eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 40/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2011
402 Gnutzmann Küster Schramm

Funktion und Profil von Lehrwerken in der Epoche von Standards und Kompetenzen

121
2011
Ottfried Börner
Christoph Edelhoff
Karlheinz Rebel
Torben Schmidt
Konrad Schröder
flul4020031
40 (2011) • Heft 2 © 2011 Narr Francke Attempto Verlag O TFRIED B ÖRNER , C HRISTOPH E DELHOFF , K ARLHEINZ R EBEL , T ORBEN S CHMIDT , K ONRAD S CHRÖDER (T HE E NGLISH A CADEMY ) * Funktion und Profil von Lehrwerken in der Epoche von Standards und Kompetenzen Abstract. Inspired and guided by the Common European Framework of Reference for Languages, huge efforts have been made to construct and implement foreign language education standards, regional core curricula and assessment schemes in Germany in recent years. Against this backdrop, this paper looks at the current state and the future of foreign language textbook development and research, focusing on major achievements as well as new challenges. In this context, it problematizes the opportunities and interactive potential that electronic media have added to textbook development and use, particularly those of interest for foreign language teaching in schools. 1. Status quo Anlässlich des 22. Kongresses für Fremdsprachendidaktik der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (2007) befasste sich eine Arbeitsgruppe - in Fortsetzung der Diskussion in einer entsprechenden Arbeitsgruppe auf dem DGFF-Kongress 2001 - mit der Funktion und Zukunft von Lehrwerken für den Fremdsprachenunterricht (vgl. hierzu B ÖRNER [et al.] 2008: 348-356). Ziel der Gruppe war eine Standortbestimmung in Bezug auf die Funktionen und Wirkweisen von Lehrwerken unter Berücksichtigung sowohl unterrichtsleitender, lernerbezogener und lehrerbildender als auch materieller, medialer und zukunftsorientierter Aspekte. Dabei sollte weder die faktisch herrschende * Korrespondenzadressen: StD. a.D. Otfried B ÖRNER , Fahrenkrön 5e, 22179 H AMBURG . E-Mail: ogb@arcor.de Arbeitsbereiche: Lehrwerkentwicklung, Fremdsprachen in der Grundschule, Umgang mit Heterogenität. Dr. phil. h.c., StD. a.D. Christoph E DELHOFF , Wilhelm-Vesper-Str. 27, 34393 G REBENSTEIN . E-Mail: chrisede@t-online.de Arbeitsbereiche: Lehrwerkentwicklung, Didaktik der Lehrerfortbildung, interkulturelles Lernen. Prof. em. Dr. rer. soc. Karlheinz R EBEL , Albert-Schweitzer-Weg 6, 72108 R OTTENBURG a N. E-Mail: KhRe23@aol.com Arbeitsbereiche: Allgemeine und Fachdidaktiken, Lernmedien einschließlich Lernforschung, Didaktik des modernen Fernstudiums. Jun.-Prof. Dr. phil. Torben S CHMIDT , Leuphana Universität Lüneburg, Institute of English Studies, Scharnhorststr. 1, C5.135, 21335 L ÜNEBURG . E-Mail: torben.schmidt@leuphana.de. Arbeitsbereiche: Computer-Assisted Language Learning, Projektarbeit, Inszenierungen im Fremdsprachenunterricht. Prof. em. Dr. Konrad S CHRÖDER , Marconistr. 30B, 86179 A UGSBURG . E-Mail: konrad.schroeder@phil.uni-augsburg.de Arbeitsbereiche: Grundthemen des Unterrichts moderner Sprachen, Innovation, Evaluation, kulturelle Bezüge; Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung im Englischunterricht. 32 Otfried Börner, Christoph Edelhoff, Karlheinz Rebel, Torben Schmidt, Konrad Schröder 40 (2011) • Heft 2 Rolle des Lehrwerks als konkretes Curriculum noch seine Veränderung durch gesellschaftliche, (inter)nationale und mediale Entwicklungen außer Acht gelassen werden. In der Kürze der damals zur Verfügung stehenden Zeit konnte es kaum gelingen, ein umfassendes und hinreichend differenziertes Bild zu gewinnen. Immerhin wurde deutlich, dass der Theorie-Praxis-Diskurs in diesem Bereich intensiviert werden und sich Lehrwerkforschung als aktive Begleit- und Wirkungsforschung entwickeln muss. Die im Rahmen des DGFF-Kongresses 2001 noch nicht thematisierten Fragen nach (Bildungs-)Standards, neuen Evaluationsmaßnahmen und schulischem Qualitätsmanagement sowie nach der Rolle der neuen Medien und deren Auswirkung auf die Lehrwerkentwicklung blieben freilich auch 2007 unbeantwortet (ebd.: 350). Deshalb greift der hier vorgelegte Beitrag die damals geführte Tagungsdiskussion auf, ergänzt die behandelten Themen und führt weitere Aspekte aus. Dabei gilt ein übergeordnetes Interesse dem modernen Fremdsprachenunterricht, während das angewandte Beispiel dem Englischunterricht gewidmet ist. Die im folgenden Beitrag zunächst vorgenommene Fortschreibung unserer „Fachdidaktischen Problemanzeige“ von 2007 (vgl. ebd.: 352 ff.) soll der Vergewisserung über die Tragfähigkeit eines kommunikativen Grundansatzes dienen, wie er - in diskursiver Aufnahme des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens - durch nationale Bildungsstandards, Bildungspläne und Kerncurricula deutscher Bundesländer und Konkretisierungen in Projekten und Unterrichtsmaterialien die derzeitige Entwicklung nach wie vor maßgeblich bestimmt. Die Forderung nach Kompetenzerwerb im Fremdsprachenunterricht als reformpädagogischer Bildungsprozess löst Fragen nach der Gestaltung, Serialität und medialen Form von Lehrwerken aus, deren traditionelle Rolle als Printmedien (die in dieser Form noch häufig in Schulen im Einsatz sind) vielfältigen Veränderungen und