eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 41/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2012
411 Gnutzmann Küster Schramm

Neue Medien – Neue Literalität

61
2012
Jochen Plikat
flul4110109
41 (2012) • Heft 1 © 2012 Narr Francke Attempto Verlag J OCHEN P LIKAT * Neue Medien - Neue Literalität Überlegungen zur systemtheoretischen Fundierung der pedagogy of multiliteracies für die Fremdsprachendidaktik Abstract. The article presents a current research project which focuses on the mediatic change caused by the ubiquity of digital media. Foreign language pedagogy has already taken into account these changes without precisely defining, however, their nature. The reason for this could be a somewhat fuzzy, mainly technical concept of what is to be understood by a medium, a situation which might lead to the use of media in the language classroom for their own sake. The author proposes to study the mediatic change on the basis of system theory. The results are applied to language pedagogy by an approach little known in the German-speaking debate, the pedagogy of multiliteracies. Based on these theoretical grounds, the author’s research project analyzes the weblog Generación Y by the Cuban Yoani Sánchez in order to evaluate the potential of digital media for the foreign language classroom. 1. Problemstellung Der Technologieschub der vergangenen zwei Jahrzehnte hat nicht nur unseren täglichen Mediengebrauch, sondern durch diesen auch die Gesellschaft selbst tiefgreifend verändert. Diese Veränderungen haben als Forderung an fast alle Schulfächer, das Thema Medien in den Unterricht zu integrieren, auch in aktuelle Bildungsdiskurse Einzug gehalten. Der hohe Stellenwert des Medienbegriffs basiert auf der Einschätzung, dass eine mündige Teilhabe an Gesellschaft kaum möglich ist, wenn man Medien - gemeint sind meist digitale Medien - nicht kompetent zu nutzen versteht. Ihre Allgegenwart weckt aber auch vielfach die Befürchtung einer medialen Überforderung. Mahnende, teils offen medienpessimistische Stimmen kennen wir allerdings aus dem Fernsehzeitalter. Was also ist neu an den „neuen“ Medien? Eine mögliche Antwort ist quantitativer Art: Ohne Zweifel haben die digitalen Medien den Zugang zu Inhalten radikal vereinfacht. Die vielleicht noch wichtigere Neuerung liegt vermutlich in den Möglichkeiten, die sich für jeden Nutzer daraus ergeben, dass nun jeder selbst Inhalte veröffentlichen kann (vgl. M ÜNKER 2009). Das Schlagwort Web 2.0 („Mitmach-Web“) fasst die vielfältigen Formen der Selbstpublikation in Foren, Weblogs, Sozialen Netzwerken oder Foto- und Videoplattformen zusammen. Diese sind in kürzester Zeit zu den populärsten Anwendungen im Internet geworden. Eine demokratische Teilhabe an * Korrespondenzadresse: Jochen P LIKAT , Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät II, Institut für Romanistik, Unter den Linden 6, 10099 B ERLIN . E-Mail: jochen.plikat@hu-berlin.de Arbeitsbereiche: Mediendidaktik, multiliteracies, Bilingualer Sachfachunterricht. 110 Jochen Plikat 41 (2012) • Heft 1 Medien scheint endlich möglich: Jeder vernetzte Rechner ist nicht nur ein Empfangs-, sondern auch ein Sendeapparat. Die Kehrseite ist jedoch, dass allzu leicht persönliche, oft sehr private Informationen auf digitalem Wege an die Öffentlichkeit gelangen und später unkontrolliert weiter verbreitet werden können. Hieraus ergibt sich eine neue Verantwortung im Umgang mit eigenen und fremden Daten, da es in letzter Konsequenz nur noch eine Instanz gibt, die über die Veröffentlichung entscheidet: den Nutzer selbst. Es herrscht große Übereinstimmung darin, dass sich schulische Bildung beiden Dimensionen der Teilhabe an digitalen Öffentlichkeiten - Rezeption und Produktion - widmen muss. Und sie tut es. ‚Medienkompetenz‘ (z.B. B AACKE 1997) ist nach einem ersten Boom in den 1970er Jahren erneut zu einem zentralen Begriff der