eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 41/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2012
411 Gnutzmann Küster Schramm

Förderung von Medienkompetenzen

61
2012
Laurenz Volkmann
flul4110025
41 (2012) • Heft 1 © 2012 Narr Francke Attempto Verlag L AURENZ V OLKMANN * Förderung von Medienkompetenzen Abstract. The present contribution offers a survey of recent changes in the definition, conceptualization and application of media literacies, from literary literacy to various forms of multimodal and multimedia multiliteracies. It argues in favour of defining and applying different forms of media competence as an interdisciplinary project. It can be argued that providing learners with such skills is one of the most essential teaching-learning objectives in today’s globalized and media-shaped FLT environments. In addition, the ubiquitous and all-pervasive impact of the media, especially through hybrid, digital forms such as the Internet, the World Wide Web and the interactive Web 2.0 demands the close cooperation of Digital Natives and Digital Immigrants to bridge the digital divide that seems to jeopardize the information exchange between today’s teachers and learners. In this context, the rapidly changing definitions and conceptualizations of media competence need to be constantly adjusted to meet current demands of the FL classroom. 1. Zur Konjunktur der Forderung nach Medienkompetenz Es überrascht nicht, dass sich die geisteswissenschaftlichen Fächer und Disziplinen schon von ihrer Nomenklatur her fast durchgehend von einer philologisch oder literaturwissenschaftlich geprägten Ausrichtung sukzessive einem textbzw. kulturwissenschaftlichen Paradigma zugewandt haben. Der letzte turn hin zur Medienwissenschaft ist wohl aus dem einfachen Grund heraus noch nicht vollzogen, dass der Begriff „Medien“ deutlich eher mit visuellen bzw. multimedialen, digital-elektronischen Bedeutungsträgern wie Film, Fernsehen, Bildern oder dem Internet assoziiert wird. Ähnliches lässt sich für die fremd- und auch muttersprachlichen Didaktiken konstatieren: Während sich die Literaturdidaktik inzwischen längst zu einer integrativen Text- und Kulturdidaktik transformiert hat (vgl. z.B. B LELL / K RÜCK 1999), steht die Mediendidaktik oftmals noch relativ unverbunden für sich, und sie wird tendenziell eher weniger mit literarischen oder expositorischen Print-Texten in Verbindung gebracht als vielmehr mit visuellen „Texten“ und vor allem mit neuen oder neuesten Medien (vgl. z.B. D ECKE -C ORNILL / K ÜSTER 2010). Die Mediendidaktik hat Konjunktur. Mit der raschen Zunahme der Forderung nach medialen Kompetenzen im Medienzeitalter verbreitet sich gleichzeitig die begriffliche Unschärfe bei der Definition von Medien und Medienkompetenzen. Es mehren sich die Fragestellungen dazu, welche Formen von Medienkompetenzen es im Allgemeinen * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Laurenz V OLKMANN , Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Anglistik/ Amerikanistik, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 J ENA . E-Mail: l.volk@uni-jena.de Arbeitsbereiche: Literatur-, Kultur- und Mediendidaktik, interkulturelles und transkulturelles Lernen. 26 Laurenz Volkmann 41 (2012) • Heft 1 und im Besonderen mit welchen Schwerpunktsetzungen und welchen Vermittlungsformen zu fördern gilt. In diesem Beitrag soll zunächst kurz am repräsentativen Beispiel der veränderten Einstellung zu und Gewichtung der so genannten visual literacy aufgezeigt werden, wie durchgreifend sich Perspektiven auf die Medienkompetenz innerhalb weniger Jahrzehnte geändert haben. Anschließend gilt es, in Anlehnung an gängige Modelle aus dem Bereich der Medienwissenschaft und Mediendidaktik sowohl den Terminus Medien wie applizierbare Medienkompetenzmodelle mit konkretem Bezug auf den fremdsprachlichen Unterricht vorzustellen. Es wird sich dabei zeigen, dass durch veränderte Medien- und Medienkompetenzkonzepte veränderte Fragestellungen für die praktische Integration von Medien im Bereich Kompetenzentwicklung entstehen. Diese lassen sich hier stichpunktartig und in der gebotenen Kürze anhand von zehn Veränderungsmomenten darlegen. Es soll dabei argumentiert werden, dass eine eingehende und durchdachte Steuerung des Medieneinsatzes im Unterricht von Nöten ist, wenn aus der befürchteten media hell eher ein media heaven, aus der jugendlichen Tendenz zur „Medienverwahrlosung“ eher eine schülerorientierte „Demokratisierung des Lernens“ werden soll (vgl. B LELL / K UPETZ 2005; V OLKMANN 2005). Eine gewandelte Einstellung zu und Bedeutung von Medienkompetenzen zeigt sich am anschaulichsten und exemplarischsten am Beispiel der visual literacy, deren unterschiedliche Spielarten beispielsweise als visuelle Literarizität, Fernseh-, Film- oder Bildkompetenz oder als Unterformen der multiliteracy oder multiliteracies in unterschiedlichen Definitionen auftauchen (vgl. z.B. B LELL / K UPETZ 2005). Bilder und Illustrationen galten im Fremdsprachenunterricht lange primär als Lernhilfe, und der Einsatz von Filmen beispielsweise war tendenziell ein Bonus am Ende einer Unterrichtsreihe zu einem literarischen Text, bei der man die Verfilmung in den Stunden vor den Ferien zeigte. Ende der 1980er Jahre wies beispielsweise Inge S CHWERDTFEGER aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache auf gängige Missverständnisse hin: „In fremdsprachendidaktischen und -methodischen Entscheidungen wurde bisher vorwiegend berücksichtigt, daß