Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2014
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Gnutzmann Küster SchrammPraktiken der Multiliteralität in einem mehrsprachigmultimedialen Kontext
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Lutz Küster
flul4320074
© 2014 Narr Francke Attempto Verlag 43 (2014) • Heft 2 L UTZ K ÜSTER * Praktiken der Multiliteralität in einem mehrsprachigmultimedialen Kontext Ergebnisse einer empirischen Erhebung Abstract. This paper presents the findings of an empirical research on practices of multiliteracies, especially on the interplay of linguistic diversity and multimodal use among young adult learners. On the basis of quantitative and qualitative data the study gives a detailed insight in how multilingual language learners use their linguistic competences in digital environments. It shows that these practices are closely interconnected, which might lead to a rather integrative than additve understanding of multiliteracies. 1. Einführung Pluralität der Modi medialer Wirklichkeitsaneignung, Heterogenität der Lernvoraussetzungen, Mehrsprachigkeit - es sind allesamt Erscheinungsformen von Vielzahl und Vielfältigkeit, welche die N EW L ONDON G ROUP (1996, 2000) als Ausgangspunkte ihres pädagogisch-didaktischen Konzepts wählt. Ihre Gegenwartsdiagnose deckt sich mit unserer Alltagserfahrung und wird in den knapp 20 Jahren seit ihrer Begründung in eindrucksvoller Weise bestätigt. Ziel der hier vorgestellten Untersuchung ist es nun, diese Alltagswahrnehmung auf den Prüfstand empirischer Forschung zu stellen und differenzierte Einblicke in jene Praktiken von Multimodalität und Mehrsprachigkeit zu gewinnen, die für das Konzept der multiliteracies kennzeichnend sind. Unabhängig zunächst von didaktischen Zielsetzungen, wie sie von der Forschergruppe im Rahmen ihres pädagogisch-didaktischen Programms vorgenommen werden, geht es darum, die Mikroebene mehrsprachig-multimedialer Praxis näher zu erforschen. Abweichend von der Mehrzahl englischsprachiger Forschungsarbeiten verfolgt die Untersuchung eine spezifisch fremdsprachendidaktische Perspektive, wenn sie danach fragt, wie individuelle Mehrsprachigkeit in medialen Kontexten genutzt wird. Das hierbei zugrunde gelegte Verständnis von ‚Medien‘ orientiert sich an G ROEBEN (2002: 14), der Medien eine materielle Natur zuschreibt, sie zugleich aber mit ihren kommerziellen, politischen und ideologischen Implikationen sowie ihren ästhetischen Codes * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Lutz K ÜSTER , Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Romanistik, Unter den Linden 6, 10099 B ERLIN . E-Mail: lutz.kuester@hu-berlin.de Arbeitsbereiche: Literatur- und Mediendidaktik, Didaktik des (inter)kulturellen Lernens, Kompetenzentwicklung im Bereich der multiliteracies. Praktiken der Multiliteralität in einem mehrsprachig-multimedialen Kontext 75 43 (2014) • Heft 2 und Konventionen in den Blick nimmt und als Instanz ebenso individueller wie kollektiver Wirklichkeitskonstruktionen betrachtet. Ein solcher Zuschnitt ist mit dem der N EW L ONDON G ROUP in hohem Maße kongruent. Die Studie setzt des Weiteren bei dem Verständnis von Vielheit im Konzept der Multiliteralität an: Inwiefern haben wir es mit im Wesentlichen getrennten, sich in der Summe addierenden Literalitäten oder vielmehr mit einem genuin eigenständigen, integrativen Konstrukt zu tun? Im Englischen wird gemeinhin der Pluralbegriff benutzt, was auf ein additives Verständnis schließen lässt. Welche Vernetzungen der einzelnen Literalitäten lassen sich - so die zweite Untersuchungsfrage - in konkreten Anwendungskontexten beobachten und inwiefern lässt sich daraus ein eher integratives Verständnis des Konzepts ableiten? Für die empirische Erhebung wurde der Adressatenkreis fortgeschrittener studentischer Fremdsprachenlerner ausgewählt, da vermutet werden kann, dass die zur Rede stehenden Praktiken in dieser Population besonders ausgeprägt sind. Aus Platzgründen muss sich der Beitrag auf die Darstellung der empirischen Erhebung und ihrer Ergebnisse beschränken. Hinsichtlich der theoretischen Fundierungen sei auf die Einleitung des vorliegenden Themenschwerpunkts, auf den Beitrag von C OLLIER / R OWSELL in diesem Heft sowie auf E LSNER / K ÜSTER / V IEBROCK (2007) verwiesen. 