Bildungsdiskussion geworden. Sie ist in den länderspezifischen curricularen Vorgaben fest verankert und wird bald auch in den bundesweit gültigen Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife der KMK für die 1. Fremdsprache zu finden sein. Dem Fremdsprachenunterricht scheint beim Einsatz von Medien eine besonders wichtige Rolle zuzufallen. Dies liegt einerseits daran, dass er in dem Bemühen, im Klassenzimmer realitätsnahe Lernsituationen zu schaffen, in besonderem Maße von der Arbeit mit auditiven, audiovisuellen und digitalen Medien profitieren kann. Ein zweiter Grund besteht darin, dass eines der Hauptmerkmale der digitalen Welten ihre Mehrsprachigkeit ist. Die vorwiegend einsprachige und auf der Schrift als Leitcode basierende mediale Umgebung des Gutenberg-Zeitalters hat in der sogenannten Turing-Galaxis, in der nicht mehr das Buch, sondern der vernetzte Computer das Leitmedium darstellt, einer mehrsprachigen, meist mit mehrfach kodierten Texten operierenden Praxis Platz gemacht. Dem Fremdsprachenunterricht fällt bei der Erschließung des vielsprachigen Textuniversums Internet naturgemäß eine zentrale Rolle zu. In der anhaltenden Diskussion um Medien in der Fremdsprachendidaktik fällt auf, dass der Begriff zwar vielfach verwendet wird, dass aber weder in behördlichen noch in wissenschaftlichen Texten zum Fremdsprachenunterricht überzeugende Definitionen zu finden sind. Wie aber kann den Akteuren klar sein, worin genau eine Kompetenz besteht, deren Gegenstand so auffallend unpräzise beschrieben ist? Wie kann diese gefördert werden, und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Fremdsprachenunterricht? Haben digitale Medien ein persönlichkeitsbildendes Potential, und wenn ja, wie kann es sich entfalten? Solange diese Fragen nicht geklärt sind, scheint meist mit einem Medienbegriff operiert zu werden, der sich an Aspekten der technisch-materiellen Instrumentalität orientiert. Daraus kann die Tendenz entstehen, technische Medien um ihrer selbst willen einzusetzen, was etwa T HIERING (1998) scharf kritisiert. 2. Forschungslücke, Fragestellung und erste Ergebnisse So ausführlich der Medienbegriff in der gesamten abendländischen Geistesgeschichte, zunächst in der Philosophie, seit dem 20. Jahrhundert aber auch in den Sozial- und Medienwissenschaften diskutiert worden ist (vgl. u.a. M ERSCH 2006), so spärlich ist diese Neue Medien - Neue Literalität 111 41 (2012) • Heft 1 Diskussion bislang in der Fremdsprachendidaktik rezipiert worden. Zwar sind zahlreiche Forschungsarbeiten direkt oder indirekt der Mediendidaktik zuzuordnen. Eine grundsätzliche Diskussion des für die Fremdsprachendidaktik so zentralen Begriffs selbst ist jedoch bisher nur punktuell erfolgt. Besonders wenig wurden bisher die Beiträge der Systemtheorie zu diesem Thema rezipiert, was insofern ein Manko darstellt, als diese eine aus meiner Sicht ausgesprochen leistungsfähige Medientheorie entwickelt hat. Aus der eingangs geschilderten Problemstellung und der Forschungslücke ergibt sich folgende Forschungsfrage für den ersten Teil meines Projektes: Wie lassen sich die medialen Veränderungen, die sich durch die Allgegenwart digitaler Medien ergeben, beschreiben? Zur Beantwortung dieser Frage soll mit der in der deutschsprachigen Diskussion entscheidend durch die Arbeiten Niklas Luhmanns geprägten Systemtheorie eine soziologische Theorie herangezogen werden, die den Kommunikationsbegriff ins Zentrum stellt und auf ihm aufbauend eine Medientheorie von großer begrifflicher Schärfe entwickelt (vgl. L UHMANN 1997 u. 2004). Luhmann erarbeitet seinen Medienbegriff auf Grundlage einer einfachen Frage: Wie kann Kommunikation überhaupt möglich sein, obwohl psychische Systeme doch in sich geschlossen sind? Gedanken und Gefühle eines anderen Menschen sind eine black box, also dem direkten Zugang entzogen. Soll eine Verständigung doch zustande kommen, müssen - so Luhmann - drei Schwellen von Unwahrscheinlichkeit überwunden werden: Erstens ist es unwahrscheinlich, dass ein anderer meine Mitteilung als solche wahrnimmt (und nicht etwa als zufälliges Geräusch) und sie versteht; zweitens ist es unwahrscheinlich, dass meine Mitteilung einen physisch abwesenden Adressaten erreicht; drittens ist es unwahrscheinlich, dass der Adressat meinen Sinnvorschlag übernimmt (vgl. L UHMANN 1997: 190 ff). Luhmann nennt nun die sozialen Einrichtungen, welche die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation auf diesen verschiedenen Schwellen bearbeiten, indem sie Unwahrscheinlichkeit in Wahrscheinlichkeit transformieren, Medien. Medien operieren in L UHMANNS Erklärungsansatz auf den genannten drei Schwellen der Unwahrscheinlichkeit und lassen sich so klassifizieren: Das Medium Sprache steigert die Wahrscheinlichkeit des Verstehens einer Mitteilung, Verbreitungsmedien (Schrift, Radio, Fernsehen, digitale Medien, u.a.) steigern die Wahrscheinlichkeit des Erreichens von physisch nicht anwesenden Personen, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (auch Erfolgsmedien genannt, wie z.B. Wahrheit, Geld) steigern die Wahrscheinlichkeit der Annahme von Kommunikationen. In Bezug auf meine Fragestellung scheint nun eine Besonderheit der digitalen Medien darin zu bestehen, dass sie jedem Nutzer produktiven Zugang zu einem Verbreitungsmedium ermöglichen. Jeder kann Inhalte veröffentlichen, über Hyperlinks mit beliebig vielen anderen Inhalten vernetzen und auf diese Weise Kaskaden von Anschlusskommunikationen in Gang setzen. Dies war im vordigitalen Zeitalter weitgehend den etablierten Massenmedien vorbehalten. Ihre klassische gatekeeper-Funktion 112 Jochen Plikat 41 (2012) • Heft 1 wurde durch digitale Medien spürbar aufgeweicht, das soziale System Massenmedien ist in Bewegung geraten. Eine der Stärken von L UHMANNS Medienbegriff liegt darin, dass er eine technischinstrumentelle Sicht auf Medien überwindet und so ihre soziale Funktionalität deutlicher herausarbeitet. Die deskriptive Ausrichtung der Systemtheorie bedingt allerdings, dass sie dort an eine Grenze stößt, wo es um weiterführende, in Bezug auf den Fremdsprachenunterricht auch normative Fragestellungen geht. Der Bedeutung der digitalen Medien entsprechend beschäftige ich mich im zweiten Teil des Projektes mit ihren möglichen Auswirkungen auf den Fremdsprachenunterricht: Ergeben sich auf Grundlage einer systemtheoretisch fundierten Analyse der digitalen Medien Herausforderungen an und Chancen für den Fremdsprachenunterricht, und wenn ja, welche? Ein normativer Ansatz, der sich meines Erachtens gut zur Beantwortung dieser zweiten Frage eignet, ist in dem im deutschsprachigen Raum bisher nur ansatzweise rezipierten literacy-Begriff der englischsprachigen Bildungsdiskurse zu finden. Insbesondere die auf ihm aufbauende pedagogy of multiliteracies hat die medialen und sozialen Veränderungen des digitalen Zeitalters am konsequentesten aufgenommen. Das Konzept der multiliteracies wurde Mitte der 1990er Jahre von einer Gruppe um Bill Cope und Mary Calantzis entwickelt (vgl. T HE N EW L ONDON G ROUP 1996). Öffnung und Wandel gesellschaftlicher Prozesse legen nahe, so ihre Beobachtung, einsprachig oder nationalstaatlich fundierte Literalität zu überwinden und Bildungsprozesse an der Vielfalt gesellschaftlicher Entwicklungen und Diskurse entlang neu auszurichten. Sie stellen einerseits eine weltweit zunehmende sprachliche und kulturelle Diversität („Vielfalt der Stimmen“) fest, andererseits den wachsenden Einfluss neuer, v.a. digitaler Kommunikationstechnologien („Vielfalt der Medien und Technologien“). Dabei distanzieren sie sich ausdrücklich von einem traditionellen Konzept von Erziehung, das v.a. die Assimilation an bestehende Verhältnisse und die Homogenisierung von Differenz anstrebt. Lernen soll vielmehr einen emanzipatorischen