Sprachverstehen erheblich von der visuellen Wahrnehmung des Sprachbenutzers abhängt. Völlig vernachlässigt bleibt jedoch die Tatsache, daß die visuelle Wahrnehmung eine zentrale Bedeutung für die individuelle Sprechfähigkeit und Sprechlust hat“ (S CHWERDTFEGER 1989: 24). Vermehrt traten Aspekte der non-verbalen Encodierung beim Kommunikationsprozess in das Blickfeld wie Mimik, Gestik, Körpersprache und Proxemik, überhaupt die Beachtung von Musik und Visuellem beim zur Betrachtung und zur sprachhandelnden Imitation und Ausarbeitung anregenden medialen Beispiel. Musste Engelbert T HALER in einer richtungsweisenden Münchener Dissertation zum Thema Musikvideoclips aus dem Jahre 1999 noch in defensiver Haltung gegenüber bildungstheoretischen und medienkritischen Positionen ein mit didaktisch-kompetenzorientierten Argumenten gesättigtes Plädoyer für die vielen Medienkritikern traditioneller Couleur suspekte Simulakrum-Welt von MTV formulieren (T HALER 1999), so markiert der Basisartikel zum Themenheft Teaching films der zwischen Theorie und Anforderungen der Praxis vermittelnden Zeitschrift Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch aus der Feder von Förderung von Medienkompetenzen 27 41 (2012) • Heft 1 Carola S URKAMP im Jahre 2004 einen programmatischen und paradigmatischen Einschnitt in der didaktischen Diskussion zum Einsatz visueller Medien. Wird hier doch von Anfang an die bewusste Reflexion über die in visuelle Medien eingeschriebenen En- und Decodierungsprozesse als integraler Bestandteil des Fremdsprachenunterrichts begriffen (vgl. S URKAMP 2004: 20). Dabei geht es nicht um eine simple Substitution gängiger Praktiken der Literaturdurch solche der Filmanalyse. Vielmehr sollen mannigfaltige, dem visuellen Medium adäquate Zugangsweisen eingesetzt werden, welche über die Analyse hinaus lerner-, prozess-, handlungs- und produktorientierte, produktive und kreative Verfahrensweisen umfassen und damit Kompetenzentwicklungen in einem breiten Spektrum ermöglichen. 2. Zielsetzungen der Medienkompetenz im Fremdsprachenunterricht Dem visual turn folgte die Forderung nach visual skills, also im fremdsprachlichen Unterricht dem kompetenten Erkennen von und Umgang mit durch kulturspezifische Bedeutung aufgeladenen visuellen Zeichen, von Körpersprache über Text-Icons bis zu zielkulturspezifisch encodierten Filmen, Videos und Bildern. Wenn visuelle Zeichen mit textuellen und/ oder auditiven Zeichen in einem medialen Verbund auftauchen, wie paradigmatisch in den Hypertextstrukturen des Internets, erweitert sich die Kompetenzanforderung von der visual literacy zur multiliteracy. Die fortgeschrittene Lesekompetenz (literary literacy) wird in didaktischen Kreisen hingegen eher der Bildung bzw. Kompetenzentwicklung im literarisch-ästhetischen Bereich zugeordnet (vgl. z.B. D ECKE -C ORNILL / K ÜSTER 2010: 249-252). Betrachten wir allerdings die Begriffsdefinitionen von Medien sowie daran angelehnt diejenigen von Medienkompetenz, erscheint eine integrative, (literarisch-)ästhetische Konzeptualisierung und Umsetzung der vielfältigen literacies geeigneter und ertragreicher. Die gängige Kategorienbildung von Mediendidaktik einerseits, Literaturbzw. Kulturdidaktik andererseits erscheint hier nicht haltbar und ist - genauso wie generelle Unklarheiten mit Bezug auf den Terminus „neue Medien“ - emblematisch für den Zustand der „nach wie vor […] große[n] Verwirrung um den Medienbegriff“ (F AULSTICH 2002: 19). Es gilt inzwischen als Allgemeinplatz, dass mit der Verbreitung jedes neuen Mediums sich zugleich das gesamte mediale Gefüge verschiebt - damit wird nicht nur einem am Ende des 20. Jahrhunderts noch „neuen Medium“ wie dem Fernsehen der einflussreiche Status der Novität genommen, sondern es verändern sich zugleich durch das Internet, dem nun „neuen Medium“, Verhalten wie Einstellung der Mediennutzer. Offensichtlich ist die Unterscheidung zwischen alten und neuen Medien also wandelbar und zeitabhängig, ebenso wie in didaktischen Kontexten die Trennung zwischen didaktisierten und nicht-didaktisierten Medien bei genauer Betrachtung zweifelhaft sein mag: Denn im didaktischen Kontext wird jedes Medium auf bestimmte Weise didaktisiert, d.h. als Mittel für didaktische Zwecke nutzbar gemacht. Es sei dabei an eine weitere zentrale Feststellung der Medienwissenschaft erinnert, die im didaktischen Diskurs 28 Laurenz Volkmann 41 (2012) • Heft 1 stärker zu berücksichtigen wäre: dass es genaue Definitionen von Medien gibt, die diese eben als technische und nicht-technische Mittler bzw. Instrumente verstehen, die einen bestimmten Inhalt von einem Sender zu einem Empfänger bzw. Publikum vermitteln. Dabei erscheint eine genauere Typologisierung von Nöten (Terminologie nach F AULSTICH 2002: 25): • Primärmedien (Menschmedien; im Unterricht vornehmlich die Lehrkraft, aber z.B. auch Lernende, wenn sie kommunikativ als Vermittler auftreten) • Sekundärmedien (Schreib- und Druckmedien; z.B. Schülerbuch, Text-/ Bildmaterialien usw.) • Tertiärmedien (elektronische Medien; z.B. Fotografien, Hörfunk, Video, Film, Handy usw.). Der Übergang zur folgenden Rubrik ist allerdings fließend. • Quartärmedien (digital-elektronische Medien, im Folgenden vereinfacht digitale Medien genannt): Darunter fallen der Computer, Multimedia, E-Mail, das World Wide Web, Intranet - somit Medien, die durch Elemente der digitalen Vernetzung, der Interaktivität und Multimedialität gekennzeichnet sind. Definitorisch sind, wenn auch sicherlich nicht ganz zutreffend (vgl. F AULSTICH : ebd.), die digitalen Medien in der Regel mit dem Internet und dem World Wide Web verbunden. Bedeutsam für didaktische Kontexte ist der neue, dynamisch radikal erweiterte Funktionsbereich des Internets als „multimediale Integrationsplattform“ (S CHLICKAU 2009: 127), erlaubt sie doch zudem eine weitgehende Überwindung räumlicher und/ oder zeitlicher Distanzen. Aus didaktischer Sicht ist das Internet ein Mitmach-Hybridmedium, in dem sich nach S ANDBOTHE (2001: 168) „Aspekte des Fernsehens, des Telefons, des Radios und des Buchdrucks [...] verbinden.