Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2011
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Gnutzmann Küster SchrammUlrich WANNAGAT: Bilingualer Geschichtsunterricht im internationalen Fokus. Eine Vergleichsstudie zur Unterrichtspraxis in Deutschland und Hongkong. Frankfurt/M.: Lang 2010 (Mehrsprachigkeit in Schule und Unterricht; Band 11), 248 Seiten [47.80 €]
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Sabine Doff
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Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 147 40 (2011) • Heft 1 Ulrich W ANNAGAT : Bilingualer Geschichtsunterricht im internationalen Fokus. Eine Vergleichsstudie zur Unterrichtspraxis in Deutschland und Hongkong . Frankfurt/ M.: Peter Lang 2010 (Mehrsprachigkeit in Schule und Unterricht; Band 11), 248 Seiten [47.80 €] Bei der Arbeit von Ulrich W ANNAGAT handelt es sich, wie der Untertitel anzeigt, um eine Vergleichsstudie zur Unterrichtspraxis in Deutschland und Hongkong. Die Studie wurde 2009 an der Universität Wuppertal als Dissertation angenommen (Erstbetreuer: Prof. Dr. Dieter W OLFF ) und ist als Band 11 der Reihe Mehrsprachigkeit in Schule und Unterricht publiziert. Der Publikation ist eine CD beigefügt, die die Dokumentation der erhobenen Daten (Transkriptionen von Unterrichtsstunden und Interviews sowie Fragebögen) umfasst. Mit seiner Studie möchte der Autor eine internationale Perspektive auf bilinguales Lernen und Lehren eröffnen. Er strebt dies an mittels eines Vergleichs von zwei Regionen, der sich trotz grundlegender Unterschiede anbietet wegen der in mindestens einer entscheidenden Hinsicht durchaus vergleichbaren politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, d.h. konkret aufgrund der „Integrationsbestrebungen der letzten Jahre - in die Europäische Union einerseits und die Volksrepublik China andererseits -“ die „in beiden Gebieten großen Einfluss auf die Diskussion über die Unterrichtssprache im Schulwesen“ (15) ausgeübt haben. Die Arbeit ist eine dem qualitativen Forschungsparadigma zugeordnete, nicht-repräsentative vergleichende Fallstudie, die untersuchen will, „welche Bedingungen dazu führen, dass das Sachfachlernen mit Englisch als Unterrichtssprache am Beispiel des Fachs Geschichte zu so unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der L2-Sprachkompetenz führt“ (17). Hintergrund ist die in den beiden untersuchten Regionen gegenläufige Entwicklung, dass die unterschiedliche Beurteilung der Effizienz des Sachfachlernens in einer L2 (hier: Englisch) bis dato entgegengesetzte bildungspolitische Folgen hatte, nämlich einerseits die weitgehende Abschaffung des Unterrichts mit English as a Medium of Instruction (EMI) in Hongkong und andererseits die politisch forcierte Expansion des Content and Language Integrated Learning (CLIL) auf europäischer Ebene (17). Untersucht werden soll auf diesem Hintergrund die Forschungsfrage, inwiefern der Unterrichtsdiskurs Sprachlernprozesse im bilingualen Sachfachunterricht beeinflusst; berücksichtigt werden dabei besonders der Einfluss der folgenden vier Faktoren: Sprecherverteilung (Verteilung, Häufigkeit, Länge von turns), die Sprachwechsel (Code-switching in den verschiedenen Diskursrahmen), Input und Sprachlernumgebung sowie der mündliche Output. Darüber hinaus beleuchtet die Studie den Beitrag, den das Lernen durch die L2 zur Förderung der Lernerautonomie leistet (16). Den Kern der Arbeit bildet ein „Vergleich von Unterrichtsinteraktion bzw. Unterrichtsdiskurs im bilingualen Sachfach Geschichte in zwei verschiedenen Kultur- und Erziehungssystemen“ (16); dabei geht der Verfasser von der Hypothese aus, „dass das integrierte Sachfach- und Sprachenlernen, wie es im CLIL-Konzept angestrebt wird, gegenüber dem in Hongkong praktizierten EMI-Modell Vorteile hinsichtlich der Förderung von Spracherwerbsprozessen hat“ (17). In diesem Kontext schließt der