eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 40/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2011
402 Gnutzmann Küster Schramm

Zur Einführung in den Themenschwerpunkt

121
2011
Jürgen Kurtz
flul4020003
40 (2011) • Heft 2 © 2011 Narr Francke Attempto Verlag J ÜRGEN K URTZ * Zur Einführung in den Themenschwerpunkt „Wir wollen nicht mehr gemeinsam über papierne Gipfel hetzen müssen. Das echte Lernen soll wieder in unseren Schulen heimisch werden […]“ (Martin W AGENSCHEIN 1965: 19) . Der vorliegende Themenband befasst sich mit der lehrwerkgestützten Vermittlung und Aneignung von Fremdsprachen in der Schule. 1 Ausgehend von der Beobachtung, dass es in der Alltagspraxis des fremdsprachlichen Unterrichts in Deutschland, vor allem in der Sekundarstufe I, nach wie vor weithin üblich ist, Lehrwerke zu verwenden, um Lernprozesse in Richtung der in den Bildungsplänen der einzelnen Bundesländer formulierten fächerübergreifenden und fachspezifischen Zielsetzungen und Lernerwartungen in Gang zu bringen und über mehrere Schuljahre hinweg systematisch zu begleiten und zu fördern, werden drei für die Lehrwerkforschung gleichermaßen wichtige Erkenntnisgebiete in den Blick genommen: Lehrwerkkritik/ -analyse, Lehrwerkverwendung und Lehrwerkentwicklung. In der gegenwärtigen fremdsprachendidaktischen Lehrwerkforschung 2 , wie z.B. auch in der erziehungswissenschaftlichen Schulbuchforschung, die in diesem Kontext * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Jürgen K URTZ , Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Anglistik, Didaktik der englischen Sprache, Otto-Behaghel-Straße 10 B, 35394 G IEßEN . E-Mail: juergen.kurtz@anglistik.uni-giessen.de Arbeitsbereiche: Mündliche Interaktion im Englischunterricht (Forschungsschwerpunkt: Improvisation in strukturierten Lernumgebungen), Lehrwerkforschung, Englischunterricht an Ganztagsschulen, Englischlehrerbildung. 1 Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei Nora B ENITT , Ilse B RAUN , Anneki M ÜTZE und Kathy VAN N ICE für die wertvolle Unterstützung bedanken, die sie mir bei der Koordinierung und Realisierung dieser Ausgabe von Fremdsprachen Lehren und Lernen gaben. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Themenband ausschließlich die generische maskuline Form als zusammenfassende Bezeichnung für männliche und weibliche Personen verwendet. 2 Der Begriff der fremdsprachendidaktischen Lehrwerkforschung wird hier in einem sehr weiten, mehrere wissenschaftliche Disziplinen (u.a. auch die Sprachlehrforschung und die Zweitsprachenerwerbsforschung) und verschiedene lehrwerkbezogene Erkenntnisinteressen und Forschungsansätze (systematische, historische, hermeneutische, empirische, qualitative, quantitative, etc.) umfassenden Sinne gebraucht. (vgl. hierzu zum Beispiel die Arbeiten von/ in A NSARY / B ABAII 2002; B AUSCH [et al.] 1999; W. B ÖRNER / V OGEL 1999; B REITUNG / L ATTARO 2001; B RILL 2005; C RAWFORD 2006; F ERY / R ADDATZ 2000; F REUDENSTEIN 2001; H ARWOOD 2010; H Aß 2006: 257f; H EUER 1971; H EUER / M ÜLLER 1973, 1975; H EUER / M ÜLLER / S CHREY 1970; H ÜLLEN / L ÖRSCHER 1979; H UTCHINSON / T ORRES 1994; K IEWEG 1998; K AST / N EUNER 1994; K IFFE 1999; K RUMM / O HMS -D USZENKO 2001, K URTZ 2001a, 2001b, 2002, 2010; L EUPOLD 1992; L ÖSCHMANN / L ÖSCHMANN 1989; M C G RATH 2006; M EDDINGS / T HORNBURY 2009; M ÜLLER 2004; N EUNER 1979, 2007; N IEWELER 2010a, 2010b; N OLD 1998; P IEPHO 1979, 1989; R EISENER 1978; R ÖSLER 1992; S AUER 1964, 1971; S CHMELTER 2011; S CHRÖDER 1975; S ERCU 2004; S HELDON 1988; T OMLINSON 1998, 2008; T HALER 2004; V ENCES / F REUDENSTEIN 2002; W ESTHOFF 1984; W ILLIAMS 1983). L e hrw e rkkritik , L e hrw e rk v e rw e n d u n g , L