Ansprüchen durch curriculare und mediale Entwicklungen genügen und deshalb auf den Prüfstand gestellt werden muss. Karlheinz R EBEL (ebd.: 353 ff.) erläuterte dazu in seinem Abschnitt zu „Lehrwerk und Modularität“ die erziehungswissenschaftlichen Befunde über ein verändertes Lernverständnis, die Rolle der alten und neuen Medien sowie der curricularen Rolle des „Leitmediums Lehrwerk“ in modularen Organisationsformen. Das Plädoyer „Warum Lehrwerke im Fremdsprachenunterricht sinnvoll sind“ spielte schließlich eine wichtige, den Gesprächsprozess der Arbeitsgruppe stimulierende Rolle. Wegen seiner immer noch aktuellen Bedeutung bildet der ergänzte und redigierte Text den Abschluss unserer Darstellung, gefolgt von Lehrermeinungen aus engagierter Lehrerfortbildung zu einem „idealen“ Lehrwerk. 2. Fachdidaktische Problemanzeige: Schulpolitische, schulpädagogische und fachliche Vorgaben und Einflüsse Auch in diesem Beitrag kann der in jüngerer Zeit immer wichtiger werdende Zusammenhang von schulpolitischen, schulpädagogischen und fachlichen Vorgaben für Funktion und Profil von Lehrwerken in der Epoche von Standards und Kompetenzen 33 40 (2011) • Heft 2 Unterricht und Lehr-/ Lernmaterialien nur skizziert werden. Immerhin können damit aber Impulse für Fragestellungen und Richtungen der Lehrwerkforschung gegeben werden, die nach der konkreten Wirkung solcher Vorgaben fragen. 2.1 Vom Schulprogramm zum Fachunterricht Trotz bedeutsamer Unterschiede zwischen den - schulpolitisch und administrativ hoheitlich wirkenden - deutschen Bundesländern können gemeinsame Rahmenvorgaben benannt werden, die die Entstehung, Einführung und Fortschreibung von verlaglichen Unterrichtsmaterialien zunächst auf der Ebene der Schulpolitik, dann der Schul- und Unterrichtsorganisation beeinflussen. Hier sind vor allem zu nennen: die Schul- und Unterrichtsentwicklung im Kreislauf zwischen Vorgaben und Evaluation, sowohl auf landesbezogener als auch nationaler und internationaler Ebene; der Beitrag des Fremdsprachenunterrichts zur inneren Schulentwicklung (vgl. BAG 1997); besondere curriculare Leitideen eines bestimmten, z.B. schulreformerischen Ansatzes (wie authentic - meaningful - challenging als Motto für einen weltbezogenen, realistischen, bedeutungsvollen und schüleraktiven Unterricht). Bisher ist wenig bekannt, wie sich das von den einzelnen Schulen amtlich geforderte Schulprogramm und Schulleitbild über ein Schulfachleitbild, Stufenprofile und unterrichtsfachbezogenene Beiträge auf den Unterricht, seine Materialien und die Ergebnisse konkret auswirkt. 2.2 „Kompetenzen als Ziele von Bildung und Qualifikation“ Mehr Auskunft zu geben versprechen die einschlägigen Rahmenvorgaben und Expertisen über den Paradigmenwechsel von der Wissenszur Könnensschule, die Wissen, Lernen, Handeln und Können als Kompetenzen auf den verschiedenen Ebenen (Sachkompetenz, Methodenkompetenz, Soziale Kompetenz, Interkulturelle Kompetenz, Personale Kompetenz) als Lehrplanziele benennen („Can do“-Statements, vgl. K LIEME [et al.] 2003). Dabei werden für das Lernen in allen Schulfächern herausgestellt (F ORUM B ILDUNG 2001): Lernkompetenzen für lebenslanges Lernen, Handlungskompetenz, solides Fachwissen und fächerübergreifende Kompetenzen, Methodenkompetenzen und Motivation/ Befähigung zu kontinuierlichem Lernen, Sprach- und Medienbeherrschung/ Mathematisch-naturwissenschaftliche Grundkompetenzen/ Soziale Kompetenzen. 34 Otfried Börner, Christoph Edelhoff, Karlheinz Rebel, Torben Schmidt, Konrad Schröder 40 (2011) • Heft 2 2.3 Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung: Standards und Kompetenzen In der als unzureichend erwiesenen Auswertung internationaler Vergleiche des Schulwesens (TIMSS, PISA, DESI) reagierten die deutsche Politik und die Bildungsverwaltungen mit Umsteuerung. In den letzten Jahren sei „deutlich geworden, dass die Steuerung von Schule und Unterricht über Lernziele und Vorgaben für die Gestaltung von Lernprozessen, wie sie für Deutschland bisher typisch war, wenig wirksam ist (‚Inputsteuerung‘)“. Mit der Entwicklung von Bildungsstandards wird deswegen ein Perspektivenwechsel vorgenommen. Standards greifen allgemeine Bildungsziele auf und legen fest, welche Kompetenzen Schüler bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Bildungsgangs erworben haben sollen. Im Unterschied zu herkömmlichen Lehrplänen, die die Wege zur Zielerreichung beschreiben und strukturieren, geben Bildungsstandards die erwarteten Lernergebnisse vor (‚Outputorientierung‘). Dabei konzentrieren sich die Bildungsstandards auf fachliche Basisqualifikationen, die für die weitere schulische und berufliche Ausbildung von besonderer Bedeutung sind. Die Standards sollen für Lehrkräfte und Lernende beschreiben, welche Kompetenzen sie in einer bestimmten Jahrgangsstufe erworben haben sollen. Zur Sicherung der Standards führt beispielsweise die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen aus: „Mit zunehmender Eigenverantwortlichkeit haben Schulen in NRW größere Freiräume erhalten, um Unterricht und Schule zu gestalten. Dabei sind sie verpflichtet, die bundesweit vorgegebenen Bildungsstandards sowie die (darauf basierenden) landesspezifischen kompetenzorientierten Lehrpläne umzusetzen und Rechenschaft darüber abzulegen, ob und in welchem Umfang es ihnen gelingt, diese Standards zu erfüllen. U.a. geschieht dies im Rahmen von Lernstandserhebungen bzw. Vergleichsarbeiten sowie von zentralen Prüfungen zur Vergabe von Abschlüssen und Berechtigungen“. 