eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 40/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2011
401 Gnutzmann Küster Schramm

Lothar BREDELLA : Das Verstehen des Anderen. Kulturwissenschaftliche und literaturdidaktische Studien. Tübingen: Narr 2010, 289 Seiten [39,80 €]

61
2011
Lutz Küster
flul4010128
© 2011 Narr Francke Attempto Verlag 40 (2011) • Heft 1 B u c h b e s p r e c h u n g e n • R e z e n s i o n s a rti k e l Lothar B REDELLA : Das Verstehen des Anderen. Kulturwissenschaftliche und literaturdidaktische Studien. Tübingen: Narr 2010, 289 Seiten [39,80 €] Im vorliegenden Buch versammelt der Autor nach einer ausführlichen Einleitung sechzehn Beiträge, die er mit Ausnahme von dreien bereits andernorts veröffentlicht hatte. Viele der hier entwickelten Gedanken und literaturdidaktischen Textbetrachtungen sind dem Kenner seiner Schriften somit bereits vertraut. Gleichwohl ist der Band mehr als ein Zusammenschnitt bekannter Aufsätze. Lothar B REDELLA unternimmt mit dieser Veröffentlichung vielmehr den Versuch, seine zentralen Gedanken zur Verknüpfung literarischen und interkulturellen Lernens in einen argumentativen Gesamtzusammenhang zu integrieren, um so ihre Prägnanz zu erhöhen (vgl. S. XVII). Er greift dabei auf einen aktualisierten und beeindruckend umfangreichen Schatz wissenschaftlicher Referenzliteratur zurück. In gewisser Weise kann das Buch so als eine Art Summa seines kultur- und literaturdidaktischen Denkens verstanden werden. Dessen ungeachtet trägt das Buch zugleich Züge einer Streitschrift. Dies wird bereits zu Beginn der Einleitung deutlich, in welcher der Autor seinen Ansatz einer „Didaktik des interkulturellen und literarischen Verstehens“ (ebda.) in pointierter Widerlegung - realer oder vermeintlicher - Gegner entwickelt und begründet. B REDELLA wendet sich zunächst einmal gegen jene neurophysiologisch oder erkenntnistheoretisch begründete Auffassung vom menschlichen Gehirn als eines selbstreferentiellen Systems, das zu einer unmittelbaren Erfassung externer Realität unfähig sei. Gerhard R OTH wird als Repräsentant der ersten, die Richtung des radikalen Konstruktivismus als Vertreter der zweiten Perspektive genannt. Inhaltlich tauchen die Positionen der B REDELLA / W ENDT - Kontroverse vom Ende der 1990er Jahre wieder auf. Zur Unterstützung seiner Thesen beruft sich B REDELLA vor allem auf Bruno L ATOUR , Thomas F UCHS und Martin S EEL . Mit ihnen geht er davon aus, dass das Gehirn unsere Beziehung zur Welt, zu anderen Menschen und uns selbst vermittelt, also sehr wohl in der Lage ist, eine Brücke des Erkennens zwischen dem Ich und der Welt zu schlagen. Vor diesem Hintergrund erst werde eine dialogische Beziehung zum Anderen und letztlich dessen Verstehen möglich. Im Anschluss an die Überlegungen B ACHTINS macht sich B REDELLA daher zum Fürsprecher des von H OLQUIST vertretenen dialogism. Im Gegensatz zum Konzept der Transkulturalität ist das der Interkulturalität bipolar-dialogisch angelegt, was dazu verleiten kann, die beiden Pole der Kommunikation als relativ homogene Entitäten zu betrachten. Derartige Essentialisierungen entsprechen indes nicht dem Denken B REDELLAS . Vielmehr wirbt dieser für eine differenzierende Betrachtung jeweiliger kultureller Prägungen. Gleichwohl attackiert er vehement das von Wolfgang W ELSCH (1994) vertretene Konzept der Transkulturalität. W ELSCH hält er nicht nur vor, die Existenz kultureller Differenz zu leugnen, sondern auch einen universalistischen Anspruch auf Alleingültigkeit zu erheben, der selbst letztlich ethnozentristisch sei. Sich von universalistischen und relativistischen Positionen gleichermaßen distanzierend plädiert er mit Bruno L ATOUR für das Leitbild eines Diplomaten, der in Kenntnis und Anerkennung kultureller Differenz eine Funktion des Mittlers einnimmt und hierfür zunächst einmal die Kulturbedingtheit eigenen Denkens und Handelns erfassen muss. Wiederum begegnet uns hier folglich das Motiv des Dialogs, das nicht zufälligerweise zudem für die rezeptionsästhetische Literaturtheorie prägend ist. In ihr und ihrem hermeneutischen Erbe findet B REDELLA das literaturtheoretische Fundament seiner Überzeugungen. Er erläutert es in Opposition zu Ansätzen dekonstruktivistischer Provenienz, welche somit die dritte Negativfolie seiner Argumentation bilden. Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 129 40 (2011) • Heft 1 Die einzelnen Beiträge lassen sich grob vier verschiedenen Schwerpunkten zuordnen. Die Kap. I-VI behandeln primär literatur- und bildungstheoretische Fundierungen einer fremdsprachlichen Literaturdidaktik. In Abgrenzung von dekonstruktivistischen Theoremen, welche die Unmöglichkeit eines kohärenten Textsinns behaupten (Kap. V), hebt B REDELLA die welterschließende und damit persönlichkeitsbildende Kraft literarischer Werke hervor. Ihr im schulischen Unterricht Raum zu verschaffen ist ihm ein wichtiges Anliegen und dies gerade unter den aktuellen Vorgaben der Kompetenzorientierung, die vielfach ein verengtes Verständnis literarischer Kompetenz und Bildung transportierten. Deren Inhaltsneutralität setzt er ein Plädoyer für die Beschäftigung mit Gegenständen entgegen, die von den Lernern als persönlich relevant wahrgenommen werden können und die ihnen helfen, sich und andere besser zu verstehen. Hierzu wiederum braucht es - wie er nicht müde wird zu betonen - deutungsoffene, ästhetisch verfasste Texte, die zu individuellen Wertungen und Stellungnahmen herausfordern. Dass ein interpretativer Umgang mit Texten sehr wohl mit dem Kompetenzbegriff in Verbindung gebracht werden kann, unterstreicht er mit Hinweis auf Studien von Eva B URWITZ -M ELZER und Werner D ELANOY (vgl. insbes. S. 52 ff). In den Kap. VII-IX widmet sich der Autor vorrangig unterschiedlichen Auffassungen von Kultur, Interkulturalität, kulturellem Verstehen und interkultureller Kompetenz. Er setzt sich z.B. mit Positionen auseinander, die interkulturelles Verstehen letztlich als Akt der Unterwerfung des Fremden unter die eigenen Denkschemata und Interessen deuten (vgl. S. 97 f). Ihnen gegenüber vertritt er mit Hans J OAS die Überzeugung, dass der Mensch ein reflexives und kreatives Wesen ist, das sich fremden Zuschreibungen gegenüber zu verweigern und einen „fairen Ausgleich zwischen fremden und eigenen Bedürfnissen“ (S. 97) interaktiv auszuhandeln vermag. Auf der Basis der anerkennungstheoretischen Ansätze von Axel H ONNETH und Charles T AYLOR legt er dar, dass ohne Anerkennung der Andersartigkeit des Anderen es kein Verstehen und keine wirkliche Verständigung in interpersonalen Bezügen geben könne. Er macht sich insbesondere H ONNETHS an H. M EAD anschließenden Gedanken zur Konstruktion individueller und kollektiver Identitäten zu Eigen, denen zufolge individuelle Identität im Wesentlichen in sozialer Interaktion entsteht. Hieraus den Schluss zu ziehen, dass Menschen primär und einseitig durch ihren kulturellen Kontext geprägt seien, wäre jedoch verfehlt. Vielmehr - so betont B REDELLA - gelte es, den Anderen in seiner individuellen Besonderheit anzuerkennen; Kulturen determinierten nicht den Einzelnen, wohl aber eröffneten sie einen spezifischen Spielraum des Verhaltens (vgl. S. 94). Damit böte sich durchaus eine Brücke zu Vorstellungen, die mit dem Begriff der Transkulturalität verbunden sind: der Einsicht nämlich, dass unterschiedliche soziale, ethnisch-kulturelle und genderbezogene Einflüsse einander überlappen und dem Einzelnen eine durch ethnisch-kulturelle Grenzen hindurch gehende kulturelle Identität verleihen können. Diese Brücke allerdings beschreitet der Autor nicht. Die Kapitel XI und XII führen die kultur- und die literaturdidaktischen Überlegungen zusammen und vertiefen sie im Hinblick auf die Bedeutung, die der Emotionalität in den spezifischen Lernprozessen zukommt. Empathie und Mitleid gehören nach B REDELLAS überzeugender Ansicht zur emotionalen Bildung des Einzelnen und sind gemeinsam über ethisch-moralische und ästhetische Erfahrungen im Umgang mit literarischen Werken zu wecken bzw. zu fördern, da Emotionen von narrativen Strukturen geprägt seien. Der Autor stützt sich u.a. auf John D EWEY , Paul R ICOEUR , Richard R ORTY , Marcus D ÜWELL , Arne V ETLESEN und Martha N USSBAUM , um zu verdeutlichen, weshalb und auf welche Weise