e hrw e rk e nt wi c klu n g 4 Jürgen Kurtz 40 (2011) • Heft 2 keineswegs außer Acht gelassen werden sollte 3 , stehen diese drei, zum Teil noch vollkommen unzureichend untersuchten Erkenntnisgebiete (hier vor allem die empirische Erforschung der konkreten Verwendung bzw. Nutzung von Lehrwerken innerhalb und außerhalb des Fremdsprachenunterrichts 4 ), weitgehend unverbunden nebeneinander. So mangelt es bis heute an multiperspektivisch, hermeneutisch und/ oder empirisch angelegten Untersuchungen und darauf aufbauenden Theorieansätzen, die den komplexen Zusammenhang von Lehrwerkkritik, Lehrwerkverwendung und Lehrwerkentwicklung und die sich daraus ergebenden Fragen und Probleme systematisch aufeinander zu beziehen, zusammenzuführen und integrativ weiterzuentwickeln suchen (vgl. hierzu auch bereits Bausch [et al.] 1999). 5 S ERCU (2004: 628) fasst den Stand der Lehrwerkforschung in den Wissenschaften, die sich mit dem Lehren und Lernen fremder/ weiterer Sprachen befassen, in der Routledge Encyclopedia of Language Teaching and Learning folgendermaßen zusammen: „As yet, there is no universally recognised theory of the textbook. Empirically, too little is known about how and when teachers use textbooks; how textbooks influence the learning process in comparison with other instructional materials; what research instruments are most reliable in the field of textbook research; how visual materials influence the learning process; how effective textbooks are in transmitting knowledge or promoting the acquisition of independent learning skills, to give but a few examples“. 6 Über die Ursachen und Gründe, warum die tatsächlichen Verwendungsweisen von Lehrwerken in der Praxis des Fremdsprachenunterrichts in der Forschung bislang nur 3 Vgl. hierzu zum Beispiel: B RÜNKEN / L EUTNER (2008), F UCHS / K AHLERT / S ANDFUCHS (2010), H EINZE (2010), H EITZMANN / N IGGLI (2010), M ATTHES / H EINZE (2003, 2004, 2005, 2006, 2007), V OLLSTÄDT (2003), W IATER (2003); darüber hinaus sei hier auch auf die nicht in allen Facetten und Details darstellbare langjährige Arbeit des G EORG -E CKERT -I NSTITUTS FÜR I NTERNATIONALE S CHULBUCHFORSCHUNG in Braunschweig verwiesen. 4 Ich möchte mich diesbezüglich für die Verwendung des Begriffs der Lehrwerkverwendungsforschung aussprechen, der mir in Anbetracht der Faktorenkomplexion des Lehrwerkeinsatzes im fremdsprachlichen Unterricht besser geeignet zu sein scheint als der hierfür übliche Begriff der Lehrwerkwirkungsforschung. Die Wirkungen und Nebenwirkungen, die von einem Lehrwerk als Unterrichtsmedium ausgehen können, lassen sich eben nicht allein an der Qualität des Mediums festmachen. Es bedarf vielmehr der Einbeziehung aller Aspekte, die bei der Verwendung Einfluss auf das konkrete Lern- und Lerngeschehen nehmen können - im Sinne von B UTZKAMM (2005: 93): „[…] Fremdsprachenunterricht muss mehr sein als Schulbuchunterricht […]“. 5 Nach meinen eigenen Beobachtungen und Erfahrungen unterscheidet sich der wissenschaftliche Diskurs diesbezüglich ganz erheblich von den Gesprächen, die praktizierende Lehrkräfte zum Thema ‚Lehrwerk‘ gelegentlich oder anlassbezogen führen. Wenn Fremdsprachenlehrer sich über Lehrwerke austauschen, haben sie vielfach neben Fragen der Lehrwerkkritik und der Verwendbarkeit von Lehrwerken bzw. von einzelnen Lehrwerkinhalten auch die Entwicklung künftiger Lehrwerke mit im Blick, und zwar in dem Sinne, dass sie sich über wünschenswerte Veränderungen, Aktualisierungen und Weiterentwicklungen austauschen (vgl. hierzu auch den Beitrag von B OHNENSTEFFEN in diesem Band). Dies sollte für die Forschung Anlass genug sein, über breiter angelegte, multiperspektivische Untersuchungen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Unterricht, Sprachen- und Bildungspolitik, Schuladministration und Verlagswesen nachzudenken. 