Fremdsprachen Lehren und Lernen
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Narr Verlag Tübingen
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2012
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Gnutzmann Küster SchrammLothar BREDELLA: Narratives und interkulturelles Verstehen. Zur Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit. Tübingen: Narr 2012 (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), 151 Seiten [49,00 €]
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2012
Lutz Küster
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146 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel FLuL 41 (2012) • Heft 2 Lothar B REDELLA : Narratives und interkulturelles Verstehen. Zur Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit. Tübingen: Narr 2012 (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), 151 Seiten [49,00 €] Das vorliegende Buch ist posthum erschienen: Am 10. Juni dieses Jahres ist Lothar B REDELLA für immer von uns gegangen. Damit ist eine Stimme verstummt, die die Entwicklung der Fremdsprachendidaktik zu einer forschenden Disziplin in hohem Maße mit geprägt hat. Sein überaus umfangreiches wissenschaftliches Schaffen galt zeitlebens vor allem einem Ziel: die Bedeutung literarischer, insbesondere narrrativer Texte für ein fremdsprachliches Lernen, das zugleich und unlöslich mit interkulturellem Lernen verbunden ist, zu erforschen und ihr gegen alle instrumentalistischen Verengungen zu didaktischer Anerkennung zu verhelfen. Triebfeder seines oft streitbaren Engagements war die im Erbe der Hermeneutik verwurzelte Überzeugung, dass Verstehen und Verständigung auch in Zeiten postmoderner Relativierungen bzw. Auflösungen von Sinn nicht nur möglich, sondern zur Entwicklung einer umfassenden Persönlichkeitsbildung sowie zur Gestaltung eines dem Prinzip der Dialogizität verpflichteten Gemeinwesens unverzichtbar sind. Insofern ist Lothar B REDELLA mit Fug und Recht als Humanist zu bezeichnen. Die Leitlinien seines didaktischen Denkens inspirierten das von ihm mitbegründete „Gießener Graduiertenkolleg Fremdverstehen“, das einer Vielzahl von Nachwuchskräften im Feld der Fremdsprachendidaktik eine Schule des Denkens und ein Forum des Austauschs war. Die zahlreichen Bände der „Gießener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik“, die aus dem Graduiertenkolleg hervorgegangen sind, machen dies unmissverständlich deutlich. Die oben skizzierten Grundgedanken durchziehen, wie schon sein im Jahre 2010 erschienenes Werk Das Verstehen der anderen (vgl. die Rezension in Heft 1/ 2011 dieser Zeitschrift), auch das hier zur Rede stehende, deutlich kürzer gefasste Buch B REDELLAS . Es ist in drei Teile unterschiedlicher Länge gegliedert. Der Autor selbst bezeichnet diese Teile als Beiträge. Dass sie demnach auch getrennt voneinander lesbar sein sollen, führt dazu, dass sich die Argumentationen partiell überlappen. Der erste trägt den Titel „Warum Geschichten im Fremdsprachenunterricht? “ Die im Untertitel genannten Zielkonstrukte von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit geben die Richtung vor, in der sich die nachfolgende Argumentation entfaltet. Der zweite Beitrag verortet das propagierte interkulturelle Verstehen in Abgrenzung von den Konzepten der Transkulturalität auf der einen und der Multikulturalität auf der anderen Seite: Während Transkulturalität in B REDELLAS Sicht auf eine Negierung unterschiedlicher kultureller Prägungen hinausläuft, sieht er das Konzept der Multikulturalität als Ausdruck einer relativistischen Verabsolutierung kultureller Zuschreibungen. Den Zwischenort, den er anstrebt, illustriert der Autor in einem dritten Teil an literaturdidaktischen Überlegungen zu dem (für den Englischuntericht an deutschsprachigen Schulen aufbereiteten) Jugendbuch (un)arranged marriage von Bali R AI (2001) sowie zum Roman Shame von Jasvinder S ANGHERA (2007). Was erwartet die Leserin bzw. den Leser im Einzelnen? Der erste Teil entwickelt zunächst im Rückgriff auf Jerôme B RUNER , Paul R ICŒUR und Karl E IBL die These, dass Geschichten eine „grundlegende Erkenntnisform“ (14) darstellen. Mit ihnen strukturieren wir, so die Überzeugung, unsere Erfahrungswelt, sie helfen uns, ihr Sinn und Bedeutung zuzuschreiben. Dies gelte insbesondere im Hinblick auf das, was im Leben „schief“ gehe, denn „Geschichten regen den Leser an, sich mit dem Ungewöhnlichen