“ Dabei werden, so S AND - BOTHE (ebd.) weiter „kulturell habitualisierte Nutzungsformen, die sich im Umgang mit den alten Medien (Buchdruck, Radio, Fernsehen, Video) entwickelt haben, auf das Internet übertragen und transformativ miteinander verflochten.“ Die sich daraus ergebenden Veränderungsmomente des Fremdsprachenunterrichts wären demnach: weiter verstärkte (virtuelle) Öffnung des Klassenzimmers unter Verwendung des World Wide Web als (metaphorischem) „Fenster“ zu interkultureller Kommunikation und zu interkulturellem Informationsaustausch; Ergänzung der Stimme durch visuelle oder andere auditive Elemente (wie dies im Hör-Sehverstehen gegenwärtig stark propagiert wird); Ablösen der Lehrerzentrierung durch aktive Partizipation der Lernenden an Informationsquellen und Communities des Internets (aktive Mitarbeit an Wiki-Projekten oder an der Wikipedia-Enzyklopädie); Auflösung strenger Wissenshierarchien durch stärkere Schülerzentrierung (Stichwort: Lehrkraftrolle als guide on the side, not sage on the stage). Weitere wesentliche Impulse des Internets für den (Fremdsprachen-)Unterricht sollten ergänzend berücksichtigt werden: Die Individualisierung und multisensorische Ausrichtung des Lern- und Informationsverarbeitungsprozesses, dazu Authentizität und Aktualität der offerierten Wissens- und Informationsbestände (S CHLICKAU 2009: 375). Damit lässt sich nicht allein schlussfolgern, dass das Internet qua seiner eigenen Medialität Lerner- und Handlungsorientierung einfordert, sondern auch, dass es, unter gewissenhafter und nachhaltig Förderung von Medienkompetenzen 29 41 (2012) • Heft 1 unterstützender Leitung einer Lehrkraft, geradezu auf die mediale Kompetenzentwicklung drängt. Die sich im Umgang mit dem Internet emblematisch herauskristallisierenden Medienkompetenzen sind vielfach und immer wieder definiert worden. Dabei haben sich in verschiedenen Abwandlungen Kompetenzkonzepte durchgesetzt, welche der Mediendidaktiker Dieter B AACKE bereits 1997 in einem dreistufigen Kompetenzmodell entwickelte. Medienkompetenz entwickelt sich demnach über eine auf technischen Fähigkeiten basierende Benutzerkompetenz zu aktiven medialen Handlungskompetenzen bis zu kritisch-reflexiven, problemorientierten Fähigkeiten des Bewertens und Verhaltens (B AACKE 1997). Im Wesentlichen spiegelt dieses Kompetenzmodell die im angelsächsischen Raum und zugleich bei Michael B YRAMS interkulturellem Kompetenzmodell übliche Kompetenz-Trias von (deklarativem und prodeduralem) knowledge, (transferierbaren) skills und (abwägenden, emotional und kognitiv zu definierenden) attitudes (vgl. V OLKMANN 2010: 165; V OLKMANN 2011). Weitergehend hat Norbert G ROEBEN (2002; vgl. auch F AULSTICH 2002: 329-331) ein aus sieben Ebenen bestehendes Modell der Medienkompetenz entworfen. In Anlehnung an dieses Modell und unter Verwendung der bei G ROEBEN benutzten Terminologie sei hier kurz ein speziell auf die Fremdsprachendidaktik applizierbares Kompetenzmodell vorgeschlagen: 1. Medienkompetenz als Fähigkeit, zwischen Medialität und Realität zu unterscheiden: Die Lernenden erkennen insbesondere mit Blick auf die mediale Darstellung von Eigen- und Fremdkultur, wie diese durch die jeweiligen Medien subjektiv und medienspezifisch eingefärbt sind. Sie erkennen, dass zielkulturelle Realitäten sich je nach medialer Präsentation formen und dass bestimmte Präsentationen stets bestimmten Zwecken dienen (z.B., um eine Touristenperspektive zu fördern oder ein einseitig negatives Bild der Zielkultur zu propagieren). Hier ist besonders das Thema Auto- und Heterostereotype in der medialen Präsentation zu thematisieren. 2. Medienkompetenz als Erwerb medienspezifischer Rezeptionsmuster: Die Lernenden erkennen, wie bestimmte Medien bestimmte Erwartungshorizonte bezüglich der Rezeption aufbauen und entwickeln kognitive Verarbeitungsmuster („Genrekompetenz“). Die Lernenden werden dazu befähigt, Medien funktional gemäß ihren eigenen Bedürfnissen und Dispositionen zu nutzen (von der Evaluation themenbezogener Websites bis zum Umgang mit Online-Wörterbüchern). 3. Medienkompetenz als Genuss- und Unterhaltungskompetenz: Im Sinne der Motivation und des lebenslangen Lernens bezieht sich dies auf die Fähigkeit, aus dem Medienangebot „spezifischen Lustgewinn und emotionalen Nutzen“ (F AULSTICH 2002: 330) zu ziehen. Anders und didaktischer formuliert: Die Lernenden sollen dazu befähigt werden, die für ihre Lernprozesse passenden, ihre jeweilige sensorische Disposition ansprechenden Medien zu erkennen und nutzbar zu machen. 