eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 39/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2010
391 Gnutzmann Küster Schramm

Latein als Hilfe im modernen Fremdsprachenunterricht

121
2010
Klaus Westphalen
Christine Neveling
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39 (2010) Pro Pro 1. Latein ist die Basissprache Europas. In seinem Klassiker Mutter Latein und ihre Töchter beweist C. V OSSEN ihren unmittelbaren Einfluss auf die romanischen Sprachen und nennt auch Englisch ein „lateinisches Land“. Zwei Neuerscheinungen spüren der geschichtlichen Wirkung des Lateins nach, und zwar W. S TROH : Latein ist tot, es lebe Latein! und J. L EONHARDT : Latein - Geschichte einer Weltsprache. Angesichts unserer politischen Situation ist es ein „Fahrstuhl zu den Wurzeln Europas“ (F. M AIER ). 2. Als Schulfächer werden die modernen Fremdsprachen und Latein eher kontrastiv unterrichtet. Wir unterscheiden eine pragmatische und eine bildungsorientierte Linie: Die modernen Fremdsprachen streben Kommunikationsfähigkeit an, also Hörverstehen, Sprechen, Lesen und Schreiben. Es geht ihnen um aktive Kompetenzen. Latein betont dagegen eher rezeptive Kompetenzen: Übersicht über Sprachstrukturen, Textinterpretation, literarische und kulturgeschichtliche Einsichten, Allgemeinbildung. Lateindidaktiker sprechen von der Multivalenz des Faches. Solche Unterschiede sind im Bildungskonzept des Gymnasiums positiv zu werten: Fremdsprachen, ob modern oder antik, haben zwar viele Gemeinsamkeiten, aber auch eine starke didaktische Typenvarianz. Aus lernökonomischen Gründen und zugunsten einer möglichst breiten Allgemeinbildung erscheint gerade dieses Angebot sinnvoll. 3. Trotz solcher Differenz ist Latein eine große Hilfe für moderne Fremdsprachen: - Das Vokabular aller wichtigen europäischen Sprachen ist zu beträchtlichen Anteilen durch Latein bestimmt. Hier einige Belege für die Dauerhaftigkeit des Lateinischen (nach V OSSEN ): Von den 2000 gebräuchlichsten französischen Wörtern haben 18,2 % den lateinischen Stamm getreu bewahrt, von etwa 8000 italienischen Wörtern im Langenscheidt-Wörterbuch werden rund 20 % noch genau so geschrieben wie im Lateinischen, von etwa 2000 Wörtern des spanischen Grundwortschatzes haben ca. 27 % die lateinischen Stämme unvermindert beibehalten. Noch heute ist vom englischen Wortschatz etwas mehr als die Hälfte lateinisch-romanischen Ursprungs. - Auch die Grammatik der romanischen Sprachen geht fundamental auf Latein zurück; F. B ODMER (Die Sprachen der Welt, 1955 u.ö.) hat dies in einem umfangreichen Kapitel dargestellt. Wer also Satzstrukturen der lateinischen Grammatik gelernt hat, findet leichter Zugang zur Grammatik der anderen Sprachen. Latein ist (neben Griechisch) die Fundamentalsprache der Wissenschaft und ein Medium anspruchsvoller Kommunikation. Autoren, die Wichtiges in Publizistik, Literatur und den Wissenschaften zu sagen haben, greifen in den meisten Sprachen auf lateinische Begriffe und Vokabeln zurück. - Schließlich ist Latein ein „Trainingszentrum anspruchsvoller Denkoperationen“. Vor allem in der grammatischen Schulung und der literarischen Texterschließung werden sprachliche Denkakte vollzogen, die selbstverständlich dem Erlernen weiterer Fremdsprachen zugute kommen. Garmisch-Partenkirchen K LAUS W ESTPHALEN Latein als Hilfe im modernen Fremdsprachenunterricht Pro und Contra 191 39 (2010) Contra Contra Die Bedeutung des Lateinischen für den Erwerb lebender Sprachen wurde lange nicht in