eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 43/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2014
432 Gnutzmann Küster Schramm

Rezeptives Code-Switching ein- und mehrsprachiger Lerner/innen in multilingualen Settings

121
2014
Jules Bündgens-Kosten
Daniela Elsner
flul4320056
© 2014 Narr Francke Attempto Verlag 43 (2014) • Heft 2 J UDITH B ÜNDGENS -K OSTEN , D ANIELA E LSNER * Rezeptives Code-Switching ein- und mehrsprachiger Lerner/ innen in multilingualen Settings Abstract. This paper looks at receptive code-switching in elementary school dyads working with digital multilingual and multimodal storybooks (‘MuViT’). Learners with diverse linguistic backgrounds collaboratively read an English story that allowed for receptive code-switching to German (L1/ L2, school language) and/ or to Turkish (L1 of some learners) at any point. Analyzing the receptive language choice of four dyads, four approaches to receptive code-switching could be observed: macroswitches (pupils read a story first in one language, then in the other language), focused switches (pupils switch from English to another language for a short duration to resolve non-comprehension), and open switches (short switches where the focus seems to lie on curiosity and enjoyment rather than on non-comprehension). A final option was to refrain from code-switching. German seems to play a bigger role in receptive code-switching from English than Turkish did: no focused switches to Turkish were observed. 1. Bedingungen individueller Mehrsprachigkeit Ein Kind, das in der Grundschule Englisch als Fremdsprache erlernt, ist in Sprachlernhinsicht kein unbeschriebenes Blatt. Es bringt auf jeden Fall seine erworbenen Muttersprache(n)/ Erstsprache(n) mit. Es hat im Urlaub, im Kindergarten, in den Medien erlebt, dass Menschen verschiedene Sprachen sprechen. Vielleicht hat es bereits eine erste direkte Instruktion von Fremdsprachen erfahren: Eine Freundin, die ihm die Zahlen in einer anderen Sprache beigebracht hat, der Vater, der im Flieger nach Spanien einige spanische Grußformen mit ihm geübt hat, der Chinesischunterricht im Kindergarten (vgl. D EUTSCHE W IRTSCHAFTSNACHRICHTEN 2012). Was für jedes monolinguale Kind gilt, gilt natürlich auch - und in besonderer Hinsicht - für mehrsprachige Kinder, die neben ihrer Mutter- oder Erstsprache noch eine oder mehrere andere Sprache/ n (auf unterschiedlichen Kompetenzniveaus) beherrschen und täglich mit diesen Sprachen auf unterschiedlichste Art und Weise umgehen. * Korrespondenzadressen: Dr. Judith B ÜNDGENS -K OSTEN , Goethe Universität Frankfurt, Akademie für Bildungsforschung und Lehrerbildung, Senckenberganlage 31, 60486 F RANKFURT / M. E-Mail: buendgens-kosten@em.uni-frankfurt.de Arbeitsbereiche: Computer-assisted language learning, Mehrsprachigkeit, Mediendidaktik. Prof. Dr. Daniela E LSNER , Goethe Universität Frankfurt, Institut für England- und Amerikastudien, Grüneburgplatz 1, 60323 F RANKFURT / M. E-mail: elsner@em.uni-frankfurt.de Arbeitsbereiche: Fremdsprachendidaktik, Multiliteralität, Mehrsprachigkeit. Rezeptives Code-Switching ein- und mehrsprachiger Lerner/ innen in multilingualen Settings 57 43 (2014) • Heft 2 In diesem Aufsatz beschäftigen wir uns damit, wie sie die sprachlichen Ressourcen, über die sie verfügen, in den Sprachunterricht einbringen. Dabei werden wir uns auf das Phänomen des Code-Switchings, und hier insbesondere auf das rezeptive Code- Switching, also die gezielte Wahl der Inputsprache, konzentrieren. Dabei betrachten wir ein kollaboratives Lernsetting, in dem mit multimodalen, multikodalen und multilingualen Geschichten inhaltsorientiert gearbeitet wird. 1.1 Einfluss vorgelernter Sprachen auf das Sprachenlernen Während einige Studien zeigen, dass Lerner/ innen, die bereits Erfahrungen mit dem Lernen einer zweiten Sprache haben, von dieser bei der Aneignung einer dritten Sprache profitieren können, zeigen andere Studien, dass Mehrsprachigkeit per se kein Garant dafür ist, dass man automatisch höhere Kompetenzen in der Fremdsprache erlangt als Einsprachige. Der Stand der empirischen Forschung zum Einfluss von vorgelernten Sprachen auf das weitere Sprachenlernen und die damit verbundene Kompetenzentwicklung lassen keine einheitlichen Schlussfolgerungen zu. So fasst C ENOZ (2003: 79) zusammen: „The studies on specific areas of language proficiency tend to evidence mixed results, and their comparability is severely limited by their diversity regarding the specific areas of language proficiency tested and their different research techniques“. Doch nicht nur der methodische Zugang zum Forschungsfeld mag die unterschiedlichen Ergebnisse in Bezug auf den Effekt von Mehrsprachigkeit im Hinblick auf das weitere Fremdsprachenlernen erklären. In der Literatur werden zudem viele Faktoren benannt, von denen angenommen wird, dass sie den Einfluss einer vorgelernten Sprache auf nachgelernte Sprachen mitbestimmen, u.a.: • Fragen der Sprach- und Lesekompetenz sowie weiterer kognitive Faktoren: − Kompetenz in den vorgelernten Sprachen (threshold hypothesis, C UMMINS 2001) − Lesekompetenz (literacy) in den vorgelernten Sprachen (für Drittspracherwerb: S WAIN [et al.] 1990) − Sprachbewusstheit (metalinguistic awareness) (z.B. J ESSNER 2006, 1999) • Soziale und soziolinguistische Aspekte − Status/ Prestige der vorgelernten Sprachen (subtractive/ additive bilingualism, C ENOZ 2003) − Intensität des Kontakts mit der vorgelernten Sprache (exposure, T REMBLAY 2006) − sonstige soziale und soziolinguistische Aspekte („Domäne“ einer Sprache; activation dieser Sprache in einem konkreten Kontext) • Eigenschaften der Sprache selbst − language distance: typologische bzw. psychotypologische Verwandtschaft (S INGLETON / A RONIN 2007, O DLIN / J ARVIS 2004) 58 Judith Bündgens-Kosten, Daniela Elsner 43 (2014) • Heft 2 Unterschiedliche Sprachlernsettings und gesellschaftliche Kontexte, in denen diese Studien durchgeführt wurden, erschweren manchmal die Übertragung von Studienergebnissen auf den hier untersuchten Kontext (Türkisch-Deutsch bilinguale sowie Deutsch-monolinguale Schüler/ innen im nicht-immersiven Englischunterricht der Grundschule). Hinweise auf den Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit und Erfolg im Englischunterricht, speziell für den hier interessierenden Kontext, finden sich jedoch in einigen nationalen Lernstandserhebungen. So wurde z.B. in der DESI Studie festgestellt, dass - bereinigt um Bildungsgang, sozioökonomischen Hintergrund, kognitive Grundfähigkeit und Geschlecht - Jugendliche in der neunten Klasse mit einer anderen/ zusätzlichen Erstsprache als Deutsch signifikant bessere Werte im Englischen erreichten als ihre monolingual deutschsprachigen Klassenkamerad/ innen. 1 Auch in der Hamburger KESS Studie zeigte sich, dass mehrsprachige Kinder, selbst wenn sie im Englischen der einsprachig deutschen Gruppe nicht überlegen waren, in diesem Fach zumindest geringere Defizite aufwiesen als in anderen Fächern (vgl. S CHWIPPERT 2007). Auffällig ist, dass verschiedene Sprachgruppen durchaus unterschiedlich abschnitten. So fassen G ÖBEL [et al.] für die DESI Studie zusammen: „Unter Berücksichtigung des Bildungsgangs, des sozioökonomischem Hintergrunds, der kognitiven Grundfähigkeiten und des Geschlechts stellt es für die Englisch-Kompetenz keinen Nachteil dar, Türkisch oder Kurdisch als Erstsprache erworben zu haben und es ist tendenziell sogar von Vorteil, Russisch oder Polnisch als Erstsprache erworben zu haben“ (G ÖBEL [et al.] 2011: 61). In der KESS Studie fanden sich im Vergleich mit anderen Sprachgruppen (einsprachig Russisch bzw. zweisprachig Deutsch-Russisch aufwachsende Schüler/ innen) erneut, wenn auch nur leichte, Unterschiede zum Nachteil für die türkischen Lerner (vgl. K EßLER / P AULICK 2009: 271). Signifikante Unterschiede zum Nachteil der mehrsprachigen und nicht-deutschsprachigen Fremdsprachenlerner gegenüber ihren monolingualen Klassenkameraden zeigten sich in der Studie von W ILDEN / P ORSCH (2014 i.Dr.). Zudem schnitten Kinder mit mehrsprachigem häuslichen Hintergrund schlechter ab als Kinder, die zuhause nur eine andere Sprache als die deutsche sprachen. Den Autorinnen zufolge erweist sich jedoch für alle Gruppen die Kompetenz in (der Zweitsprache) Deutsch als ausschlaggebender Faktor für das Abschneiden im Englischen, während der Faktor Mehrsprachigkeit allein keinen Einfluss auf die unterschiedlichen Leistungen der Mehr- und Einsprachigen hatte. Bei der Betrachtung des (relativen) Vorteils von mehrsprachigen Schüler/ innen beim Englischlernen muss einerseits in die Überlegung einbezogen werden, dass Mehrsprachigkeit nicht gleich Mehrsprachigkeit ist - Faktoren wie etwa literacy in der/ den Muttersprache(n) oder das Prestige der Muttersprache(n) können hier wichtige Faktoren sein. Andererseits taucht Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer selbst natürlich nicht 1 Unbereinigt von den oben angegebenen Faktoren trifft dies immer noch auf die Gruppe der „Mehrsprachigen“ (simultane Mehrsprachigkeit), jedoch nicht mehr auf die Gruppe der „nicht deutsch“ sprechenden Kinder (sukzessive Mehrsprachigkeit) zu; vgl. H ESSE / G ÖBEL (2009). Rezeptives Code-Switching ein- und mehrsprachiger Lerner/ innen in multilingualen Settings 59 43 (2014) • Heft 2 als von Drittvariablen isoliertes Phänomen auf, sondern als Phänomen bei Kindern, die mit ihren jeweils individuell geprägten Spracherfahrungen, Kompetenzen und sozialen Umfeldern (vgl. E LSNER 2007) eine besondere Lerngruppe darstellen. Grundsätzlich gilt: Der Einfluss vorgelernter Sprachen auf das Sprachenlernen kann als Bereicherung, aber auch als Problem verstanden werden. Wir nehmen hier eine Ressourcenperspektive ein, d.h. wir gehen davon aus, dass Mehrsprachigkeit vorhanden ist, und - genau wie die Muttersprache bei monolingualen Kindern (vgl. B UTZ - KAMM 1973) - prinzipiell positiv/ fördernd eingebracht werden kann, ohne daraus aber eine allgemeine Überlegenheit von mehrsprachigen versus einsprachigen Sprachlerner/ innen zu folgern. 1.2 Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer Welche Rolle spielen nun die mehrsprachigen Ressourcen der Schüler/ innen im Englischunterricht? Es gibt Hinweise darauf, dass für viele Klassen die Antwort eine einfache ist: Gar keine. H U (2010: 67) etwa konstatiert: „Während für die Schüler/ innen Mehrsprachigkeit und sprachlich-kulturelle Identität zentrale Kategorien darstellten, spielten diese für die Fremdsprachenlehrer/ innen kaum eine Rolle.