4. Medienkompetenz als Fähigkeit zur Medienkritik: Hier gilt es, der einer Medienüberflutung inhärenten Gefahr der ästhetischen Niveaureduzierung und ethisch- 30 Laurenz Volkmann 41 (2012) • Heft 1 moralischen Anything-goes-Mentalität kritisch-reflexiv begegnen zu können. Dem entsprächen Unterrichtsverfahren und -aktivitäten, die Lernende dazu befähigen, Medien und ihre spezifischen Wirkungs- und Manipulationsmuster zu analysieren, zu kritisieren und negativen Prozessen gegebenenfalls im Sinne aufgeklärter, mündiger und verantwortlicher Verbraucher entgegenzuwirken. Hier erscheinen medienkritische Herangehensweisen an globale Themen wie Umweltverschmutzung, Kinderarbeit, Konsumorientierung und übermäßige Mediennutzung als geeignete Lerninhalte, wobei besonders auf Medienprodukte zurückgegriffen werden sollte, die kritische Positionen vertreten. 5. Medienkompetenz als kombinatorische, orientierungsgestützte Kompetenz: Die Lernenden werden dazu befähigt, sich aus dem gesamten zur Verfügung stehenden Medieninventar Themen und Medien funktional für das gewünschte Thema, Lernziel oder das für den Kompetenzerwerb Nötige auszuwählen. Damit ist eine Selektionswie Kombinationskompetenz angesprochen, die als multisensorische, multimodale und multimediale multiliteracy in der heutigen komplexen Medien- und Informationsgesellschaft handlungsfähig macht. In diesem Sinne wäre die Kombination von „Texten“ oder besser Medien - auch in den jeweiligen pre-, while- und post-reading-Phasen - möglichst multimedial zu gestalten. Damit kann das Interplay der Medien insgesamt wie auch die Wirkung und Funktion jedes medialen Produkts für sich erkannt und nutzbar gemacht werden. Im weitesten Sinne wäre hier auch die in gängigen Lehrplänen aufgeführte kommunikative Fähigkeit zu verstehen, „Arbeitsergebnisse mit mediengerechter Unterstützung [zu] präsentieren“ (Lehrplan NRW [zit. nach V OLKMANN 2010: 220]). 6. Medienkompetenz als Fähigkeit und Fertigkeit, sich adäquat und aktiv an medial gestützten Kommunikationsprozessen zu beteiligen. Dies bedeutet, dass Lernende eine breite Palette an Medien mit den jeweiligen fremdsprachlichen Kommunikationsmustern kennenlernen und sich entsprechende medienspezifische Kommunikationsfähigkeiten und -fertigkeiten aneignen. Dem entsprechen Konzepte der lernstrategischen Kompetenzen, d.h. beispielsweise „Materialien für selbstgesteuertes Lernen organisieren und nutzen“ (Lehrplan NRW, zit. in: V OLKMANN 2010: 220). Die mediale Skala reicht hierbei von kurzen Telefongesprächen über E-Mails bis zu Briefen, Hörspielen, Filmen und Multimedia-Werken. Die Schülerinnen und Schüler erlernen es dabei, „den kreativen Einsatz von Medien als mögliche Instrumente für Identitätsbildung, Selbstverwirklichung und Wirklichkeitskonstruktion“ (F AULSTICH 2002: 330) zu erkennen und für sich nutzbar zu machen. 7. Medienkompetenz als Anschlusskompetenz für interkulturelle Kommunikation: Die Medienkompetenz wird dabei als unverzichtbarer integraler Bestandteil der interkulturellen kommunikativen Kompetenz begriffen. Es gilt dabei, die eigene Medienkommunikation im Bezug zu den in den Zielkulturen sprachlich wie sozial konventionalisierten und habitualisierten, medial gestützten Austauschprozessen abzugleichen und zu regulieren. Dies bedeutet zudem, die Lernenden dazu zu befähigen, sich in unterschiedlichen medialen Kontexten auf die jeweils ande- Förderung von Medienkompetenzen 31 41 (2012) • Heft 1 ren Medienkulturen einzustellen den stillschweigend akzeptierten Erwartungshaltungen entsprechend zu reagieren. Bezogen auf die Peer-Group der Lernenden hieße dies, in noch stärkerem Maße als bisher die in den Zielkulturen verhandelten Medienformate und Medieninhalte (wie Fernsehen, Facebook, YouTube usw.) zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Die hier diskutierten sieben Bedeutungsdimensionen von Medienkompetenz im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts bedürfen der Ergänzung durch die Erörterung zweier grundsätzlicher Fragestellungen der Kompetenzvermittlung. Die erste Fragestellung ist dabei, ob sich bestimmte Kompetenzen, d.h. hier Medienkompetenzen, ohne Bindung an fachliche, hier fremdsprachliche, Inhalte rein kompetenzorientiert vermitteln lassen. Grundsätzlich erscheint ein solches Verfahren genauso möglich wie ein rein inhaltorientiertes: Wenn also der fremdsprachliche Literaturunterricht traditionell an die Vermittlung literaturimmanenter, beispielsweise literaturhistorischer Inhalte gebunden war und sich im Zeitalter der Kompetenzorientierung in Richtung der Förderung literarisch-ästhetischer Fertigkeiten und Fähigkeiten neu ausrichtet, warum sollte dann der auf das Internet gestützte Unterricht nicht - ohne inhaltliche Schwerpunktsetzung - auch rein kompetenzorientiert sein, zumal die digital-elektronischen „Medienverbünde verbesserte Fördermöglichkeiten von Lernprozessen versprechen“ (S CHLICKAU 2009: 15)? Es kann auch argumentiert werden, dass gerade das Internet „innovative Lerninhalte [ermöglicht], die mittels neuer Medien vereinfacht oder gar grundsätzlich erst vermittelbar sind“ (ebd.: 15). Dennoch scheint im Fremdsprachenunterricht eine Konzentration auf die dem Fach inhärenten Lerninhalte und Kompetenzbereiche von primärer Bedeutung. Eine zielkulturell ausgerichtete Inhalts- und Themenorientierung erscheint dann besonders vielversprechend, wenn kulturell essenzielle Inhalte (key issues) auswählt werden, in denen sich sowohl kulturspezifische wie global-universal bedeutsame und inhaltsschwere Themenkomplexe finden, die zudem medial unterschiedlich de- und encodierbar sind. Wenn bei einem kompetenzorientierten Unterricht eingehend berücksichtigt wird, wie ein spezifisches Thema sich in verschiedenen Medien jeweils medienspezifisch wie auch im Verbund der Medien ausdrückt, sind bereits wesentliche Voraussetzungen für die Förderung von