6 S ERCU (2004) formulierte dies bereits vor einigen Jahren. Ihre Einschätzung ist jedoch nach wie vor zutreffend, wie die Beiträge in diesem Themenband zeigen. Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 5 40 (2011) • Heft 2 eine vergleichsweise geringe Beachtung gefunden haben, lässt sich gegenwärtig nur spekulieren. Darauf soll und muss an dieser Stelle verzichtet werden. Aus historischer Perspektive bleibt in jedem Fall festzuhalten (hier sehr stark komprimiert): Zu Beginn der im Gesamtkontext des Lehrens und Lernens fremder Sprachen in Deutschland betriebenen Lehrwerkforschung ging es im Wesentlichen um die systematische Analyse von Lehrwerken (im Sinne von wissenschaftlich fundierter bzw. damals erst noch wissenschaftlich zu begründender Lehrwerkkritik). 7 In diesem Zusammenhang sind die Arbeiten von H EUER (1971), H EUER / M ÜLLER (1973, 1975) sowie H EUER / M ÜLLER / S CHREY (1970) hervorzuheben. In der Folgezeit entstanden eine Reihe von zunehmend detaillierteren Kriterienkatalogen für die systematische Lehrwerkanalyse (vgl. hierzu zum Beispiel K RUMM / O HMS -D USZENKO 2001; B RILL 2005: 36-44), die nach wie vor für die Lehrwerkentwicklung und die schulische Lehrwerkbeschaffung von Interesse und Wert sind. Aufgrund ihres sehr beachtlichen Facettenreichtums und der damit einhergehenden Komplexität waren und sind diese Kriterienkataloge für Lehrkräfte, die in ihrem beruflichen Alltag in der Regel unter erheblichem Zeit- und Handlungsdruck stehen, allerdings nur bedingt verwertbar bzw. in allen Details abzuarbeiten. Ob und inwieweit sie von Lehrkräften tatsächlich genutzt wurden bzw. werden, um Entscheidungen in Bezug auf die Sinnhaftigkeit, die Brauchbarkeit und die Nützlichkeit bestimmter Lehrwerkinhalte (bzw. deren Stufung und Sequenzierung; vgl. hierzu bereits S AUER (1964, 1971); aber auch B ÖRNER [et al.] und T HALER in diesem Band) im Rahmen der Planung, Durchführung und Reflexion von Unterricht zu treffen - handlungspraktisch wichtige Kriterien, die wissenschaftlich bislang unterbeachtet geblieben sind -, lässt sich nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung kaum abschätzen. Als vorläufig gesichert gelten heute vor allem die folgenden Erkenntnisse und Einsichten: - Lehrwerke sind als Konvergenzpunkte der vielschichtigen Diskussionen, die um sie in unterschiedlichen Zusammenhängen geführt wurden und weiterhin geführt werden bzw. als ‚Schnittpunkte aller Bedingungen, die Unterricht konstituieren‘ (vgl. Wolff 2009: 192) zu begreifen. - Lehrwerke lassen sich zwar als Ausdruck einer bestimmten historischen Epoche betrachten, jedoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie vielfach auf einem Mix von älteren und neueren, traditionellen und aktuellen Vorstellungen, Überzeugungen und Erkenntnissen zum Lehren und Lernen fremder Sprachen basieren. - Als zeitlich versetzte ‚Materialisierungen‘ gesellschafts-, bildungs- und sprachenpolitischer, pädagogischer, fachdidaktischer und fachwissenschaftlicher, medientechnologischer und medienpädagogischer, kommerzieller (u.a.m.) Überlegungen 7 Zur den vornehmlich in den 1980er und 1990er Jahren geführten Diskussionen zur Systematisierung und Ausdifferenzierung der fremdsprachendidaktischen Lehrwerkforschung vgl. zusammenfassend B RILL (2005: 33-45). Da die seinerzeit diskutierten Überlegungen und Vorschläge (zum Beispiel zur Unterscheidung von Lehrwerkkritik und Lehrwerkanalyse) allenfalls in Ansätzen konsensfähig waren und sind, soll in diesem Rahmen auf eine nähere Betrachtung verzichtet werden. 