“ Auch die von K OLLMEYER (2007) befragten Realschul- und Gymnasiallehrer/ innen äußerten sich zurückhaltend über den Einsatz der vielfältigen Muttersprachen im Sprachunterricht: „[Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit] wird den Lehrkräften zufolge im Schulalltag, weder negiert noch [...] in irgendeiner Form nutzbar gemacht. [...] es stört keinen weiter, aber es freut auch keinen sonderlich [Il/ C.L.]“ (K OLLMEYER 2007: 262). Ausnahmen mögen hier internationale bzw. bilinguale Schulen darstellen (vgl. N EU - MANN 2009, J ESSNER 2008). 2 Ein Grund für diese Vermeidung eines expliziten Einbezugs nicht-schulisch vorgelernter Sprachen könnte der monolinguale Habitus (G OGO - LIN 2008) sein, also die tiefverwurzelte Annahme und das darauf basierende Handeln, dass Schule in erster Linie einsprachig, hier: deutschsprachig, sei. Dabei weist G OGOLIN (2008: 256) jedoch auch darauf hin, dass dieser Habitus „nicht mehr unangefochten in allen Räumen das Monopol“ besitzt. Ein weiteres Element mögen Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung eines solchen Einbezugs sein, etwa ein Mangel an Materialien, die ohne große sprachliche Kenntnisse von Lehrkräften in den Unterricht eingebunden werden können. 2. Mehrsprachigkeit in Aktion: Die Arbeit mit MuViT In dieser Studie betrachten wir, wie Kinder mit Multilingual Virtual Talking Books - kurz MuViT (E LSNER 2011, http: / / www.mu-vit.eu/ ) - Englisch lernen. MuViT ist eine 2 Auch im Kontext von schulisch vorgelernten Sprachen gibt es in dieser Hinsicht Skepsis und Zurückhaltung, vgl. etwa B AHR [et al.] (1996). 60 Judith Bündgens-Kosten, Daniela Elsner 43 (2014) • Heft 2 Softwareanwendung, die im Rahmen des Comenius Projekts „Multiliteracy Virtual Project“ entstand. Grundlage ist ein kindgerechter Viewer, in dem multimodale und multikodale (Bild, geschriebener Text, gesprochener Text/ Geräusche) Geschichten betrachtet werden können (siehe Abbildung 1). Abb. 1: Screenshot aus der adaptierten Version von „Ruben and the magic stones“ (dreisprachige Version) Für diese Studie wurde eine der vorinstallierten Geschichten - „Ruben and the magic stones“ - mit Hilfe des dazugehörigen Authoring Tools überarbeitet. Die ursprünglich vorhandene Vokabelvorentlastung wurde gestrichen, vier Prompts, die zur gemeinsamen Bedeutungsaushandlung anregen sollen, wurden ergänzt. Auf zusätzliche akustische Reize wie Umgebungsgeräusche wurde verzichtet. Die Geschichte wurde in zwei Versionen erstellt: eine dreisprachige Version (Englisch, Deutsch, Türkisch) sowie eine einsprachig englische Version für die Kontrollgruppe. In diesem Aufsatz wird nur auf die Arbeit mit der dreisprachigen Version eingegangen, bei der die Kinder jederzeit die Möglichkeit hatten, die genutzte Sprache einfach zu wechseln. Rezeptives Code-Switching ein- und mehrsprachiger Lerner/ innen in multilingualen Settings 61 43 (2014) • Heft 2 2.1 Projekt „LIKE“ Die Daten, auf denen dieser Aufsatz basiert, sind dem noch laufenden Projekt „LIKE“ („Bedeutung der L1 (Türkisch) und L2 (Deutsch) für die Entwicklung kommunikativer Kompetenz in der L3 (Englisch) bei mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern“) entnommen. LIKE untersucht mit Hilfe von MuViT-Geschichten, wie Grundschüler/ innen sich über Negotiation of form/ Negotiation of meaning und Code-Switching multimodale/ multikodale englische Texte erschließen und welche Rolle in diesem Kontext die (familiär) vorgelernten Sprachen spielen. Zu diesem Zweck werden die Faktoren mehrsprachiger vs. einsprachiger Input (eine multimodale Geschichte auf Englisch/ Deutsch/ Türkisch bzw. nur auf Englisch), sowie Mehrsprachigkeitsstatus (Dyaden mit Türkisch und Deutsch sprechenden Schüler/ innen, mit ausschließlich Deutsch sprechenden Schüler/ innen, sowie gemischte Dyaden mit sowohl einer/ einem Deutsch, und einem/ einer Deutsch sowie Türkisch sprechenden Schüler/ in) systematisch variiert. Die hier besprochenen Daten entstammen der Pilotierungsphase und wurden in einer fünften Klasse des Gymnasiums in den ersten zwei Unterrichtswochen erhoben. Insgesamt erhoben wurden 24 Kinder in zwölf Dyaden, davon 18 Kinder/ neun Dyaden im dreisprachigen Treatment. Für den Abschnitt über rezeptives Code-Switching werden vier Dyaden im Detail betrachtet: Name der Dyade Geschlecht Sprachenkombination Treatment Manul MM Deutsch Deutsch & Türkisch dreisprachig Karakal JM Deutsch & Persisch & Kurdisch & Türkischkenntnisse 3 Deutsch dreisprachig Puma MM Deutsch Deutsch dreisprachig Leopard JJ Deutsch & Türkisch Deutsch & Türkisch dreisprachig Tab. 1: Übersicht über die vier Dyaden der Detailstudie 2.2 Versuchsaufbau Alle Versuchspersonen durchliefen folgenden Prozess: Im Vorfeld wurde eine schriftliche Einverständniserklärung bei den Eltern und Kindern eingeholt. Die Kinder füllten zunächst jeweils in Gruppen von sechs Personen einen Pretest-Fragebogen aus. Danach 3 Der Junge hatte bei der Erhebung seiner Sprachkenntnisse Türkischkenntnisse nicht erwähnt, wechselte aber während der Bearbeitung der Geschichte selber (produktives Code-Switching) ins Türkische. 