Untersuchungsansatz folgerichtig den Aspekt des Inhaltslernens aus. Im ersten Teil der Arbeit werden knapp die Hintergründe der Studie skizziert und auf die Forschungsfrage bezogen, d.h. das Europäische Mehrsprachigkeitskonzept sowie die Rolle von Mehrsprachigkeit im Kontext Hongkong werden erläutert und die damit verbundenen Implikationen für Sprachenpolitik und Erziehungswesen im Überblick dargelegt. Eine Erörterung der Forschungsfragen und des Untersuchungsdesigns schließen sich an. Das zweite Kapitel beinhaltet eine theoretische Grundlegung für die im Mittelpunkt der Untersuchung stehenden Sprachlernprozesse; als erkenntnistheoretisches Paradigma wird hier eine Form des moderaten Konstruktivismus zugrunde gelegt und im Hinblick auf konkrete lerntheoretische Aspekte ver- 148 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 40 (2011) • Heft 1 tieft, die Aufschlüsse über Sprachlernprozesse im bilingualen Sachfachunterricht erwarten lassen (Sprachbewusstheit und Sprachlernbewusstheit, Interaktion, Lernerautonomie). Die Basis für den Vergleich der beiden gewählten Regionen wird in den Kapiteln drei bis fünf präsentiert: Entwicklungen, Rahmenbedingungen, curriculare, institutionelle und konzeptuelle Grundlagen des bilingualen Sachfachunterrichts werden zunächst für Hongkong, dann für Deutschland ausgeführt und anschließend einem direkten Vergleich im Hinblick auf die politischen Rahmenbedingungen sowie die zugrunde liegenden Immersionskonzepte unterzogen. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die Ausgangsbedingungen hinsichtlich des politischen Rahmens durchaus vergleichbar sind, während im Hinblick auf die Funktion der L2 als Arbeitssprache sowie der Spracherwerbsprozesse im bilingualen Unterricht grundlegend unterschiedliche Auffassungen sichtbar werden: So wird auch im Rahmen der Studie beispielsweise durch Schülerinterviews deutlich, dass im beobachteten bilingualen Unterricht in Hongkong „Spracherwerbsprozesse auf das Erlernen von neuem Vokabular und von grammatischen Strukturen reduziert werden“, während sich im deutschen Kontext die „Ziele des integrierten Sachfach- und Sprachenlernens im CLIL-Modell (…) nicht auf die Erweiterung der L2-Sprachkompetenz und die Erreichung der Lernziele des 'regulären' Geschichtsunterrichts“ (78) beschränken. Vielmehr wird hier auch auf der Grundlage aktueller Forschungsergebnisse davon ausgegangen, dass Sprachwechsel u.a. die Fokussierung des Zugangs zum Sachfach sowie eine Erhöhung der Verarbeitungstiefe begünstigen. Kapitel sechs umfasst die Darstellung und Analyse der empirischen Daten. Im Mittelpunkt der Analyse steht der Unterrichtsdiskurs, der primär ausgehend von den Transkriptionen von insgesamt 18 Unterrichtsstunden analysiert wird. An den Unterrichtsstunden war der Forscher jeweils als teilnehmender Beobachter präsent, verfolgte das Unterrichtsgeschehen und machte Notizen (field notes). Im Sinne einer Triangulierung werden diese Unterrichtsbeobachtungen flankiert durch strukturierte Interviews mit den beiden beteiligten Lehrkräften (etwa in der Mitte des Beobachtungszeitraums), in denen diese die Gelegenheit erhielten, ihre Position darzulegen und zu zentralen Fragen des Unterrichts in ihrer Lerngruppe Stellung zu nehmen. Interviews zum gleichen Themenkomplex wurden ferner geführt mit einer Auswahl der beteiligten Schülerinnen und Schüler (am Ende des Beobachtungszeitraumes). Um die Informationen über die Lerngruppen zu vervollständigen und ihre Haltung zum bilingualen Lernen und Lehren genauer einschätzen zu können, wurden zu Beginn der Untersuchung jeweils Fragebögen ausgegeben. Die Daten wurden im Laufe eines Schuljahres erhoben, und zwar im ersten Halbjahr der Jahrgangsstufe zehn in Deutschland (zehn transkribierte Unterrichtsstunden CLIL mit Geschichte/ Englisch, Interviews mit drei Schülergruppen und ein Lehrerinterview, Fragebögen) sowie im zweiten Halbjahr einer