Charakter bekommen, indem es als dreischrittiges Verfahren konzipiert wird. Dabei wird vorhandenes Wissen zuerst rezipiert (Available design), zweitens in einem Prozess der Bedeutungsaushandlung re-konfiguriert (Designing) und drittens als Ergebnis verfügbar gemacht (the Redesigned). Besonders der dritte Schritt weist über die individuelle Ebene hinaus und kann als Beitrag zur Gestaltung der Zukunft der Gesellschaft verstanden werden. In diesem Sinne ist der programmatische zweite Teil des Titels - Designing social futures - zu verstehen (vgl. T HE N EW L ONDON G ROUP 1996). Das Modell macht zudem deutlich, wie zentral für alle Aspekte des Lernens der souveräne Umgang mit Sprache - auch fremder Sprache - und verschiedenen Kommunikationstechnologien ist (vgl. B ACH 2007). Die beiden theoretischen Stränge - die Systemtheorie und die pedagogy of multiliteracies - möchte ich auf ein Weblog anwenden, über das ich auf die mögliche Relevanz der digitalen Medien für den Fremdsprachenunterricht aufmerksam wurde. Es Neue Medien - Neue Literalität 113 41 (2012) • Heft 1 handelt sich um Generación Y der Kubanerin Yoani S ÁNCHEZ (o.J.). Das Beispiel Kuba ist insofern besonders interessant, als Presse, Rundfunk und Fernsehen unter strikter staatlicher Kontrolle stehen. S ÁNCHEZ nutzt nun m.E. ausgesprochen virtuos die Möglichkeiten eines Weblogs, um diese Kontrolle zu unterlaufen, und liefert so ein hervorragendes Beispiel für das emanzipatorische Potential der digitalen Medien. Die Arbeit mit ihren Texten könnte es in besonderem Maße erlauben, die Förderung sprachlicher Kompetenzen mit mediendidaktischen und persönlichkeitsbildenden Aspekten zu verbinden. Aus der Verwendung der beiden Theoriestränge erhoffe ich mir folgenden Mehrwert: Die Systemtheorie hilft zu verstehen, was genau in den digitalen Medien vor sich geht. Die pedagogy of multiliteracies hilft zu verstehen, worin ihr bildendes Potential für die Fremdsprachendidaktik liegen könnte. Die Anschlussfähigkeit der beiden Ansätze möchte ich in meinem Projekt herausarbeiten und überprüfen, ob sich ihre Verbindung für die fremdsprachendidaktische Diskussion als tragfähig erweist. Daher wende ich in meiner Arbeit die erarbeiteten Konzepte auf das Weblog Generación Y an, um beispielhaft die Relevanz der digitalen Medien für den schulischen Fremdsprachenunterricht zu untersuchen. Literatur B AACKE , Dieter (1997): Medienpädagogik. Tübingen: Niemeyer. B ACH , Gerhard (2007): „Multiliteralität und der europäische Bildungsauftrag“. In: E LSNER , Daniela / K ÜSTER , Lutz / V IEBROCK , Britta (Hrsg.) (2007): Fremdsprachenkompetenzen für ein wachsendes Europa. Das Leitziel „Multiliteralität“. Frankfurt/ M.: Lang. L UHMANN , Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. L UHMANN , Niklas (2004): Die Realität der Massenmedien. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. M EDIENPÄDAGOGISCHER F ORSCHUNGSVERBUND S ÜDWEST (Hrsg.) (2011): JIM 2011. Jugend, Information, (Multi-)Media. Stuttgart. Online verfügbar unter http: / / www.mpfs.de/ fileadmin/ JIM-pdf11/ JIM2011.pdf (31.03.2012). M ERSCH , Dieter (2006): Medientheorien zur Einführung. Hamburg: Junius. M ÜNKER , Stefan (2009): Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0. Frankfurt/ M.: Suhrkamp. S ÁNCHEZ , Yoani (o.J.): Generación Y [Weblog]. Online verfügbar unter http: / / www.desdecuba.com/ generaciony/ (31.03.2012). T HE N EW L ONDON G ROUP (1996): „A pedagogy of multiliteracies: Designing social futures“. In: Harvard Educational Review 66.1, 60-92. Auch Online verfügbar unter: http: / / wwwstatic.kern. org/ filer/ blogWrite44ManilaWebsite/ paul/ Articles/ A_Pedagogy_of_Multiliteracies_Designing_ Social_Futures.htm (31.03.2012). T HIERING , Christian (1998): „Medieneinsatz und Persönlichkeitsförderung im Fremdsprachenunterricht“, In: Neusprachliche Mitteilungen aus Wissenschaft und Praxis 51.2, 66-73.