3 Auch diese Einschränkung scheint mir noch nicht weit genug zu gehen, denn aus der lernerseitigen Ablehnung des Mediums kann man keine unidirektionalen Aussagen über die Motivation durch Lerninhalte ableiten, denn diese könnte ebenso gut extern bedingt sein durch den Zweck, den man mit dem Sprachenlernen verbindet und nicht durch den Lerngegenstand selbst. 39 (2010) fragen - hat diese Entwicklung nicht zu einem Mythos geführt? Ich komme darauf später zurück. Lassen Sie mich zuvor noch drei weitere Beispiele anführen. Neue Medien sind - nicht nur fremdsprachendidaktisch - in aller Munde. Allzu oft und nicht selten auch allzu schnell wird ihnen die Fähigkeit zugeschrieben, das Motivationspotenzial zu erhöhen und dadurch Lernvorgänge zu optimieren. Die Vielzahl der Materialentwicklungen unterstützt diesen Eindruck durch visuelle Aufbereitungen und Bereitstellung neuer Informationsquellen und Kommunikationsformen. Wie immer bei neuen technischen Entwicklungen ist dann auch der Weg zu ihrer unterrichtlichen Nutzung scheinbar vorgezeichnet. Erst ein genaueres Hinsehen erlaubt es, diesen Eindruck durch einige Einschränkungen zu modifizieren. Auf den ersten Blick scheint z.B. die Lektüre einer Studie über Multimedia im Spanischunterricht (G RÜNEWALD 2006) den gerade skizzierten Eindruck zu bestätigen. Da wird die Motivationsförderung der neuen Medien argumentativ herausgestellt und damit ihr Nutzen für das Fremdsprachenlernen umfassend propagiert und durch Darstellung diverser Einsatzmöglichkeiten und Aufzeigen technischer Möglichkeiten scheinbar unterstützt. Auch die sich daran anschließende empirische Untersuchung ist in ihrer Anlage und Interpretation zunächst dazu geeignet, die Glaubhaftigkeit der zitierten All-Aussage zu erhöhen, zumindest weitgehend zu stützen. Sieht man sich die empirischen Daten genauer an, bröckelt diese All-Aussage jedoch, denn tatsächlich ergibt sich die Motivationsförderung nur dann, wenn eine positive Grundeinstellung gegenüber den Neuen Medien bereits zu Lernbeginn vorhanden ist. Wenn Lernende diesen Medien jedoch mit Skepsis begegnen, findet die erwartbare Motivationssteigerung gar nicht statt, sondern möglicherweise das Gegenteil. Neue Medien haben also Motivationsförderung nicht als gegenstandsimmanentes Merkmal, sondern nur in Abhängigkeit von der lernerseitigen Einstellung - dies ist aber mit unserer All-Aussage nur bedingt vereinbar. Da tut es gut, wenn man die - wenn auch etwas versteckte - Aussage desselben Autors in einer anderen Publikation liest, dass der „Computer [...] unter bestimmten Umständen lediglich ein Faktor von Einstiegsmotivation sein [kann], wohingegen die Motivationspersistenz in der Regel von den Lerninhalten abhängt“ (G RÜNEWALD / K ÜSTER 2009: 184) 3 . Ist also die angenommene Steigerung der Motivation durch die Neuen Medien lediglich ein Mythos? Mein vorletztes Beispiel bezieht sich auf die Gruppenarbeit im Fremdsprachenunterricht. Sie wird in fremdsprachendidaktischen Arbeiten allenthalben als besonders lern- und motivationsfördernd eingeschätzt. In der Tat sind etliche Arbeiten erschienen, in denen die Vorteile und Möglichkeiten erfolgreichen Fremdsprachenlernens in Gruppen aufgezeigt werden (vgl. S CHWERDTFEGER 1977, 1985). Die argumentativen Begründungen für den Einsatz von Gruppenarbeit sind bestechend. Empirische Belege fehlen m.W. jedoch fast völlig, sieht man einmal von einigen Forschungsprojekten ab. Regelmäßige Befragungen bei meinen Studierenden ergeben seit Jahren, dass ihnen Gruppenarbeit zwar Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? 