2. Untersuchungsdesign Die empirische Erhebung wurde im Januar 2014 durchgeführt. Sie umfasste drei Teile, eine online-basierte Fragebogenerhebung, eine Prozessanalyse und rekonstruktive Einzelfallstudien (vgl. auch K ÜSTER 2012). Die quantitativ ausgerichtete Fragebogenerhebung richtete sich an Studierende aller Fachrichtungen des Sprachenzentrums der Humboldt-Universität (HU), aber - über den Verteiler des „Arbeitskreises der Sprachenzentren“ (AKS) - auch anderer Universitäten im deutschsprachigen Raum. Sie fußte auf einer mit Studierenden des Lehramts an der HU durchgeführten Pilotstudie aus dem Jahre 2012. Anders als diese, die in Papierund-Stift-Form erfolgte, nutzte die im Folgenden vorgestellte Untersuchung das onlinegestützte Werkzeug Limesurvey. Mit ihm war zugleich die Anonymität der Datenerhebung gewährleistet. Die Stichprobe erfasste 403 gültige Antwortsätze und gliederte sich in vier Rubriken: zu personenbezogenen Basisinformationen (A), zum Profil sprachlicher Kompetenzen und sprach-/ kulturraumbezogener Präferenzen (B), zum Profil der Medienutzungsgewohnheiten und -präferenzen (C) sowie eine kombinierte Rubrik (D) zur Verwendung der individuell verfügbaren Sprachen bei der Mediennutzung. Geschlossene Fragen zum Ankreuzen sollten den Zugang zur Fragebogenerhebung niedrigschwellig halten. Bei Abfragen mit Skalierungen wurde eine vierstufige Likert-Skala verwendet, jeweils ergänzt um die Möglichkeit der Nichtbeantwortung. Über die Selbsteinschätzungen der Fremdsprachenlerner hinaus sollte eine in Absprache mit den Lehrenden und Lernenden dreier Sprachkurse für Hörer aller Fachbereiche im Multimedia-Raum des HU-Sprachenzentrums durchgeführte Prozessanalyse 76 Lutz Küster 43 (2014) • Heft 2 (n = 26) Aufschluss geben über die Frage, welche sprach- und medienbezogenen Strategien die Lerner bei einer Internetrecherche verwenden und in welchem Maße sie diese vernetzen. Hier war die Stichprobe im Wesentlichen auf Lernende romanischer Sprachen begrenzt. 1 Teilnehmer/ innen eines Französisch-, eines Spanisch- und eines gemischten Italienisch-/ Englischkurses 2 jeweils auf dem Niveau B 2 / C 1 wurde eine Aufgabe vorgelegt, deren Lösung in besonderer Weise die Aktivierung von Kompetenzen in unterschiedlichen Sprachen und die Nutzung digitaler Medienformate voraussetzte. Die Studierenden erhielten die Aufforderung, sich im Internet über eine Persönlichkeit der Musikszene, alternativ auch der Filmbranche oder der Politik - einmal aus dem Sprachgebiet ihrer jeweils für den Kurs ausschlaggebenden Zielsprache und ein weiteres Mal aus dem Sprachgebiet einer anderen ihnen verfügbaren Fremdsprache - zu informieren. Dabei sollte sie die Zielvorstellung leiten, später im Kurs die von ihnen ausgewählte Person mündlich zu porträtieren. Da die Recherchezeit auf 2 x 30 Minuten beschränkt war, sollte sie lediglich einer ersten Orientierung dienen und nicht bereits in die Erstellung von Notizen oder dergleichen einmünden. Die Studierenden waren ermuntert, sich in der Wahl der herangezogenen Seiten und Sprachen zudem völlig frei zu fühlen; die Recherche im Raum der Universität sollte soweit wie möglich der am heimischen Rechner nahekommen. Die Suchbewegungen im Netz wurden - gesteuert über das Programm Morae® - anonymisiert für jeden Arbeitsplatz in log files sowie in einem Videostream der Bildschirmbewegungen im Zentralrechner des Multimedia-Raums gespeichert. Zur weiteren Bearbeitung wurden die digitalen Protokolle anschließend ins Microsoft-Excel- Format konvertiert. Ihnen ist v.a. zu entnehmen, auf welchen Seiten in welchen Sprachen sich die Studierenden wie lange aufgehalten und wie häufig sie zwischen unterschiedlichen Seiten und Sprachen gewechselt haben. Auf einem zu Beginn der jeweiligen Sitzung verteilten Erhebungsblatt hatten die Studierenden zudem Angaben zu ihrem individuellen Sprachbesitz gemacht. Dies diente als Basis für die spätere Unterscheidung zwischen in der Recherche genutzten Erst- oder Zweitsowie Fremdsprachen. Um die individuellen Nutzungsprofile besser rekonstruieren zu können, habe ich mit 8 Studienteilnehmer/ innen zu einem späteren Zeitpunkt die Videostreams ihrer Recherchen angesehen und diese in Form eines stimulated recall kommentieren lassen. 