Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2010
391
Gnutzmann Küster SchrammMarcus BÄR: Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10. Tübingen: Narr 2009 (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), 576 Seiten [55,– €]
121
2010
Jenny Jakisch
flul3910207
Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 207 39 (2010) Marcus B ÄR : Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern der Klassen 8 bis 10. Tübingen: Narr 2009 (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), 576 Seiten [55,- €] Das Thema Mehrsprachigkeit, zu dessen Förderung der von der Romanistik entwickelte Ansatz der Interkomprehension einen Beitrag leisten will, ist derzeit ein wichtiger Bestandteil der fremdsprachendidaktischen Diskussion. Belege für die häufig mit mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätzen verbundene Euphorie stehen jedoch zu großen Teilen noch aus. Insofern ist es erfreulich, dass Markus B ÄR mit der vorliegenden Arbeit, einer Veröffentlichung seiner an der Universität Gießen angenommenen Dissertation, den Versuch einer empirischen Fundierung einer Theorie von Mehrsprachigkeit an deutschen Schulen unternimmt. Ausgehend von der Beobachtung, dass sich Mehrsprachigkeit hier meist als „Muttersprache plus Englisch“ realisiert findet, echte Mehrsprachigkeit jedoch erst mit dem Erlernen einer dritten Fremdsprache einsetzt, hat er sich zum Ziel gesetzt, die Methode des interkomprehensiven Lernens auf der Grundlage bereits vorhandener Kenntnisse in einer oder mehreren romanischen Sprachen in Form von vier Fallstudien zu testen und zu evaluieren. Der insgesamt fast 600 Seiten umfassende und mit einer ähnlich hohen Zahl an Fußnoten versehene Band stellt dabei freilich in Umfang und Datenmenge selbst interessierte und mit der Thematik vertraute Leser vor eine Herausforderung. Nachdem der Autor im 1. Kapitel das Ziel ‚individuelle Mehrsprachigkeit‘ skizziert und die Arbeit in den gegenwärtigen sprachen- und bildungspolitischen Diskurs einordnet, wird im 2. Kapitel interkomprehensives Lehren und Lernen als ein Weg zur Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz genauer beschrieben. Aufbauend auf einem inferentiellen Lernbegriff, nach dem neue Wissensbestände stets mit schon Gelerntem interagieren, und die Erkenntnis berücksichtigend, dass verschiedene Sprachen gemeinsam in einem Netzwerk im mentalen Lexikon gespeichert werden, nutzt der Interkomprehensionsunterricht bewusst das bereits vorhandene Sprach- und Sprachlernwissen der Schüler. Dadurch können Sprachen, die nicht formal (z.B. in der Schule) gelernt wurden, partiell verstanden werden, wobei allerdings ‚nur‘ die Schulung rezeptiver Kompetenzen - in der vorliegenden Arbeit das Leseverstehen - angestrebt wird. Grundlage für das interkomprehensive Erschließen einer unbekannten Zielsprache sind Kenntnisse in einer verwandten Brückensprache (hier die romanischen Sprachen). Im Unterschied zum traditionellen Fremdsprachenunterricht ist Interkomprehension B ÄR zufolge ungleich besser mit dem Mehrsprachigkeits- und Sprachlernbegriff des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens vereinbar. Die Charakterisierung des ‚normalen‘ Fremdsprachenunterrichts fällt dabei allerdings - möglicherweise auch wegen der teilweise über zehn Jahre alten Quellen, die B ÄR hierfür heranzieht - etwas zu schematisch aus und dürfte praktizierende Lehrer sowie Fremdsprachendidaktiker wenig freuen: So ist im traditionellen Fremdsprachenunterricht nach Kenntnisstand der Rezensentin weder das formale Lernen einschließlich des Auswendiglernens vorgegebener Regeln in behavioristischer Manier „weit verbreitet“, noch werden Fehler, wie vom Autor behauptet, als Abweichung von der Norm ausschließlich negativ betrachtet. Auch die rezeptiven Kompetenzen werden nicht länger vernachlässigt, sondern haben in den letzten Jahren eine enorme Aufwertung erfahren. Hinsichtlich der Reichweite eines interkomprehensiven Vorgehens macht B ÄR auf eine wichtige Einschränkung aufmerksam: So will und kann Interkomprehension in der Schule keinesfalls den bestehenden Fremdsprachenunterricht ersetzen, sondern versteht sich vielmehr als Ergänzung oder Alternative zu diesem. Zwei Hauptziele werden dabei verfolgt: Zum einen soll die Förderung von Sprachenbewusstheit (multi language awareness) als für die Entschlüsselung