62 Judith Bündgens-Kosten, Daniela Elsner 43 (2014) • Heft 2 wurden sie in Dyaden eingeteilt. Zuerst bearbeiten sie eine Information Gap-Aufgabe, bei der die Kinder jeweils leicht unterschiedliche Versionen eines Bildes hatten und durch die Beschreibung der jeweiligen Bildversion - bevorzugt auf Englisch, aber auch unter Rückgriff auf Deutsch und Türkisch - die Unterschiede identifizieren sollten. Nach der Information Gap-Aufgabe arbeiteten sie in der gleichen Konstellation an Laptops weiter, auf denen MuViT installiert und die modifizierte Version von „Ruben and the magic stones“ bereits geöffnet war. Die Kinder erhielten eine kurze Einführung in die Benutzung der Software sowie die Anweisung, die Geschichte auf Englisch durchzuarbeiten und dabei ggf. auch die deutsche oder türkische Version zu nutzen, wenn sie die englische nicht verständen. Diese Teilanweisung fiel für die Gruppe mit monolingualem Treatment, die nur die englische Version zur Verfügung hatte, weg. Die Bearbeitung der MuViT Geschichte wurde via Webcam und Screencapturing (beides inklusive Audio) aufgezeichnet. In einem Logfile wurden alle Interaktionen mit der Software aufgezeichnet. Nach der Arbeit an MuViT füllten die Kinder zwei Posttest- Bögen aus. Fokus der vorliegenden Analyse sind die Screencapture-Videos sowie die Logfiles. Die Daten aus Pre- und Posttests werden hier - über demographische Angaben hinaus - nicht in die Betrachtungen einbezogen. 3. Rezeptives Code-Switching (CS) bei der kollaborativen Arbeit mit MuViT Der Begriff ‚rezeptives Code-Switching‘ bzw. receptive Code-Switching wird in unterschiedlichen Bedeutungen genutzt. N EMOIANU (1980) beschreibt damit die Reaktionen eines Kindes auf das produktive Code-Switching seiner Mutter, Q UINTERO und R UM - MEL (1998) beschreiben hiermit die Fähigkeit einer Mutter, ihren Sohn in einer Sprache, die sie selber nicht produktiv verwendet, zu verstehen. In diesem Aufsatz nutzen wir den Begriff, wie er von E LSNER / L OHE zuerst 2013 im Kontext des MuViT-Projekts verwendet wurde (vgl. hierzu Flyer zum MuViT Projekt, E LSNER / L OHE 2013): „In the context of MuViT, Code-Switching is understood as the receptive and productive use of and alternation between two or more linguistic varieties in discourse situations, including interaction with others and texts.“ Wir unterscheiden: • rCS 1 : die Reaktion auf das produktive CS anderer • rCS 2 : die Fähigkeit, das produktive CS anderer zu verstehen • rCS 3 : das aktive Wechseln der Inputsprache Nur im dritten Sinne, bei rCS 3 , können wir also sagen, dass jemand aktiv rezeptives Code-Switching ausübt, anstatt lediglich auf das produktive Code-Switching einer anderen Person zu reagieren. Rezeptives Code-Switching in diesem Sinne ist auf multilinguale Medien angewiesen. Es müssen mehrere Sprachversionen verfügbar sein, zwischen denen mit vergleichsweise geringem Aufwand gewechselt werden kann. Oft Rezeptives Code-Switching ein- und mehrsprachiger Lerner/ innen in multilingualen Settings 63 43 (2014) • Heft 2 wird es sich dabei um digitale Medien handeln. Neben dem kulturellen Kontext (z.B. „Englischunterricht“) spielt auch die konkrete Aufgabenstellung eine große Rolle für rezeptives Code-Switching-Verhalten. In der hier vorgestellten Studie wird durch Aufgabestellung und in die Geschichte eingebaute Prompts eine verständnisorientierte Bearbeitung der Geschichte angeregt. Dennoch entstand ein unbeabsichtigter Nebenfokus auf Wortschatzitems dadurch, dass einige Kinder die im Pretest abgefragten Vokabelitems in der Geschichte wiedererkannten. Im Folgenden betrachten wir im Detail das Code-Switching-Verhalten von vier Dyaden, die sehr unterschiedlich an die mehrsprachige Geschichte herangegangen sind. Wir versuchen, das Code-Switching-Verhalten von Manul, Karakal, Puma und Leopard mit Hilfe quantitativer Daten (Logfiles) sowie qualitativer Daten (Transkription der Gespräche, die während der MuViT-Bearbeitung geführt wurden) zu beschreiben, und auf dieser Basis vier grundlegende Herangehensweisen an die Bearbeitung mehrsprachiger Geschichten zu beschreiben. Die vier Dyaden wurden für diesen Zweck ausgewählt, weil sie gut die unterschiedlichen Herangehensweisen illustrieren können. Mischformen, sowie Muster die letztlich auf eine Verweigerung gegen die Aufgabenstellung oder den Gesamtkontext der Aufgabenbearbeitung zurückzuführen sind, wurden hier bewusst außen vor gelassen. 3.1 Logfile-Analysen Betrachten wir in einem ersten Schritt, wie viele Seiten je Sprache die einzelnen Dyaden aufgerufen haben. Abbildung 2 (S.  64) zeigt die Anzahl an types (Seitenaufrufe insgesamt je Sprache, jeweils exklusive Mehrfachaufrufe einer Seite). Manul hat die Geschichte ausschließlich auf Englisch rezipiert, Karakal hat jede Seite auf Deutsch und auf Englisch betrachtet sowie einzelne Seiten auf Türkisch. Puma und Leopard haben beide vereinzelte Switches in eine - oder beide - nicht-englische Sprachen. Ergänzen wir diese Auswertung durch eine Analyse der Häufigkeit von Switches, wird der Unterschied zwischen Karakal auf der einen und Puma und Leopard auf der anderen Seite noch einmal deutlicher. Während Puma und Leopard vergleichsweise oft wechseln (je 18 und 21 Wechsel) hat Karakal nur sehr wenige Wechsel (4) obwohl diese Dyade viele Seiten auf Deutsch und einige auf Türkisch aufgerufen hat. Es ist also anzunehmen, dass nach einem Sprachwechsel Karakal viele Seiten in der jeweiligen Sprache betrachtet, während Puma und Leopard nach jedem Sprachwechsel wieder schnell weiter wechseln. 