1 Eine vorab durchgeführte Erhebung mit einem Kurs in Deutsch als Fremdsprache, an dem nur sehr wenige Studierende teilnahmen, fungierte als Probelauf, der half, die Modalitäten der technischen Durchführung zu optimieren. Die hierbei gewonnenen Daten wurden aufgrund ihrer Unvollständigkeit jedoch nicht in die Ergebnisanalysen einbezogen. Selbstverständlich war die Teilnahme an der Erhebung freiwillig; das Einverständnis wurde per Unterschrift bestätigt. Einige der Kursteilnehmer/ innen gaben die Zustimmung nicht, sie sind demzufolge in der Studie auch nicht berücksichtigt worden. 2 Das vorliegende Format ist gewiss ungewöhnlich: Eine Italienisch-Lektorin und ein Englisch-Lektor leiteten gemeinsam diesen Sprachkurs, der Studierenden die Gelegenheit bot, ihre Kompetenzen in beiden Zielsprachen gleichzeitig zu erweitern. Dazu wurden bezogen auf beide Sprachen Aufgaben gestellt und in variabler Reihenfolge in der Kurszeit behandelt, so dass das Unterrichtsgeschehen von einer Vielzahl von Sprachwechseln geprägt war. Allem Anschein nach wurde dieses Angebot von den Studierenden, die ihrerseits unterschiedlich erst prachlich sozialisiert waren, sehr positiv aufgenommen. s Praktiken der Multiliteralität in einem mehrsprachig-multimedialen Kontext 77 43 (2014) • Heft 2 Hierbei wurden primär die Prozesse der Internetrecherche, darüber hinaus aber auch die individuellen Sprachlernbiographien beleuchtet. Die Gespräche wurden in Audiodateien festgehalten und anschließend transkribiert (nach K UCKARTZ [et al.] 2008: 27 f). Aus Platzgründen werde ich nicht alle Einzelergebnisse detailliert aufführen und auf sie eingehen können. Sämtliche Auswertungen in Tabellenform sind jedoch einsehbar unter https: / / www.romanistik.hu-berlin.de/ fachdidaktik/ multiliteralitaet). 3 Auf dem Wege der Triangulierung sollten die Potenziale der einzelnen Erhebungsverfahren genutzt und ihre Begrenzungen minimiert werden. So ist offensichtlich, dass eine Fragebogenerhebung subsumtionslogischen Verkürzungen unterliegt, gleichzeitig aber einen breiten Überblick über Praktiken im Gegenstandsfeld erlaubt. Die Prozessanalyse wiederum ermöglicht auf der Basis der Protokolle detaillierte Einblicke in einzelne Arbeitsverläufe, die ebenfalls quantitativ auswertbar sind, sie gibt jedoch keine Aufschlüsse über individuelle Handlungsmotive. Dies vermag ansatzweise die Auswertung der qualitativen Daten des dritten Unterschungsschritts zu leisten. Sie erfolgte anhand der Kriterien, die von den Forschungsfragen vorgegeben waren. Eine detaillierte Kategorienbildung (vgl. K UCKARTZ 2014: 59-69) erschien angesichts der thematischen Ausrichtung an den individuellen Rechercheverläufen und des relativ geringen Umfangs des Datenmaterials nicht sinnvoll. 3. Auswertung der Fragebogenerhebung Die Auswertung der gültigen Antworten (n = 403) ergab im Feld personenbezogener Auskünfte (Rubrik A) folgendes Bild: Der überwiegende Teil der Befragten war weiblichen Geschlechts (75 %) und im Alter von 20-25 Jahren (70 %); die Altersgruppen von unter 20, von 26-30 bzw. von über 30 Jahren waren mit 9, 13 bzw. 7 % vertreten. Hinsichtlich der Zuordnung zu Studienrichtungen zeigt sich ebenfalls eine deutliche Polarisierung: 45 % der Teilnehmer/ innen stammten aus dem Bereich der Sprach- und Literaturwissenschaften, 18 % aus anderen Geisteswissenschaften, 16 % aus den Naturwissenschaften oder der Medizin und 14 % aus dem Feld der Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften. 4 Inwieweit diese Zusammensetzung repräsentativ für diejenige der universitären Sprachkurse des fächerunspezifischen Angebots