167 39 (2010) aus anderem Fachunterricht, jedoch kaum aus dem Fremdsprachenunterricht bekannt sei. Unterrichtshospitationen verstärken diesen Eindruck. Ist also die erfolgversprechende fremdsprachliche Gruppenarbeit nur ein Mythos, dem wir uns bereitwillig anschließen oder ist unser Fremdsprachenunterricht nicht gut und wir versäumen seine Optimierung durch Verzicht auf Gruppenarbeit? Mit meinem letzten Beispiel möchte ich noch einmal auf eine aktuelle Diskussion zu sprechen kommen. Wir leben ganz augenscheinlich in einem Zeitalter der Kompetenzfeststellung, der Bildungsstandards und des Messens. Nach meiner Beobachtung hat diese Entwicklung weniger mit fachlichen Einsichten als mit politischen Setzungen zu tun. Die öffentlich propagierte Ausrichtung an Kompetenzen und die daraus abgeleitete Entwicklung von Bildungsstandards wird mit dem schlechten Abschneiden deutscher Schüler in nationalen und internationalen Vergleichsstudien begründet, aus denen abgeleitet wird, dass durch den vielzitierten „Paradigmenwechsel“ von der Inputorientierung zur Outputorientierung alles besser werde. Die Folge ist ein Ausdifferenzieren von Kompetenzen aller möglichen Art, das vielfach eher den Eindruck des Herumbastelns erweckt. Die wie Pilze aus dem Boden geschossenen Institute für Qualitätssicherung verfolgen in den einzelnen Bundesländern gänzlich verschiedene Ziele und orientieren sich - KMK- Beschlüsse hin oder her - an deutlich unterschiedlichen Ausrichtungen und Konzepten. Die Schulen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen ob des Reformwirrwarrs, und viele praktizierende Lehrer denken wahrscheinlich nicht ernsthaft daran, ihren Unterricht so grundlegend zu verändern, wie es ein Paradigmenwechsel erwarten lassen würde. Dennoch deuten erste Anzeichen darauf hin, dass die in Vergleichsarbeiten erzielten Ergebnisse sich verbessern, und schon sind die ersten Stimmen da, die dies auf die Umstellung auf einen kompetenzorientierten Unterricht zurückführen. Ungeachtet der Kritik am Europäischen Referenzrahmen (vgl. dazu die überwiegend kritischen Positionen in B AUSCH [et al.] 2003), an den Bildungsstandards (vgl. B AUSCH [et al.] 2005; Q UETZ / V OGT 2009) oder an Kompetenzmodellen scheint sich die Meinung zu verfestigen, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist. Woher - so muss ernsthaft gefragt werden - wissen wir das eigentlich? Woher nehmen wir die Gewissheit, dass mit dem Anlegen eines Kompetenzdschungels der ökologische Artenreichtum fremdsprachlichen Lehrens und Lernens erhalten oder gar gepflegt werden kann? Erschreckend finde ich in diesem Zusammenhang weniger die Position selbst als vielmehr die Eilfertigkeit und den vorauseilenden Gehorsam, mit denen zahlreiche Instanzen munter Bildungsstandards entwerfen oder Referenzniveaus an Kurse oder auf Lehrmaterialien anpappen. Wird hier nicht einem Mythos gefolgt? Ich habe bis hierher lediglich Fragen gestellt und Beobachtungen wiedergegeben, die man in der Fremdsprachenforschung antreffen kann. Die Frage, welche der skizzierten Entwicklungen überhaupt das Kriterium der Mythenbildung erfüllen und welche Voraussetzungen dazu erfüllt sein müssten, habe ich allenfalls implizit berührt, aber noch nicht diskutiert. Dieser Frage wende ich mich im Folgenden zu. 168 Frank G. Königs 39 (2010) 3. Mythenbildung, Trends und Epochen Ich habe unter Verweis auf die einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen Mythen eingangs als tradierte erfahrungsgeronnene Erzählungen charakterisiert, deren Anspruch nicht in der 1: 1-Wiedergabe einer ‚historischen Wahrheit‘ besteht und die auf einer Art unausgesprochenem gesellschaftlichen Konsens gründen. Dabei ist das Zustandekommen eines solchen Konsenses und damit der Mythen insgesamt an bestimmte Voraussetzungen gebunden: Mythen müssen plausibel sein, nicht in einem objektiv logischen, aber in einem subjektiv logischen Sinn, d.h. sie müssen sich in einen logischen Zusammenhang einpassen lassen, also im Gesamtgefüge stimmig sein. Auch hierzu ein Beispiel aus einem anderen wissenschaftlichen Kontext: Dem preußischen General Scharnhorst wird der Satz zugeschrieben, dass die Armee an der Spitze des Fortschritts zu marschieren habe. Tatsächlich aber, so der Militärhistoriker und Scharnhorst-Forscher Heinz Stübig (mündliche Mitteilung), findet sich in keiner seiner Schriften ein solcher Satz. Gleichwohl wird dieser Satz gerne zitiert, weil er im Gesamtkontext die Stimmigkeit erhöht, die mit Person und Meinung Scharnhorsts in bestimmten Kreisen und zu bestimmten Zeiten verbunden war bzw. verbunden werden sollte. Damit eine solche Stimmigkeit hergestellt wird, bedarf es außerdem einer gewissen Prägnanz. In meinem Eingangsbeispiel zur Behaltenskurve wird diese Prägnanz durch die Prozentzuschreibungen hergestellt, die ihrerseits die Einprägsamkeit erhöhen und außerdem die Sicherheit der Information suggerieren. Zur Stimmigkeit zählt allerdings auch eine zumindest angenommene opinio communis, oder anderes gesagt: Damit ein Mythos entstehen kann, muss er „im Trend liegen“, und er muss sich über einen längeren Zeitraum halten. Dies gilt z.B. für das Eingangsbeispiel zur Behaltenskurve insofern, als ein lernpsychologischer Trend sicher in einer Ausdifferenzierung des Lernbegriffs zu sehen ist, so dass Lernen nicht mehr als unabhängige Variable und Reaktion auf den bloßen Gehalt der Information selbst reduziert wird, sondern als Folge der Form, in der die Information dargeboten wird oder ‚im Lerner ankommt‘. Von daher sind meine gewählten fremdsprachendidaktischen Beispiele eben nicht zufällig, sondern spiegeln aktuelle Trends der Fremdsprachenforschung wider. Bereits 1986 hatte Denninghaus darauf hingewiesen, dass sich verdichtende Trends zur Herausbildung einer Epoche führen, und zwar auch in der relativ jungen Disziplin Fremdsprachenforschung: „Wenn man z.B. den Übergang von einer Epoche zur anderen beschreiben will, muß man die wesentlichen strukturellen Unterschiede dieser Epochen entdecken, d.h. jene Unterschiede, nach denen sich die unübersehbar vielen Einzelerscheinungen eines jeden Entwicklungsabschnittes sinnvoll ordnen und als Teile eines bestimmten Systems beschreiben lassen. Erst bei einer solchen systemhaften Betrachtungsweise werden die Zusammenhänge zwischen den Epochen sichtbar. Man erkennt dann, daß der Übergang von einer Epoche zur anderen sich niemals unerwartet und plötzlich vollzieht. Er wird vielmehr vorbereitet und letztlich unvermeidlich durch viele kleine, scheinbar zufällige Veränderungen, die alle einer bestimmten Logik unterworfen sind und zusammen genommen schließlich zu einer radikalen Umstrukturierung des Systems, zu einer epochalen Umwälzung führen.“ (D ENNINGHAUS 1986: 63 f) Wenn man den Begriff des ‚Mythos‘ so fasst, wird deutlich, dass man Mythen mit dem Hinweis auf mangelnde forschungsmethodische Sorgfalt allein nicht kritisieren kann, Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? 