Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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Gnutzmann Küster SchrammGrammatik als Gegenstand im Unterricht?
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Michael Koenig
Werner Bleyhl
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FLuL 41 (2012) • Heft 2 G r a m m a ti k a l s G e g e n s t a n d i m U n t e rri c h t ? Eigentlich geht doch gar nichts in einer Sprache ohne Grammatik, sie ist präsent in jedem unserer Worte, unserer Sätze und der Texte, die wir wahrnehmen. Also, wozu etwas begründen oder rechtfertigen? Was ist das Problem? Geht man davon aus, dass mit Grammatik und Grammatikunterricht explizite und deklarative Regelinstruktion gemeint ist, so wäre eine Unterstützung dieses Vorgehens kein einfaches Unterfangen, selbst wenn für unterschiedliche Teilkompetenzen ansatzweise positive Ergebnisse nachweisbar sind. Definiert man Grammatik in einem umfassenderen Sinn und in einem Kontext von unterschiedlichen kompetenzfördernden Dimensionen, so würden neben dem „savoir“, dem deklarativen Wissen, das „savoir-faire“, das prozedurale Wissen und die Strategien, um Wissen in Handlung zu übertragen, sowie das „savoir-être“, die Bewusstmachung und Integration lernerbezogener Komponenten, wie z.B. Einstellungen, und nicht zuletzt die transversale Dimension des „savoir-apprendre“, das Wissen um eigene Lernfähigkeiten, zusammen wirken. Dieses breitere Grammatikverständnis sieht den Lerner mit seiner Subjektivität und personalen Authentizität im Zentrum des Lerngeschehens und findet sich wieder in neueren theoretischen Blickwinkeln auf die Grammatik. Termini aus der aktuellen Fachdiskussion wie Kollokationen, Chunks, lexikalisches Priming, emergierende Prozesse, aber auch Focus on form etc. verweisen zunehmend auf eine aktivere Rolle des Lerners mit einer kreativen Bestimmung bei der Generierung grammatischen Wissens ausgehend von lexikalischen Items über die bedeutungsorientierte Verarbeitung bis zur ‚Grammatisierung’. Probabilistische Sichtweisen und die Betrachtung der Sprache als ein dynamisches, sich ständig entwickelndes quasi organisches komplexes System verbieten einen verkürzten Weg über die rein kognitive explizite Vermittlung von Regeln und Rezepten. Diese neuen Grammatiktheorien mit ihrer - faszinierend - unkonventionellen Interpretation von Grammatik, wie auch die aktive Spracharbeit des Lerners, lassen sich im Unterricht einerseits widerspiegeln durch ein reiches Sprachangebot, aus dem der Lerner seine „Regeln“ allmählich ableiten und sichern kann, sowie durch die Förderung von Sprachbewusstheit, indem Lernende auf die vielfältigen Möglichkeiten aufmerksam gemacht werden, die eine Sprache zur Realisierung ihrer pragmatischen Potentiale bereit hält. Auf der Unterrichtsebene unterstützen diesen Prozess u.a. Unterrichtsprinzipien wie: • Die sprachliche Produktion der Lerner, ihren ‚output‘ wertschätzen. • Wiederholen und reaktivieren grammatischer Strukturen in sinnvollen Kontexten. • Anregen von Sprechen und Schreiben in Partner- oder Gruppenarbeit zur Unterstützung der Aufmerksamkeit auf die Form. • Erfolgsorientierung statt Defizitorientierung - Häufiger üben, weniger testen. • Flüssigkeit und Automatisierung bei den Lernern unterstützen, da dies u.a. die Sprachmenge erhöht und somit eher Regelfindungsprozesse ermöglicht. Fazit: Ein klares Ja, aber! Die Ergebnisse älterer empirischer Studien zur Grammatiklastigkeit (im traditionellen Sinn) des Fremdsprachenunterrichts werden erstaunlicherweise bis zum heutigen Tag immer wieder bestätigt. Es heißt also wachsam sein, oder, wie Scott Thornbury es einmal in etwa formuliert hat: Teach grammar, love grammar, enjoy grammar, understand grammar but realize, that it is represented in lots of different ways both from the teaching point of view and also from the view of our students. Kassel M ICHAEL K OENIG Pro und Contra 137 FLuL 41 (2012) • Heft 2 Des Pudels Kern der Diskussion Pro und Contra Grammatik im Fremdsprachenunterricht besteht im Grundverständnis von Lernen. Die Grund-Frage lautet: Ist Lernen Informationsverarbeitung, die von außen durch geeignete Instruktion gesteuert und optimiert werden kann? Oder ist Lernen ein Prozeß der Selbstorganisation, die der Lehrer durch eine für die jeweiligen Lerner passende Mischung von Anregungen und Anforderungen herausfordern kann, wobei die vom Lerner erfahrenen Erfolgserlebnisse seine Motivation erhalten und steigern. Die Erkenntnisse der neueren Kognitionswissenschaften, speziell der Gedächtnis-, der Spracherwerbs-, der Gehirnforschung, der Anthropologie, der allgemeinen Sprachforschung, der Corpuslinguistik, der Entwicklungspsychologie, der empirischen Fremdsprachenerwerbsforschung, der Sprachphilosophie, aber nicht zuletzt der eigenen Unterrichtspraxis, widersprechen der aus dem Unterricht mit toten Sprachen tradierten Praxis und Überzeugung, dass Grammatikinstruktion dem nachhaltigen Lernen lebender Sprachen förderlich sei. Einige wenige Punkte seien angeschnitten: • Der Mensch ist nicht das primär von der Ratio geleitete Wesen, wie es die frühneuzeitliche Konzeption des Menschen annahm. • Deklaratives Sprachwissen wird nicht ohne weiteres, auch nicht durch oftmaliges mechanisches Üben, - wie erhofft - in prozedurales Können übertragen. • Der Lerner lernt bzw. erwirbt Sprachkönnen dank seiner angeborenen Sprachlernfähigkeit implizit, wenn er sich als Person respektiert erfährt und für ihn relevante Inhalte angeboten werden. (Wie die DESI-Studie ausweist, zeigt sich der bilinguale Sachfachunterrichts dem formalen traditionellen Unterricht überlegen. Ein inhaltsorientierter - möglichst einsprachig abgehaltener - Unterricht in nur einem Sachfach bewirkt einen Vorsprung von einem Lernjahr.) • Unsere Schulgrammatiken stellen zu große Vereinfachungen und zugleich eine zu starke sekundäre Abstraktion dar. Sie sind oftmals eher hinderlich, weil für viele Schüler verwirrend, zumal die angeführten Regeln im allgemeinen eine zu beschränkte Reichweite haben. • Spracherwerb erfolgt, das ist Konsens der neueren Linguistik, durch Gebrauch in der sozialen Interaktion. • Die Multidimensionalität der sprachlichen Interaktion mit Mimik, Gestik, Stimme, Körpersprache, Einschätzung der Situation, Weltverständnis u.v.a. stellen für den Lerner Dekodierungshilfen dar, die der simultanen Multidimensionalität der Arbeitsweise des Gehirns entsprechen. • Für den Lerner wird nur produktiv, was er selbst mental konstruiert hat. • Die Reihenfolge des Erwerbs grammatischer Strukturen (und das ist ein oft gewaltsam unterdrückter Sachverhalt) kann durch Instruktion, d.h. durch Bewusstmachung, nicht verändert werden. Je intensiver man sich mit dieser Frage beschäftigt, man kann dem Urteil von Michael Lewis nur zustimmen, wenn er sagt, wie er es in einem Vortrag formulierte: „Teaching grammar is a waste of time“. Esslingen W ERNER B LEYHL