64 Judith Bündgens-Kosten, Daniela Elsner 43 (2014) • Heft 2 Abb. 2: Anzahl englischer, deutscher, türkischer Seiten, die aufgerufen wurden (types) In Abbildung 3 (  S. 65) wird ausschnitthaft die Bearbeitung der Geschichte im zeitlichen Verlauf dargestellt. Jedes Kästchen stellt dabei eine aufgerufene Seite dar, beginnend von der ersten Seite (unten) bis zur letzten Seite (oben). Die Farbe der Kästchen stellt dabei die gewählte Sprache dar (schwarz: Englisch, grau: Deutsch, weiß: Türkisch). Die Größe der Kästchen ist hier ohne Bedeutung, sie schwankt in der Darstellung lediglich in Abhängigkeit von der Anzahl der aufgerufenen Seiten (mehr aufgerufene Seiten, etwas kleinere Kästchen). Rezeptives Code-Switching ein- und mehrsprachiger Lerner/ innen in multilingualen Settings 65 43 (2014) • Heft 2 Abb. 3: Visualisierung Seiten/ Sprache für die vier Dyaden (Ausschnitt) An den vollständigen Visualisierungen finden sich die bisherigen Analysen bestätigt. Manul rezipiert die Geschichte ausschließlich auf Englisch, Karakal dagegen betrachtet die vollständige Geschichte auf Englisch, wechselt dann auf Deutsch, blättert in der deutschen Version zurück bis an den Anfang der Geschichte, betrachtet daraufhin die Geschichte von Anfang bis Ende auf Deutsch, blättert dann wieder zurück an den Anfang der Geschichte (ebenfalls auf Deutsch), und wechselt nun zur türkischen Version zur Geschichte, deren Bearbeitung auf Seite 2 abgebrochen wurde. Puma und Leopard dagegen scheinen die Geschichte auf Englisch zu betrachten und dann an mehreren 66 Judith Bündgens-Kosten, Daniela Elsner 43 (2014) • Heft 2 Punkten in der Geschichte in (die) andere(n) Sprachen zu wechseln. Bei Puma sehen wir etwa, wie Seite 18 erst auf Englisch betrachtet wird, dann ein Wechsel auf die deutsche Version dieser Seite stattfindet, und anschließend auf die englische Version zurückgewechselt wird. Die Bearbeitung wird daraufhin auf Englisch fortgesetzt. Während Manul also durch den Verzicht auf Switches gekennzeichnet ist, könnte man Karakals Code-Switching-Verhalten als „Makro-Switches“ und Pumas und Leopards Wechsel als „Mikro-Switches“ bezeichnen. Dabei bezeichnet „Makro-Switches“ solche Switches, die zum dauerhaften Wechsel der Sprache führen (etwa nach dem Modell „Erst Sprache a, dann Sprache b“), während Mikro-Switches dadurch charakterisiert sind, dass für einen Moment in eine Sprache gewechselt wird, worauf aber eine schnelle Rückkehr in die Ausgangssprache folgt. Im nächsten Schritt sollen die Transkripte ausgesuchter Switching-Stellen einbezogen werden, um die Unterschiede zwischen Puma und Leopard herauszuarbeiten. 3.2 Screencast-Analyse Wir haben in der Analyse der Logfiles sehen können, wie sehr sich die Nutzung der mehrsprachigen Ressourcen innerhalb der MuViT Software unterscheidet. Neben der grundsätzlichen Differenz Switches (Manul) - keine Switches (Karakal, Puma, Leopard), konnte schon zwischen denen, die zu Makro-Switches neigen (Karakal), sowie denjenigen, die zu Mikro-Switches tendieren (Puma und Leopard) unterschieden werden. Im folgenden Abschnitt werden wir ergänzend die Transkripte der Screencastvideos hinzuziehen, um die verschiedenen Typen von Mikro-Switches bei Puma und Leopard zu illustrieren. 4 Die Dyade Puma nutzt den Wechsel zwischen Sprachen gezielt, um das Verständnis der Geschichte oder einzelner sprachlicher Einheiten zu sichern. A USSCHNITT I (Puma) 5 [MuViT: Seite 6 (Englisch) ist geöffnet] MuViT: Did you understand everything? If not: Ask your partner for help. [Wechsel auf Seite 7] KIND 1: Mach das mal auf Deutsch (.) geh zurück und mach's auf Deutsch wenn wir's nicht verstanden haben (…) [Wechsel auf Seite 6, Wechsel zu Deutsch] [KIND 1 liest vor] Hast du alles verstanden / wenn nein bitte deinen Partner um Hilfe (.) okay doch wir haben alles verstanden oder / [Wechsel zu Englisch] oder hast du was nicht verstanden / KIND 2: Ich hab was ver (.) ich hab alles verstanden also er geht zur Schule und er hat ein roten Stein gefunden 4 Die Transkripte wurden von Charlotte Stemp im Rahmen ihrer Ersten Staatsarbeit erstellt und von Christine Suchan überarbeitet. 5 Für die Transkripte wurden Schüleräußerungen, Versuchsleiteräußerungen und der akustische MuViT- Output gleichberechtigt transkribiert. Eine Aufschlüsselung der Transkriptionsregeln findet sich im Anhang (  S. 73). Rezeptives Code-Switching ein- und mehrsprachiger Lerner/ innen in multilingualen Settings 67 43 (2014) • Heft 2 KIND 1: Ja und er stellt sich vor was er damit machen könnte [Wechsel auf Seite 5] KIND 2: Ja er könnte Bauarbeiter werden KIND 1: Ja genau [Wechsel auf Seite 6, 7] Ausschnitt 1 stellt die erste Code-Switching-Episode dieser Dyade dar. Die ersten fünf aufgerufenen Seiten beinhalteten den Anfang der Geschichte und wurden ausschließlich auf Englisch betrachtet. Seite 6 nun enthält den ersten Prompt und damit die erste Handlungsaufforderung. In einem ersten Schritt geht die Dyade zur nächsten Seite weiter, erst nach dem Wechsel auf Seite 7 fordert Kind 1 dazu auf „Mach das mal auf Deutsch“. Erst nachdem das Mädchen die deutsche Übersetzung vorgelesen hat, scheint sie die Aufgabenstellung verstanden zu haben, zumindest reagieren die Kinder nun inhaltlich auf den Prompt. Noch während der mündlichen Bearbeitung des Prompts wechseln sie wieder ins Englische, in dem sie die darauf folgenden Seiten rezipieren. Ein weiterer