Medienkompetenzen bei den Lernenden geschaffen. Entsprechend sollte Medienkompetenz stets in Verbindung mit anderen fremdsprachlichen Kernkompetenzentwicklungen gesehen werden. Diese konventionell erscheinende Ansicht verbindet sich allerdings mit einer veränderten prinzipiellen Einstellung zum Medieneinsatz im Unterricht. Hier galt lange das Leitprinzip: Der Medieneinsatz ist einerseits „in Abhängigkeit von Lernzielen und Lerndispositionen zu treffen“ (ebd.: 61), andererseits gälte es, Medien-Overkill zu vermeiden: Je technisch einfacher das Medium, desto einfacher und leichter schien seine Instrumentalisierung als Medium der Vermittlung von Fremdsprachenkompetenzen. Inzwischen ist, wie dargestellt, die Omnipräsenz der Medien in alltäglichen und damit auch in interkulturellen Lebensbereichen derart exponentiell gestiegen, dass die Medien wie die mediale Prägung jeglicher menschlicher Kommunikation selbst zum Gegenstand des Unterrichts 32 Laurenz Volkmann 41 (2012) • Heft 1 werden können und sollten (vgl. K ÜSTER 2002). Anders formuliert: Wer als Lehrkraft noch meint, nur talk and chalk, Lehrbuch und ein gelegentlicher Zeitungsartikel bereiten adäquat auf das Abitur und die spätere Zeit als Fremdsprachennutzer und -lerner vor, der ignoriert auf geradezu sträfliche Weise, dass die oben genannten sieben Medienkompetenzen als lebenslange Aneignungsaufgabe für die heutige Medien- und Informationsgesellschaft von essenzieller Bedeutung sind. 3. Zehn Veränderungsmomente der Medienkompetenz Im Zeitalter der global zirkulierenden digitalen Informationsfluten trifft auf Medienkonzepte wie auf Konzepte der Medienkompetenz in abgeänderter Form ein bekanntes Diktum des Wirtschaftswissenschaftlers Joseph S CHUMPETER zum Wesen des Kapitalismus zu: Sie sind einem permanenten Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ ausgesetzt. Die Dynamik der Veränderungsmomente schafft ständig neue Realitäten, in unserem Fall die einer zunehmend medial vermittelten und medial wahrgenommenen Wirklichkeit. Frühere mediale Welten und damit die entsprechend nötigen Kompetenzen werden damit sukzessive transformiert. Wenn wir dazu die früher relativ fest umrissenen Zielkulturen des Fremdsprachenunterrichts als komplexe kulturelle und linguistische Gebilde begreifen, denen mit einer globalen Perspektive zu begegnen ist, so kommt ein weiteres dynamisches Element, jenes der cultures as moving targets hinzu. Auch und gerade im Fremdsprachenunterricht erfordern diese Umwälzungsprozesse sich ständig wandelnde Kompetenzkonzepte. Im Folgenden seien zehn wesentliche Konstituenten dieser fortschreitenden Ausrichtung auf sich rasant wandelnde Medienrealitäten genannt. 1. Die Omnipräsenz der digitalen Medien sowie unsere Abhängigkeit von ihnen führen zunehmend zu einem „mediatisierten“ Blick auf die Welt. Im Sinne des oben genannten ersten Aspekts der Medienkompetenz als Fähigkeit, zwischen echter Realität und medial vermittelter Realität zu unterscheiden, wird es sich als fächerübergreifende Aufgabe erweisen, Heranwachsende durch medienanalytische und medienkritische Herangehensweisen für die jeweils medienspezifischen Darstellungsmodi zu sensibilisieren. Einige einfache Beispiele: Ein Eintrag in Wikipedia ist nicht unbedingt ohne tendenziöse Einfärbung und kann etwa von kommerziellen Interessen der Beiträger geleitet sein. Die Internetdarstellung eines fremden Landes oder einer fremden Region entspricht nicht unbedingt der Selbstwahrnehmung einzelner Individuen oder ganzer Bevölkerungsgruppen. Ein Dokumentarfilm reflektiert nicht gänzlich die Realität, nur weil er keine fiktiven Elemente aufzuweisen scheint. 2. Veränderte Medienwelten bestimmen veränderte Wahrnehmungs-, Kommunikations- und sogar Handlungsmuster. Hier gilt es für den Fremdsprachenunterricht, auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Gerade die sozialen Netzwerke, Chat-Foren, E-Mail-Gruppen usw. schlagen sich in veränderten sprachlichen Gewohnheiten Förderung von Medienkompetenzen 33 41 (2012) • Heft 1 nieder, in sprachlichen Kürzeln, Emoticons, Icons und anderen visuellen und zeichenartigen Kommunikationssignalen, die ihrerseits Denken und Kommunikation beeinflussen. Einige typische Beispiele: Mangelnde Berücksichtigung von Rechtschreibregeln ist auch auf User-Gewohnheiten bei SMS-Texten und beim Chatten sowie auf automatische Korrekturprogramme zurückzuführen. Zwar mag sich die neue Generation die Fertigkeiten des scanning und skimming teilweise intuitiv beim Computergebrauch selbst aneignen, es geht aber zugleich die Fähigkeit zum genauen und fokussierten Lesen verloren, genauso wie der Wille, längere Texte konzentriert zu rezipieren. Es sollte im Sinne der literacy weiterhin darauf geachtet werden, dass intensive gleichberechtigt neben extensiver Lesesozialisation angestrebt wird. 3. Die Blickrichtung wird sich noch mehr in Richtung einer konstruktivistischen Einstellung zu den Medien verändern. Die traditionelle, kritische oder skeptische Haltung gegenüber den Medien wird sich entsprechend weiter zu einer pragmatischen Position verändern. Die Grundsatzfrage „Was tun die Medien mit uns? “ verschiebt sich weiter innerhalb eines fundamentalen Theorienwandels (F AUL - STICH 2002: 37) zu der Fragestellung: „Was tun wir mit den Medien? “ Didaktisch gewendet lautet die Fragestellung nun: „Wie können SchülerInnen dazu kommen, die Medien möglichst effektiv und kompetent für den individuell bestimmten Fremdsprachenerwerb zu nutzen? “ Mediennutzer werden nun