6 Jürgen Kurtz 40 (2011) • Heft 2 und Entwicklungen, Erfahrungen und Erkenntnisse, Prinzipien, Positionen und Intentionen, Theorien und Modelle, Werte und Normen, Ansprüche und Forderungen, die sich ständig im Fluss befinden, bedürfen sie der fortlaufenden Überprüfung, Überarbeitung, Weiter- und Neuentwicklung (vgl. hierzu auch W IATER 2003 sowie F UCHS / K AHLERT / S ANDFUCHS 2010). - Lehrwerke sollen der Unterstützung und Förderung fremdsprachlicher Lehr-/ Lernprozesse dienlich sein. Dies ist ihre instrumentelle Kernfunktion. Darüber hinaus kommt ihnen aber auch eine nicht zu unterschätzende normative Funktion zu (vgl. hierzu zum Beispiel Q UETZ 1999). Da sie „Zugang zu bestimmten Realitäten“ schaffen und „diese in ausgewählter Form“ repräsentieren (H EITZ - MANN / N IGGLI 2010: 10), wirken sie mehr oder minder ‚steuernd‘ auf den Fremdsprachenunterricht ein. In welcher Form genau bzw. im Einzelnen, ist derzeit noch weitgehend ungeklärt. 8 - Heutige Lehrwerke sind zumeist hoch komplexe Medienverbundsysteme, die Informationen „in unterschiedlichen Kodierungsformen und Modalitäten“ (B RÜNKEN / L EUTNER 2008: 551) enthalten, wobei allerdings das Lehrbuch (bzw. das Schülerbuch) als Schriftmedium nach wie vor im Mittelpunkt des schulischen Lehrens und Lernens von Fremdsprachen steht. - Beim Umgang mit dem fremdsprachlichen Lehrwerk ist als übergreifende Leitidee zu berücksichtigen: „Optimale Lehrwerkverwendung bedeutet nicht maximale Lehrwerkbindung“ (K URTZ 2001a: 43; 2010: 156). M C E LROY hatte hierzu bereits vor achtzig Jahren festgestellt: „The textbook is decidedly not the sole condition of an effective class; quality of teaching is more important“ (1934: 5). 9 Hinsichtlich der konkreten Verwendung von Lehrwerken in der Unterrichtspraxis erscheint es überdies gerechtfertigt zu sein, drei Lehrertypen grob bzw. vorläufig zu unterscheiden (vgl. hierzu H Aß 2006: 243, K URTZ 2010: 151 sowie auch T HALER in diesem Band): a) Lehrkräfte, die sich voll und ganz an das jeweils eingeführte Unterrichtswerk und die dort vorgefundene sprachliche und inhaltliche Progression halten, die das Lehrwerk im Kern also als ein vorgegebenes Lehrprogramm betrachten, dass sie möglichst genau abzuarbeiten suchen, um (vermeintlich) sicher zu gehen, die im Lehrplan und in den Bildungsstandards formulierten Erwartungen an die zu entwickelnden zielsprachlichen, interkulturellen und methodischen Kompetenzen der Schüler ‚zu erfüllen‘. 8 H EITZMANN / N IGGLI (2010: 14) führen hierzu weitergehend aus: „Schulbücher sind oft als Umsetzungsbeispiele abstrakter Lehrplaninhalte konzipiert und werden von den Lehrpersonen so verstanden und genutzt. In diesem Sinne sind sie oft ein ‚heimlicher Lehrplan‘“ (vgl. hierzu weitergehend auch bereits: M ATTHES / H EINZE 2005 sowie T HALER in diesem Band). 9 Ergänzend sei hier angemerkt, dass im Rahmen der Delphi-Studie zur zukünftigen Bedeutung und Entwicklung von Lehrwerken viele der befragten Experten „deutliche Zweifel […]“ daran äußerten, „dass […] die schon jetzt vorhandenen Lehr- und Lernmedien im schulischen Alltag effektiv genutzt werden“ (V OLLSTÄDT 2003: 79). Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 7 40 (2011) • Heft 2 b) Lehrkräfte, die das jeweils vorhandene Unterrichtswerk als eine sinnvolle Sammlung von Inhalten, Aufgaben, Übungen etc. ansehen, die sich im Kern also an der Systematik des einführten Lehrwerks orientieren, die jedoch auch auf einige Lehrwerkangebote verzichten und stattdessen ggf. andere Materialien und Medien in den Unterricht mit einbeziehen. c) Lehrkräfte, die sich im Wesentlichen an der Systematik des jeweils verwendeten Unterrichtswerks (als Spiegelung der Bildungsstandards und des Lehrplans) orientieren, die aber über weite Strecken