Fremdsprachen Lehren und Lernen
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Narr Verlag Tübingen
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2010
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Gnutzmann Küster SchrammSchreiben zur Bildsequenz
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2010
Sebastian Susteck
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* Korrespondenzadresse: Dr. Sebastian S USTECK , StR am Richard-Wagner-Gymnasium Baden-Baden, Privatanschrift: Ooser Kirchstr. 8, 76532 B ADEN -B ADEN . E-Mail: sebastian.susteck@uni-konstanz.de Arbeitsbereiche: Forschung zu Literatur- und Bilddidaktik, Literaturgeschichte. 39 (2010) S EBASTIAN S USTECK * Schreiben zur Bildsequenz Kreativität als Reproduktion von Topoi im (Fremd-)Sprachenunterricht Abstract. The conception of the artist as an ingenious person develops in the late 18 th century and has been strong ever since. It poses problems for classroom writing and especially for writing in foreign language classes. An alternative lies in strengthening a rhetorical conception of writing which is based on a system of topoi rather than individual ingeniousness. Not only do the mass media produce their contents in a topological manner which influences the thinking of students. A rhetorical understanding of art also makes writing easier for students. The paper discusses general problems of conceptions of writing in foreign language teaching. It then analyzes works by students of the tenth grade who wrote texts to sequences of pictures and who, in doing so, used their topological imagination. 1. Modernes Kunstdenken und rhetorische Tradition Im Jahr 1976 unternimmt Lothar B ORNSCHEUER den Versuch, die inventio der antiken und mittelalterlichen Rhetorik zu rehabilitieren und für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Mit Nachdruck verweist er auf eine Spaltung des europäischen Kunstverständnisses, die sich im späten 18. Jahrhundert vollzieht, eine rhetorische Tradition vom modernen Kunstdenken trennt und den Blick auf diese Tradition verstellt. „Die noch heute nicht abgetragene eigentliche Barriere, die ein umfassendes Verständnis der europäischen Kunst- und Literaturgeschichte verhindert, ist die bürgerliche Begründung der schöpferischen Produktivität aus der individualen Subjektivität heraus“ (B ORNSCHEUER 1976: 18). Die Verlagerung künstlerischer Potenz aus der Gesellschaft in das einzelne ›geniale‹ Subjekt sowie die Leugnung einer traditionell gegebenen „gesellschaftlichen Relevanz der Phantasie“ (ebd: 18 f) sind für B ORNSCHEUER freilich nicht nur ein Hemmnis für das Verstehen mittelalterlicher und antiker Texte, sondern sie entspringen auch einer Selbsttäuschung, die als genuin bürgerliche Selbsttäuschung überwunden werden muss. Entsprechend äußert er die Hoffnung, dass der Glaube an Subjekte, die zum Kunstschaffen N i c h t t h e m a t i s c h e r T e i l 176 Sebastian Susteck 1 Und zwar vor allem deshalb, weil in Deutschland heute fast nur noch Literatur als bemerkenswert wahrgenommen wird, die ab dem späten 18. Jahrhundert entstand. Dies unterscheidet die deutsche Situation von der anderer (west)europäischer Länder und gibt der Konstruktion einer Zäsur im 18. Jahrhundert besondere Evidenz. 2 Vgl. - ältere Forschungen zusammenfassend und weiterentwickelnd - vor allem S TÖCKMANN (2001). 3 Zu den kulturellen Hintergründen und zum literaturwissenschaftlichen und institutionellen Kontext im Vergleich zwischen England, USA und Deutschland vgl. G LINDEMANN (2000: bes. 43 f). 39 (2010) auf nicht erklärbare Weise disponiert seien, „ein relativ kurzes Intermezzo“ einer „dreitausendjährigen europäischen Kulturentwicklung“ (ebd.: 19) darstellen möge, das lediglich die Zeit vom 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts umfasst. Zugleich hofft er, Prinzipien rhetorischer inventio aktualisieren und wiedergewinnen zu können. Tatsächlich sieht er solche Prinzipien in einer bereits existenten topischen und speziell kombinatorischen Kunst verwirklicht, die „ungewohnten, experimentellen Formen der ästhetischen Zuordnung von Heterogenem“ (ebd.: 11) verpflichtet ist. Die literaturwie mentalitätsgeschichtlichen Überlegungen, die B ORNSCHEUER 1976 noch thetisch vorträgt, sind mittlerweile literaturwissenschaftlich weitgehend akzeptiert. So ist für den deutschen Sprachraum - der sich hierfür aus historischen Gründen besonders anbietet 1 - umfassend herausgearbeitet worden, wie ein älteres rhetorisches und poetologisches Paradigma im 18. Jahrhundert zerfällt und zugleich eine neue und ›moderne‹ Vorstellung des Künstlers und des Kunstwerks sowie des künstlerischen Schaffensprozesses entsteht. 2 Sehr knapp zusammengefasst wird das Bild des Künstlers als Handwerker durch ein Bild des Künstlers als Genie ersetzt, das Kunstwerk vom geschickt geplanten und aus überkommenen Elementen erstellten Gegenstand zu einer organischen Größe verklärt und der künstlerische Schaffensprozess von einem Arbeitsprozess zu einem Prozess inspirierter Schöpfung gemacht. Die von B ORNSCHEUER reflektierten Zusammenhänge sind jedoch nicht allein literarhistorisch relevant, sondern auch in die didaktische Reflexion der letzten Jahrzehnte eingeflossen. Dies war zumal dort der Fall, wo es um die Begründung eines neuen, produktions- und handlungsorientierten Unterrichts in den Sprachen ging. Die Implikationen der modernen Kunstvorstellung und der modernen Vorstellung vom Künstler belasteten auf unterschiedliche Weise jene Ansätze, die zumal seit den 1980er Jahren darauf abzielten, Schüler kreativ tätig werden und Kunst und speziell Texte erzeugen zu lassen. Die Annahme, zum Schreiben bedürfe es einer besonderen „Begnadung“ (W ALDMANN 2003: 1) war dabei ebenso zurückzuweisen wie die Annahme, Schüler seien in ihren kreativen Versuchen gegenüber ›echten‹ Künstlern in einer bedrückend inferioren Stellung (vgl. H AAS / W ENZEL / S PINNER 1994: 23, 25). Zugleich galt es, den Schreibprozess auf Diskussionsprozesse und Arbeit in Paaren oder Gruppen zu öffnen und ihn damit einer Mythisierung des einzelnen schöpferischen Subjekts zu entziehen, die für moderne Vorstellungen vom Künstler nach wie vor als typisch gelten darf. 3 Die entsprechenden Diskussionen sind dabei durchaus europäische und speziell deutsche Diskussionen, insofern gerade in deutschen Kontexten ein Misstrauen gegenüber einem Ansatz existiert, der „die Erlernbarkeit von Schreiben voraussetzt“ (G LINDEMANN 2000: III) bzw. der überhaupt in schulischem Schreiben, das über den traditionellen Schreiben zur Bildsequenz ... 