zu beschäftigen, um es verständlich zu machen“ (15); in der Diktion von Ricœur verwandeln sie „blinden Zufall“ in „eine intelligible Kontingenz“ (16). Sie befähigen uns, Orientierungen zu gewinnen und Konflikte zu bewältigen. Im Folgenden setzt sich B REDELLA mit Gegenpositionen aus den Literatur- und Kulturwissenschaften auseinander. An formalistischen Literaturverständnissen kritisiert er, dass sie literarische Werke ausschließlich als selbstreferentielle Gebilde betrachteten. Sie demotivierten die Leserschaft, da sie deren emo- Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 147 FLuL 41 (2012) • Heft 2 tionale und moralische Involviertheit in den Leseprozess ignorierten. Doch auch der entgegengesetzten Position aus der Tradition der Cultural Studies, welche den politisch-ideologischen Charakter aller kulturellen Artefakte hervorhebt, widerspricht der Autor. Ihr lastet er an, mit Vorab- Gewissheiten eines vermeintlich „richtigen Bewusstseins“ dem erkenntnisgenerierenden Potenzial von Literatur nicht gerecht zu werden. Dass zudem dekonstruktivistische und radikal-konstruktivistische Sichten mit einem hermeneutischen Anspruch unvereinbar sind, macht Bredella anschließend einmal mehr deutlich. Literatur hat in der Sicht des Autors zugleich eine moralische Dimension. Zur Erhellung des Verhältnisses von Ästhetik und Moral bzw. Ethik holt B REDELLA weit aus und spannt einen geistesgeschichtlichen Bogen von A RISTOTELES zu Mieke B AL . Gegen die von letzterer postulierte „moralische Indifferenz“ von Literatur macht er mit Karl E IBL und Martha N USSBAUM geltend, dass zum Verstehen narrativ gestalteter Welten Empathiefähigkeit und moralische Sensibilität nicht nur eine Voraussetzung bildeten, sondern diese zugleich förderten. Diese These untermauert er im Verweis auf jüngere neurowissenschaftliche Erkenntnisse zur Funktion der Spiegelneuronen sowie auf die „Theory of Mind“ (vgl. 42 ff.). Neben Empathiestellt Urteilsfähigkeit für B REDELLA eine wesentliche Bedingung sozialer Verständigung und zugleich individueller Selbstbestimmung dar. Urteilsfähigkeit definiert er als Vermögen, „aus der solipsistischen Welt heraustreten und die Welt als etwas Externes beurteilen [zu] können“ (53), weswegen er ihr den Stellenwert eines zentralen Erziehungs- und Bildungsziels zuschreibt. Gleiches gilt für das dritte Zielkonstrukt der Kooperationsfähigkeit; in ihr konvergieren die zuvor dargestellten Fähigkeiten und erweitern sie zugleich. Denn einfühlsame Hinwendung zum Mitmenschen und kritisch-distanzierende Beurteilung drücken jeweils Haltungen aus, die noch diesseits eines Rubikon liegen, welcher erst mit dem Eintritt in die Sphäre sozialen Handelns überschritten wird. Hier allerdings könne der Mensch auf eine Veranlagung zurückgreifen, die ihm solidarische Verhaltensweisen nahe lege. Gegen Freuds These von der Asozialität der menschlichen Triebstruktur ist B REDELLA mit E IBL der Überzeugung, dass auch Sozialität, Altruismus und Kooperationsbereitschaft gattungsgeschichtlich im Menschen verankert sind. Er verweist auf Schriften der evolutionären Biologie und Psychologie, der Hirnforschung und der Philosophie (u.a. B OYD , DE W AAL , J ANICH und E IBL ), denen zufolge der Mensch von Natur aus weder aggressiv noch friedliebend, sondern immer beides sei. Zwischen diesen Dispositionen gelte es in konkreten Handlungssituationen einen Ausgleich zu finden. Geschichten erwiesen sich hier insofern als Impulsgeber für die Entwicklung sozialer Verantwortlichkeit, als sie die Motive von Akteuren in konkreten Handlungssituationen verständlich machten und uns dazu führten, die narrativ vermittelten Verhaltensweisen moralisch zu beurteilen. Ästhetische Erfahrungen seien stets an ethische Fragen gekoppelt (vgl. 67). Die ethisch-moralische Dimension literarischer Rezeption gewinnt in einem fremdsprachlichen Kontext eine besondere Relevanz im Hinblick auf das Miteinander der Kulturen. Diese Aspekte stehen im Zentrum des zweiten Buchteils. Wie schon in früheren Schriften bezieht B REDELLA hier Stellung für eine interkulturelle Orientierung des Fremdsprachenunterrichts. Die Vorsible „inter“ unterstreicht, dass es um einen Vermittlungsprozess und somit um Aushandlungen von Differenz geht, in denen kulturelle Prägungen sich als Reichtum erwiesen. Demgegenüber begreift der Autor das Konzept der Transkulturalität ausschließlich als Versuch, kulturelle