Materialien und Medien einsetzen, die sie selbst erstellt oder (zum Beispiel auch aus anderen Lehrwerken) zusammengestellt haben. Noch mangelt es an empirischen Studien, die es erlauben könnten, genauere Aussagen darüber zu machen, ob es nicht ggf. noch weitere lehrertypische Verwendungsweisen von Lehrwerken gibt und welche individuellen Verwendungsbzw. Verwertungsweisen von Lehrwerken in der Alltagspraxis letztlich überwiegen. Es ist auf aufgrund bisheriger Erfahrungen und Erkenntnisse in diesem Bereich aber anzunehmen, dass es sich hierbei um die Typen a) und b) handelt. 10 Im Ganzen betrachtet wird sich die Schulbuchforschung/ Lehrwerkforschung nach H EITZMANN / N IGGLI in den kommenden Jahren vor allem mit dem Folgenden auseinanderzusetzen haben: Angesichts der Entwicklungen der letzten 50 Jahre ist zu fragen, wie vertiefte Erkenntnisse zu Wissenskonstruktion und Lernprozessen, eine neue Lernkultur mit anderen Lehrer- und Schülerrollen, neue technologische Möglichkeiten der Kommunikation und die Herausforderungen einer globalisierten Welt die Funktion von Lehrmitteln verändern bzw. wie Lehrmittel verändert werden müssen, um unter diesen neuen Rahmenbedingungen ihre didaktische Unterstützungsfunktion wahrnehmen zu können (2010: 7). Dies einbeziehend, fremdsprachendidaktisch konkretisierend und im Sinne der eingangs genannten drei Dimensionen der Lehrwerkforschung weiter auffächernd, stehen fünf Fragenkomplexe im Mittelpunkt des vorliegenden Themenbandes: 1. Wie stellen sich heutige Lehrwerke für das Lehren und Lernen fremder Sprachen in der Schule dar, und wie überzeugend gelingt es ihnen, den gegenwärtigen gesellschaftlichen und technologischen Wandlungsprozessen (postnationale Kon- 10 Hiervon ausgehend die Frage aufzuwerfen, welche Lehrkräfte womöglich ‚besser‘, effektiver oder effizienter unterrichten, wäre jedoch höchst problematisch. Denn Erfolge oder Misserfolge beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen in der Schule lassen sich nicht allein oder vorrangig daran festmachen, ob ein bestimmtes Lehrwerk zur Verwendung kommt oder nicht. Da Fremdsprachenunterricht ein äußerst komplexes, von einer breiten Palette von verschiedenen Einflussfaktoren abhängiges Geschehen ist, wäre es unangebracht, dem Lehrwerk eine solche Bedeutung beizumessen bzw. es in seiner Bedeutung derart zu überschätzen. In Anbetracht der Rahmenbedingungen, unter denen der schulische Fremdsprachenunterricht stattfindet, wäre es aber gleichermaßen unangebracht, für eine radikale Abkehr vom Lehrwerk zu plädieren, d.h. es in seiner Bedeutung derart zu unterschätzen (vgl. die darauf hinauslaufenden Forderungen der Dogme- Bewegung; siehe zusammenfassend hierzu T HALER 2004 bzw. die diesbezüglichen Überlegungen in F REU - DENSTEIN 2001, V ENCES / F REUDENSTEIN 2002; vgl. als Gegenposition aus der Grundschulperspektive auch S CHMID -S CHÖNBEIN / K URTZ / S AUER 2011). 8 Jürgen Kurtz 40 (2011) • Heft 2 figuration Europas, Globalisierung, Mobilität, Migration, Mehrsprachigkeit, kulturelle Diversität und Hybridität, ‚digitales Zeitalter‘) zu entsprechen? 2. Inwiefern und auf welche Art und Weise versuchen sie der derzeitigen bildungspolitischen und wissenschaftlichen Diskussion um mehr Verbindlichkeit im Bildungswesen (Kompetenz-, Standard-, Ergebnisorientierung) gerecht zu werden? 3. Inwieweit haben seit einigen Jahren bereits diskutierte, gleichwohl immer noch als ‚innovativ‘ zu bezeichnende fremdsprachendidaktische Unterrichtsansätze und -konzepte (z.B. task-based bzw. task-supported language instruction and learning, culture-sensitive foreign language education, integrated skills development, u.a.m.) Eingang in aktuelle Lehrwerke gefunden? 