Jahrgangsstufe neun (Form 3) an einer Sekundarschule in Hongkong (acht transkribierte Unterrichtsstunden, Interviews mit zwei Schülergruppen und ein Lehrerinterview, Fragebögen). Die Daten wurden in einer zehnten Gymnasialklasse an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen (Schülergesamtzahl: 21) erhoben sowie in zwei neunten Klassen (Schülergesamtzahl jeweils 44) einer vergleichbaren Schule in Hongkong. Im Fokus der Untersuchung stehen Lernprozesse und die daran beteiligten Akteure. Es wird davon ausgegangen, dass sich diese Prozesse im Unterrichtsgeschehen, genauer gesagt im Sprachverhalten der Beteiligten manifestieren. Zunächst werden in Kapitel sechs die Grundlagen für die Untersuchung im Allgemeinen, dann für die beiden Regionen dargestellt. Davon ausgehend wird im letzten Teil von Kapitel sechs auf der Basis zahlreicher Beispiele aus dem erhobenen Datenmaterial beschrieben, wie die verschiedenen Sprachen im CLIL- und EMI- Kontext eingesetzt werden, und zwar sowohl im Hinblick auf Sprecherverteilung und turn-Zuweisung, Einsatz der L1 und L2 und Länge der Schüleräußerungen als auch hinsichtlich von Sprachgebrauch und Sprachwechsel auf Seiten der Lernenden und Lehrenden. Abschließend Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 149 40 (2011) • Heft 1 wendet sich der Autor der Untersuchung der Sprachverarbeitungsprozesse im beobachteten bilingualen Unterricht zu. Eine detaillierte Diskussion der Ergebnisse der Datenanalyse, die in einer Beantwortung der Forschungsfrage mündet, bietet Kapitel sieben, an das sich ein Ausblick in Kapitel acht anschließt. Im Wesentlichen bestätigt die Untersuchung die Eingangshypothese. Der Autor hält u.a. fest, dass die Schüleräußerungen im Kontext Hongkong einen wesentlich geringeren Anteil einnehmen und hinsichtlich ihrer Länge und ihres Anteils an freier Formulierung in der L2 sehr beschränkt sind. Dies wirkt sich - folgt man dem konstruktivistischen lerntheoretischen Paradigma - negativ auf die Spracherwerbsprozesse aus. Zu Recht erfolgt in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass diese Unterschiede auch kulturell bedingt sein können. Die Studie kommt ferner zum Ergebnis, dass ein grundlegend unterschiedlicher Umgang mit Sprache in den beiden untersuchten Kontexten herrscht: „Der Hongkonger EMI-Lehrer bringt Elemente des natürlichen bilingualen Diskurses, wie er in nicht-institutionellen Kontexten geführt wird, in den Unterrichtsdiskurs ein und bedient sich darüber hinaus einer concurrent technique mit Übersetzungen und Paraphrasierungen seiner Äußerungen. Der CLIL-Lehrer benutzt dagegen Code-switching nur selten diskursbezogen als Mittel zur Kontextualisierung, sondern überwiegend teilnehmerbezogen, also an Performanzproblemen orientiert“ (217). Dieser qualitative Unterschied spiegelt sich auch auf der quantitativen Ebene; so sind Sprachwechsel im beobachteten EMI-Kontext extrem häufig, während sie im untersuchten CLIL-Rahmen eher selten beobachtet wurden. Die Studie formuliert als zentrale Ergebnisse u.a., dass „der beobachtete EMI-Unterricht die Sprachlernprozesse nicht (fördert), auch wenn etwa die Hälfte der Lehreräußerungen in der L2 erfolgt“ (218) und dass in der CLIL-Klasse durch die Akzeptanz der L2 als Unterrichtssprache durch alle Beteiligten sowie durch die sprachliche Anleitung des Lehrers die L2-Kompetenz systematisch aufgebaut und den unterschiedlichen Leistungsstandards in der Gruppe Rechnung getragen wird (220). Außerdem wird das „Fehlen der gemeinsamen Konstruktion von Bedeutung im EMI- Unterricht“ (221) als besonders auffällig markiert. Der beobachtete EMI-Unterricht wird nicht als Gelegenheit zum Spracherwerb wahrgenommen, so dass dort kein strategisches, für den Spracherwerb nützliches Sprachwissen entwickelt wird (224). Als Fazit der Studie kann gelten, dass große Unterschiede in der Unterrichtspraxis des bilingualen Geschichtsunterrichts