177 39 (2010) Aufsatzunterricht hinausgeht, ein legitimes Verfahren erkennt. Ein letztlich nicht in genieästhetischer, sondern in rhetorischer Nachfolge stehendes produktives Schreibverständnis erreicht Europa und Deutschland erst in den 1970er Jahren über die USA, wo bereits zwischen 1880 und 1940 im universitären Kontext ein weites Feld des ›creative writing‹ begründet wird (vgl. ebd.). Mindestens für die Gegenwart aber darf man davon ausgehen, dass ein in rhetorischer Tradition stehendes Kunstverständnis in besonderer Weise auch der Realitätserfahrung von Schülern entspricht. Dies liegt weniger daran, dass sich produktionswie handlungsorientierte Verfahren im Unterricht mittlerweile großer Beliebtheit erfreuen. Es liegt vielmehr auch an der Text- und Medienerfahrung von Schülern, die in ihrer alltäglichen Erfahrung mit einer Kunst und Kultur konfrontiert sind, welche planmäßig und massenhaft produziert wird und oft mit dem Verdacht des ›Trivialen‹ und rein ›Populären‹ belegt ist. Dem korrespondiert eine objektiv vorhandene ›Kulturindustrie‹, deren Leistungsfähigkeit bemerkenswert ist (vgl. W ELZER 2007). Längst hat sie sich - wenn auch am deutlichsten jenseits der Literatur - den Prämissen genieästhetischen Denkens entzogen, wobei dieses Denken in öffentlichkeitswirksamen Gesten und der vielfachen Reduktion komplexer und professionalisierter Arbeitsprozesse auf einzelne Namen weiter gepflegt wird. Die Tendenz zu einer Vorstellung des Künstlers und des Werks, die älteren rhetorischen Anschauungen nahekommt, wird in der Gegenwart jedoch nicht nur durch Produktionsweisen von Kunst, sondern auch durch ihre Distributionswege befördert, die insbesondere durch das Internet eine Revolutionierung erfahren. 2. Debatten der Didaktik - topische Textproduktion Nun gilt noch vor der Reflexion solch weitreichender Kontexte, dass die Auseinandersetzung um handlungs- und produktionsorientierte Verfahren zumal für den muttersprachlichen Unterricht - also: den Deutschunterricht - komplexer ist, als bisher angedeutet. Allerdings geht es in diesem Unterricht auch um eine Textproduktion, die sich bemüht, Schüler schreiben zu lassen, um ihnen grundlegende Probleme des Schreibens zu verdeutlichen. Dennoch setzt sich der Unterricht zumal auf den höheren Klassenstufen nicht primär das Ziel des Schreibenkönnens, wenn auch in jüngerer Zeit verstärkt Positionen vertreten worden sind, die ein neues Verständnis des Deutschunterrichts artikulieren und ihn in die Nähe des Faches ›Bildende Kunst‹ rücken möchten (vgl. A BRAHAM / K EPSER 2006: 82 f; W ANGERIN 2006). Vielmehr ist dieser Unterricht dem Ziel der Ausbildung literarischen Verstehens verpflichtet (vgl. E NSBERG 2005). Ein Schreiben jenseits traditioneller Aufsätze soll hier überwiegend dazu führen, Texte ›handelnd‹ zu interpretieren bzw. diese Interpretation vorzubereiten. Das Schreiben ist daher weniger in die Schreibdenn die Literaturdidaktik eingeordnet und es hat eine dienende oder abgeleitete Stellung. Gegenüber dem muttersprachlichen Unterricht ist der fremdsprachliche Unterricht von weitgesteckten hermeneutischen Zielen stärker entlastet und eher der Ort, an dem sich eine eigene, den Aufsatzunterricht überschreitende Schreibdidaktik bilden kann. Zwar findet auch hier eine Auseinandersetzung mit Literatur und ein Bemühen um ihre Analyse und ihr tiefgehendes Verständnis statt. Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren 178 Sebastian Susteck 4 Zum ›Kreativitäts‹begriff vgl. etwa C ASPARI (2003). Die von C ASPARI (2003: 309) genannten, allgemein anerkannten Merkmale von Kreativität finden sich überwiegend auch in der im Folgenden skizzierten Übung - so eine offene Aufgabenstellung mit mehr als nur einer möglichen Lösung, eine Anregung von Arbeits- und Lernprozessen, eine Inklusion nicht nur kognitiver, sondern auch affektiver Faktoren im Arbeitsprozess. Wichtig für kreative Übungen, notiert C ASPARI , sei stets „ein Stimulus z. B. in Form von Textmaterial, Bildern, Musik, Geräuschen“ (ebd.). Zur Kreativität im Schreiben vgl. auch T EICHMANN (1998). 5 Vgl. zum Schreiben zu Bildern im Fremdsprachenunterricht unter anderem H ELLWIG (1997), E ICHHORN - E UGEN (1991), H ELLWIG / S IEKMANN (1989). 