4. Was denken Lehrende und Lernende über das von ihnen genutzte Lehrwerk? Wie gehen sie mit dem jeweils verwendeten Lehrwerk um? Welche Wünsche, Ansprüche und Forderungen verbinden sie mit dem Lehrwerk bzw. dem Umgang mit ihm in der unterrichtlichen Alltagspraxis und darüber hinaus? 5. Wie ist es in Anbetracht dessen um die Zukunft der Lehrwerke im Fremdsprachenunterricht bestellt? Wie müssen sie weiterentwickelt werden, um eine Zukunft zu haben? In der vorliegenden Ausgabe von Fremdsprachen Lehren und Lernen werden diese Fragen - dem aktuellen Stand der fremdsprachendidaktischen Diskussion und Forschung entsprechend - einerseits unter sprachspezifischen, andererseits unter sprachenübergreifenden Gesichtspunkten diskutiert (vgl. hierzu weiterführend B AUSCH [et al.] 2008). Der Blick richtet sich dabei auf eine Vielzahl von in Deutschland entwickelten bzw. hier derzeit gebräuchlichen Lehrwerken für Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch, sowie auch auf Unterrichtsmaterialien für Sprachenübergreifendes Lernen, vornehmlich bezogen auf die Sekundarstufen I und II, aber auch auf die Erwachsenenbildung. Für die Weiterentwicklung des Lehrens und Lernens fremder/ weiterer Sprachen in der Schule wäre es von großer Bedeutung, wenn die in diesem Band zusammengeführten einzelsprachendidaktischen (englisch-, französisch-, spanisch- und russischdidaktischen) sowie mehrsprachigkeitsdidaktischen Überlegungen und Untersuchungsergebnisse zum Anlass genommen würden, sich künftig noch wesentlich intensiver mit der Konzipierung und Qualität, Verwendung und Optimierung von Lehrwerken zu befassen. Zu den Beiträgen im Einzelnen: E NGELBERT T HALER (Universität Augsburg) fasst in seinem Beitrag „Die Zukunft des Lehrwerks - Das Lehrwerk der Zukunft“ zunächst den aktuellen Stand der Diskussion zur Bedeutung, Funktion und Verwendung von Lehrwerken im schulischen Fremdsprachenunterricht zusammen. Daran anknüpfend identifiziert und veranschaulicht er anhand von zwei aktuellen, exemplarisch ausgewählten Lehrwerken für den Englischunterricht in den Sekundarstufen I und II wesentliche Entwicklungstrends der letzten Jahre. Einen plausiblen Lösungsansatz für die vielschichtigen Herausforderungen und Probleme, die er auf dieser Grundlage ermittelt, sieht er im Konzept des Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 9 40 (2011) • Heft 2 balanced teaching, das er unlängst umfassend dargestellt hat (vgl. hierzu weiterführend T HALER 2010). 11 Mit den zentralen Herausforderungen, Fragen und Problemen, denen sich die Lehrwerkforschung in den nächsten Jahren wird stellen müssen, befasst sich auch der von O TFRIED B ÖRNER , C HRISTOPH E DELHOFF , K ARLHEINZ R EBEL , T ORBEN S CHMIDT und K ONRAD S CHRÖDER (The English Academy) erarbeitete Beitrag „Funktion und Profil von Lehrwerken in der Epoche von Standards und Kompetenzen“. Den Verfassern geht es dabei zunächst um die Fortschreibung ihrer fachdidaktischen Problemanzeige aus dem Jahre 2007 (vgl. B ÖRNER / E DELHOFF / R EBEL / S CHRÖDER 2008: 350-352). Die Autoren zeigen in der Folge eine Reihe von wichtigen Entwicklungsperspektiven für die Lehrwerkforschung (bzw. für die Arbeit in den Schulbuchverlagen) auf. Der Beitrag beinhaltet des Weiteren einen Kriterienkatalog für ‚gute‘ Lehrwerke aus fremdsprachendidaktischer Sicht, dem einige bedenkenswerte Überlegungen und Einschätzungen von Fremdsprachenlehrinnen und -lehrern zum ‚idealen‘ Lehrwerk (bzw. zum sogenannten Wunschlehrwerk) gegenübergestellt werden. Zusammengenommen verdeutlichen diese beiden, hier an den Anfang gestellten Aufsätze, wie hoch komplex die Ansprüche und Anforderungen und die daraus erwachsenden Entwicklungsaufgaben sind, denen sich die fremdsprachendidaktische