1 2.4 Zur Entwicklung kommunikativer Kompetenz 2 ; kompetenzorientierter Fremdsprachenunterricht Schulpolitische und schulpädagogische Entwicklungen finden ihre Parallele in dem jahrzehntelangen sprachpädagogischen und didaktischen Forschungs- und Entwicklungszusammenhang, der verkürzt und oft missverständlich als kommunikativer Fremdsprachenunterricht bezeichnet wird: Sprache soll nicht als System, sondern als angewandtes Instrument der Verständigung (des Verstehens und Äußern/ Mitteilens und der interkulturellen Begegnung) und des kommunikativen Handelns unterrichtet werden (vgl. BAG 1996/ 1978; B REEN / C ANDLIN 1980; C ANDLIN 1981). Die von P IEPHO (1974) geforderte kommunikative Kompetenz als Richtziel ist damit - nach Jahren kontroverser Diskussionen - ein anerkannter Grundsatz. Die heute von den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen geforderte Gebrauchs- und Handlungsorientierung ist längst in der (fach-)didaktischen Literatur verankert, in Richtlinien und Lehrplänen kodifiziert und auch in einigen neueren Lehrmaterialien die Grundlage. 1 http: / / www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/ cms/ (Zugriff 8.4.2011). 2 Im Folgenden E DELHOFF (2010a: 152 f.). Funktion und Profil von Lehrwerken in der Epoche von Standards und Kompetenzen 35 40 (2011) • Heft 2 Grundlegende Prinzipien sind 3 : - das Dialogprinzip (vgl. P IEPHO 1974) - die narrative Dimension als Grundprinzip für Lernende aller Lebensalter (P IEPHO 2007) - das Prinzip des Interkulturellen Lernens (vgl. B REDELLA / D ELANOY 1999; D E F LORIO -H ANSEN 2000) (Eigen- und Fremdverstehen; Begegnung, grenzüberschreitendes Lernen) - das Prinzip der Authentizität (vgl. A MOR 1999; B ACH / T IMM 1996/ 1989; E DEL - HOFF 1985; E DELHOFF / L IEBAU 1988; W ESKAMP 1999) (Sprache, Sachverhalte, Texte und Medien in direkter Begegnung und realer Abbildung; die Lernenden als sie selbst) - das Prinzip der Handlungsorientierung (vgl. S CHIFFLER 1998) - das Prinzip der Schülerorientierung (vgl. B ÖRNER 1984; B REDELLA / L EGUTKE 1985; E DELHOFF / W ESKAMP 1999; P IEPHO 2003; R AMPILLON 2000; T UDOR 1996) - das Prinzip des Aufbaus in Themen und zyklischen Progressionen: Thema, Topic, Texte, Situationen, Sprachmittel (vgl. E DELHOFF 1996b) - das Prinzip des offenen Unterrichts und der Projektorientierung (vgl. 1988 1991 - das Prinzip einer offenen Methodik (vgl. 2000 1996 (verzweigende, methodische Differenzierung: unterschiedliche Aufgaben für unterschiedliche Lerner durch Übungsketten [vgl. BAG 1996]: exercise, activity, task [vgl. E LLIS 2003; M ÜLLER -H ARTMANN / S CHOCKER - V . D ITFURTH 2005; N UNAN 1989; W ILLIS / W ILLIS 2007] and project (vgl. L EGUTKE / T HOMAS 1991) - das Prinzip der Selbst- und Fremdevaluation (vgl. B ÖRNER / L OHMANN 2009; E DELHOFF / S CHRÖDER 2009). Nirgendwo im Fremdsprachenunterricht oder in Lehrwerken findet man freilich bisher eine geschlossene und durchgängige Anwendung dieser Prinzipien. Ein größerer Konsens zeichnet sich jedoch in den letzten Jahren in der Ausbildung und Verbreitung des so genannten kompetenzorientierten Unterrichtes ab, der - auf der Grundlage des P IEPHO schen Begriffs - die Vorgaben des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen des Europarates (C OUNCIL OF E UROPE 2000; E UROPARAT 2001) und der nationalen Bildungsstandards (2003) zur Umsetzung länderbezogener Kernlehrpläne produktiv aufnimmt und im Sinne der geschilderten schulischen Qualitätsentwicklung ausfüllt. 2.5 Schulpraktische und interkulturelle Entwicklungen Wesentliche Impulse empfängt der kommunikative Fremdsprachenunterricht in den letzten 30 Jahren auch aus schulischen Entwicklungen selbst, die sich in konkreten Materialanforderungen und -entwicklungen manifestieren und zur Veränderung in 3 Zum Folgenden siehe auch E DELHOFF (1996a). 36 Otfried Börner, Christoph Edelhoff, Karlheinz Rebel, Torben Schmidt, Konrad Schröder 40 (2011) • Heft 2 Richtung auf einen handlungs-, erlebnis- und erfahrungsorientierten Fremdsprachenunterricht führen. Dazu gehören vor allem ein projektorientierter thematischer Unterricht (L EGUTKE / T HOMAS 1991) und die vielfältigen Bemühungen, den Fremdsprachenunterricht europatauglich zu machen (S CHRÖDER 2009a, 2009b), wobei die Aufmerksamkeit einerseits der Rezeption des Europäischen Referenzrahmens gilt, andererseits der lebendigen interkulturellen Beziehungsarbeit zwischen Lernenden verschiedener, meist europäischer Länder in Projekten der Feier-, aber auch der Alltagskultur (E DELHOFF / L IEBAU 1988). Mehrsprachigkeit, Praktisches Lernen sowie Beziehungen und Begegnungen über Grenzen in einer pédagogie des échanges gehören in vielen Schulen zur sichtbaren Veränderung der Schulkultur, an der die Fremdsprachen maßgeblich beteiligt sind. Es liegt auf der Hand, dass Lehrmaterialien hierzu Impulse, Sachinformationen, methodisches Handwerkszeug und sprachliche Begleitung bieten müssen, d.h. das traditionelle Lektionsprinzip verlassen und alternativ, modular und referenziell angelegt sein sollten. 