39 (2010) werden daher auch hier mit entsprechender Zielsetzung verwendet, sodass zahlreiche Methoden und Verfahren gleichermaßen im mutterwie im fremdsprachlichen Unterricht vorzukommen vermögen. Selbst in der Sekundarstufe II jedoch ist eine ›reine‹, um sich selbst kreisende (Schreib-)Arbeit an und mit der Fremdsprache sinnvoll, die sich spielerischer Formen bedienen kann. Dass solch schriftliche Spracharbeit dabei durchaus erweitert werden kann, um den Blick auf linguistische, aber auch narratologische Grundsatzfragen zu lenken, ist freilich ein zweiter, wichtiger Aspekt. Eine „Weiterarbeit“ (P ORTMANN 1994: 504), die Lernertexte im Unterricht wiederaufnimmt und insbesondere darauf abzielt, entweder in Texten vorhandene Probleme zu besprechen oder ein den Texten implizites Wissen in „explizite textuelle Kenntnisse“ (ebd.: 508) zu überführen, ist daher nicht nur möglich, sondern ein wichtiger Teilschritt fremdsprachlicher Arbeit. Die skizzierten Zusammenhänge sollen im Folgenden an einem in der schulischen Praxis leicht handhabbaren und doch theoretisch reflexionswürdigen Beispiel illustriert werden, nämlich dem Schreiben von kurzen Geschichten zu Bildern und genauer: Bildsequenzen, und zwar offenen Sequenzen, die durch die Schüler selbst erst hergestellt werden. Wird im muttersprachlichen Unterricht das Schreiben zu Bildern (vgl. L UDWIG / S PINNER 1992: 11) - möglicherweise voreilig - zumal in der Unterstufe betrieben, bietet es sich dem fremdsprachlichen Unterricht tatsächlich noch in der ausgehenden Mittelstufe und zu Beginn der Sekundarstufe II - zumal des achtjährigen Gymnasiums - an. Es ist an der „junction of the discipline of composition and rhetoric […] and the discipline of language learning“ (K ROLL 2003: 1) situiert und verweist zugleich auf visuelle Erfahrungen zurück, die anregenden Charakter haben. Zugleich kann es über schülerische Produktivität Einblicke in Medienerfahrung und Lektürevorstellungen von Schülern geben, die in Texten kreativ wiederkehren. Die den muttersprachlichen Unterricht belastenden Debatten um die Frage, wann literarischen Texten interpretatorisch ›Genüge getan‹ sei und wann sie bloß als ›Anlässe‹ genutzt würden, um Schüler sprechen und schreiben zu lassen, ist im fremdsprachlichen Unterricht entschärft, dem es auch um das Schaffen von Rede- und Schreibanlässen gehen kann, um die zu erlernende Sprache einzusetzen. Im Folgenden geht es um unterrichtliches Schreiben, bei dem eine topische, mit Versatzstücken und Klischees arbeitende Kreativität 4 durch Bilder bzw. exakter: Bildsequenzen angeregt und stabilisiert wird. Die Arbeit mit Bildern ist dabei auf mehrfache Weise legitimierbar, die didaktisch als soweit akzeptiert gelten dürfen, dass sie hier nicht im Detail besprochen werden müssen. 5 Der Einsatz von Bildern entspricht nicht nur einer visuellen Prägung von Schülerinnen und Schülern, auf die immer wieder hingewiesen wird. Er entspricht auch der durch psychologische Studien hinreichend belegten Tatsache, Schreiben zur Bildsequenz ... 179 6 Wie sich etwa dort zeigt, wo Schüler das Verhalten in casting-shows als ›realistisch‹ und womöglich sogar vorbildhaft erachten - ein Phänomen, das in letzter Zeit in der Tagespublizistik verstärkt diskutiert wurde. Vgl. etwa K ORFF (2010). 39 (2010) dass Bilder sich besonders als Wahrnehmungsattraktoren eignen, insofern sie in vorbewusster Weise stärkere Aufmerksamkeit auf sich ziehen als Texte (vgl. N ÖTH 1999: 476 f). Die Arbeit mit Bildsequenzen aber ist darüber hinaus geeignet, (1.) Imaginationen wachzurufen und zu begrenzen sowie (2.) eine Basis für eine Reflexion des Schaffensprozesses und seiner Ergebnisse zu bieten. Sie lädt dazu ein, Geschichten zu erzählen, die zugleich originell und Geschichten aus Versatzstücken sind, welche durch die gegebenen Bilder sowohl hervorgerufen als auch limitiert werden. Abhängig davon, wie prägnant und gewöhnlich oder wie esoterisch und ungewöhnlich die vorgegebenen Bilder selbst wirken, sind dabei auch die entstehenden Texte gestaltet. Nicht zuletzt solche Bilder, die Situationen vorzugeben scheinen, an die Schüler aufgrund ihrer Lebenserfahrung und ihrer medialen Prägung anschließen können, laden zur Kreativität ein, insofern sie einerseits ein Angebot machen, auf das die Schüler in jedem Fall reagieren können, und insofern sie andererseits in subtiler Weise dazu auffordern, Gegebenem Originalität abzugewinnen und einen ›eigenen‹ Sinn zu geben. Die Arbeit mit Bildsequenzen gewinnt dabei zugleich eine Realität, die Schülern insbesondere aus den visuellen Medien von Film und Fernsehen bekannt ist, nämlich eine kombinatorische Realität, die immer Ähnliches immer neu zusammenfügt und gerade dadurch Interesse provoziert. In einer letztlich ebenso topischen wie kombinatorischen Textproduktion wird dabei auch das für jeden schulischen Unterricht schwierige Verhältnis von Weltwissen und von Textbzw. Medienwissen von Jugendlichen adressiert. In der didaktischen Diskussion ist immer wieder hervorgehoben worden, dass mangelndes Weltwissen einem eigentlichen und tieferen Verständnis von Texten entgegensteht, welches dieses Weltwissen konstitutiv benötigt. „Das Grundproblem des Textverstehens“, schreibt allgemein Jürgen G RZESIK , „besteht demnach darin, daß absolut alles, was beim Anschauen eines Textes den wahrgenommenen Farb- und Formunterschieden zugeschrieben werden kann, vom Leser selbst aus dem, worüber er schon verfügt, hergestellt werden muß, […] bis zu den kompliziertesten Darstellungen der Welt durch sprachliche Mittel“ (G RZESIK 2005: 15). Textinhalte werden wesentlich durch dem Text vorausgehendes Weltwissen verständlich, was Leser nicht davon abhält, dieses Wissen scheinbar dem Text ›zu entnehmen‹ (ebd.: 13). Ähnliche Mechanismen lassen sich - wenn auch weniger klar - dort vermuten, wo es nicht um sprachliche Texte geht, sondern um visuelle Konstruktionen von ›Welt‹. Zu einem gewissen Grad lässt sich freilich auch das Gegenteil belegen. Fehlendes Weltwissen lässt sich durch ›virtuell‹ in Texten wie weiteren Medien vorhandenes Wissen substituieren, wobei allerdings die Möglichkeit solcher Substitution - in kontraintuitiver Weise - mit vorhandenem Weltwissens zuzunehmen scheint, sodass Texte und Lebenserfahrung sich gegenseitig stabilisieren. Auch Jugendliche jedoch ersetzen offenkundig fehlende eigene Erfahrungen durch medial vermitteltes Wissen, wobei nicht nur offenkundig fiktives Wissen eine Rolle spielt, sondern die mediale Welt- und Lebensdarstellung insgesamt. 