insgesamt ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Repräsentativ für die Gesamtheit der Studierenden im deutschsprachigen Raum sind diese Zahlen gewiss nicht. Hinsichtlich der Streuung des individuellen Sprachbesitzes der Befragten (Rubrik B) liefert die Studie interessante Daten. Dass auf die Frage nach der Erstbzw. lebensweltlich erworbenen Zweitsprache 89 % Deutsch angeben, ist zwar ebenso wenig verwunderlich wie die Tatsache, dass auf den nachfolgenden Rängen Russisch (4,7 %) vor 3 Aus datenschutzrechtlichen Gründen können die Transkripte der Einzelinterviews allerdings nicht online gestellt werden. 4 Die jeweils zum vollen Hundert fehlenden Prozentzahlen verteilen sich auf die Antwortmöglichkeit „Andere“ und „Keine Angaben“. 78 Lutz Küster 43 (2014) • Heft 2 Englisch (3,7 %) Französisch (3,5 %) und weiteren europäischen Sprachen rangiert, wohingegen außereuropäische Sprachen mit nur 1,5 % zu Buche schlagen. Allerdings liegt die Zahl der von den Befragten in fremdsprachlichen Kontexten erworbenen Sprachen mit einem Mittelwert von über 3.5 deutlich höher als erwartet: Anzahl der Fremdsprachen Anzahl der Nennungen 1 1 2 65 3 130 4 122 5 und mehr 85 Tab. 1: Anzahl der als Fremdsprache erlernten Sprachen Verständlicherweise differierten die erreichten Kompetenzstufen von Sprache zu Sprache (Erst-/ Zweit- und Fremdsprachen) erheblich. Die Selbsteinschätzungen ergaben folgendes Bild: Sprache Anzahl der Sprecher % Median Deutsch 353 87,59 C2 Englisch 400 99,26 C1 Französisch 330 81,89 B1 Spanisch 220 54,59 B1 Portugiesisch 41 10,17 A2 Italienisch 96 23,82 A2 Türkisch 12 2,98 A1 Kurdisch 3 0,74 A1 Arabisch 18 4,47 A1 Russisch 66 16,38 A2 Polnisch 21 5,21 A2 and. slaw. 24 5,96 A2 and. europ. 1 127 31,51 A2 and. europ. 2 35 8,68 A1 and. außereurop. 1 53 13,15 A1 and. außereurop. 2 11 2,73 B1 Tab. 2: Selbsteinschätzungen der erreichten sprachlichen Kompetenzstufen x‾ 3,56 s² 1,01 s 1,00 Praktiken der Multiliteralität in einem mehrsprachig-multimedialen Kontext 79 43 (2014) • Heft 2 Wie an den absoluten Zahlen der Sprecher und dem Median der angegebenen individuell erreichten Kompetenzstufen abzulesen ist, verfügen die Befragten im Mittel über hohe Niveaus sprachlicher Kompetenzen (proficiency-level des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens GER) nicht nur im Deutschen, sondern auch im Englischen, wohingegen im Französischen und Spanischen der mittlere und in den weiteren Sprachen der untere Kompetenzbereich dominant vertreten ist. 5 Die Angaben zu Zahl und Dauer der individuellen Aufenthalte in den jeweiligen Sprachgebieten (vgl. Excel-Tab. B 4) 6 lassen eine ähnliche Verteilung erkennen. Der englischsprachige Raum rangiert hier (nach dem deutschsprachigen) an oberster Stelle, gefolgt von denen des Französischen, Spanischen, Italienischen und Russischen sowie weiterer, nicht näher differenzierbarer europäischer Sprachen. Um auch die Ebene persönlicher Einschätzungen und Haltungen einzubeziehen, wurden die Umfrageteilnehmer/ innen aufgefordert, auf einer Skala von 1 (niedrig) bis 4 (hoch) „Sympathiewerte“ für die Sprachen ihres individuellen Sprachbesitzes (und nur für diese) zu verteilen (vgl. Excel-Tab. B 5). Die Resultate weichen leicht von denen zur zuvor genannten Frage ab: Deutsch (Mittelwer t x‾ = 3,60) führt die Liste an, gefolgt von Englisch (3,22), Spanisch (3,21), Italienisch (3,20), Französisch (3,08) und Portugiesisch (3,04). Noch vor Russisch (2,85) und Polnisch (2,79) sind zudem in den Rubriken „andere außereuropäische Sprachen 1 und 2“ und „andere europäische Sprachen 1 und 2“ überwiegend höhere Werte zu verzeichnen (3,15 und 3,10 bzw. 2,93 und 2,68). Zur Ergänzung der o.g. Angaben im Bereich affektiver Einstellungen wurde weiterhin gefragt, in welchem Sprach-/ Kulturraum sich die Einzelnen vorstellen könnten, längere Zeit (i.e. mehr als ein Jahr) zu leben. Auffallend ist, dass sich der englische Sprachraum in seiner Attraktivität für die Befragten noch deutlich vor dem deutschen und französischen ansiedelt. Die Werte für den spanischen