Grenzen in Richtung einer globalen Einheitskultur aufzulösen. Er bezieht sich hier vor allem auf Wolfgang W ELSCH , aber auch auf viele seiner Kritiker (u.a. Bruno L ATOUR ). Mit Jonathan F RIEDMAN kritisiert B REDELLA , dass Hybridität sich zu einer neuen Norm entwickelt habe, der zufolge sich der postmoderne, radikal hybride Mensch ständig neu zu erfinden habe. Dass kulturelle Bindungen somit als ein Übel erschienen, verhindere jedoch gerade, Andere in ihrer kulturellen Andersartigkeit verstehen zu wollen (vgl. 88 ff.). Gleiche Effekte zeitigten, wenngleich 148 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel FLuL 41 (2012) • Heft 2 unter anderem Vorzeichen, relativistische Vorstellungen von Multikulturalität. Da diese von einer Gleichwertigkeit der Kulturen ausgingen und - jede für sich - bestimmten, was in ihnen als human gelte, werde jeglichen Austausch- und Verhandlungsmöglichkeiten ein Riegel vorgeschoben. Die erkenntnistheoretischen Prämissen beider Pole beleuchtet B REDELLA unter Rückriff auf Philosophen wie P LATON , V ICO , M ONTESQUIEU und H ERDER , aber auch auf aktuelle Schriften, insbesondere von Bhikhu P AREKH . Mit Aleida A SSMANN vertritt er die vermittelnde Position eines „aufgeklärten Universalismus“, welche Vielheit anerkennt, sich zugleich aber kritischer Wertungen nicht enthält und diese in einen kulturellen Dialog einbringt. Das Thema „arrangierter Hochzeiten“ als ein Feld, in dem sich kulturelle Wertungskonflikte manifestieren, stellt B REDELLA in den Mittelpunkt seines didaktischen Beispiels im dritten Beitrag des Buches. In bestimmten Kulturkreisen üblich, führen solche Eheschließungen besonders im Kontakt mit westlichen Gesellschaftsnormen zu intra- und interpersonellen Konflikten. Der Autor legt dar, wie die Behandlung der eingangs zitierten narrativen Texte im Englischunterricht den Schülerinnen und Schülern dazu verhelfen kann, sich in fremde Gedanken und Normen einzufühlen, zugleich aber auch sich moralisch-ethisch wertend zu positionieren und Maßstäbe eigenen und fremden Handelns zu reflektieren. Die obige Wiedergabe zentraler Aspekte des rezensierten Buchs soll veranschaulichen, wie breit das Spektrum unterschiedlicher Wissenschaftsdiziplinen ist, mit denen Lothar B REDELLA seine im Kern bekannten Überzeugungen neu formuliert und dabei zugleich neu präzisiert. Auffällig ist, dass er sich des derzeit so populären Kompetenzbegriffs durchgängig enthält. Gleichwohl ist das Buch von hoher Aktualität. Es zu lesen vermittelt auch denjenigen, die sich mit seinen Schriften schon gut vertraut wissen, neue Anregungen und Erkenntnisse. Wir werden diese Stimme sehr vermissen. Berlin L UTZ K ÜSTER Barbara S CHMENK , Nicola W ÜRFFEL (Hrsg.): Drei Schritte vor und manchmal auch sechs zurück. Internationale Perspektiven auf Entwicklungslinien im Bereich Deutsch als Fremdsprache. Festschrift für Dietmar Rösler zum 60. Geburtstag. Tübingen: Narr 2011 (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik), 354 Seiten [48,- €] Anlässlich des 60. Geburtstags von Dietmar R ÖSLER , Professor für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Justus-Liebig-Universität Gießen, ist diese Festschrift erschienen, in der Beiträge internationaler Expertinnen und Experten zu drei Themenbereichen versammelt sind, die in R ÖSLERS Forschungstätigkeit einen wichtigen Platz einnehmen: Grammatik, Interkulturelles Lernen und E-Learning. Nach der Tabula Gratulatoria eröffnen zwei einleitende Beiträge die Festschrift. Die Herausgeberinnen Barbara S CHMENK und Nicola W ÜRFFEL erläutern in ihrem Beitrag die Intentionen des Bandes und gehen dabei auch auf den Titel ein: „Der Titel der Festschrift ist diesem Wirken geschuldet und illustriert zugleich den Röslerschen skeptischen, aber dennoch konstruktiven Blick auf die Entwicklung des Faches Deutsch als Fremdsprache: ‚Drei Schritte vor und manchmal auch sechs zurück…‘ ist nicht nur angelehnt an einen Aufsatztitel von Rösler (2002), in dem er die Entwicklungslinien des Bereichs ‚E-Learning Fremdsprachen‘ einer kritischen Bestandsaufnahme und Begutachtung unterzieht. ‚Drei Schritte vor und manchmal auch sechs zurück‘ ist ebenfalls eine provokativ formulierte Diagnose eines wissenschaftlichen Feldes, in dem sich zwar sehr viel tut, in dem sich vermeintliche Fortschritte aber zuweilen auch als wissenschaftliche oder didaktische Rückschritte entpuppen.“ (S. 14)