6 Überhaupt aber haben Schüler eine nicht zu unterschätzende narrative 180 Sebastian Susteck 7 „[P]ositiv und für den Fremdsprachenunterricht gewinnbringend einzusetzen wäre aber die große Menge an Kommunikationsformen, die die Lernenden von heute in jungen Jahren bereits erfahren haben“ (B EILE 1996: 6 f). 8 Der Ausdruck von Individualität ist der erste Punkt im Rahmen einer Liste, in der L EGUTKE (2007) acht Merkmale von Lernertexten im Unterricht benennt. 9 Die Arbeitsaufgabe war daher, in den Kategorien von P ORTMANN (1994: 475-485), vorlagengebunden, zugleich aber kaum kontextgebunden. Zugleich war an die entstehenden Texte eine verhältnismäßig hohe Kohärenzanforderung gestellt. 39 (2010) Kompetenz, die sich wesentlich intertextuell erklärt und daher nicht nur über ihr Weltinteresse, sondern ebenso über ihre Medienrezeption informiert. 7 Kombinatorisch inspiriertes Schreiben kommt in seiner bewussten Klischeehaftigkeit dabei dem Horizont von Jugendlichen ebenso entgegen wie in einer der Kombinatorik eigenen Artifizialität, die sich einer jugendlichen Weltwahrnehmung fügt, welche sich oft des Zitats, aber auch der Ironie und des Uneigentlichen bedient. Im Modell topischer und kombinatorischer Textproduktion ist zugleich impliziert, dass es nicht um einen ungehemmten, in der Schule stets problematischen ›subjektiven Selbstausdruck‹ von Schülern geht. Das in der Didaktik immer wieder betonte Prinzip, bei der Textproduktion vom Horizont der Schüler auszugehen, wird zwar in spezifischer Weise gewahrt und auch das Ziel, „die Individualität des Einzelnen oder der Gruppe zum Ausdruck“ (L EGUTKE 2007: 133) 8 bringen zu können, wird nicht vollkommen verabschiedet. Dennoch steht das Prinzip subjektiven Selbstausdrucks dezidiert nicht im Vordergrund. Es findet seinen Platz daher nicht im Zentrum, sondern in den Nischen der zu schreibenden Texte, und zwar konkret dort, wo in der Kombination von überkommenen Topoi und Versatzstücken Originalität möglich wird, die jedoch eher eine Originalität der variierenden Wiedergabe denn der genialischen Schöpfung ist. 3. Unterrichtsbeispiele zum bildgesteuerten Schreiben Die folgenden Unterrichtsbeispiele stammen aus mehreren zehnten Klassen des achtjährigen Gymnasiums und damit Klassen, die auf der Grenze zur Sekundarstufe II stehen. Den Schülern wurden jeweils sechs Bilder in schwarz-weiß an die Hand gegeben, die allererst in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht werden mussten. Die Schüler waren aufgefordert, in Gruppen die Bilder auf einem Plakat zu befestigen und eine Geschichte ihrer Wahl dazu zu schreiben. 9 Im Einzelnen waren zu sehen: (1.) Die Reproduktion eines Ölgemäldes, das Köpfe und Oberkörper eines jungen Mannes und einer jungen Frau zeigt, welche, voneinander abgewandt, an einer Straße stehen; fünf Photographien mit den folgenden Motiven: (2.) eine junge Frau, die mit Hut und Jacke in der hintersten Ecke eines leeren Klassenzimmers sitzt und aus dem Fenster blickt; (3.) vier alte Männer, die nebeneinander auf einer Bank auf einem öffentlichen Platz sitzen; (4.) ein heruntergekommener Geschäftseingang mit dem Namen Carol’s Wedding and Gifts; (5.) die Innenansicht einer verlassenen, teils zerstörten Wohnung ohne Mobiliar; (6.) ein See, der von Schreiben zur Bildsequenz ... 181 39 (2010) entlaubten Bäumen umstanden ist und in den ein Steg hineinführt. Auch wenn die Bilder grundsätzlich die Bandbreite möglicher Texte restringierten, waren auf ihrer Basis sehr unterschiedliche Realisationen von Geschichten möglich, was die von den Schülern entwickelten Ideen erst interessant machte. Dabei zeigte sich zunächst ein klares Gespür der Schüler für Kontraste und Oppositionen, die in nachgerade strukturalistischer Weise für das Erzählen nutzbar gemacht werden können. Dass diese Oppositionen im Bildmaterial existieren, war teilweise nicht vorausgesehen bzw. bewusst geplant gewesen. In den Schülertexten begegneten sich Einmit Zweisamkeit, Jugend und Alter, Leben und Tod, Verlassenheit und Heirat. Zielgerichtet nahmen sich die Schüler zudem überwiegend klassischer literarischer und medialer Themen an, die in vielen Fällen zugleich offensichtlich auch zentrale Lebensthemen waren. Zu nennen sind insbesondere Liebe und Einsamkeit, aber auch Lebensglück und Verlust im Leben, Bedrohungen der menschlichen Existenz sowie Kriminalität, Tod und Selbsttötung. In den einzelnen Texten trat dabei nicht zuletzt Gewalt als ein wichtiges - nicht nur Jungen beschäftigendes - Thema hervor. Hinzu trat an vielen Stellen ein literarisches und mediales Wissen, das mit sichtbar zitathaftem Charakter in die Texte importiert wurde und dabei aus der Märchenliteratur ebenso wie aus aktuell populären Jugendbüchern - etwa mit Vampirthematik - oder Computerspielen kommen konnte. Einzelne Texte gewannen dabei einen überdeutlich topischen Charakter und erscheinen zudem als klischeehafter Ausdruck von Wunschproduktionen. The lesson is over. The young teacher is still sitting in her empty classroom and looks out of the window. She watches four old men sitting in front of a shop. They look like friends who survived a lot of problems together. She begins to think about her own future and hopes that she’ll not be alone in it. Suddenly she becomes very sad because she hasn’t got a lot of friendships with other people and no serious relationship with a man. She feels very empty at this moment. Two hours later she’s walking around in the forest and after a while she stands in front of a lake full of thoughts about suicide. Suddenly a young man appears behind her and asks her with a calm, warm voice: “Can I help you? ” This is the beginning of an endless lovestory. Six months later they go to a wedding shop together because Sally is pregnant and has decided to marry her