weniger als Kunden, Konsumenten, Zuschauer, Zuhörer verstanden, sondern als Produzenten, Empfänger, Sender, als kreative, gewitzte und produktive Mediennutzer. Da konstruktivistischen Menschenbildern gemäß der Lernende sich Wissensbestände mit Rückgriff auf die eigenen Kenntnisse der Welt, seine Erfahrungen und Zielvorstellungen aneignet (vgl. etwa H ERMES 1998: 222), neigten erste didaktische Stimmen zum Internet zu euphorischen Lobgesängen, glaubte man hier doch das konstruktivistischen Vorstellungen kongeniale Medium erhalten zu haben, steht doch dem Individuum zum selbstgesteuerten und individualisierten Wissenserwerb ein endloses Datenmeer für den unmittelbaren Zugriff zur Verfügung (vgl. die Diskussion bei V OLKMANN 2005). Didaktische Leitprinzipien wie Individualisierung und Binnendifferenzierung schienen nun in dreierlei Hinsicht direkt umsetzbar: Lernende können Ort und Zeit der Lernaktivitäten selbst wählen; sie können in Online-Szenarien oder vermittels Lernersoftware individuell gefördert werden, um allgemein gestellte Lernziele zu erreichen; und schließlich können individuelle Interessen und Motivationslagen berücksichtigt werden (vgl. S CHLICKAU 2009: 376). Inzwischen ist die anfängliche Hochstimmung einer realistischeren Sichtweise gewichen, welche angesichts der Überfülle an Wissensmaterial und -quellen im Internet gerade die Techniken und Strategien der Wissensbeschaffung und Wissensverarbeitung fokussiert. Damit geht einher, dass die Forderung nach Medienkompetenzen weiterhin deutlich Konjunktur haben wird. 4. Früher galt das Prinzip, dass Lehrkräfte vermittels der Medien lehren. Inzwischen gilt immer mehr die Realität, dass die Medien die wahren Lehrer sind. Bereits das Fernsehen wurde als die heimliche außerschulische und einflussreiche Wissens- 34 Laurenz Volkmann 41 (2012) • Heft 1 vermittlungsinstanz bezeichnet. Diese Tendenz hat sich fortgesetzt: Durch die vielfältigen Edutainment-Formate (Galileo, History Channel usw.) und die Möglichkeit, fremdsprachliche Filme im Original (mit oder ohne Untertitel) auf einer DVD zu genießen, kommen auch die fremdsprachlichen Länder und die dort herrschenden (sprachlichen) Verhaltensweisen, Sitten und Normen immer näher. Entsprechend sind Fernsehserien wie The Simpsons bereits für das Lernen über kultursoziologische Entwicklungen eingesetzt worden, und die Serie The West Wing empfahl man für Einblicke in die US-amerikanische Politik. Der Einsatz von Fernsehserien und YouTube-Videos wird nicht nur noch mehr zunehmen, sondern es ist auch eine Tendenz zu erkennen, den früher verpönten Seifenopern und Fernsehserien, ja sogar nichtdidaktischen Computer- und Online-Spielen einen hohen edukativen Wert zuzuschreiben. Bezeichnend hierfür ist das kontrovers diskutierte Buch des Amerikaners J OHNSON mit dem plakativen Titel Everything Bad Is Good for You (2005), in dem er akribisch nachzuweisen versucht, dass der Komplexitätsgrad heutiger Fernsehserien - von Lost bis The Sopranos oder The Wire - bei ständig wechselnder und fluktuierender Figurenkonstellation sowie der Korrelation mehrere Handlungsstränge und Zeitebenen sozusagen als immanentes mentales Fitnessstudio wirkt. Auch Computerspiele verlangen von ihren Nutzern einen hohen Grad an analytischen, reflexiven, kognitiven Denk- und Memorisierungsvorgängen, so dass hier auf andere Bereiche transferierbare Informationsverarbeitungskompetenzen geschult werden. Ohne hier das Kind mit dem Bade ausschütten zu wollen, indem nun der Fremdsprachenunterricht zum Ort der permanenten Seifenoper-Zerstreuung gerät, gilt es doch zu konstatieren, dass Schülerinnen und Schüler ihre Fremdsprachenkenntnisse als Mediennutzer inkrementell und dynamisch vorantreiben können. Es scheint noch stärker als bisher nötig, im Fremdsprachenunterricht und in Kooperation mit den Erziehungsberechtigten Impulse für die Rezeption von Fernsehen, Fernsehserien und Computerspielen in der Originalsprache zu setzen. 5. Die Vorstellung, dass die in den Zeiten der digitalen Medien sozialisierten Heranwachsenden einen Kompetenzvorsprung vor ihren Erziehern hätten, legt bewusstes Anerkennen und Eingehen auf diese Inversion des traditionellen Lehrer- Schüler-Verhältnisses nahe. Die gängige Wissensklufthypothese besagte noch, dass die Kluft sich zwischen denen öffne, die „sich souverän und funktional aller Medien bedienen, und denjenigen, die nur auf wenige und die immergleichen Medien zurückgreifen“ (F AULSTICH 2002: 329). Diese Wissenskluft ist inzwischen zu einer Kompetenzkluft geworden, wenn wir gängigen Thesen zur digital divide und zum Kompetenzvorsprung der Digital Natives gegenüber den Digital Immigrants Glauben schenken wollen. J UKES und D OSAJ beschreiben die Kluft noch eher neutral anhand von zehn Thesen, deren vier wichtigste hier exemplarisch zitiert seien (2006: 26): „1. Native learners prefer receiving info quickly from multiple multimedia sources while many teachers prefer slow and controlled release of info from limited sources. Förderung von Medienkompetenzen 35 41 (2012) • Heft 1 2. Native learners prefer parallel processing and multi-tasking while many teachers prefer singular processing and single/ limited-tasking. 3. Native learners prefer processing pictures, sounds and video before text while many teachers prefer to provide text before pictures, sounds and video. 