Switch wird bei Seite 7 ausgeführt. A USSCHNITT II (Puma) [MuViT: Seite 7 (Englisch) ist geöffnet] MuViT: The stone sparkles. Suddenly Ruben is in the middle of diggers and trailers. KIND 2: Diggers / was heißt das diggers / diggers / KIND 1: Mach das mal jetzt auf Deutsch [Wechsel zu Deutsch] MuViT: Der Stein funkelt. KIND 2: Diggers Bagger [Wechsel zu Englisch] MuViT: The stone sparkles. Suddenly [Wechsel auf Seite 8] KIND 2: Mann oh ich bin so doof [unverständlich] Ein konkretes Wort - diggers - ist nicht verstanden worden. Vermutlich lag ein besonderer Fokus auf dem Begriff, da dieses Wort auch im Vokabel-Pretest abgefragt worden war. Die Kinder wechseln die Sprache und identifizieren erfolgreich das deutsche Äquivalent zu digger. Das Problem scheint nun für die Kinder erfolgreich gelöst zu sein, da sie mit dem Anhören der nächsten Seite - nun wieder auf Englisch - fortfahren. Beide Vorgehensweisen - der Wechsel zum Deutschen, wenn etwas allgemein nicht verstanden wurde, sowie der gezielte Wechsel, um einzelne Worte zu übersetzen - ziehen sich auch durch die weitere Bearbeitung der Geschichte. Diese Strategie muss dabei nicht immer erfolgreich sein, zumindest nicht aus der Perspektive einer zielsprachnahen Übersetzung. Das Datenmaterial enthält Beispiele, in denen ein Aushandlungsprozess zwar objektiv betrachtet in einer sachlich falschen Übersetzung endet, subjektiv gesehen für die Kinder aber zufriedenstellend ist. Puma, so ließe sich dies zusammenfassen, wechselt gezielt vom Englischen ins Deutsche, um konkrete Verständnisschwierigkeiten oder Wortschatzlücken zu bearbeiten. Im Gespräch zeigt sich dabei eine Struktur parallel zu V ARONIS / G ASS ’ (1985) Beschreibung von non-understanding routines als einer Abfolge von trigger („the trigger is that utterance or portion of an utterance on the part of the speaker which results in some indication of non-understanding on the part of the hearer“; ebd.: 74), indicator 68 Judith Bündgens-Kosten, Daniela Elsner 43 (2014) • Heft 2 („an utterance on the part of the hearer that essentially halts the horizontal progression of the conversation and begins the downward progression, having the effect of ‘pushing down the conversation’ rather than impelling it forward“; ebd.: 75), response („speaker’s response (R) to the indicator, acknowledging the non-understanding in some way“; ebd.) und einer reaction to response, die die Sequenz abschließt. Während in dem Modell von V ARONIS / G ASS die Aushandlung immer auf die Äußerung eines Gesprächspartners bezogen ist, findet in Ausschnitt II eine gemeinsame Bedeutungsaushandlung eines externen Textes statt. Das rezeptive Code-Switching erfüllt dabei z.B. die Funktion der response, die auf einen Ausdruck des Nicht-Verstehens, den indicator, folgt. Vergleichen wir dies nun mit rezeptiven Code-Switching-Episoden bei Leopard. In dieser Dyade wird gleich zu Beginn der Arbeit am Computer - noch während die Aufgabenstellung erläutert wird - von den Kindern ins Türkische gewechselt. A USSCHNITT III (Leopard) [MuViT Seite 1 (Englisch) ist geöffnet, während noch die Aufgabenstellung erklärt wird, Wechsel zu Türkisch] KIND 1: [liest flüsternd vor; überlappend zur Aufgabenerklärung durch VL] Ruben ve sihirli taşlar. KIND 2: [lacht] [Aufgabenerklärung durch VL1 und VL2 gehen weiter. Rückfragen von anderen Kindern.] KIND 1: Wir machen jetzt auf Türkisch oder / KIND 2: Was denn / VL1: That is Turkish, yes. You can you can start in English [Wechsel zu Türkisch] KIND 1: [überlappt] machen wir einfach auf Türkisch (.) machen wir lieber Türkisch (…) [Wechsel zu Englisch] was / mach (.) [unverständlich] KIND 1: You can start in English and then if you want to change to Turkish you can change MuViT: Ruben and the magic stones. [Wechsel auf Seite 2] Noch vor Beginn der Lektüre wechseln die Kinder somit ins Türkische, woraufhin die Versuchsleiterin die Erwartung expliziert, dass Türkisch und Deutsch als Hilfen für die Bearbeitung des englischen Texts dienen und daher auf Englisch begonnen werden solle. Beide Kinder in dieser Dyade sind zweisprachig Türkisch-Deutsch, ihre ursprüngliche Entscheidung, auf Türkisch zu beginnen, zeigt ihre starke Motivation, diese Sprache zu nutzen. Leopard ist auch im Vergleich zur Gesamtgruppe (12 Dyaden) diejenige Dyade, die die meisten Seiten auf Türkisch aufruft. Da direkt zu Beginn der Bearbeitung ein Verständnisproblem eher unwahrscheinlich ist, ist an dieser Stelle der Sprachwechsel vermutlich eher identitäts- oder neugierdebezogen. Da keine explizite Begründung für den Wunsch nach Sprachwechsel angegeben wird, kann hier jedoch nur spekuliert werden. Im nächsten Ausschnitt sind intensive Sprachwechsel zu beobachten. Rezeptives Code-Switching ein- und mehrsprachiger Lerner/ innen in multilingualen Settings 69 43 (2014) • Heft 2 A USSCHNITT IV (Leopard) [Seite 9 ist auf Englisch geöffnet] MuViT: Ruben can’t hold on to the pipe. [Wechsel zu Deutsch] Ruben kann das Rohr [Wechsel zu Englisch] Ruben can’t hold [lachen] on to the [Wechsel zu Deutsch] Ruben kann [Wechsel zu Englisch] Ruben can’t hold on to the pipe. It falls on his foot. “I wish I were at school! ” KIND 1: Mach ma Türkisch [Wechsel zu Türkisch] MuViT: Ruben boruyu tutamaz. Boru ayaginin üzerine düser. KINDER: [lachen] MuViT: Ruben can’t [Wechsel auf