und italienischen Raum zeigen auf der anderen Seite den geringsten Abstand zwischen Zahl der Sprecher und den Personen, die im betreffenden Sprachraum gerne längere Zeit leben würden. Die Ergebnisse im Einzelnen ( Tab. 3, S. 80): 5 Eine Verzerrung der Ergebnisse zugunsten der romanischen Sprachen ist nicht auszuschließen, da in den Probandengruppen der anderen Studienteile für eine Teilnahme an der Online-Befragung geworben wurde und die Rücklaufquote hier sicherlich höher lag als auf der Basis der Aufrufe über digitale Verteilerkreise. Die Auswahl der einzeln aufgeführten Sprachen erfolgte auf der Basis jener Daten, welche die Pilotstudie des Jahres 2012 zu Tage gefördert hatte. Im vorliegenden Rahmen erwies sie sich jedoch als unglücklich, da 40,2 % der Befragten Kompetenzen (auch) in anderen als den angebotenen europäischen Sprachen angaben. 6 Die Hinweise zu den Excel-Tabellen beziehen sich auf die Auswertung der Fragebogenerhebung, zu finden auf der oben angegebenen Internetseite. 80 Lutz Küster 43 (2014) • Heft 2 Tab. 3: Sprachraumpräferenzen in Relation mit der Sprecherzahl Nach der Vielfalt der Sprachen geraten im dritten Teil der Erhebung (Rubrik C) die Vielfalt der Mediennutzungen sowie die affektiven Einstellungen zu ihnen in den Blick. Das Auswahlmenü stellte unterschiedliche Formate digitaler und traditioneller Medien einander gegenüber. 7 In Bezug auf die Häufigkeit der Nutzung kann nicht verwundern, dass der online-Modus der Computerverwendung an erster Stelle steht: Der Mittelwert liegt hier sehr hoch, die Standardabweichung ist zudem sehr gering. Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil der Probanden vom Alter her als digital natives zu betrachten sind, ist hingegen erstaunlich, dass Bücher bereits an zweiter Position rangieren. Dieses klassische Medium des Gutenberg-Zeitalters erfreut sich folglich 7 Eine Abgrenzung beider Bereiche stößt allerdings auf die Schwierigkeit, dass der Computer nahezu alle traditionellen Medienformate emulieren kann, Differenzierungen somit immer mehr an Bedeutung verlieren. Gerade in Bezug auf das Fernsehen scheint eine klare Unterscheidung zwischen der Nutzung analoger und digitaler Technik kaum mehr sinnvoll, weswegen TV in der Liste nicht gesondert auftaucht; eine entsprechende Antwortkategorie hätte voraussichtlich keine verwertbaren Daten geliefert. Anders verhält es sich - so die zugrunde gelegte Vermutung - beim Buch, das zwar auch in digitaler Form als E-book verfügbar ist, gemeinhin aber nach wie vor mit dem Printprodukt assoziiert wird. Innerhalb der Computernutzung wiederum sollte die Differenzierung zwischen den Modi offline und online Auskunft darüber geben, wie intensiv Betätigungsfelder außerhalb des Internet (z.B. Textproduktion im Rahmen studentischer Hausarbeiten) von den Befragten wahrgenommen werden. Unter ‚Computernutzung‘ wurde auch der Gebrauch von Tablets verstanden, ohne dass darauf allerdings explizit verwiesen worden wäre. 311 230 228 189 115 111 81 52 46 35 23 10 400 353 330 220 96 250 41 66 18 21 12 3 0 50 100 150 200 250 300 350 400 450 Aufenthalt Anzahl der Sprecher Praktiken der Multiliteralität in einem mehrsprachig-multimedialen Kontext 81 43 (2014) • Heft 2 nach wie vor einer hohen Verbreitung. Handschriftliche Mitteilungen in Form von Briefen oder Postkarten weisen zwar mit Abstand den niedrigsten Mittelwert auf, sind jedoch unter den Befragten keineswegs „ausgestorben“. Häufigkeit der Nutzung 1 2 3 4 g. A. I-Wert x‾ s² s PC offline 87 131 91 66 375 886 2,36 1,05 1,02 PC online 2 20 83 295 400 1471 3,68 0,35 0,59 Smartphones 72 31 64 145 312 906 2,90 1,48 1,22 trad. Telefon/ Handy 124 98 72 40 334 696 2,08 1,06 1,03 Bücher 11 72 141 173 397 1270 3,20 0,69 0,83 Radio 121 107 88 55 371 819 2,21 1,11 1,06 Briefe/ Postkarten 170 132 43 19 364 639 1,76 0,73 0,86 Tab. 4: Häufigkeit der Mediennutzung 8 Über die Häufigkeit der Mediennutzungen hinaus erstreckten sich die Fragen in diesem Themenfeld auch auf die Einstellungen der Probanden. Dabei zeigte sich, dass die Sympathiewerte bei