4. Native learners prefer random access to hyperlinked, interactive, multimedia information while many teachers prefer to provide information linearly, logically and sequentially […]“. Zweifellos gilt es hier, wie vielfach in der didaktischen Literatur angeregt, den veränderten Zugang zu Wissensverarbeitungsprozessen der neuen Lernergeneration nicht allein zu beachten, sondern als Lehrkraft bewusst die neue Rolle des Lernenden, des am Wissenskonstruktionsprozess Partizipierenden, zu akzeptieren und entsprechend die größere Expertise der Lernenden in bestimmten, vor allem medientechnisch zu definierenden Gebieten in der Kooperation fruchtbar zu machen (vgl. W OLFF 2012). 6. Mit der neuen Generation der Digital Natives entwickeln sich neue Kompetenzformen des Umgangs mit digitalen Textkombinationen. Hier ist der Begriff der multiliteracies unter anderem von Bill C OPE und Mary K ALANTZIS (2000) geformt worden, um auf die Zunahme von multimedialen, multimodalen und damit höchst komplexen „Textgebilden“ hinzuweisen. Diese Komplexität wurde dabei auch als Ausdruck einer zunehmenden linguistischen und kulturellen Diversifizierung im Rahmen multikultureller Gesellschaften verstanden. Entsprechend gilt es, den Bedürfnissen und Gepflogenheiten einer digital vernetzen multikulturellen Weltgesellschaft Rechnung zu tragen, indem unterschiedliche Kommunikationsgewohnheiten Berücksichtigung finden (lineare und nicht-lineare, schriftliche und mündliche, textuelle und visuelle). Hier vertritt der multimediale, multimodale Hypertext emblematisch eine fluide „Textsorte“, die neue Zugangs- und Verwendungskompetenzen, eben die multiliteracies verlangt. Im Vordergrund der multiliteracies steht die Fähigkeit, angemessene kognitive Informationsverarbeitungsformen zu beherrschen, d.h., komplexe Bild-Text-Sound-Korrelationen zu decodieren, wie sie für das Internet sowie für Hypertexte und multimediale Settings typisch sind. Die Fremdsprachendidaktik hat hier auf die besondere Bedeutung der Entwicklung von Multiliteralität hingewiesen. So thematisiert OVERMANN (2004: 70) die didaktisch-methodischen Vorzüge von Hypertexten im Schulunterricht, indem er sie „den konstruktivistischen Forderungen nach mehr Eigenverantwortung und Autonomisierung des Lernprozesses“ zuordnet. Ähnlich hat Wolfgang H ALLET (2010) auf die Vorzüge multimodaler, multiperspektivischer Romane hingewiesen, in denen neben dem gedruckten Text auch vielförmige andere visuelle Textpassagen (Fotos, Skizzen, Cartoons usw.) neue Lese- und Decodierungskompetenzen in Anspruch nehmen. 7. Die didaktische Forderung nach Öffnung der traditionellen Trias von Lehrkraft, Lehrwerk und Klassenzimmer erhält durch die digitalen Medien einen zusätzlichen Anstoß. Tendenziell deuten schon Hypertexte auf eine Transgression konventioneller Lehr-Lern-Szenarien hin, wie Overmann formuliert: „Hypertexte ermöglichen ihren Rezipienten [...] ein höheres Maß an Aktivität, Autonomie und 36 Laurenz Volkmann 41 (2012) • Heft 1 Authentizität“ (O VERMANN 2004: 73). Doch nicht allein Online-Unterricht oder die Internetrecherche zuhause erlauben diesen Quantensprung in Richtung Authentizität und autonomer Lerneraktivität. Darüber hinaus ermöglicht die gegenüber dem prä-digitalen Zeitalter enorm gesteigerte Zugänglichkeit von Ton- und Filmmaterial den (medialen) Auftritt des native speaker im Unterrichtsraum. Wie Engelbert T HALER (2007: 12) anschaulich schreibt, werden beim Hör-Sehverstehen paralinguistische Handlungsmerkmale sichtbar, körperlose Stimmen - Thaler spricht von „disembodied voices“ - verwandeln sich in beobachtbare native speakers; auf diesem Wege werden zugleich landeskundliche Elemente seh- und verstehbar. 8. Zunehmend wird eine weitere Öffnung des Klassenzimmers in medialen Kombinationsverfahren ermöglicht. Die Tendenz vom Lehrbuch zum Laptop-Klassenzimmer ist zwar nur teilweise erkennbar, und die einstige Vision von flächendeckenden Online-Klassenzimmern bleibt vielerorts noch eine Utopie. Dennoch setzt sich die Tendenz zum ergänzenden Einsatz des virtuellen Raums in blended learning-Verfahren fort. Die ganz neuen Arbeitsformen wie z.B. kreative Bildungs- und Selbstlernformen im Pädagogikbzw. Bildungsbereich (wie z.B. das Fernstudium) stützen sich immer seltener auf die traditionellen Multimedia-Instrumente wie die CD-ROM und immer öfter auf das Medium Internet. Es werden heutzutage sogenannte offene Unterrichtsformen dank den Internet-basierten Informations- und Kommunikationstechnologien bzw. dem Medium Internet ermöglicht. Hier gilt es für Lehrkräfte, sich die entsprechenden technischen und organisatorischen Skills im Bereich des E-learning und des blended learning, also der „Kombination distanzmedialer Kommunikation mit Präsenzbegegnungen“ (S CHLICKAU 2009: 387) anzueignen. 9. Die Definition kritisch-reflexiver Medienkompetenzen wird sich weiter verändern: Definitionen verschieben sich stärker von ursprünglichen Erkenntnissen über die machtvollen Manipulationsfähigkeiten und -strategien der Medien hin zu der Einsicht, dass gerade die Medien zunehmend menschliches Handeln, Denken und Kommunizieren verändern. Es dürfte inzwischen hinlänglich erkannt worden sein, dass die elektronisch erzeugte Informationsmenge des Internets aufgrund ihrer Variabilität, Dynamik und vielfältigen vordergründig-plakativen Präsentation kein kohärentes Bildungsprogramm anbietet. Nur wenn die Pädagogik und Didaktik die Tendenzen zur konstanten Veränderung, sogar zur Atomisierung der traditionellen Wissensbestände im Internet erkennt, kann sie diesen die Aufmerksamkeit zerstreuenden und verwirrenden Tendenzen des Mediums entgegenwirken. Der