2.6 Spiralcurriculum, Themenorientierung und Grammatik In Aufnahme schulpädagogischer Überlegungen der Reformpädagogik und der Curriculumreform der 70er-/ 80er Jahre des letzten Jahrhunderts bündelt der Begriff des Spiralcurriculums Überlegungen zur Anordnung und Abfolge von Inhalten, Themen und Methoden des Unterrichts, die einer linearen, festen Anordnung (Progression) entgegengesetzt sind. Im modernen Fremdsprachenunterricht wird damit besonders die Abkehr von einseitigen, vor allem linguistischen Progressionen bezeichnet, die in dogmatischer Weise alle anderen Ordnungsschemata dominieren. Lerntheoretisch ermöglicht der Begriff die Berücksichtigung des Umstands, dass Lehrarrangements nicht automatisch Lernarrangements entsprechen und Lernen stets in Aufnahme und (Re-)Aktivierung von bereits Erfahrenem/ Gelerntem in der Auseinandersetzung mit jeweils Neuem erfolgt. Das Bild der Spirale (oder besser: Schraube) als sich stets wiederholende und gleichzeitig aufstrebende und fortschreitende Bewegung dient dabei den ineinander verschränkten Prinzipien der Wiederholung und des Fortschreitens auf immer höherem Niveau. Als Beispiel können die Lehr-/ Lernarrangements jüngerer Lehrwerke angeführt werden, die in Anordnung und Abfolge der einzelnen konstitutiven Elemente auch mit Blick auf (Binnen-) Differenzierung und Individualisierung spiralig vernetzt sind: „Themen, Topics, Texte, kommunikative Kompetenzen und Verfügung über Sprachmittel sowie Übungen und Aufgaben unterliegen dem Prinzip des Spiralcurriculums, d.h. werden einzeln und zusammen ständig wiederholt und erweitert, sodass für den Unterricht immer wieder Neueinstiege und individuelle Lernwege möglich sind“ (Konzept N OTTING H ILL G ATE 2008). Für die Gestaltung des Lehrwerks hat dies konkrete, von herkömmlichen Lehrwerken abweichende Prioritäten zur Folge: Grundlegende Priorität hat die Orientierung an Themen (Themenbereichen), die nach dem Prinzip der Schülerorientierung in auf- Funktion und Profil von Lehrwerken in der Epoche von Standards und Kompetenzen 37 40 (2011) • Heft 2 steigender Spiralität vom Einfachen zum Mehrfältigen, vom lebenszeitlich Erfahr- und Lernbaren zu kognitiver Durchdringung, vom Eigenen zum Fremden usw. angeordnet sind. Wenn es sogar gelingt, die Themenbereiche schulformübergreifend zu bestimmen, so wachsen Kompatibilität und Anschlussfähigkeit wie auch die Zuordnungsfähigkeit unterschiedlich formulierter Themenvorgaben in Lehrplänen und Kerncurricula. Grundsätze des Spiralcurriculums werden auch bei der Konzipierung eines schülerorientierten Grammatikunterrichts sichtbar (vgl. E DELHOFF 2010b). Grammatik wird nicht isoliert als Wissensbereich, sondern als Lernhilfe im gestalteten Spracherwerb gesehen. Grammatik soll entdeckt werden; erworbenes Sprachwissen dient zum Lernen und Erinnern. Dem ist eine „situative“ und „nachgehende“ Grammatik gewidmet, die grammatisch beschreibbare Strukturen und Elemente einer Lexikogrammatik zunächst situativ - in Texte natürlich eingebettet - erscheinen lässt, ehe sie in weiteren - zeitlich versetzten, spiralig angelegten - Übungen und Aufgaben regelhaft und remedial weiter behandelt werden (vgl. auch W ILLIS 2010). 3. Lehrwerk und Modularität Lange war das Lehrwerk in seiner Rolle als Leitmedium des Unterrichts unangefochten für viele Lehrende weitaus wichtiger als Lehrpläne, Richtlinien oder Rahmenpläne. Diese extrem starke Stellung steht zurzeit auf dem Prüfstand. Die Gründe dafür sind mannigfaltig: Einflüsse der Wissensgesellschaft, der Globalisierung, der medientechnologischen Entwicklung - und einer zunehmenden Individualisierung aller Lebensbereiche. Ein fundiertes Verständnis der Lernvorgänge im Menschen spricht bei vielen Lernumgebungen gegen eine lineare Strukturierung des Lernstoffs mit völliger oder starker Außensteuerung und für die Möglichkeit der Lernenden, eigene Lernpfade zu gehen, erhöhte Flexibilität zu ermöglichen, insgesamt: der starken individuellen Förderung Rechnung zu tragen. Auch in Zukunft wird das Lehrbuch eine bedeutende Rolle in allen Bildungsbereichen spielen. Es wäre unverantwortlich, sein didaktisches Potenzial und die vielen praktischen Vorteile des Buchdrucks nicht zu nutzen. Das gilt allerdings auch für die Verwendung seiner „Peripherie“ aus Workbooks, Hör-, Hör-Seh-Materialien u.a. beim institutionalisierten Lernen, was aber einschließt, dass diese konzeptuell weiterentwickelt werden müssen, um dem neuen Lernverständnis und einem geänderten Nutzerverhalten noch mehr als bisher Rechnung zu tragen. Die Zukunft liegt mit der wachsenden Internetnutzung auf einem Medienmix. Eine der didaktisch-methodischen Antworten auf diese Herausforderungen ist die Modularisierung. Wie aber steht es mit dem Verhältnis von Modularisierung und Lehrwerken? Sicher ist die Zeit für eine endgültige Antwort noch nicht reif. Doch können wir aus den bisherigen Erfahrungen folgern, dass dem Modul ein erheblicher „didaktischer Mehrwert“ zukommt, sofern es seine didaktischen Möglichkeiten voll ausschöpft. Dabei ist zu prüfen, ob und in welcher Weise ein Lehrwerk mit seinem didaktischen „Mehrwert“ welche Rolle weiterhin oder neu zu spielen vermag und ob es 38 Otfried Börner, Christoph Edelhoff, Karlheinz