guardian angel. Es wäre ein leichtes, den Text wegen mangelnder ›Originalität‹ zu kritisieren, und doch wäre genau diese Kritik deplatziert. Vielmehr zeigt der Text eine Einrichtung, die erzähltheoretisch interessant ist. Dabei ist er vor allem kürzer, aber letztlich nicht weniger originell als populäre Romane oder Fernsehserien. Aus zahllosen Texten und Filmen bekannt ist die Handlungsführung, die mit einer sich krisenhaft zuspitzenden Problemlage beginnt und von hier zur Rettung in letzter Minute und zum glücklichen Leben führt, das durch Liebe, Ehe und - bemerkenswerterweise - die Schwangerschaft garantiert scheint, mit denen der Text endet. Zugleich ist der Handlungsverlauf durch stereotype Handlungselemente konstituiert. Die Abhängigkeit von solchen Elementen, die hier natürlich eng mit der Abhängigkeit des Textes von einer Bilderfolge zusammenhängt, manifestiert sich dabei im Text selbst, in dem Entwicklungen sprunghaft und letztlich unmotiviert erfolgen, wie sich im zweifachen Gebrauch des Wortes ›suddenly‹ ausdrückt. Weniger um Motivierung des Geschehens geht es als um die Montage eines Handlungsverlaufs, der offen- 182 Sebastian Susteck 39 (2010) bar als narrativ ›passend‹ und ›stimmig‹ - und womöglich auch nur als: ›gewöhnlich‹ - empfunden wird. Die topische Qualität des Textes zeigt sich deutlich, wenn man ihn mit einer zweiten Arbeit aus derselben Klasse vergleicht, die wesentlich Identisches erzählt, der Erzählung am Ende aber eine scharfe Wendung ins Unglück gibt: Once upon a time there was a young lady. She was eighteen years old, but she lived alone because she didn’t have parents. They had died just two months ago. In school she just wanted to be alone, but even before the terrible death nobody had wanted to sit next to her. She was a poor, lonely girl. Everytime when she came home there were empty rooms. She felt very, very sad. She didn’t have anybody to talk to about her problems because her parents were her only family. One day when she walked home from school a nice young boy asked her, if he could help her because she looked so sad. The boy asked, if they could meet some time to talk a little bit and she said “yes” because she wanted to have a friend and he looked so nice. A few years later they fell in love. They wanted to marry because they were so happy together. They went to “Carol’s Wedding and Gifts” to plan their wedding and to buy something to wear at their wedding. They were full of happiness. But one day before the wedding the woman had an accident with the car. She died right away. The man has to become old alone now because he never wants another woman to be with. Der scheinbar Einbruch des Todes in eine zunächst glücklich verlaufende Liebesgeschichte wird dabei im letzten Satz mit einem Sinnangebot ausgestattet, das im Motiv der ewigen, über den Tod hinausreichenden Liebe gegeben ist. Machen die zwei bisher zitierten Texte in ihrer topischen Verdichtung den Eindruck in sich insgesamt ›runder‹ und stimmiger Erzählungen, galt dies freilich nicht für alle produzierten Texte gleichermaßen. So entstanden auch wesentlich kürzere, offenem Zynismus zutreibende Texte, die freilich nicht weniger aussagekräftig sein müssen: My name is Carol and I’m twenty-three years old. Now I have to think about my life. Does it make sense to live, if I can’t take a step alone? This is my own shop called “Carol’s Wedding and Gifts”. I’m really proud of it. I don’t like the place where the shop is because I think in this house something isn’t right. Over my shop there is an empty flat. But sometimes I hear some voices and I think that there’s someone in it. In my dreams I always see a man who is following me. But I can’t see his face. I don’t know who he is. What shall I do? I can’t sleep anymore. Now I think that it’s good, if I end my life. That will be the best solution. Good bye! Hier darf man sicherlich davon ausgehen, dass der Text keine verdeckten Suizid-Sehnsüchte artikuliert, sondern dass es sich um ein literarisches Experiment handelt, das freilich durch eine pubertäre Todesfaszination mit fundiert ist. Aus der Sicht des Englischunterrichts handelt es sich dabei um einen - nicht zuletzt sprachlich - schwachen Text, der gleichwohl in jeder Klasse produziert werden könnte. Fokussiert man zunächst weniger auf die offensichtlichen Schwächen denn die interessanten Aspekte, wird man sagen dürfen, dass eine nachgerade klassische Handlungsführung mindestens angedeutet ist. Eine zwischen Selbstzweifeln und Erfolg schwankende Lebenssituation - deren zwei Seiten freilich nicht vermittelt sind - erweist sich durch äußere, nicht klärbare Einflüsse als gestört und endet im Tod. Dabei ist dieser Text stärker als Text angelegt, der auf die Schreiben zur Bildsequenz ... 183 39 (2010) ihm beigegebenen Bilder verweist. So machen die letzten Sätze vor allem dann Sinn, wenn man sie auf das beigefügte Bild des Sees bezieht. In jedem Fall ist auch dieser Text literarisch und medial präfiguriert, und zwar nicht nur im Motiv des bedrohlichen Traumes, sondern generell in seinen mystery-Elementen, die an dieser Stelle ungeklärt bleiben und ein happy-end verhindern. Man wird darüber hinaus feststellen dürfen, dass der Text Elemente hat, die - ohne dass dies von seinen Autoren intendiert gewesen sein muss - ins Parodistische weisen, und zwar trotz seiner ›düsteren‹ Gestaltung. Die mangelnde Motivierung einzelner Handlungsschritte oder -elemente nämlich wird hier überdeutlich sichtbar gemacht. Dies gilt insbesondere für die lakonische - durch die Ich-Perspektive in ihrer Beiläufigkeit noch gesteigerte - Feststellung des geplanten Suizids, die nicht notwendig sprachlicher Unbeholfenheit entspringen muss, sondern auch als Hinweis auf die literarische Qualität des ›Geschehens‹ gelesen werden kann. Die Tendenz literarischer Texte, aber auch die Tendenz von Filmen und Fernsehproduktionen zu ›dramatischen‹ Ereignissen, die nicht immer begründet scheinen, wirkt hier karikiert. 