Medienphilosoph Mike S ANDBOTHE (2001: 224) warnt eindringlich vor der Vernachlässigung dieser Bildungs- und Erziehungsaufgabe: „Durch die Überflutung mit digital dekonstruierten Informationseinheiten, die durch die bestimmende Urteilskraft allein nicht mehr geordnet werden können, wird unsere Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit zerstreut. Wir sind zu Opfern eines digitalen Daten-Gaus geworden, der uns paralysiert, süchtig macht und unsere alltäglichen Wahrnehmungsformen und Wissenskompetenzen in Mitleidenschaft zieht“. Förderung von Medienkompetenzen 37 41 (2012) • Heft 1 Diese kritisch-reflexive Medienkompetenz geht angesichts der gezeigten ubiquitären Einflussmacht der digitalen Medien immer stärker in Richtung einer Meta-Kompetenz. Diese bezieht sich auf die generelle Fähigkeit des Erkennens von und des Reagierens auf anthropogene Transformationsprozesse im Bereich „mediatisierter“ Wahrnehmungs-, Handlungs- und Kommunikationsformen. Wie Martina W OLFF (2012: 200) erkennt, geht es auch darum, „[...] die schleichenden Modifikationen individueller und kollektiver Kommunikation durch das Internet bewusst zu machen. [...] Die psychologischen Veränderungen, die schleichende, häufig unbewusste Neubewertung und Neuausrichtung von Kommunikationsprozessen, wie sie z.B. soziale Netzwerke oder virtuelle Welten ermöglichen, werden nicht ohne Folgen für das Kommunikationsverhalten insgesamt sein, auch innerhalb der Schulmauern“. 10. Das Verständnis der Zielsprachen und Zielkulturen wird sich durch die medialen Umwälzungsprozesse weiter radikal wandeln. Nicht allein die Fortsetzung der Kommunikativen Wende und die stärkere Ausrichtung auf Lernparadigmen wie orale-aurale Kompetenzen, fluency before accuracy oder Konversationsroutinen und weitere soft skills der Kommunikation werden tradierte Vorstellungen des Fremdsprachenunterrichts beeinflussen. Auch die von ihren Nutzern präferierten Kommunikationsformen im World Wide Web und bei der digitalen Kommunikation werden diese Trends unterstützen - und darüber hinaus durch die Verwendung der lingua franca Englisch im globalen Rahmen feste Vorstellungen der anglophonen Zielkulturen noch weiter von den Kulturen des so genannten „inneren Kreises“ (K ACHRU ; vgl. V OLKMANN 2010: 144) ablösen und zur verstärkten Hinwendung zu globalen Thematiken wie Umwelt, Multikulturalismus, Reichtumsverteilung usw. führen. Analog dazu wird der Siegeszug der englischen Sprache als weltweite Verkehrssprache zur fortgesetzten Infragestellung der Normativität von native-speaker-Normen führen, zumal gerade im medialen Raum die englische Sprache ständig in hybridisierten Formen auftaucht. Damit werden sich auch inhaltliche, wissensbasierte, zielkulturelle und linguistische Kompetenzen in der Definition stets stark danach definieren, wie sie medial gespeist und medial nutzbar sind. Deutlich formuliert: Es sind die digital geformten Präsentationsformen von Zielkulturen, Kommunikation und Sprache, die noch stärker als bisher wirksam werden. Die „realen“, durch primäre Medien getragenen Erkenntnis- und Interaktionsprozesse werden dadurch erheblich beeinflusst. 4. Medienkompetenz als Mittlerkompetenz Besinnen wir uns nach diesem Ausblick auf weitere Tendenzen der Mediendidaktik, wie sie vor allem von den digitalen Medien geformt werden. Dabei gilt es abschließend noch einmal, auf eine Grundfunktion der Medien im fremdsprachlichen Unterricht aufmerksam zu machen: „Medien als Mittler - das gilt auch für die Medien im fremdsprachlichen Unterricht. […] Sie sollen helfen, Fremdsprache und fremdsprachliche Welten ins Klassenzimmer zu holen und 38 Laurenz Volkmann 41 (2012) • Heft 1 den Lernenden Brücken zur Teilhabe daran bauen, aber auch zu kritisch-reflexivem Umgang mit Medien beitragen.“ (D ECKE -C ORNILL / K ÜSTER 2010: 97) Wie dargestellt, hat es in den letzten Jahren eine stetig zunehmende Bedeutung der Medien im alltäglichen Leben, aber auch in interkulturellen Kommunikationssituationen gegeben. Damit einher geht nicht allein eine sukzessive Bedeutungsaufwertung, sondern zugleich Ausdifferenzierung und Diversifikation der Medien im Unterrichtskontext wie auch bei der Konzeptualisierung und Umsetzung von Medienkompetenzen. Der fortschreitenden Medienparzellierung und -spezialisierung wirkt aber andererseits (unter anderem durch ihre Integration in elektronische Dateien) eine zunehmende Textvernetzung und mediale Hybridisierung entgegen. Diese Vermischung von Textsorten kann zu neuartigen Synthesen im Hinblick auf die Wahrnehmungskanäle (visuell versus akustisch), aber auch die Zeichenformen (verbal versus bildlich), den Grad an medialer Technizität (analog versus genuin elektronisch), das Unterrichtsspezifische (didaktisiert versus authentisch) und die Textsorten („populäre“ versus „elitäre“) führen. Die Diversifikation der Medien wird durch eine Diversifikation der einbezogenen Lernerzielgruppen ergänzt, und diese wird durch eine große Vielfalt an Lehr- und Lerntechniken sowie Übungsformen flankiert (vgl. die Beiträge in R EINFRIED / V OLK - MANN 2012). Die kompetente Nutzung dieser medialen und didaktischen Bandbreite durch Lehrende wie Lerner, einzeln und in der Kooperation, stellt die Beherrschung der hier beschriebenen Bandbreite von Medienkompetenzen schließlich als eine wichtige, über den Unterricht hinaus weisende Mittlerkompetenz dar. Literatur B AACKE , Dieter (1997): Medienpädagogik. Tübingen: Niemeyer. 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