einigen traditionellen Medien höher lagen als bei den computerbasierten. Die auffälligste Diskrepanz ist bei der zuletzt angesprochenen Nutzung von Briefen und Postkarten zu verzeichnen. Doch auch bei den Büchern legt die Erhebung den Schluss nahe, dass die Befragten sie gerne intensiver nutzten als sie es realiter tun. Hier die Ergebnisse im Einzelnen: In der Beliebtheit wird die Rangliste von Büchern angeführt (x‾=3,37/ s=0,62), danach erst folgen PC online (x‾ =3,29/ s=0,88) sowie Briefe/ Postkarten (x‾ =3,26/ s=0,99), sodann mit deutlichem Abstand Radio (x‾ =2,74/ s=1,00), Smartphones (x‾ =2,59/ s=1,15), traditionelles Telefon/ Handy (x‾ =2,47/ s=1,05) und PC offline (x‾ =2,44/ s=1,05). Dies offenbart, wie hoch das Ansehen auch herkömmlicher medialer Praktiken und dementsprechend Literalitäten unter den Befragten ist - selbst wenn man eine geringfügige Verzerrung durch den Aspekt sozialer Erwünschtheit der Antworten berücksichtigt. Im vierten und letzten Fragebogenteil (Rubrik D, vgl. Excel-Tab. D 1-D 6) wurden beide Felder, das der Mehrsprachigkeit und das der Multimedialität, zusammengeführt. Leitend war hierbei die Frage, wie die auf sie bezogenen individuellen Praktiken und Kompetenzen miteinander vernetzt werden. Es wurde erfragt, welche Sprachen die Umfrageteilnehmer in welchen Medienformaten in welcher Intensität nutzen, und zwar getrennt zum einen nach computerbasierten und herkömmlichen Medienformaten und zum anderen nach den Funktionsbereichen ‚Informationsbeschaffung‘, ‚Unterhaltung‘ und ‚interpersonale Kommunikation‘. Die Zahlen der Antworten in den jeweiligen 8 Die Abkürzung „g.A.“ steht für „gültige Antworten“, während der „Intensitätswert“ (I-Wert) die Summe der mit dem Skalenwert multiplizierten Einzelangaben ausweist. 82 Lutz Küster 43 (2014) • Heft 2 Sprachfeldern variieren zwar geringfügig in den verschiedenen Tabellen, ihre proportionale Verteilung entspricht aber im Wesentlichen der bereits in Rubrik B festgestellten Reihenfolge: Deutsch rangiert knapp vor Englisch, in größeren Abständen dahinter Französisch, Spanisch, Italienisch und Russisch, gefolgt von weiteren europäischen und außereuropäischen Sprachen. Wie schon zuvor gaben die Befragten die Intensität der Nutzung in einer vierstufigen Skala von 1 (sehr selten) bis 4 (sehr häufig) an. Hinsichtlich der Nutzung des Deutschen in den verschiedenen Mediensparten und Funktionsbereichen sind keine signifikanten Unterschiede zu beobachten. Anders verhält es sich in Bezug auf das Englische: Hier liegen die Mittelwerte in allen drei Funktionsbereichen deutlich höher in der Nutzung der computerbasierten im Vergleich mit den herkömmlichen Medienformaten (x‾ =3,30 gegenüber 2,84 im Feld der Informationsbeschaffung, 3,34 gegenüber 2,98 in demjenigen der Unterhaltung und 2,72 gegenüber 2,06 in interpersonaler Kommunikation). Für die romanischen Sprachen lassen die Ergebnisse jeweils gleiche Tendenzen erkennen: In ihnen liegen die Mittelwerte bei der Informationsbeschaffung und in der interpersonalen Kommunikation durchweg höher bei der Nutzung digitaler Medienformate, lediglich im Funktionsbereich der Unterhaltung zeigen sich bei den traditionellen Medien vergleichsweise leicht höhere Werte - dies alles auf einem absteigenden Niveau in der Reihenfolge der o.g. Sprachen. Für das Russische hingegen weist nur der Bereich der Informationsbeschaffung einen leicht höheren Mittelwert bei den computerbasierten Anwendungen auf, während in Bezug sowohl auf die Unterhaltungsfunktion als auch die interpersonale Kommunikation traditionellen Formaten eine intensivere Nutzung zugeschrieben wird. Unabhängig von diesen internen Differenzierungen offenbart die Studie, dass die Befragten - den Angaben zufolge - ihren individuellen, oft sehr breit angelegten Sprachbesitz in hohem Maße mit einer ebenfalls differenzierten Mediennutzung vernetzen. Dies bestätigt die Grundannahme der N EW L ONDON G ROUP und der auf ihr basierenden Arbeiten, dass gegenwärtige Praktiken gesellschaftlicher und sozialer Teilhabe in privaten und beruflichen