in den beiden beobachteten Kontexten feststellbar sind, die sich - so lautet die Schlussfolgerung des Autors - auf das Sprachenlernen auswirken (227). Einen Zusammenhang mit der Unzufriedenheit mit dem Modell in Hongkong hält er für naheliegend. Im Vergleich zum CLIL-Konzept besteht einer der Hauptunterschiede darin, dass EMI nur sehr eingeschränkt zu einer Verbesserung der L2-Sprachkompetenz beitragen kann. Das Hongkonger Beispiel illustriert für ihn die Vernachlässigung von Spracherwerbsprozessen im bilingualen Sachfachunterricht, wohingegen neuere Studien im deutschsprachigen Kontext, zu denen auch die vorliegende zu rechnen ist, dem CLIL-Modell das große Potenzial attestieren, gerade durch eine systematische Einbeziehung sprachlicher Lernziele den kognitiven Mehrwert dieses Konzepts auszuschöpfen und die Verarbeitungstiefe auch der Sachfachinhalte zu steigern. Abschließend ist festzuhalten, dass dieser Studie das Verdienst zukommt, bilinguales Lernen und Lehren über den deutschen und den europäischen Tellerrand hinaus erfasst zu haben, was bis dato viel zu selten geschieht. Schon damit kann ihr ein hoher innovativer Charakter attestiert werden. Die Fragestellung, welcher Raum Spracherwerbsprozessen im bilingualen Sachfachunterricht eingeräumt wird, leuchtet unmittelbar ein und wurde auch schon in anderen Kontexten vielfach diskutiert. Sie wird im Rahmen dieser Studie in einem neuen, überaus relevanten Zusammenhang auf der Grundlage eines schlüssigen Forschungsdesigns aufgearbeitet. Die klare Struktur spiegelt sich in prägnanter Sprache und einer transparenten Argumentation auf der Grundlage zahlreicher Beispiele. Die Schlussfolgerungen, die der Autor aus seinen Be- 150 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 40 (2011) • Heft 1 obachtungen zieht, sind teilweise u.a. deswegen problematisch, weil sie eng an das konstruktivistische Paradigma gekoppelt sind und kulturspezifische Aspekte nur oberflächlich anreißen. Die Studie bleibt letztlich den Nachweis schuldig, dass CLIL und EMI in den untersuchten Kontexten tatsächlich zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der L2-Sprachkompetenz führen und dass die Lernerautonomie durch das Lernen in der L2 gefördert wird. Davon unberührt zeigt sie jedoch eindrucksvoll, wie Unterrichtsdiskurs im bilingualen Sachfachunterricht in zwei kulturell unterschiedlichen Settings gestaltet wird und bietet für dessen Analyse ein überzeugendes Modell an. Auch wenn die Arbeit damit den selbst gestellten Anspruch nicht umfassend einlöst, schmälert dies keineswegs ihren überzeugenden Beitrag zur Erforschung des bilingualen Lehrens und Lernens. Bremen S ABINE D OFF Eingegangene Bücher * H RUSTI , Meliha / Z ILI , Erminka: Adjektive und Partikeln. Studien zum Deutschen und zum Bosnischen / Kroatischen / Serbischen. Tübingen: Julius Groos Verlag 2010 (Deutsch im Kontrast; Band 24), 172 Seiten. K RAUSE , Maxi / B ÆRENTZEN , Per: Spatiale Relationen kontrastiv. Deutsch - Dänisch. Tübingen: Julius Groos 2010 (Spatiale Relationen - kontrastiv; Band 1), 266 Seiten. L INDSTROMBERG , Seth: English Prepositions Explained. Revised edition. Amsterdam/ Philadelphia: Benjamins 2010, xiii + 273 Seiten. S ENYILDIZ , Anastasia: Wenn Kinder mit Eltern gemeinsam Deutsch lernen. Soziokulturell orientierte Fallstudien zur Entwicklung erst- und zweitsprachlicher Kompetenzen bei russischsprachigen Vorschulkindern. Tübingen: Stauffenburg 2010 (Forum Sprachlehrforschung; Band 9), 268 Seiten. T HE BBI C OMBINATORY D ICTIONARY OF E NGLISH . Your Guide to Collocations and Grammar. Third edition revised by Robert Ilson. Compiled by Morton Benson, Evelyn Benson, Robert Ilson. Amsterdam/ Philadelphia: Benjamins 2009, x i + 461 Seiten. * Das Sternchen (*) hinter einem Buch verweist auf den Rezensionsteil. Ein doppeltes Sternchen (**) deutet an, dass eine Besprechung für den Jahrgang 40.2 (2011) vorgesehen ist. i