169 39 (2010) wenngleich die Einhaltung methodischer Standards in empirischer Forschung gleichwohl ein Muss darstellt und auch in der Fremdsprachenforschung zu Recht eingefordert wird (vgl. jetzt R IEMER 2010a). Mythen folgen also dem Prinzip der Musterbildung, wie es ja auch für das Fremdsprachenlernen konstatiert werden kann (vgl. Königs 2010). Was bedeutet dies für die Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? Dazu komme ich auf meine Beispiele zurück: Vor dem Hintergrund der genannten Kriterien für die Mythenbildung fällt es nicht schwer, die Annahme als Mythos zu klassifizieren, wonach jüngere Lerner bessere Fremdsprachenlerner seien. Sie ist angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung des Lernbegriffs ebenso plausibel wie angesichts des Trends, jüngeren Lernern frühzeitig Fremdsprachenangebote zu machen. Und sie folgt der Alltagsbeobachtung, dass jüngeren Lernern die Aneignung komplexer sprachlicher Strukturen scheinbar weniger Mühe bereitet als älteren. Hinzu kommt der weit verbreitete Glaube an die Notwendigkeit, mit dem Erwerb von grundlegenden Qualifikationen möglichst früh zu beginnen. Das in der Literatur erwähnte Beispiel von frühem Fremdsprachenerwerb, der zu einer nativen phonetischen Kompetenz führen soll, erfüllt das Merkmal der Prägnanz. Die praktische Umsetzung erscheint insofern vergleichsweise leicht, als sie durch curriculare Weichenstellungen erfolgen kann. Diese sind offenbar - so lehrt die Erfahrung - leichter umzusetzen, als die Veränderung unterrichtlicher Praxis in einem bestehenden und dazu noch relativ fest gefügten curricularen Ablauf. Nur in diesem letzten Punkt ergibt sich ein Unterschied zum Phänomen der Gruppenarbeit: Ihre Propagierung folgt einem auf Gemeinsamkeit, soziale Kompetenzen und eigenverantwortliches Handeln abzielenden gesamtgesellschaftlichen Trend, scheint aber in der fremdsprachenunterrichtlichen Praxis nicht wirklich angekommen zu sein, und die Gültigkeit dieses Trends lässt sich kulturübergreifend auch offenbar weniger einvernehmlich feststellen, als dies beim Faktor ‚Alter‘ der Fall ist. Im Übrigen erfüllt aber auch dieses Beispiel die Merkmale eines Mythos. Die Bedeutung, die der Reflexion über Lernen beigemessen wird, ist das Ergebnis einer starken Fokussierung auf das fremdsprachliche Lernen (Stichwort: Lernerorientierung). Ohne diese Fokussierung wäre z.B. die konzeptuelle und unterrichtspraktische Ausdifferenzierung der Aufgabenorientierung in der Entwicklungsgeschichte der Fremdsprachenforschung kaum denkbar. Dass dieser Trend mit einer Vernachlässigung der Lehrerperspektive erkauft worden ist (vgl. T RAUTMANN 2010), steht auf einem anderen Blatt. Unbestritten und auch beispielhaft zu belegen ist, dass ein solcher Zugang zum Fremdsprachenlernen zu anderen Lernprozessen führt. Ob diese allerdings immer besser sind, bedarf sicher noch der weiteren empirischen Absicherung. Immerhin zeigen Beispiele aus der Unterrichtsforschung und der Lehrmaterialentwicklung, dass diese unterrichtliche Umorientierung die Praxis wenigstens in Teilen erreicht hat. Aber eben nur in Teilen: Man kann den Trend zur Lernerorientierung auch im Sinne der forschungsgeschichtlichen Pendelbewegungen (vgl. G NUTZMANN / K ÖNIGS 1992) interpretieren: Um eine nachhaltige Veränderung herbeizuführen, bedarf es zunächst der Ausprägung von Extremen, bevor sich dann „ein gesunder Mittelweg“ herauskristallisiert. Ähnliches lässt sich für die Mehrsprachigkeitsdidaktik konstatieren: Auch sie erwächst aus dem Trend zur Lernerorientierung und kann für sich die Plausibilität der Annahme 170 Frank G. Königs 39 (2010) beanspruchen, den Lernenden mit all seinem sprachlichen und lernbezogenen Wissen und Erfahrungsschatz in das Unterrichtsgeschehen einzubeziehen und an der Entwicklung seines eigenen Lernens aktiv zu beteiligen. Meiner Beobachtung nach ist auch hier der Weg in die Praxis begonnen, wenn auch vielleicht noch nicht in demselben Umfang wie bei der Lernreflexion. Allerdings erfüllen die zitierten warnenden oder zurückhaltenden Reaktionen aus der Englischdidaktik hier noch eine andere Funktion: Sie wirken einer voreiligen Mythenbildung entgegen. Dabei verstehe ich diese Zurückhaltung weniger als Abwertung der Mehrsprachigkeitsdidaktik, sondern vielmehr als Mahnung, sich vor allzu voreiligen Generalisierungen zu hüten. Je früher solche Mahnungen ausgesprochen werden, um so eher tragen sie zur Vermeidung einer vorschnellen und vielleicht auch uneffektiven Mythenbildung bei. Ähnliches lässt sich für den scheinbaren Antagonismus zwischen grammatik- und wortschatzzentriertem Fremdsprachenunterricht feststellen. Die mit plausiblen Argumenten angenommene Effektivität des Mehrsprachigkeits-Ansatzes wird sich empirisch noch erweisen müssen. Blickt man auf die Neuen Medien, so wird man konstatieren können, dass die Wirkmächtigkeit einer prägnanten visuellen Unterstützung nicht zu übersehende Effekte bei der Entstehung des Mythos entfaltet. Offenbar stellt sich hier der Mytheneffekt rascher ein als z.B. in der Mehrsprachigkeitsdidaktik oder bei der Lernreflexion. Die bedeutsame gesellschaftliche Funktion einer medialen Kompetenz scheint gleichsam beschleunigend auf die Mythenbildung zu wirken. Es bleibt zu hoffen, dass der Aufruf, textuelle und mediale Komponenten und Kompetenzen integrativ miteinander zu verzahnen (vgl. jetzt z.B. H ALLET 2010), nicht ungehört verhallt, und es bleibt abzuwarten, ob sich angesichts eines sehr komplexen Motivationsprozesses beim Fremdsprachenlernen (vgl. jetzt R IEMER 2010b) der in einigen Schriften angenommene Zusammenhang zwischen Medien und Motivation empirisch sauber nachweisen lässt. Gegenüber den vorangehenden Beispielen weist mein letztes Beispiel zu den Kompetenzen und Bildungsstandards Alleinstellungsmerkmale auf: An die Stelle eines aus dem Fach heraus entstandenen fachpolitischen Konsenses - wenn man so will: bottom up - ist eine weitgehend von außen verordnete Ausrichtung getreten (top down), die konzeptuell in Teilen der Orientierung auf das lernende Individuum zu widersprechen scheint. Während in anderen Beispielen wie der Mehrsprachigkeitsdidaktik oder dem Grammatikvs. Wortschatzlernen aus dem Fach heraus mahnende Positionen einer vorschnellen Mythenbildung entgegenwirken, erweist sich Fremdsteuerung von außen als ungleich wirkmächtiger. Dabei soll nicht das Potenzial geleugnet werden, dass einem Zwang zur Veränderung des Fremdsprachenunterrichts innewohnen kann. Zu fragen ist jedoch, ob die angestrebte Veränderung nicht nachhaltiger wäre, wenn sie auf ausgearbeiteten und erprobten Konzepten beruhen würde und wenn man Verfahren zur Hand hätte, die in Unterricht und Schule handelnden Personen an deren Erarbeitung zu beteiligen. Zur Klassifizierung als Mythos fehlen - abgesehen vielleicht von einer begrifflichen Prägnanz („von der Inputzur Outputorientierung“, „Kompetenz“, „Niveaustufen“) - wesentliche Merkmale. Es bleibt abzuwarten, ob die außerschulische gesellschaftliche Entwicklung zu einer bisweilen vorbehaltlos anmutenden Orientierung an Messbarkeit, Vergleichbarkeit, Standardisierung und Kompetenzen ihre Wirkmacht behält oder ob sie an der Praxis scheitert. Gibt es eine Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung? 171 39 (2010) 4. Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung: Einige Überlegungen und Wünsche für die Zukunft Bei der Beschäftigung mit Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung fällt zunächst eine gewisse Parallelität zur Stereotypendiskussion auf: Auch bei Stereotypen handelt es sich um eine Musterbildung, deren Funktion darin besteht, den einlaufenden Informationen eine gewisse Ordnung und Struktur zu verleihen (vgl. z.B. die unterschiedlichen Zugänge in H EINEMANN 1998). Erreicht wird dies bei den Stereotypen ebenso wie bei den erwähnten Mythen durch den Umstand, dass beide Formen dazu beitragen, den ansonsten unübersichtlich scheinenden Wust von Informationen mit einer Struktur zu versehen. Ohne diese Struktur wäre es komplizierter, wenn nicht gar unmöglich, alle relevanten Informationen zu speichern und abzurufen. Auch bei Stereotypen nimmt man in Kauf, dass sie allenfalls partiell ein Abbild der Wirklichkeit sind, dass sie also mindestens verzerren. Aus der lernpsychologischen Beschäftigung mit Stereotypen wissen wir, dass wir ihre Bildung im Fremdsprachenunterricht gar nicht verhindern, sondern dass wir sie lediglich ex post facto hinterfragen und aufbrechen können. Aus unserer obigen Diskussion lässt sich lediglich ableiten, dass hier ein wichtiger Unterschied zur Mythenbildung besteht, denn Mythenbildung kommt nur zustande, wenn die oben genannten Kriterien erfüllt sind: Plausibilität, Stimmigkeit, Prägnanz und zeitliche Stabilität - und zu diesen Kriterien muss noch die inhaltliche Bedeutsamkeit treten. Der mit einem Mythos verbundene Inhalt muss ‚bedeutsam‘ sein - entweder für die Gesellschaft, den Gegenstand oder das Fach. Ablesbar ist diese Bedeutsamkeit insbesondere an der Zahl derjenigen, die sich dieses Mythos bedienen. Ebenso wie ein Stereotyp an Reichweite gewinnt, wenn es häufig benutzt wird, so gilt dies auch für einen Mythos. Stereotypen - so habe ich gerade in Erinnerung gerufen - können in ihrer Entstehung nicht verhindert werden, wohl aber im Nachhinein aufgebrochen werden. Wie sieht dies nun bei Mythen aus? Hier kommt noch einmal die empirische Forschung ins Spiel. Sie ist zum einen in der Lage, die Bildung von Mythen zu verhindern, wenn sie zeigen kann, dass mythenhaft anmutende Annahmen unwahr sind. Das Beispiel Grammatikvs. Wortschatzunterricht zeigt, dass rasches argumentatives Gegensteuern mit guten Argumenten hilfreich ist, um die Bildung von Mythen einzudämmen. Empirische Forschung kann also im Kontext der Mythenbildung in der Fremdsprachenforschung zwei Funktionen übernehmen: eine korrektive Funktion bei der vorschnellen Ausbildung von Erkenntnismustern und eine remediale Funktion durch Widerlegung bereits vorhandener Mythen. So wichtig empirische Forschung für die Fremdsprachenforschung insgesamt und für ihren Umgang mit Mythen ist, ein wichtiger Faktor muss noch mit berücksichtigt werden: Ich meine das Theorie-Praxis-Verhältnis. Empirische Forschung allein ist noch nicht ausreichend, um zur Mythenbildung beizutragen oder sie zu verhindern. Das Beispiel Gruppenarbeit zeigt, dass die Weigerung der Praxis zur Übernahme von empirisch erbrachten Erkenntnissen zwar dazu führt, dass der Mythos des positiven Einflusses der Gruppenarbeit auf unterrichtliches Fremdsprachenlernen einer Überprüfung zunächst nicht standhält. Da die Praxis aber in diesem Beispiel sozusagen die schweigende Opposition darstellt, relativiert sie zwar den Mythos, kann ihn aber letztlich nicht aufheben. 