Seite 10] Auch hier gilt wieder: Die Aufforderung zum Sprachwechsel wird nicht begründet. Die einzige Reaktion, die beobachtbar ist, ist das Lachen der Lernenden. Lachen kann viele Funktionen haben und ist als solches schwer zu interpretieren. In Kombination mit den verschiedenen Sprachwechseln - Englisch nach Deutsch nach Englisch nach Türkisch - könnte es als Indikator für eine Lust am Wechseln, eine Freude an/ Belustigung durch die verschiedenen Sprachversionen gedeutet werden. Ein konkretes Verständnisproblem scheint den Switches auch hier nicht zugrunde zu liegen. Wir haben gesehen, wie Sprachwechsel ins Türkische, aber auch ins Deutsche und Englische, aktiv gesucht wurden, auch wenn kein Verständnisproblem evident war. Lachen, die große Motivation, zu wechseln, bevor die eigentliche Aufgabenbearbeitung begonnen hat, sind Indikatoren für einen spielerischen neugierde- oder identitätsbezogenen Umgang mit den unterschiedlichen Sprachangeboten i.S. von Code-Switching- Affordanzen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Dyade Switches nicht auch für Verständnisaushandlungen nutzen kann. So findet sich auch bei Leopard eine Struktur, die stark an die typischen Code-Switching-Episoden von Puma erinnert. Die hier aufgezeigten Unterschiede zwischen Puma und Leopard haben viel mit der diskursiv etablierten Motivation für rezeptives Code-Switching an einer konkreten Stelle zu tun. Das gezielte Switchen zum Zwecke der Bedeutungsklärung werden wir als „fokussiertes rezeptives Code-Switching“, ein Switchen ohne einen solchen Zweck als „offenes rezeptives Code-Switching“ bezeichnen. Fokussiertes Switchen dient einem konkreten Wissensinteresse, sein Einsatz ist an Probleme mit dem Verständnis des Textes geknüpft, die im Gespräch der Kinder auch erkennbar werden müssen. Ein fokussierter Switch ist dann ‚geglückt‘, wenn das diskursiv etablierte Verständnisproblem zur Zufriedenheit der Beteiligten gelöst wurde. Beim offenen Code-Switching wird das Ziel der Switches ein mehr spielerisches, entdeckendes. Es ist „offen“ in dem Sinne, dass es kein vordefiniertes „Ergebnis“ der Switches gibt. Würde immer dort, wo für Switches keine (verständnisorientierte) Funktion diskursiv etabliert wird, von offenen Switches ausgegangen, entstünde die Gefahr, dass diese Kategorie zur ‚Reste-Kategorie‘ verkommt. Daher gilt, dass es auch für offene Switches Belege für das Fehlen einer verständnisorientierten Funktion geben sollte, etwa Gelächter oder andere Anzeichen für einen offenen, spielerischen, entdeckenden Umgang mit dem rezeptiven Code-Switching. Abbildung 4 (  S. 70) fasst die verschiedenen Typen von rezeptivem Code- Switching-Verhalten noch einmal zusammen: 70 Judith Bündgens-Kosten, Daniela Elsner 43 (2014) • Heft 2 Abb. 4: Grundtypen von rezeptivem Code-Switching-Verhalten 4. Fazit Dieser Beitrag betrachtet, wie Kinder in Dyaden mit den technischen Möglichkeiten für rezeptives Code-Switching umgehen. Vier grundlegende Herangehensweisen wurden dabei beschrieben: kein Code-Switching, Makro-Switches, offene Mikro-Switches sowie fokussierte Mikro-Switches. Unter Rückgriff auf eine größere Datenbasis wird sich in Zukunft beurteilen lassen, ob in unserer Stichprobe etwa fokussierte Switches zu einem höheren Vokabelzuwachs führen als offene Switches. Auch ob die verschiedenen Herangehensweisen rein persönliche oder momentane Vorlieben widerspiegeln oder ob sie mit Faktoren wie etwa besonders hoher Englischkompetenz oder hohem Rezeptives Code-Switching ein- und mehrsprachiger Lerner/ innen in multilingualen Settings 71 43 (2014) • Heft 2 Sprachbewusstsein korrelieren, wird zu einem späteren Zeitpunkt beurteilt werden können. Dann lässt sich auch sagen, ob „Strategische Mehrsprachigkeit“, also der gezielte Einsatz verschiedener (Mutter-)Sprachen im Sprachunterricht, eine sinnvolle Ergänzung zur „Aufgeklärten Einsprachigkeit“ (B UTZKAMM 1973) darstellen kann. Literatur B AHR , Andreas / B AUSCH , Karl-Richard / H ELBIG , Beate / K LEPPIN , Karin / K ÖNIGS , Frank G. / T ÖNSHOFF , Wolfgang (Hrsg) (1996): Forschungsgegenstand Tertiärsprachenunterricht: Ergebnisse eines empirischen Projekts. Bochum: Brockmeyer. B UTZKAMM , Wolfgang (1973): Aufgeklärte Einsprachigkeit: Zur Entdogmatisierung der Methode im Fremdsprachenunterricht. Heidelberg: Quelle & Meyer. C ENOZ , Jasone (2003): „The additive effect of bilingualism on third language acquisition: A review“. In: International Journal of Bilingualism 7.1, 71-87. C UMMINS , Jim (2001): „Linguistic interdependence and the educational development of bilingual children“. In: B AKER , Colin / H ORNBERGER , Nancy H. (Hrsg.): An Introductory Reader to the Writings of Jim Cummins. Clevedon: Multilingual Matters, 63-95. D EUTSCHE W IRTSCHAFTSNACHRICHTEN (2012): „Erstmals in den Lehrplänen: Europas Kinder lernen Mandarin“ [Online vom 19.12.2012, http: / / deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/ 2012/ 12/ 19/ erstmals-in-den-lehrplaenen-europas-kinder-lernen-mandarin/ (23.06.2014)]. E LSNER , Daniela (2007): Hörverstehen im Englischunterricht der Grundschule: ein Leistungsvergleich zwischen Kindern mit Deutsch als Muttersprache und Deutsch als Zweitsprache. Frankfurt/ M.: Lang. E LSNER , Daniela (2011): „Developing multiliteracies, plurilingual awareness & critical thinking in the primary language classroom with multilingual virtual talkingbooks“. In: Encuentro 20, 27-38. E LSNER , Daniela / L OHE , Viviane (2013): Fostering Multilingualism with Computer-Based Multilingual Storybooks: The European Comenius Project MuViT. Presentation at WorldCALL Conference 2013, Glasgow, UK (unveröffentlichter Vortrag). G OGOLIN , Ingrid (²2008): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann. Göbel, Kerstin / Rauch, Dominique / Vieluf, Svenja (2011): „Leistungsbedingungen und Leistungsergebnisse von Schülerinnen und Schülern türkischer, russischer und polnischer Herkunftssprachen“. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 16.2, 50-65. H U , Adelheid (2010): „Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit und schulischer Fremdsprachenunterricht - revisited“. In: A PPEL , Joachim / D OFF , Sabine / . R YMARCZYK , Jutta / T HALER , Engelbert (Hrsg.): Foreign Language Teaching - History, Theory, Methods. Berlin [etc.]: Langenscheidt, 65- 82. H ESSE , Hermann-Günter / G ÖBEL , Kerstin (2009): „Mehrsprachigkeit als Kapital: Ergebnisse der DESI Studie“. In: G OGOLIN , Ingrid / N EUMANN , Ursula (Hrsg.): Streitfall Zweisprachigkeit - The Bilingualism Controversy. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 281-287. J ESSNER , Ulrike (1999): „Metalinguistic awareness in multilinguals: Cognitive aspects of third language learning“. In: Language Awareness 8.3-4, 201-209. Jessner, Ulrike (2006): Linguistic Awareness in Multilinguals: English as a Third Language. Edinburgh: Edinburgh University Press. J ESSNER , Ulrike (2008): „Teaching third languages: Findings, trends and challenges“. In: Language Teaching 41.1, 15-56. 72 Judith Bündgens-Kosten, Daniela Elsner 43 (2014) • Heft 2 K EßLER , Jörg-Ulrich / P AULICK , Christian (2010): „Mehrsprachigkeit und schulisches Fremdsprachenlernen: Englischunterricht bei Lernern mit Migrationshintergrund“. In: A HRENHOLZ , Bernt (Hrsg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. Tübingen: Narr, 257-278. K OLLMEYER , Katrin (2007): „Englischunterricht als Fenster zur Mehrsprachigkeit“. In: E LSNER , Daniela / K ÜSTER , Lutz / V IEBROCK , Britta (Hrsg.): Fremdsprachenkompetenzen für ein wachsendes Europa. Das Leitziel „Multiliteralität“. Frankfurt/ M.: Lang, 256-268. N EMOIANU , Anca M. (1980): The boat’s gonna leave: A study of children learning a second language from conversations with other children. Amsterdam: J. Benjamins. N EUMANN , Ursula (2009): „Der Beitrag bilingualer Schulmodelle zur Curriculuminnovation“. In: G OGOLIN , Ingrid / N EUMANN , Ursula (Hrsg.): Streitfall Zweisprachigkeit - The Bilingualism Controversy. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 317-331. O DLIN , Terence/ J ARVIS , Scott (2004): „Same Source, Different Outcomes: A Study of Swedish Influence on the Acquisition of English in Finland“. In: International Journal of Multilingualism 1.2, 123-140. Q UINTERO , Elizabeth P. / R UMMEL , Mary Kay (1998): American Voices: Webs of Diversity. Upper Saddle River, N.J.: Merrill. S CHWERDTFEGER , Inge (2000): „Ideologiekritik der Normen im Fremdsprachunterricht - oder machen Lehrende Sprachen schwer? “ In: B ÖRNER , Wolfgang / V OGEL , Klaus (Hrsg.): Normen im Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr, 33-48. S CHWIPPERT , Knut (2007): „Migrationsbedingte Heterogenität von Schülerinnen und Schülern am Ende der vierten Jahrgangsstufe in Hamburg“. In: B OS , Wilfried / G RÖHLICH , Carola / P IETSCH , Marcus (Hrsg.): KESS 4: Lehr- und Lernbedingungen in Hamburger Grundschulen. Münster: Waxmann, 35-46. S INGLETON , David / A RONIN , Larissa (2007): „Multiple language learning in the light of the Theory of Affordances“. In: Innovation in Language Learning and Teaching 1.1, 83-96. S WAIN , Merill / L APKIN , Sharon / R OWEN , Norman / H ART , Doug (1990): „The role of mother tongue literacy in third language learning“. In: Language, culture and curriculum 3.1, 65-81. T REMBLAY , Marie-Claude (2006): „Cross-linguistic influence in third language acquisition: The role of L2 proficiency and L2 exposure“. In: CLO/ OPL 34, 109-119. V ARONIS , Evangeline Marlos / G ASS , Susan (1985): „Non-native/ Non-native conversations: A model for negotiation of meaning“. In: Applied linguistics 6.1, 71-90. W ESKAMP , Ralf (2007): Mehrsprachigkeit: Sprachrevolution, kognitive Sprachverarbeitung und schulischer Fremdsprachenunterricht. Braunschweig: Schroedel. W ILDEN , Eva / P ORSCH , Rafaela (i.Vorb.): „Die Hör- und Leseverstehensleistungen von Kindern im Fach Englisch am Ende der Grundschulzeit unter besonderer Berücksichtigung lebensweltlicher Ein- und Mehrsprachigkeit“. In: K ÖTTER , Markus / R YMARCZYK , Jutta (Hrsg.) (2014): Englischunterricht auf der Primarstufe: neue Forschungen weitere Entwicklungen. Frankfurt/ M.: Lang [i.V.]. Rezeptives Code-Switching ein- und mehrsprachiger Lerner/ innen in multilingualen Settings 73 43 (2014) • Heft 2 Transkriptionszeichen VL Versuchsleiter/ innen KIND (z.B. KIND 1) Schüler/ innen MuViT MuViT-Software / = Stimme wird angehoben [incomprehensible] unverständlich (.) kurze Pause (…) lange Pause Kursiv auffällige Betonung [] nonverbale Äußerungen, Hinweise zu überlappenden Sprecher/ innen, Hinweise zur MuViT Nutzung (z.B. Seitenwechsel, Sprachwechsel)