Rebel, Torben Schmidt, Konrad Schröder 40 (2011) • Heft 2 ähnlich wie beim E-Learning vielleicht ein Doppelspiel von Modul und Lehrwerk mit geteilten Rollen geben kann. Wir gehen nach den bis jetzt vorliegenden praktischen und theoretischen Erfahrungen vom Modul als überschaubarer Lerneinheit aus, die erlaubt: konzentriert, entsprechend den je eigenen Interessen der Lernenden zu arbeiten und dabei dank der Exemplarität der ausgewählten Lerninhalte zugleich größere Zusammenhänge fächerübergreifend mitzusehen; ein Modul mit anderen Modulen verwandter Wissensbereiche zu kombinieren und damit komplexe persönliche und gesellschaftliche Probleme individuell zu bearbeiten; ein vertiefendes Anschluss-Lernen zu erleichtern sowie die Realisierung der Forderung nach einer individualisierten Förderung jedes einzelnen Lerners wirksam zu unterstützen und sich aus einem Gesamtangebot von Modulen und eventuell anderen Lernmaterialien einen je eigenen Lernpfad konstruieren zu können. Aus diesen Aussagen folgt: Das Modul vermag eine in sich stimmige pädagogische Antwort auf die modernen Herausforderungen an das Lernen in gesellschaftlicher und individueller Hinsicht zu geben und entscheidend dabei mitzuhelfen, innovative Bildungsziele mit Breitenwirkung zu realisieren, und zwar durch: Prozessanstatt Stofforientierung und Lerneranstatt Fachzentriertheit, vor allem orientiert an komplexen Lebensproblemen, was eine fachübergreifende Arbeitsweise erleichtert; eine weitgehende, sich im Verlauf des Lernens entwickelnde Lernerautonomie, individuellen Anforderungen leichter gerecht werdend, die auch auf benachbarte Lerninhalte transferiert werden kann; Hilfe bei der Herstellung der Balance von individuellem bzw. Gruppen-Fördern und Fordern; erhöhte Selbstständigkeit der Bildungseinrichtungen, der Lernergruppen und der lernenden Individuen sowie schließlich eine hohe Mobilität und Multikulturalität in ganz Europa. Es muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass - ähnlich wie beim E-Learning - die Entwicklung eines Moduls, das diesen Namen verdient, zumindest vorerst besonders zeitaufwändig und damit teuer ist und wir schon deshalb gar nicht in der Lage sind, alle pädagogischen Aufgaben nur noch modular zu lösen. Zudem würden sich vor allem Lernende ohne oder mit nur wenig entwickelter Lernkompetenz unnötig schwer tun, wenn sie es nur noch mit Modulen zu tun bekämen. Umso mehr kommt damit im Schulbereich dem Lehrwerk nach wie vor eine bedeutsame Rolle zu. Das Lehrwerk für heute und die nahe Zukunft kann aber auch vom Modul lernen. Schon jetzt besteht ein gutes Lehrwerk aus vielen wohldurchdachten, aufeinander aufbauenden bzw. sich ergänzenden Elementen. 4 Es hat bereits mögliche unterschiedliche Lernpfade in sein Angebot übernommen; dies lässt sich sicher weiter 4 Siehe dazu als ein - im Sinne dieser Ausführungen - gelungenes Beispiel: Bd. 4 des Lehrwerks Camden Town Realschule, Verlag Diesterweg. Funktion und Profil von Lehrwerken in der Epoche von Standards und Kompetenzen 39 40 (2011) • Heft 2 entwickeln. Ähnliches gilt von der Beurteilung des Lernfortschritts durch die Schüler selbst (self assessment). Auch der Medienmix wird bereits genutzt; außerdem ist die Verbindung zum E-Learning im Sinne des Blended Learning angelegt. Das Lehrwerk kann neben Fragen der Praktikabilität oft mit den gleichen Argumenten einen „didaktischen Mehrwert“ für sich beanspruchen. Als Beispiel eines Moduls, das die theoretischen Forderungen umzusetzen sucht, d.h. seine Charakteristika und seinen didaktischen Mehrwert, mag das „Modul Lernen“ dienen, das für eine Lernumgebung „Fremdsprachenunterricht“ entwickelt wurde. Lernumgebung (learning environment) bedeutet „[…] das Arrangement von Lehrmethoden, Lernmaterialien und Medien. Eine Lernumgebung ist außerdem charakterisiert durch die besondere Qualität der aktuellen Lernsituation in zeitlicher, räumlicher und sozialer Hinsicht. Auch der kulturelle Kontext […] gehört dazu […] Alle diese Umgebungsfaktoren beeinflussen das Lernen und unterliegen […] den Gestaltungsmöglichkeiten des Lehrenden“ (R EBEL 2008: 133). 4. Lehrwerke im digitalen Medienverbund - It's all in the mix Die in unserer Gesellschaft in rasantem Tempo voranschreitende Digitalisierung des Alltags, unserer Wissensdistributions-, Informations-, Unterhaltungs- und Kommunikationsroutinen, macht auch vor dem Bereich des institutionalisierten Lehrens und Lernens in Schulen nicht Halt. Beispiele hierfür sind etwa die Einrichtung von Notebookklassen, Internetprojekte, der verstärkte Einsatz von Lernplattformen wie Moodle oder lo-net 2 (letztere wird Betreiberangaben zufolge Stand März 2011 von 6500 Schulen deutschlandweit genutzt) oder die zurzeit von vielen Ländern und Kommunen voran getriebenen, häufig auf dem Konjunkturprogramm 2 der Bundesregierung beruhenden Initiativen zur Ausstattung von Klassenräumen mit interaktiven Whiteboards. Das in gedruckter Form vorliegende Lehrwerk wird auch in naher Zukunft nicht zuletzt aufgrund der häufig insgesamt noch mangelhaften Medienausstattung unserer Schulen wohl weiterhin das zentrale Lehr- und Lernmedium im unterrichtlichen Medienverbund bleiben und nicht z.B. von Tablet-PCs mit elektronischen Schulbüchern ersetzt werden. Dennoch arbeiten Schulbuchverlage mit Hochdruck daran, neben dem klassischen Schulbuch vielfältige digitale Peripheriematerialien anbieten zu können. Die Bandbreite reicht hier im Bereich des Fremdsprachenlernens etwa von multimedialen Lernprogrammen entweder für das außerschulische Selbstlernen (z.B. Vokabel-, Grammatik- und Hör-/ Sehverstehenstrainer) oder als Unterrichtssoftware, über ergänzende Online-Übungen und Materialien zur Lernstandserhebung, DVDs mit Audio- und Videomaterialien (z.B. authentischen Filmsequenzen), interaktive Arbeitsblätter und Tafelbilder für das Whiteboard bis hin zum digitalen Unterrichtsplaner für Lehrkräfte (z.B. für Stundenplanung, Stoffverteilungspläne, Materialzusammenstellung). 