Kontexten über die Vielfalt medialer und sprachlicher Codes unterschiedliche literacies ansprechen und diese somit zur Voraussetzung haben. Dies gilt zumindest für die hier vorliegende Stichprobe studentischer Fremdsprachenlerner. Als Fazit zur Umfrageerhebung lässt sich festhalten, dass „alte“ Medien bei ihnen keineswegs ausgedient haben, sondern in den individuellen Nutzungsprofilen in der Summe einen ähnlichen Stellenwert einnehmen wie die digitalen Medienformate. Wichtig erscheint mir nicht zuletzt auch die Feststellung, dass Englisch sich unter den Umfrageteilnehmern keinesfalls als „killer-language“ erwiesen hat: Trotz seiner dominanten Stellung in den individuellen Sprach- und Mediennutzungsprofilen der Befragten erkennbar verdrängt es keineswegs andere Sprachen, wie die (für mich überraschend) große Breite und Diversität der dokumentierten individuellen Mehrsprachigkeit offenbart. Die einschlägigen Angaben lassen ferner erkennen, dass im Sample die romanischen Sprachen breit vertreten und die Einstellungen zu ihnen und den jeweiligen Sprachräumen überwiegend von hohen Sympathiewerten gekennzeichnet sind. Praktiken der Multiliteralität in einem mehrsprachig-multimedialen Kontext 83 43 (2014) • Heft 2 4. Analyse von online-Rechercheprozessen In den digitalen Protokollen der Internetrecherchen werden der exakte Zeitpunkt des Seitenaufrufs, die Kennzeichnung des Arbeitsplatzes und -abschnitts, die Art des Vorgangs (Seiten- oder Tabwechsel), die genaue URL, der verwendete Browser und der Titel der jeweiligen Seite ausgewiesen. 9 Die Tabellen konnten im weiteren Verlauf der Studie zur raschen Überblicksgewinnung auch bei den Interviews herangezogen werden, vor allem aber wurden sie einer kriteriengeleiteten Auswertung unterzogen. Hierzu wurde ein Raster entwickelt, das folgende Kategorien enthielt: I. Untersuchungstitel und in Klammern die gewählte öffentliche Person; II. Anzahl der unterschiedl. aufgerufenen Seiten; III. Anzahl der Sprachwechsel; IV. Anzahl der Seiten in der Erstbzw. Zweitsprache / Welche? ; V. Anzahl der Seiten in der Zielsprache / Welche? ; VI. Anzahl der Seiten in anderer Fremdsprache / Welche? ; VII. Verfügbare Moderne Sprachen; VIII. Anzahl genutzter Sprachen; IX. Welche nicht? ; X. Anzahl der Wikipedia-Anfragen; XI. Anzahl der YouTube-Aufrufe; XII. Anzahl der Online-Wörterbuch-Aufrufe. Zur Illustrierung sei hier ein Beispiel 10 gezeigt: I II III. IV. V VI. VII. VIII IX. X. XI. XII F 04 A (Marine Le Pen) 8 1 7 F 2 D (2 Gg) 7 F - 4 (D, E, F, K) 2 (F, D) E, K - 6 - F 04 B (Julius Nyerere) 17 7 7 D (7 Gg) 4 K 6 E 3 (D, K, E) F 1 6 - Tab. 5: Auswertung der Online-Protokolle nach Untersuchungsabschnitten Die Unterscheidung in einen A- und einen B-Teil folgt der in Kap. 2 genannten Trennung in einen Rechercheabschnitt, in dessen Zentrum eine öffentliche Person aus dem Gebiet der Zielsprache des Kurses und einen, der einer Person aus einem Raum einer Sprache stammt, welche für den/ die Unterschungsteilnehmer/ in eine Fremdsprache darstellt. Das Sprachenprofil der Probanden erweist sich dabei als ähnlich breit gestreut wie dasjenige, das die Fragebogenerhebung - allerdings auf der Basis anderer Kategorien - ergeben hatte: Inclusive der Erst- und Zweitsprachen, exclusive ggf. erlernter alter Sprachen, liegt der Mittelwert individuell verfügbarer Sprachen unter den Teilnehmer/ innen der Prozessanalyse bei 4,4. Die häufigsten Nennungen erhalten erneut die Sprachen Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Portgiesisch und Russisch, daneben aber auch vereinzelt Sprachen wie Schwedisch, Norwegisch, Holländisch, 9 Ein Beispiel findet sich auf der o.g. Internetseite unter dem Titel „Auswertung der Prozessanalyse, Auszug aus der Datei Span. A“. 