der Zielsprache notwendige Fähigkeit, den Systemcharakter der Sprache wahrnehmen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Sprachen identifizieren zu können, angeregt werden. Da die Dekodierung der unbekannten Sprache ohne einen solchen Vergleich nicht funktionieren kann und die Lernen- 208 Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 39 (2010) den darauf angewiesen sind, sprachliche Phänomene wiederzuerkennen und auf die ihnen unbekannte neue Sprache zu transferieren, ist Interkomprehension für die Förderung dieser besonderen Form von language awareness nahezu prädestiniert. Steht hierbei die Anknüpfung an sprachliches Vorwissen und somit eine deklarative Ebene im Vordergrund, geht es beim zweiten Ziel, der Förderung von Sprachlernbewusstheit (language learning awareness), um die bewusste Einbindung bereits gemachter Lernerfahrungen im Sinne einer Schulung der Fertigkeit, mittels geeigneter Strategien den eigenen Lernprozess gezielt steuern zu können (prozedurales Wissen). Dies ist nicht zuletzt auch der so wichtigen Vorbereitung auf lebenslanges Lernen zuträglich. Kapitel 3 ist dem Aufbau und der Durchführung der Untersuchungen gewidmet und beginnt mit einer Konkretisierung des Erkenntnisinteresses. Die empirische Untersuchung will erstens ergründen, inwieweit Interkomprehensionsunterricht in der Lage ist, die oben aufgeführten Ziele umzusetzen, und zweitens herausfinden, wie sich interkomprehensive Lernprozesse von Schülern beim Erlernen einer zweiten oder dritten romanischen Sprache im deutschen Lernkontext vollziehen. Zu diesem Zweck wurden von B ÄR vier interkomprehensive Unterrichtsprojekte im Umfang von ca. 15 Unterrichtsstunden an verschiedenen Schulen durchgeführt und wissenschaftlich begleitet, wodurch sich insgesamt eine Probandenzahl von 89 Schülern und Schülerinnen sowie fünf beteiligten Lehrpersonen ergab. Die Auswahl der Jahrgangsstufen 8-11 begründet sich aus der Tatsache, dass die Schüler während dieser Zeit ihre dritte (oder vierte) Schulfremdsprache lernen. Mit Blick auf die Ziele der Studie verortet B ÄR seine Untersuchung im qualitativen Forschungsparadigma, ist sich dem damit verbundenen subjektiv-interpretativen Charakter sowie den sich aus der Doppelrolle des Lehrers und Forschers ergebenden Anforderungen jedoch durchaus bewusst. Im Sinne einer Betrachtung des Forschungsgegenstandes aus unterschiedlichen Perspektiven wählt er ein mehr-methodisches Vorgehen, das u.a. verschiedene Verfahren der Introspektion und Retrospektion einschließt und in der Erhebung folgender sieben umfangreicher, dem Erkenntnisinteresse jedoch nicht in gleicher Weise zuträglicher Datentypen resultiert: Eingangsfragebogen für Schüler, Unterrichtsbeobachtungen bzw. Aufzeichnungen der Stunden per Video, Laut-Denk- Protokolle, Lerntagebücher, Lernerfolgskontrollen, Abschlussfragebögen für die Schüler (in Fallstudie I: Interviews mit Schülern) und Fragebögen für beteiligte Lehrpersonen. Die Auswertung der so erhobenen Daten erfolgte chronologisch und war den Prinzipien der Triangulation - hier eine Kombination aus Daten-, Methoden- und Perspektiventriangulation - sowie einer nicht-wertenden Darstellung einzelner Fallstudien verpflichtet. Im umfangreichsten Teil der Arbeit, Kapitel 4, werden die Ergebnisse der vier Fallstudien (Spanisch interkomprehensiv in Klasse 8 in Fallstudie I und Klasse 10 in Fallstudie II sowie Italienisch interkomprehensiv in Klasse 9 in Fallstudie III und Klasse 8/ 9 in Fallstudie IV) im Einzelnen dargestellt; Kapitel 5 diskutiert diese fallübergreifend. So wird der Rückgriff auf Vorwissen im Sinne des die Interkomprehension kennzeichnende Prinzips der Bewusstmachung wegen der sich daraus ergebenden lernerleichternden Effekte von den Schülern als positiv beurteilt. Gleichwohl wurde auch deutlich, dass der Vergleich zwischen den Sprachen nur dann erfolgreich verläuft, wenn die Schüler über ausreichende Kenntnisse in diesen verfügen und auf eine starke Brückensprache (hier Französisch) aufbauen können. Ist dies nicht der Fall, so wie bei den jüngeren Schülern der Klassenstufe 8 und einigen Schülern der Klassenstufe 10, haben die Lerner Schwierigkeiten, die lexikalischen Lücken zur Zielsprache zu schließen. Die im sprachenübergreifenden und sprachenvergleichenden Vorgehen ungeübten Schüler gehen zudem zu Beginn des Projekts stark