4. Aspekte narratologischer Auswertung Für eine weitergehende narratologische Auswertung der entstandenen Arbeiten bleibt zu ergänzen, dass die Schüler eine beträchtliche Variabilität zeigten, als es um die Anordnung von Bildern zu Sequenzen ging. Nahezu jedes der gegebenen sechs Bilder vermochte so als eröffnendes wie als Schlussbild zu fungieren. Flexibel und kreativ erwiesen sich die Schüler darüber hinaus bei der Ausdeutung der Bilder. Allerdings wurden einzelne Motive durchaus mit begrenzten Bedeutungen belegt. So wurde das Bild eines Sees nahezu ausnahmslos als Zeichen für einen Ort der Ruhe und Besinnung oder für einen Ort des Grauens und des Todes gedeutet. Bei der Ausdeutung einzelner Bilder zeigten sich an anderen Stellen dagegen deutlich unterschiedliche Akzentsetzungen. Der abgebildete wedding-shop wurde so - wie bereits zitiert - immer wieder zum Zeichen für Heiratsabsichten, konnte aber auch beiläufig nur als betriebenes Geschäft oder sogar als Fassade für verbrecherische Aktivität dienen. Wo im ersten Fall ein Akzent auf die Art des Geschäftes gelegt wurde, war für die weiteren Anverwandlungen nur wichtig, dass überhaupt ein Geschäft vorhanden war. Sehr unterschiedlich gestalteten sich darüber hinaus einzelne Texte, die - mehr oder minder geschickt - Erzählweisen und Gattungen von Texten und Erzählungen aufgriffen, und ihren Anschluss an literarische und mediale Vorbilder ostentativ ausstellten. So verband der folgende Text wenigstens drei Vorstellungskreise miteinander: (1) It’s Monday morning, and Mr. Thompson, a 65-year old physics teacher, is talking with his best friends before school about the crush that he has on one of his students. (2) They try to convince him that this is wrong and forbidden. (3) He answers that he agrees with them, but that he still wants her! (4) He gave her detention because she forgot her homework, but actually he just wanted to be alone with her. (5) Finally, when they were alone, he started talking to her and he was flirting with her. (6) When the bell rang she packed her things very quickly and ran outside because she was frightened. (7) He followed her all the way home to see where she lived. (8) The next days he didn’t talk to her to not 184 Sebastian Susteck 39 (2010) appear suspicious. (9) One night, when she was all alone at home, he went in and tried to convince her that he was good for her. (10) She was hyterical so he beat her to death without thinking about what he was doing. (11) Later that night he went to a wedding shop to steal the most expensive and beautiful wedding dress. (12) He returned to her home to dress her up. (13) Afterwards he brought her cold body to the deepest lake in town. (14) He put her in a coffin made of glass, so every night he could look at her body, left in the lonely darkness. Die ersten acht Sätze konzentrieren sich auf Vorstellungen aus einer Welt von soapoperas von Teenagern und einer Literatur und Filmwelt, die um schulisches (Liebes-) Leben kreist. Im Zentrum steht das Verlangen eines (alten) Lehrers nach einer seiner Schülerinnen und ein damit verbundener Machtmissbrauch des Lehrers. Die Sätze (9) und (10) greifen demgegenüber ein Motiv aus crime- und horror-Geschichten auf. In den Sätzen (11) bis (14) verbinden sich schließlich horror- und thriller-Elemente mit traditioneller Märchenmotivik. Um falschen Schlussfolgerungen vorzubeugen sei im Übrigen darauf verwiesen, dass der Text von mehreren Mädchen verfasst wurde. Nun strebten nicht alle Texte solch offensichtlich nach der Verbindung von Motiven verschiedener Gattungen. Teilweise suchten sie im Gegenteil eine einfühlsame, stärker realitätsbezogene bzw. - umgekehrt - weniger fiktionale Gestik. It was a cold evening and me and my boyfriend were lying in bed. It was the first time I could feel the cold between us. Something was wrong but I couldn’t understand what it was. The next morning I woke up alone and he wasn’t there. After thinking for a while I knew he would never come back. He only left dirt behind. During the time he was around me I loved him and his chaos, but after he had left I couldn’t stand It anymore. My heart broke into pieces when I thought about our wedding, which had been planned for 17 July, five days after his leaving. All I felt was loneliness, wherever I was. I couldn’t concentrate on anyone around me. Every day I tried to understand his reasons for leaving me. I don’t know why, but in this time I was often at the lake where I had been every day when I was a child. Today I can’t understand the thoughts that I had but in this time I thought the only solution was to kill myself. One day I met four old men. They told me to live with the pain. After this, I learned how to live, again. Auch hier kann man allerdings literarische Präfigurationen erkennen. Der Text verbindet erneut standardisierte Handlungsbausteine und Motive miteinander. Stärker als die bisher zitierten Texte scheint er dagegen die eigene Artifizialität zu verdecken. Dies liegt wesentlich daran, dass er eher als die bisherigen Texte der Lebenswelt von Jugendlichen verpflichtet wirkt und dabei auch auf stark dramatisierte Zuspitzungen des Geschehens verzichtet. Im bisher Gesagten wird sich bereits angedeutet haben, wie sehr die Schüler auf der Basis der selbst erstellten Bildsequenzen darum bemüht waren, kohärente Geschichten zu verfassen, die freilich durchaus radikale, nicht immer ›psychologisch‹ motiviert wirkende Wendungen enthalten konnten. Die Art der textuellen Komposition war dabei unzweifelhaft durch die bildlichen Vorgaben angeregt, und zwar nicht nur inhaltlich durch das, was auf den Bildern zu sehen war, sondern auch durch das Medium der Bildsequenz selbst, das dazu zwang, auf den ersten Blick womöglich Unzusammenhängendes zusammenzufügen und in einen Text zu übersetzen. Entsprechende Zwänge zeigten sich dabei Schreiben zur Bildsequenz ... 