40 Otfried Börner, Christoph Edelhoff, Karlheinz Rebel, Torben Schmidt, Konrad Schröder 40 (2011) • Heft 2 Eine entscheidende Frage bei der Konzeption und dem Einsatz digitaler Lehr- und Lernmedien - jenseits von aller Euphorie, die den Computereinsatz häufig begleitet - muss dabei stets sein, ob das jeweilige Material oder computerbereicherte Lernszenario tatsächlich gegenüber anderen „klassischen“ Formaten, Materialien und Übungen einen didaktischen Mehrwert besitzt und beispielsweise mit Blick auf die Aspekte Schüleraktivierung, Multimedialität, Interaktivität, Individualisierung und Differenzierung, Authentizität, Materialreichtum, Aktualität und inhaltliche Flexibilität (vgl. K RUMM 1999: 122) besondere Potenziale eröffnet. Insgesamt ist noch nicht absehbar, welche Rolle den verschiedenen digitalen und analogen Medienformaten im Medienmix des Unterrichts der Zukunft zukommen wird. Entscheidend wird unter Qualitätsgesichtspunkten jedoch sein, wie eng und didaktisch sinntragend die verschiedenen medialen Angebote ausgehend vom gedruckten Lehrwerk als Impulsgeber, Ausgangspunkt und inhaltliche Klammer miteinander verknüpft sind, welche Lernaufgaben den Medieneinsatz jeweils begleiten, wie sich die verschiedenen Medien im Verbund gegenseitig ergänzen, wie leicht sie sich in den Unterricht integrieren lassen, welche didaktischen Szenarien Schritte über das Lehrwerk hinaus hin zum Umgang mit authentischen (z.B. Online-)Materialien und Inhalten erlauben und nicht zuletzt, wie die Lernenden mithilfe der verschiedenen medialen Angebote auf vielfältige Weise zum fremdsprachlichen Handeln angeregt werden können (vgl. L EGUTKE 1999; S CHMIDT 2011). 5. Evaluation als integrierter Bestandteil des Lehrwerk-Konzepts In keiner Domäne der Fremdsprachendidaktik hat sich in den vergangenen Jahren so viel verändert wie im Bereich der Evaluationskultur. Dem muss auch bei der Entwicklung von Lehrwerken Rechnung getragen werden, denn die Evaluationskomponente ist Kernbestandteil des Lehrwerks. Die Ersteller von Aufgaben (Redaktionen und Autoren) müssen die Grundlagen des kommunikativen Testens (Ebene der Lernerfolgskontrollen) beherrschen und selbstverständlich auf dem neuesten Stand der Theoriebildung stehen, weil Testaufgaben, auch in der Form von Lernerfolgskontrollen, hoch komplex sind. Dabei müssen testtechnische und fachdidaktische Komponenten verbunden werden. Die Gestaltung der Evaluationskomponente muss im Rahmen der so genanten Drei- Säulen-Theorie erfolgen (vgl. E DELHOFF / S CHRÖDER 2009; H ARSCH / S CHRÖDER 2008; S CHRÖDER 2009a). Das bedeutet im Einzelnen: Die Teilnahme der Schüler an zentralen Lernstandserhebungen am Ende der Jahrgangsstufen 6, 8 und 10 muss im Rahmen entsprechender Lernaufgaben vorbereitet werden. Funktion und Profil von Lehrwerken in der Epoche von Standards und Kompetenzen 41 40 (2011) • Heft 2 Es müssen lehrwerkbegleitende Aufgabenpakete angeboten werden, die den Charakter von Lernerfolgskontrollen haben, allerdings solchen Lernerfolgskontrollen, die den aktuellen Qualitätsmaßstäben im Bereich des Testens genügen. Es müssen Materialien zur Selbstevaluation vorgesehen werden. Die in den Lehrwerken des Diesterweg-Verlags angebotenen Portfolio-Seiten und Testyourself-Module weisen in diese Richtung (vgl. z.B. Notting Hill Gate oder auch Camden Town Gymnasium 2007-2011), sie sollten aber durch Aufgaben im Bereich kommunikativer Mündlichkeit ergänzt werden. Die Grundgedanken der hier angedeuteten „neuen Evaluationskultur“ sollten den Lernenden selbst dargestellt werden, auch mit dem Hintersinn, jene Kollegen, die die begleitenden Lehrerhilfen nicht zur Kenntnis nehmen, in die Problematik einzuführen. In jedem Fall sollte aber das Lehrerhandbuch in Form von knappen Hinweisen die Grundlagen kommunikativer Evaluation im Rahmen der oben genannten drei Säulen auf dem neuesten Stand enthalten, wobei auch vor den Gefahren eines kurzschlüssigen, fehlerhaften Umgangs gewarnt werden muss. Die Qualität eines Lehrwerks wird in den kommenden Jahren wesentlich an der Qualität der Evaluationskomponente gemessen werden. Man kann dies beklagen oder bejubeln; in einem outcome-orientierten System ist diese Entwicklung abzusehen und bedarf bei der Neukonzeption von Lehrwerken sehr viel größerer Sorgfalt als bisher. 