172 Frank G. Königs 39 (2010) Ich habe mich bislang einer Wertung darüber enthalten, ob wir uns Mythen in der Fremdsprachenforschung wünschen sollten oder nicht. Vielleicht ist es in den Augen mancher Betrachter sogar vermessen, wenn sich eine vergleichsweise junge Disziplin wie die Fremdsprachenforschung mit der Frage der Mythenbildung auseinandersetzt. Und vielleicht ist es auch gewagt, aus dem Kontext dieser jungen Disziplin Mythenbildung nicht nur rückwärts gewandt zu thematisieren, sondern auch funktional und in die Zukunft gerichtet. Gleichwohl sollte deutlich geworden sein, dass Mythenbildung zum Teil ein unumgänglicher Bestandteil menschlichen Denkens und Handelns ist, eine Wertung, die auch für die Fremdsprachenforschung gilt. Mythenbildung kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, wenn sie dazu führt, Erscheinungen zu bündeln und vielleicht auch pointiert darzustellen, um sie dadurch erst hinterfragen zu können. Solange wir dieses Hinterfragen bei der Mythenbildung gleich mitdenken, tun wir einen wichtigen Schritt, um Erkenntnisse und Zusammenhänge fremdsprachlichen Lehrens und Lernens nicht mystisch zu verschleiern, sondern aufzuarbeiten und zu hinterfragen, aber auch klarer zu sehen und präziser zu erfassen. Das bedeutet aber, dass wir kritische Rückfragen an mehrheits- und konsensfähig erscheinende Positionen nicht als persönliche Abwertung, sondern als notwendigen Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens ansehen sollten - eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber wie wir gesehen haben, auch mit einer wichtigen Funktion für die Darstellung unserer Ergebnisse und Erkenntnisse verbunden. Solange wir Mythenbildung in diesem Kontext sehen und uns angewöhnen, die Hinterfragung dieser Mythen mitzudenken, scheinen sie mir für die Fremdsprachenforschung weder schädlich noch sachlich unangemessen. Wir sollten aus der Stereotypenforschung gelernt haben, dass man bestimmte Erscheinungen besser reflektiert begleitet als unreflektiert tot schweigt. Dies setzt eine sorgsame und umfassend angelegte Beschäftigung mit den Gegenständen und Befunden voraus. Die Auseinandersetzung mit empirischer Forschung - sei es produktiv im Sinne von eigenen empirischen Untersuchungen, sei es rezeptiv durch Kenntnisnahme und Beurteilung empirischer Forschung Anderer - ist also auch von daher essentiell für die Fremdsprachenforschung und deren Output. So gesehen ist es für die Fremdsprachenforschung eine spannende Herausforderung, sich der Mythenbildung in ihrem eigenen Fach zu stellen. Dafür wollte ich mit meinem Beitrag werben. Literatur B AUSCH , Karl-Richard / C HRIST , Herbert / K ÖNIGS , Frank G. / K RUMM , Hans-Jürgen (Hrsg.) (2003): Der gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen in der Diskussion. Arbeitspapiere der 22. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. B AUSCH , Karl-Richard / K ÖNIGS , Frank G. / K RUMM , Hans-Jürgen (Hrsg.) (2004): Mehrsprachigkeitsdidaktik im Fokus. Arbeitspapiere der 24. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. 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