185 39 (2010) durchaus in den Texten, die einzelne Handlungs- und Geschehensabschnitte auf den ersten Blick ›unbeholfen‹ miteinander verbinden und dabei zumal temporale Formulierungen wie ›suddenly‹, ›one day‹ oder ›one night‹ benutzen. Tatsächlich begründete die Aufgabenstellung eine Herangehensweise, die topische Erzählungen hervorbrachte und den technisch-artifiziellen wie rhetorischen Charakter des Erzählens leichter zu sehen erlaubte. Eine Diskussion narratologischer Grundfragen wurde damit in besonderer Weise möglich und konnte auch als Vorbereitung auf die Auseinandersetzung mit weiteren literarischen Werken dienen. Dabei konnten solche Fragen an den von Schülern selbst verfassten Texten aus gleich mehreren Gründen gut thematisiert werden. Zu nennen ist nicht nur die Tatsache, dass es um Texte der Schüler selbst ging und dadurch womöglich eine identifikatorische Dimension in der Diskussion existierte, die die Intensität dieser Diskussion verstärken musste. Vielmehr ist auch auf die Tatsache zu verweisen, dass die entstandenen Texte von übersichtlicher Kürze waren und sich gerade in ihrer schematischen und topischen Dichte gut zum Ausgangspunkt von Diskussionen machen ließen, die auch von der Vergleichbarkeit von Texten profitierten. Fragen einer entsprechenden Auswertung konnten so sein: Was haben die Texte gemeinsam, was unterscheidet sie, inwiefern sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede bemerkenswert oder sogar erstaunlich? Gibt es Themen, die erzählte Geschichten haben müssen oder haben sollten? Müssen sie Außergewöhnliches verhandeln (wie Lehrer, die ihre Schülerinnen überfallen und sie in Glassärgen in Seen versenken) oder genügt guten Geschichten Alltägliches (wie der Kummer um eine verlorene Liebe)? Ist das Alltägliche alltäglich? Darüber hinaus aber stellten sich natürlich Fragen wie: Wie wurden hier Bilder - und sodann: Ereignisse - angeordnet? Weshalb in dieser Reihenfolge? Wird suspense erzeugt, und wenn ja, wie? Gibt es Wendepunkte, Höhepunkte oder rekonstruierbare Spannungskurven? Gibt es Aspekte der Handlungsführung, die überzeugen und andere, die dies nicht tun? Sosehr sich die Schüler mit den gegebenen Bildern auseinandersetzten, so klar dominierte die Erzeugung von Geschichten eine eigentlich bildorientierte Auseinandersetzung mit dem gegebenen Bildmaterial. Dieses wurde vielmehr - und legitimerweise - als Ausgangspunkt und Anreger für das eigene Erzählen verwendet, sodass mit Details und mit Unterschieden zwischen Bildern großzügig umgegangen werden konnte. So nahm lediglich eine Gruppe darauf Rücksicht, dass eines der Bilder - im Unterschied zu den übrigen - ein Ölgemälde zeigte. Diese Gruppe, immerhin, deutete das Bild aus Traumbild und setzte es damit in Opposition zur sonst dargestellten ›Realität‹. Auch wurde nicht immer auf eine wirkliche Kohärenz der einzelnen Bilder geachtet, sodass etwa ein dargestellter junger Mann im Text auch zu einem sehr alten Mann werden konnte, wenn der Verlauf der Erzählung dies erforderte. Im Rahmen der Aufgabenstellung war eindeutig, dass dem Erzählen gegenüber dem Erzählanlass Vorrang eingeräumt werden durfte. Auch über die Aufgabenstellung hinaus lässt sich an der von den Schülern gewählten Vorgehensweise indes die Macht ihre Text- und Medienwissens ablesen, das sich gerade darin zur Geltung brachte, in der Dynamik von Geschichten die Bildvorgaben zwar nicht völlig zu invisibilisieren, aber doch zu überstimmen. 186 Sebastian Susteck 10 P ORTMANN (1994: 481), hält fest, „dass fremdsprachliches Schreiben in viel weiterem Ausmaß als muttersprachliches sich auf vorliegende Texte bezieht […]. Der Grund dafür liegt darin, dass durch solche Nähe zu Texten nicht nur Schreibaufgaben besser kontextualisiert werden können […], sondern auch die sprachlichen Probleme der Schreibenden etwas vermindert werden können: Bezugstexte können als Hilfsmittel fungieren“. Nur scheinbar widerspricht diese Analyse im Übrigen der eingangs geäußerten Einschätzung, gerade im fremdsprachlichen Unterricht seien textunabhängige Schreibübungen möglich, die im muttersprachlichen Unterricht kaum vorkämen. Eingangs nämlich ging es zunächst um eher systematische denn empirische Überlegungen oder - anders formuliert - um die Bandbreite sinnvoller Aufgabenstellungen im Rahmen der Zielsetzungen unterschiedlicher Fächer, was über die Intensität der Nutzung solcher Möglichkeiten noch keine Auskunft gibt. Darüber hinaus bleibt zu ergänzen, dass Portmanns Überlegungen sicherlich besonders die Unter- und frühe Mittelstufe der Schule betreffen. 11 Die Schwierigkeiten einer Diskussion grammatischer Fragen bei der Auseinandersetzung mit Texten von Lernenden besprechen unter anderem F RODESEN / H OLTEN (2003), die festhalten, dass solche Texte „offer models not only for rhetorical structures but for the language used to create them“ (153 f). 