einzelwortgeleitet vor und können ihre sprachliche Transferbasis erst später dahingehend verbreitern, dass auch über das Einzelwort hinausgehende Vergleiche für die Erschließung genutzt werden. Auch die Sprachlernbewusstheit der Schüler ist anfangs wenig ausgeprägt. Sie wissen weder, wie das Lernen fremder Sprachen funktioniert, noch können sie Gründe für dieses angeben. Mit der Selbstreflexion des eigenen Lernens kaum vertraut, können vor allem die Lerntagebücher Buchbesprechungen C Rezensionsartikel 209 39 (2010) als Hilfsmittel zur Beobachtung und Reflexion des eigenen Lernprozesses ihre Wirkung nicht entfalten, sodass hier eine entsprechende Vorarbeit vom regulären Fremdsprachenunterricht wünschenswert wäre. Obwohl das selbständige und entdeckende Lernen von der Mehrheit der Schüler positiv empfunden wird, wünschen sich vor allem die jüngeren Schüler eine klarere Führung durch den Lehrer. Es ist daher nach B ÄR im Interkomprehensionsunterricht von besonderer Bedeutung, Ergebnisse eigenständiger Schülerarbeitsphasen im Plenum zusammenzuführen und so der Sorge vorzubeugen, ‚etwas Falsches‘ zu lernen. Der Einsatz von Lernstrategien hilft besonders den älteren Schülern; die jüngeren bedürfen der Anleitung durch den Lehrer. Die systematische Einübung und Wiederholung von lernerleichternden Strategien und eine Thematisierung des ‚Lernen Lernens‘ ist daher ein Desiderat an den regulären Fremdsprachenunterricht. Der Einsatz authentischer Materialien, der den Interkomprehensionsunterricht im Unterschied zu den gewöhnlich didaktisch aufbereiteten Texten des Anfangsunterrichts von der ersten Stunde an kennzeichnet, findet großen Anklang bei den Schülern und bestärkt sie in ihrer Motivation, die Inhalte der ihnen unbekannten Zielsprachentexte verstehen zu wollen. Obwohl alle Schüler von der steileren Progression positiv überrascht waren (diese war in der vorliegenden Studie für das Spanische sogar noch höher als für das Italienische), konnte die ‚einseitige‘ Fokussierung auf das Prinzip der Rezeptivität nicht alle Lerner überzeugen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die beiden Hauptziele des interkomprehensiven Unterrichts - Förderung von Sprachenbewusstheit und Sprachlernbewusstheit - angebahnt bzw. zum Teil vollständig realisiert werden konnten. B ÄR merkt jedoch selbst an, dass das Projekt durch die kurze Unterrichtsdauer von nur wenigen Tagen nicht seine volle Wirkung entfalten konnte. Das abschließende 6. Kapitel entwirft in Form eines Ausblicks vier Szenarien für eine mögliche Integration von Interkomprehension in schulisches Fremdsprachenlernen: Sie könnte als „Vorschaltmodul“ dem Unterricht in einer neu beginnenden Fremdsprache vorangestellt werden, als „Schnuppermodul“ erste Einblicke in eine Fremdsprache geben, als „Beschleunigungsmodul“ die Lesefertigkeiten gezielt schulen oder in Form eines in der Oberstufe angesiedelten „Vertiefungsmoduls“ für an weiteren Sprachen Interessierte zum Einsatz kommen. Nötig dafür ist allerdings die vielfach geforderte und in der Idee des Gesamtsprachencurriculums verankerte stärkere Zusammenarbeit der verschiedenen Sprachenfächer. Es ist Markus B ÄR ohne Zweifel gelungen, den angestrebten Beitrag zur empirischen Fundierung interkomprehensiven Lernens zu leisten. Der sich andeutende Zusammenhang zwischen Interkomprehension und Motivation lässt den Ansatz als zukunftsträchtiges und vielversprechendes Mittel zur Förderung von Mehrsprachigkeit erscheinen, dessen Nachhaltigkeit und schulische Wirksamkeit jedoch in weiteren, über einen längeren Zeitraum angelegten Studien geprüft werden müssen. Braunschweig J ENNY J AKISCH Wolfgang H ALLET , Frank G. K ÖNIGS (Hrsg.): Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze-Velber: Klett | Kallmeyer 2010, 399 Seiten [29,80 €] Bildungsstandards und die damit einhergehende Implementierung kompetenzorientierter Lehrpläne haben in den letzten sechs bis sieben Jahren nicht nur im schulischen Kontext, sondern auch in der universitären und akademischen Domäne zur Entwicklung von Konkretisierungsinstrumentarien und zur Formulierung verbindlich definierbarer Ziele und Ausbildungsinhalte beigetragen. Die Idee der Output-Orientierung hat nicht zuletzt auch zu einem beobachtbaren Anwachsen von Handbüchern (einschließlich Handbuchüberarbeitungen), Grundlagen- und Überblickspublikationen auf