Lehrwerkforschung im Großen und Ganzen in den nächsten Jahren zu stellen hat, aber auch wie schwierig es (weiterhin) sicherlich sein wird, dem in den Schulbuchverlagen gerecht zu werden. G RIT M EHLHORN (Universität Leipzig) und H EIKE W APENHANS (Humboldt Universität zu Berlin) nehmen in ihrem Beitrag die aktuelle Lehrwerkgeneration für Russisch als zweite und dritte Fremdsprache (ab 2008) unter die Lupe. Im Rahmen ihrer facettenreichen Analyse kommen sie zu dem für alle anderen fremdsprachendidaktischen Disziplinen bedenkenswerten Schluss, dass es durchaus möglich ist, Lehrwerke sprachenverbindend bzw. mehrsprachigkeitsdidaktisch zu konzipieren, und dass dies, hier zunächst auf enger verwandte Fremdsprachen bezogen, in Ansätzen bereits umgesetzt wird. In ihrem Fazit weisen sie auf die zahlreichen Stärken der neuen Lehrwerkgeneration hin, machen aber auch deutlich, dass es dringender Klärung bedarf, wie diese Lehrwerke von Lernenden und Lehrenden im Unterricht konkret eingesetzt werden. A NDREAS G RÜNEWALD (Universität Bremen) geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwieweit die Förderung ‚Interkultureller Kompetenz‘ Gegenstand aktueller Lehrwerke für den Französisch- und Spanischunterricht ist. In seine gleichermaßen auf kognitive, kognitiv-attitudinale und handlungsbezogene Aspekte ausgerichtete Analyse bezieht er nicht weniger als fünf ausgewählte Unterrichtswerke für den Französischunterricht an Realschulen, Gesamtschulen und Gymnasien (Französisch als zweite Schulfremd- 11 Hierbei handelt es sich um einen Ansatz, der dem unterrichtsfremden ‚Entweder-oder Denken‘, wie es manchen einleitenden Kapiteln fremdsprachendidaktischer Abhandlungen nach wie vor noch zu Grunde liegt, ein der Realwelt des Fremdsprachenunterrichts besser gerecht werdendes, pragmatisches ‚Mehr-oderweniger-Denken‘ gegenüberstellt. 10 Jürgen Kurtz 40 (2011) • Heft 2 sprache), sowie fünf Unterrichtswerke für den Spanischunterricht (Spanisch als Schulfremdsprache und in der Erwachsenenbildung) ein. Er kommt zu dem Schluss, dass in den aktuellen Lehrwerken einerseits durchaus bereits eine starke Tendenz hin zur Förderung der Interkulturellen Kompetenz zu erkennen ist, dass es anderseits aber immer noch erheblicher Anstrengungen bedarf, um ein Konzept von interkultureller Erziehung in die Lehrwerke zu integrieren, das über die engen Grenzen traditionellen landeskundlichen Lernens und Lehrens hinausweist. Auch H ÉLÈNE M ARTINEZ (Universität Kassel) untersucht in ihrem Beitrag Lehrwerke für den Spanisch- und den Französischunterricht. Dabei befasst sie sich speziell mit Fragen der Kompetenzbzw. der Aufgabenorientierung. In diesem Kontext verweist sie zunächst auf die Anforderungen, denen kompetenzorientierte Lehrwerke gerecht werden müssen. Anschließend geht sie der Frage nach, inwieweit die Leitidee der Kompetenzorientierung bereits Eingang in aktuelle Lehrwerke gefunden hat. Sie verweist in der Folge auf wichtige Entwicklungsperspektiven (z.B. in Bezug auf Aspekte von Lernautonomie und Prozessorientierung) und kommt zu dem Schluss, dass es letztendlich von herausragender Bedeutung ist, die Lehrenden zu befähigen, kritischreflexiv mit Lehrwerken umzugehen. B RITTA H UFEISEN (Technische Universität Darmstadt) befasst sich in ihrem Beitrag mit der Entwicklung von sprachenübergreifenden, d.h. unter mehrsprachigkeitsdidaktischen Aspekten konzipierten, Lehr- und Lernmaterialien für die Sekundarschule. Einleitend fasst sie zunächst wichtige Erkenntnisse der Mehrsprachigkeitsforschung zusammen. Sie unterscheidet und erläutert in diesem Zusammenhang einige zentrale Begriffe (u.a. gesellschaftliche Vielsprachigkeit vs. individuelle Mehrsprachigkeit, individuelle