6. Herausforderungen durch Schulreformen Besondere Herausforderungen für die Entwicklung zukünftiger Lehrwerke ergeben sich nicht nur durch neue didaktisch-methodische Möglichkeiten wie den digitalen Medienverbund und die Notwendigkeit der Entwicklung einer „neuen Evaluationskultur“, sondern in besonderem Maße auch durch die schulpädagogischen Reformen der letzten Jahre. Dazu gehören der inzwischen flächendeckende Fremdsprachenunterricht in der Grundschule, in mehreren Bundesländern bereits ab Klasse 1 (vgl. G OMPF 2010), die Verkürzung der Schulzeit in Gymnasien, die Verpflichtung zur Einrichtung eines inclusive education system auf Grundlage der 2008 von den Vereinten Nationen in Kraft gesetzten Behindertenrechtskonvention (vgl. U NITED N ATIONS 2007; H INZ 2005) sowie die Entwicklung in Richtung auf ein zweigliedriges Schulsystem. Vorstellbar sind u.a. folgende Modelle und Möglichkeiten: Ein „stromlinienförmiges“ Lehrwerksangebot der Verlage von der Grundschule - oder gar Vorschule - bis an das Ende der Schulzeit. Unter der Bedingung, dass für den Grundschulunterricht verbindliche Standards entwickelt und umgesetzt werden und sich die zurzeit vielfach wenig befriedigende Qualifikation der Lehrkräfte verbessert, arbeiten die Grundschulen mit Lehrwerken, die zum einen den grundschulpädagogischen Bedingungen, zum anderen den Erkenntnissen über frühes Fremdsprachenlernen Rechnung tragen (vgl. B ÖRNER 2007). 42 Otfried Börner, Christoph Edelhoff, Karlheinz Rebel, Torben Schmidt, Konrad Schröder 40 (2011) • Heft 2 Ab der Jahrgangsstufe 5 gibt es Englischlehrwerke für Gymnasien und für integrative „Nicht-Gymnasien“, in denen alle Abschlüsse erreicht werden können. Sie beginnen nicht from scratch, sondern setzen auf ein in der Grundschule verlässlich aufgebautes common core und führen für alle zu einem durch Mindeststandards definierten Mittleren Abschluss oder darüber hinaus. Ab der Jahrgangsstufe 8, spätestens aber ab der Jahrgangsstufe 9, also nach ca. 20 Jahreswochenstunden Englischunterricht, wird mit Modulen mit verpflichtenden und optionalen Bausteinen gearbeitet. Dabei sind den individuellen Schulprogrammen entsprechende Profilierungen denkbar, z.B. für das Langzeitlehrgangsfach Englisch survival English, Englisch als Arbeitssprache, berufspropädeutisches Englisch, English Literature bis hin zu Content and Language Integrated Learning, CLIL. Die Lehrwerke bzw. Unterrichtsmaterialien am Ende der Sekundarstufe I bereiten auf die Fortführung des Fremdsprachenlernens auf der Sekundarstufe II vor, sowohl in Bezug auf berufsbezogenes Sprachenlernen wie auch auf die besonderen Bedingungen der gymnasialen Oberstufe mit Blick auf weitere universitäre Bildungsgänge. Es muss auch für die Fremdsprachenlerner die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen erreicht werden. Das Englischlehrwerk ausschließlich für Hauptschulen oder Realschulen dürfte auf Grund der Entwicklung auf ein zweigliedriges Schulsystem ein Auslaufmodell werden. Die aktuellen Reformen werden zu grundsätzlichen Veränderungen bei den Lehrwerken führen, vor allem aber auch eine Weiterentwicklung der Methoden nach sich ziehen. Das auszuführen kann nicht Gegenstand dieses Beitrags sein. 7. Warum Lehrwerke im Fremdsprachenunterricht sinnvoll und notwendig sind Die folgende Aufstellung ist nicht vollständig. Ein Angebot der hier genannten Dinge im Rahmen einer Paketlösung erscheint aber geeignet, die Qualität des Fremdsprachenunterrichts zu steigern. Lehrwerke geben im Idealfall Struktur, indem sie individuellen Lernprozessen eine Richtung geben (Progressionen), indem Lernabläufe durch Units, Themes und spirales Fortschreiten rhythmisiert werden, Lernprozesse durch strukturiertes Lernen optimiert werden und die Beraterrolle des Lehrers optimiert wird. Lehrwerke bieten den Lernenden Hilfestellungen für individuelles forschendes Lernen (nicht nur in den Bereichen Grammatik und Lexis) und helfen dem Lehrer, der als Lernberater auf den individuellen Lerner zugeschnittene Entscheidungen treffen muss. Lehrwerke bieten Impulse durch Handlungsanregungen für den Schüler. Sie ermöglichen Projektorientierung und bieten Vernetzung mit der übrigen Welt: Sie Funktion und Profil von Lehrwerken in der Epoche von Standards und Kompetenzen 43 40 (2011) • Heft 2 sind „Tor zur Welt“. Sie bereichern das Ideenarsenal des Lehrers und können als Brücke zwischen Schule und Elternhaus dienen. Lehrwerke können auch im Rahmen ihrer nun einmal erforderlichen Marktorientierung durchaus innovativ sein, gehört doch die Sehnsucht nach good practice zu den Motiven ihrer Einführung. Nicht zu unterschätzen sind auch der Druck der Konkurrenz sowie die Reaktion auf neue, innovative Elemente in den staatlichen Vorgaben. Im Zeitalter von Kerncurriculum, Kompetenzentwicklung, Outcome-Orientierung, communicative testing, Lernstandserhebungen, neuer Evaluationskultur, Bildungsstandards, Lernerautonomie, task-based learning, Kommunikationsorientierung, transkultureller Kompetenz und wiederentdeckter Anstrengungsorientierung sollte das „gute“ Lehrwerk folgende Kriterien erfüllen: Das gute Lehrwerk gründet nicht auf einer einzigen - nämlich grammatischen - Progression. Vielmehr bietet es Progressionen auch in den Bereichen Pragmatik, kulturelle Bezüge, Lerntechniken/ Lernstrategien und Arbeitstechniken. Das gute Lehrwerk arbeitet nach dem spiraligen, nicht nach dem linearen Progressionsprinzip. Das gute Lehrwerk öffnet Fenster zu anderen