Frage gestellt: Latein sei sprachlich modellhaft und insbesondere für den Erwerb romanischer Sprachen unverzichtbar. Obwohl sich bereits mit Viëtor das Verständnis lebender Sprachen von dem der toten gelöst hat, werden erst seit Kurzem Aussagen zum Einfluss des Lateinischen auf andere Sprachen („Mutter der romanischen Sprachen“) in Lehrplänen oder Werbevorlagen für das Fach Latein vorsichtiger formuliert. Fremdsprachenlernen bedeutet nach heutigem Sprachverständnis die Entwicklung einer kommunikativen, interkulturellen Handlungskompetenz. Hierfür werden rezeptive und produktive Fertigkeiten, Mediation und der funktionale Einsatz von Lexik, Aussprache, Intonation und Grammatik trainiert. Strategien sollen die Lernprozesse unterstützen und den Weg zur individuellen Mehrsprachigkeit ebnen. Welchen Beitrag kann Latein hierzu leisten? Prinzipiell hilfreich für den Erwerb des Englischen und der romanischen Sprachen sind die zahlreichen lexikalischen Transferbasen - wenn denn im Lateinunterricht zuvor entsprechende Themen behandelt wurden. Inferenzen scheinen vor allem von einer aktiven Beherrschung der lateinischen Vokabeln abzuhängen (vgl. J. M ÜLLER -L ANCÉ : Der Wortschatz romanischer Sprachen im Tertiärsprachenerwerb. [...]. Tübingen: Stauffenburg 2 2006, 467). Da die meisten Lernenden einen so hohen Kompetenzgrad nicht erreichen, rekurrieren sie eher auf andere moderne Fremdsprachen. Die Interkomprehensionsdidaktik entwickelt hierfür derzeit gezielt Modelle. Die Transferierbarkeit grammatischer Phänomene hängt von der strukturellen Nähe der nachgelernten Sprache zum Lateinischen ab, das Französische hat sich dabei z.B. weiter vom Lateinischen entfernt als das Spanische. Die produktiven Fertigkeiten - Kern der kommunikativen Kompetenz - und die Mediation fördert Latein überhaupt nicht, ebenso wenig das Hör-/ Sehverstehen z.B. eines Films oder eines Multilogs in Jugendsprache. Beim Leseverstehen scheint das gängige Verfahren des Konstruierens und exakten Erfassens von Textaussagen dem detaillierten Lesen im Fremdsprachenunterricht zu nutzen, während kursorisches oder globales Lesen ebenso wenig geübt werden kann wie lernerorientierte, produktive Textarbeit. Schließlich ist die durch Reflexionen über die distante antike Kultur aufgebaute interkulturelle Kompetenz eine ganz andere als die, die bei persönlicher, ganzheitlicher Kommunikation mit Sprechern des Zielsprachenlands vonnöten ist. Da also die meisten Kompetenzbereiche des Lateinischen von denen der modernen Fremdsprachen abweichen, sind auch die entsprechenden Strategien nicht übertragbar, denn effektiv sind spezifische und nicht die fürs Lateinische viel gepriesenen allgemein problemlösenden Strategien. Aus demselben Grund ist auch das Beherrschen der „Sprachreflexivität“ in Latein kaum transferierbar; hierfür setzen Lernende nämlich ihre den lernersprachlichen Bedürfnissen angepasste language awareness ein. Dass sich der Lateinunterricht von einem alten Argument verabschieden muss, sollte ihm keinen Abbruch tun. Hingegen ist mit Sorge zu sehen, dass er in Deutschland - anders als in allen romanischsprachigen Ländern - durch seine Stellung als 1. oder 2. Fremdsprache weiterhin den Weg zur Mehrsprachigkeit blockiert, denn viele Schüler mit solch einer Sprachenfolge lernen neben Englisch bis zum Schulabschluss keine zweite moderne Fremdsprache. Daher kann das Postulat „1+2“ der europäischen Kommission in diesem Kontext nicht genug betont werden. Leipzig C HRISTIANE N EVELING