prospektive vs. retrospektive Mehrsprachigkeit). Anschließend stellt sie Lehr- und Lernmaterialien vor, die vor diesem Hintergrund entstanden und bereits erprobt wurden. Sie gelangt zu dem Ergebnis, dass sprachenübergreifendes Lernen und Lehren in Schulen momentan - vor allem auch aufgrund der gegebenen Rahmenbedingungen - zwar nur selten versucht bzw. umgesetzt wird, dass sich eine Beschäftigung mit dieser Thematik aber durchaus lohnen kann und dazu führen könnte, dass sich eine zunehmende Zahl von Lehrenden mit der unterrichtlichen Implementierung mehrsprachigkeitsdidaktischer Konzepte befasst. M ARKUS B OHNENSTEFFEN (Carolus-Magnus-Gymnasium Marsberg) stellt die Ergebnisse einer informellen Schüler- und Lehrerbefragung zur subjektiv wahrgenommenen Qualität und zur tatsächlichen Verwendung von gymnasialen Englischlehrwerken vor, an der insgesamt 210 Schüler der Jahrgangsstufen 7-9 sowie 20 Lehrerinnen und Lehrer teilnahmen. Der auf die Praxis der Lehrwerknutzung ausgerichtete Beitrag verdeutlicht, wie wichtig es für die Lehrwerkforschung im Speziellen und die Weiterentwicklung einer praxisorientierten Didaktik des fremdsprachlichen Unterrichts im Ganzen ist, sich mit Fragen der konkreten Lehrwerkverwendung zu befassen, um einerseits die Lehrwerke selbst, andererseits den Umgang mit ihnen zu optimieren. Insgesamt verdeutlichen die in diesem Band versammelten Beiträge, wie bedeutend es ist und weiterhin sein wird, sich mit den eingangs genannten, zentralen Bereichen der fremdsprachendidaktischen Lehrwerkforschung intensiver zu beschäftigen, um Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 11 40 (2011) • Heft 2 tragfähige Impulse für eine Verbesserung der Qualität des Lehrens und Lernens fremder/ weiterer Sprachen in der Schule geben zu können. Aus wissenschaftlicher Perspektive wird in Anbetracht der Komplexität fremdsprachenunterrichtlicher Lehr- und Lernprozesse und der derzeit an den Universitäten und Hochschulen für die Lehrwerkforschung zur Verfügung stehenden (sehr begrenzten) Ressourcen sicherlich eine Fokussierung auf einzelne Teilgebiete (i.e. Lehrwerkkritik/ -analyse, Lehrwerkentwicklung, Lehrwerkverwendung) notwendig bzw. unumgänglich sein. Es wäre jedoch einigermaßen naiv anzunehmen, dass sich das in der Regel lehrwerkgestützte Lernen und Lehren von Fremdsprachen auf diesem Wege bereits nachhaltig verändern bzw. optimieren ließe. Arbeitsteilig gewonnene wissenschaftliche Erkenntnisse müssen vielmehr gebündelt und in Beziehung gesetzt werden, um eine Lehrwerktheorie (als Teil einer umfassenden Theorie des schulischen Fremdsprachenunterrichts) entwickeln zu können, die gleichermaßen empirisch fundiert wie konzeptionell überzeugend und zukunftsfähig ist. Darin liegt meines Erachtens die Zukunft der Lehrwerkforschung, der Lehrwerke und ihrer Verwendung. Der vorliegende Band versteht sich als ein (erster/ weiterer) Schritt in diese Richtung. Literatur A NSARY , Hasan / B ABAII , Esmat (2002): „Universal characteristics of EFL/ ESL textbooks: A step towards systematic textbook evaluation“. In: The Internet TESL Journal 8 (2) [available online at http: / / iteslj.org/ Articles/ Ansary-Textbooks.] B AUSCH , Karl-Richard / C HRIST , Herbert / K ÖNIGS , Frank G. / K RUMM , Hans-Jürgen (Hrsg.) (1999): Die Erforschung von Lehr- und Lernmaterialien im Kontext des Lehrens und Lernens fremder Sprachen. Arbeitspapiere der 19. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. B AUSCH , Karl-Richard / B URWITZ -M ELZER , Eva / K ÖNIGS , Frank G. / K RUMM , Hans-Jürgen (Hrsg.) (2008): Fremdsprachenlernen erforschen: sprachspezifisch oder sprachenübergreifend? Arbeitspapiere der 28. 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