die Beschäftigung mit Literatur Mitleid erregen und so das Verstehen des Anderen begünstigen kann. Waren B REDELLAS Ausführungen bisher von einem primär theoretischen Fokus bestimmt, was punktuelle Verweise auf literarische Beispiele nicht ausschloss, liegt der Akzent in den abschließenden Kapiteln XII-XVI stärker auf der Analyse literarischer Werke im Hinblick auf ihr 130 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 40 (2011) • Heft 1 verstehensdidaktisches Potenzial. Theoretische Fundierungen sind jedoch auch hier zu finden, so z,B. zur Bildungsgangdidaktik (Kap. XII), zu Postkolonialismustheorien (Kap. XIII), zur Semiotik des Theaters (Kap. XIV) sowie zu erkenntnis-, anerkennungs- und identitätstheoretischen Ansätzen. Allerdings sind diese jeweils eng auf das Bildungspotenzial der besprochenen erzählerischen und dramatischen Werke (so z.B. Small Island von Andrea L EVY oder alterNatives von Drew Hayden T AYLOR ) bezogen. Das Buch endet ohne eine bilanzierende Rück- oder Vorausschau, was die Kohärenz des Buches sicherlich schmälert. Andererseits hätte ein solches Fazit fast zwangsläufig zu störenden Redundanzen geführt, da sich ohnehin bestimmte Grundgedanken in den verschiedenen Kapiteln wiederholen. Deren Ursprung in Einzelaufsätzen wird besonders dort offensichtlich, wo die Sprache vom Deutschen zum Englischen und zurück wandert. Während dies den positiven Gesamteindruck des Bandes nicht im Kern berührt, fällt ein anderer „Schönheitsfehler“ stärker ins Gewicht. Wie oben bereits angedeutet, kann sich der Rezensent an mehreren Stellen des Eindrucks nicht erwehren, dass B REDELLA seine Gegner unangemessen pauschal angreift. Eine differenziertere Betrachtungsweise hätte insbesondere das von W ELSCH eingeführte Konzept der Transkulturalität verdient. B REDELLA zieht hier lediglich einen Aufsatz von 1994 1 heran, in dem W ELSCH explizit überzeichnend argumentiert. Wer seine Schriften breiter rezipiert und auch die einschlägigen Positionen aus der Fremdsprachendidaktik heranzieht, wird durchaus Überlappungsfelder zwischen beiden Denkansätzen finden können. Ähnlich verhält es sich mit B REDELLAS Kritik am Dekonstruktivismus. Wenngleich nicht unbegründet, lässt sie doch außer Acht, dass die Kultur- und Literaturwissenschaft der Gegenwart aus dekonstruktivistischen Ansätzen wertvolle Anregungen bezogen haben, da diese berechtigte Skepsis an allen Verabsolutierungen von Sinn nähren. Insofern kann das Buch auf der Ebene des wissenschaftlichen Diskurs nicht immer dem entsprechen, was der Autor für den Umgang mit literarischen Texte als wesentlich empfindet: „dass wir nicht unterschiedliche Formen des Wissens gegeneinander ausspielen, sondern sie in ihren jeglichen Leistungen und Grenzen anerkennen“ (S. XXVIII). Dessen ungeachtet kann das Buch allen empfohlen werden, die Anregungen zu fremdsprachendidaktischen Reflexionen suchen, welche funktional-kommunikative Ziele zwar nicht in Frage stellen, sie wohl aber erweitern um Perspektiven der Persönlichkeitsbildung. Auf der Grundlage eines zutiefst humanistischen Menschenbildes und eines profunden, aus unterschiedlichsten Quellen gespeisten kultur- und literaturwissenschaftlichen Wissens lädt B REDELLA dazu ein, das derzeit oft vernachlässigte Aufgabenfeld ästhetisch-literarischer und interkultureller Bildung nicht aus den Augen zu verlieren. Die Argumente hierfür so überzeugend dargelegt zu haben, ist das wesentliche Verdienst des Buches. Berlin L UTZ K ÜSTER Helene D ECKE -C ORNILL , Lutz K ÜSTER : Fremdsprachendidaktik. Eine Einführung. Tübingen: Narr 2010, 303 Seiten. [16,90 €] Der hier zu besprechende Band richtet sich an Lehramtsstudierende der neusprachlichen Fächer. Die Autoren setzen sich das Ziel, „erste Einblicke in den Gegenstand und in zentrale Aspekte des Fremdsprachenunterrichts“ (S. XII) und damit „die Grundlagen“ (S. 263) der Fremdsprachen- 1 W ELSCH , Wolfgang (1994): „Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen“. In: L UGER , Kurt / R EGER , Rudi (Hrsg.): Dialog der Kulturen. Die multikulturelle Gesellschaft und die Medien. Wien [u.a.]: Österreichischer Kunst- und Kulturverlag, 147-169.