39 (2010) 5. Aspekte sprachlicher Auswertung Nun boten die von den Schülern entworfenen Texte selbstverständlich auch ausreichend großen Anlass, neben narratologischen sprachliche Fragen zum Thema zu machen, die freilich teilweise mit den narratologischen konvergieren. Festzuhalten ist, dass die oben wiedergegebenen Texte sprachlich punktuell modifiziert wurden, um das Lesen zu erleichtern und auszudrücken, was die Schüler vermutlich ausdrücken wollten. Gerade im Schreiben zur Bildsequenz, das ohne textliche Vorgaben auskam, die man übernehmen und adaptieren konnte 10 , zeigten sich auch sprachliche Grenzen der Schüler, die Grundlagen einer eigenen Diskussion werden konnten. Dies begann bei scheinbaren Trivialitäten, wie Rechtschreibfehlern, die teilweise sinnentstellend waren (were statt where, couldness statt coldness). Es führte weiter über Fehler im Vokabular, die von einfachen Wortverwechslungen (wie der zwischen to complain und to compare) zum ungenauen oder falschen Ausdruck führten (to take place anstelle von to sit). Noch wichtiger und grundlegender waren darüber hinaus Fragen der verwendeten Zeit 11 , aber auch der Syntax, wobei es im letzten Fall weniger um offensichtliche Fehler als um die Suche nach einem anspruchsvollen Ausdruck ging. Zu den gravierendsten Fehlern - oder vorsichtiger: Unstimmigkeiten - in den entstandenen Texten gehörten solche der Zeitwahl. Hierbei war nicht nur auffällig, dass die Schüler verhältnismäßig oft nicht im Imperfekt schrieben, sondern auch, dass sie überhaupt keine klare Zeitwahl trafen und zwischen Präsens und Imperfekt schwankten. Darüber hinaus misslang in der Regel die Relationierung verschiedener Zeiten und hier besonders der Ausdruck der Vorvergangenheit. Positiv gewendet boten die entsprechenden Probleme eine doppelte Anschlussmöglichkeit für Diskussionen, nämlich erstens bezüglich der Gattungsfrage der Texte und den Zeitregeln literarischen Erzählens, zweitens aber bezüglich der Ausdrucksmöglichkeiten von Zeitverhältnissen (und auch einer immer wieder aufs Neue nötigen Wiederholung der Zeiten). Eine Sonderstellung kam im Kontext der skizzierten Textproduktion syntaktischen Fragen zu. Dies galt nicht nur deshalb, weil das Bemühen um eine anspruchsvolle und abwechslungsreiche Syntax in der ausgehenden Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II Schreiben zur Bildsequenz ... 187 39 (2010) besonders dringlich wird. Vielmehr ging eine eventuelle syntaktische ›Dürftigkeit‹, die man an den zitierten Texten kritisieren mag, in zweifacher Weise aus jener Aufgabenstellung hervor, die der Textproduktion zugrunde lag. Zum einen galt dies für die Präsentationsweise der entstandenen Geschichten auf Plakaten, die komplexen syntaktischen Experimenten sicherlich abträglich war, insofern der begrenzte Raum Schülern grundsätzlich nahezulegen scheint, sich auf einfache, auch von der Länge ›beherrschbare‹ syntaktische Konstruktionen zu verlassen. Zum zweiten legte auch das Schreiben zu Bildsequenzen selbst die Wahl bestimmter syntaktischer Ausdrucksformen nahe, wie vor allem eine Folge von Hauptsätzen, die einer Bilder- und Geschehensfolge entspricht. Wie sich bereits an den zitierten Texten erkennen lässt, drängte die Aufgabenform die Schüler in Richtung parataktischer Konstruktionen, die einem ›reinen‹, um motivationale Zusammenhänge nur bedingt bemühten Erzählen durchaus angemessen scheinen. Wo über Hauptsatzfolgen hinausgegangen wurde, finden sich in der Regel einfache Haupt- und Nebensatzkonstruktionen, die meist konditionaler oder kausaler Art waren. Erneut kann man die entsprechenden Probleme dabei durchaus zum Anknüpfungspunkt einer Weiterentwicklung des Schreibens machen, die in der stilistischen Überarbeitung und Anreicherung der Texte besteht. Damit fände das Schreiben zu Bildsequenzen auch Anschluss an eine prozessorientierte Textproduktion, die gegenwärtig eine wichtige Rolle in der Didaktik des Schreibens spielt. 6. Die Reaktivierung rhetorischer Schreibvorstellungen Als das Konzept des Genies im späten 18. Jahrhundert entsteht, bildet sich mit ihm das eigentümliche Phänomen der ›Künstler ohne Werke‹ (vgl. P LUMPE 1995: 83 f). Es handelt sich um Personen, deren künstlerische Tätigkeit sich ausschließlich im Innern vollzieht, ohne sich in Werken niederzuschlagen. Tatsächlich bezieht der Begriff des Genies sich auf spezifisch disponierte Subjekte eher denn Schöpfungen, weshalb die Rede des Genies ohne Produkt Sinn ergibt. Psychologisch freilich kann man ›Künstler ohne Werke‹ auch als Opfer eines Geniegedankens sehen, der den Einzelnen mit der Forderung nach höchst individuellen und originellen Kunstleistungen be- und überlastet. Eine Reaktivierung rhetorischer Vorstellungen des Schreibens und künstlerischen Schaffens kann einem solchen Denken gegenüber noch heute befreiend wirken. Sie zu betonen ist auch didaktisch sinnvoll, zumal die reale Medienerfahrung und -nutzung von Lernenden weniger aus einer Kunst gespeist sein dürfte, die höchste Originalitätsansprüche erhebt, denn aus einer Kunst, die massenhaft produziert wird und die ihre Rezipienten doch zu fesseln vermag. Zu offenen Bildsequenzen zu schreiben ist ein Weg, sich im Fremdsprachenunterricht auf eine rhetorische wie topische Kunstvorstellung einzulassen und in diesem Rahmen Raum für Kreativität zu geben. Indem Bilder den Schreibprozess anregen und limitieren, eröffnen sie Möglichkeiten eigener Schöpfungen, ohne Schreibenden zu viel abzuverlangen. Die dabei entstehenden Texte aber basieren nicht nur auf der Nutzung der Fremdsprache, sondern sie geben in ihrer topischen - und mitunter bewusst klischeehaften - Verfasstheit vielfache Möglichkeiten der Diskussion auch narratologischer und linguistischer Aspekte. 188 Sebastian Susteck 39 (2010) Literatur A BRAHAM , Ulf / K EPSER , Matthis (2006): Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Schmidt. B EILE , Werner (1996): „Kreatives Schreiben in der fremden Sprache“. In: Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 3, H. 23, 4-11. B ORNSCHEUER , Lothar (1976): Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. C ASPARI , Daniela (2003): „Kreativität“. In: B AUSCH , Karl-Richard / C HRIST , Herbert / K RUMM , Hans- Jürgen (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen/ Basel: Francke, 308-312. 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