Fremdsprachen und bereitet auf nachfolgendes (Leben begleitendes) Sprachen- und Kulturen-Lernen vor. Das gute Lehrwerk bietet keine um grammatische Phänomene herumkonstruierten künstlichen und motivationsarmen Leittexte. Vielmehr bietet es authentische Texte (challenging and meaningful für die Schüler) als rich input für ein individualisiertes Lernen (individual intake). Im guten Lehrwerk erscheinen die grammatischen Phänomene im Kontext kommunikativer Bedürfnisse. Das gute Lehrwerk bietet mehr Texte unterschiedlichsten Zuschnitts, als im Unterricht „durchgenommen“ werden können. Das gute Lehrwerk ist stets auch individuelles Lesebuch. Es vernetzt Schriftsprachlichkeit, scripted speech und kommunikative Mündlichkeit, und es ist auch jenseits des Unit-/ Theme-Teils ein gerne konsultiertes Vademekum der Schüler, weil es gerade hier Hilfestellungen und Impulse (i.e. Language in Focus-Seiten, How to-Seiten, Study- Skills-Seiten) zu geben vermag. Das gute Lehrwerk fördert die Kommunikation zwischen den Schülern durch entsprechende Übungen und Handlungsanregungen. Es hilft aktiv bei der Entwicklung eines anspruchsvollen classrooom discourse. Das gute Lehrwerk ist Ausgangspunkt für eine über das Lehrwerk hinausgehende Lektüre und es ist Angelpunkt für weiterreichende kommunikative und kulturenorientierte Aktivitäten. Schließlich integriert das gute Lehrwerk die Erfordernisse und Möglichkeiten der „neuen Evaluationskultur“ (Referenzrahmen, Portfolio, lernerfolgsorientiertes communicative testing, Vorbereitung auf Maßnahmen des large scale assessment über entsprechende Lernaufgaben). 44 Otfried Börner, Christoph Edelhoff, Karlheinz Rebel, Torben Schmidt, Konrad Schröder 40 (2011) • Heft 2 Bei der Lehrwerkentwicklung wird im Idealfall Expertise gebündelt durch ein erfahrenes Autorenteam von im Kern drei bis fünf Autoren, ein wachsames Team von fünf bis sieben Gutachtern, durch eine professionell arbeitende Redaktion mit einem Kern von drei bis fünf Mitarbeitern sowie über mehrere Revisionsdurchgänge bis zur endgültigen Drucklegung. 8. Das ideale Lehrwerk Im Rahmen einer mehrtägigen schulinternen Fortbildung in einer Gesamtschule wurden die Teilnehmer gebeten, ihre Vorstellung von einem idealen Lehrwerk aufzuschreiben (vgl. B OHNSACK / B ÖRNER 2008). Es ist aufschlussreich zu erfahren, welche Anforderungen ein relativ entwicklungsbereites Kollegium stellt. Deshalb sollen im Folgenden einige der Äußerungen als wörtliche Zitate vorgestellt werden. „Das ideale Lehrwerk für mich ist authentisch, abwechslungsreich, übersichtlich, ansprechend, effektiv, voller spannender Themen, easy for both teachers and pupils to follow and sets out clear guidelines.“ „Das ideale Lehrwerk für mich gibt mir Hilfen, Anregungen, Projektideen, Ressourcen, differenzierende activities, genügend Freiraum, a multiplicity of themes, which can be connected and expanded by the users.“ „Das ideale Lehrwerk für mich sieht den Schüler im Mittelpunkt, als Individuum, as creative user of language, als aktiven ,Macher‘, as a key player… of what and how to learn.“ „Das ideale Lehrwerk verlangt vom Lehrenden/ Lernenden Mut zum Experimentieren, sich auf aktuelle und neue Themen einzulassen, sich mit den Inhalten auseinander zu setzen, involvement, strukturiert und eigenverantwortlich arbeiten zu können.“ „Das ideale Lehrwerk für mich leistet Differenzierung, Methodenvielfalt, Projektidee, Kreativität, viel Vorarbeit, Anregungen zu kritischem Denken, effektive Lernhilfen, einen Beitrag zur Völkerverständigung.“ „Das ideale Lehrwerk für mich führt zu einem Unterricht, der abwechslungsreich ist, Spaß macht, selbstständiges Umgehen mit dem Buch ermöglicht, z.T. fächerübergreifend ist, stimulates and facilitates successful learning, vom Schülerinteresse ausgeht, eigenes Entdecken möglich macht.“ „Das ideale Lehrwerk muss strukturiert und übersichtlich sein, ansprechend gestaltet und motivierend sein, neugierig machen, effektiv sein, have topics which are relevant, develop L, S, R, W in a circular progression, encourage creativity.“ „Das ideale Lehrwerk darf nicht zu umfassend und mit Informationen überladen sein, grammatiklastig und meaningless sein, einengen, langweilen, pointless exercises enthalten“. Funktion und Profil von Lehrwerken in der Epoche von Standards und Kompetenzen 45 40 (2011) • Heft 2 9. Im Übrigen Versucht man die schulpädagogischen, curricularen und fachlichen Vorgaben, die Sachzwänge und die Vorstellungen von Wissenschaft und Praxis bei der Gestaltung eines zeitgemäßen Lehrwerks unter einen Hut zu bekommen - ohnehin eine utopische Aufgabe - so ist damit immer noch und immer wieder die Rechnung ohne den Wirt gemacht, weil Schulbücher den Schulbehörden der Bundesländer zur Genehmigung vorzulegen sind und diese oftmals nur die eingeschränkten Interessen der betreffenden Region im Auge haben. Es bleibt abzuwarten, ob die nationalen Bildungsstandards auch in dieser Hinsicht einen Vereinheitlichungseffekt erzielen werden. Literatur A MOR , Stuart (1999): „Authenticity in the Language Classroom“. In: Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 5, 4-10. B ACH , Gerhard / T IMM , Johannes-Peter (Hrsg.) (1989): Englischunterricht. 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