10 Zur Erläuterung der Abkürzungen: F=Französisch; D=Deutsch; Gg=Google; E=Englisch; K=Kisuaheli. Die gesonderte Auflistung der Google-Aufrufe dient der Relativierung der vorstehenden Angabe zur Zahl der in deutscher Sprache angewählten Seiten. Da Google.de auf den Einzelrechnern voreingestellt war, bedeutet ein Aufruf nicht automatisch, dass der/ die betreffende Studierende sich bewusst für eine deutschsprachige Quelle entschieden hat. 84 Lutz Küster 43 (2014) • Heft 2 Sorbisch, Tschechisch, Ukrainisch, Bulgarisch, Kisuaheli, Mandarin, Hindi, Rajasthani 11 und Japanisch. Die Zusammenschau der Einzelrecherchen offenbart einen sehr breiten Fächer individuell unterschiedlicher Verhaltensweisen. Bezogen auf insgesamt 51 vollständig protokollierte Rechercheabschnitte ergibt die Auszählung aufgerufener Seiten folgendes Bild, das im 5. und 6. Item um eine Gegenüberstellung der Mittelwerte individuell verfügbarer und in den Recherchen genutzter Sprachen ergänzt wird: N absolut x‾ s Spannbreite Anzahl aufgerufener Seiten insgesamt 847 16,61 7,07 3 - 35 Anzahl Seiten in Erst-/ Zweitsprache 192 3,76 4,11 0 - 15 Anzahl Seiten in Fremdsprache 684 13,41 6,87 4 - 29 Anzahl indiv. verfügbarer Sprachen 4,42 1,31 3 - 8 Anzahl genutzter Sprachen 2,35 0,79 1 - 4 Anzahl Wikipedia-Aufrufe 86 1,69 1,98 0 - 9 Anzahl YouTube-Aufrufe 94 1,84 2,11 0 - 9 Anzahl Aufrufe online-Wörterbücher 16 0,31 0,64 0 - 3 Tab. 6: Summarische Auswertung der Online-Protokolle An der Durchschnittsquote von 1,69 Aufrufen pro Einzelrecherche bei gleichzeitig relativ niedriger Standardabweichung wird die Regelmäßigkeit der Wikipedia-Nutzung augenfällig, zu der später die Einzelintervies näheren Aufschluss geben. Allerdings wird die hier errechnete Zahl noch von derjenigen der YouTube-Aufrufe überflügelt. Dies illustriert, wie stark das Visuelle bzw. Audiovisuelle in den studentischen Internetnutzungen verankert ist und entsprechende visual literacies erforderlich macht. Dass hingegen die Möglichkeit schneller Vokabelklärung über Online-Wörterbücher recht wenig genutzt wird, mag an der Zeitbegrenzung der Recherchen liegen. Vielleicht zeigt sich hier aber auch, dass die Angebote des Internet den Probanden eher eine Flüchtigkeit der Rezeption nahelegen, welche wenig Raum für intensivere Sprachlernaktivitäten lässt. Unten erwähnte Ergebnisse der Einzelinterviews deuten in diese Richtung. Die Tatsache, dass mehr in Fremdsprachen recherchiert wurde als in der Erst- oder Zweitsprache, lässt sich aus der Perspektive einer späteren mündlichen Präsentation ableiten (s. auch nächstes Kapitel). Überraschend hingegen sind die hohen Werte der Standardabweichung, die auf sehr heterogene Nutzungsprofile verweisen. Wie ein Blick auf die Einzelerhebungen (in der eingangs genannten Internetquelle unter dem Titel „Auswertung der Prozessanalyse - Fokus Sprachen“ gespeichert) zeigt, nutzen einige ihre Fremdsprachenkenntnisse in breitem Umfang, andere hingegen nur recht 11 Die Frage, ob Hindi und Rajasthani als zwei getrennte Sprachen anzusehen sind oder ob letztere eine dialektale Variante der ersteren bildet, kann hier nicht geklärt werden. Die Probandin führt beide als gleichberechtigte Teile ihres Sprachbesitzes auf (s. Interview B2). Praktiken der Multiliteralität in einem mehrsprachig-multimedialen Kontext 85 43 (2014) • Heft 2 eingeschränkt. Innerhalb des Einsatzes verfügbarer Sprachen wiederum offenbart eine detaillierte Auszählung, deren Ergebnisse der Tab. 8 zu entnehmen sind, dass Französisch den größten Abstand zwischen verfügbaren und genutzten Sprachressourcen aufweist, ganz anders als beim Spanischen und Italienischen. Auch hier bieten sich Verbindungen zu den stimulated recall-Gesprächen an, in denen einzelne Studierende eine deutliche Aversion gegen das Französische zum Ausdruck brachten. Hier wird ein zentrales Problem deutlich, vor das der Französischunterricht und die Französischdidaktik gestellt sind. Dass hingegen unter den hier aufgeführten Sprachen Russisch und Mandarin nicht zum Zuge kamen, ist angesichts der unterschiedlichen schriftsprachlichen Kodierungen verständlich. Sprache Anzahl Verfügbarkeit Französisch 7 20 Russisch 5 5 Englisch 2 26 Italienisch 2 11 Mandarin 2 2 Spanisch 2 14 Deutsch 1 26 Tab. 7: Rangliste nicht-genutzter Sprachen des individuellen Sprachenbesitzes 12 5. Einzelfallanalysen Vor Eintritt in das Verfahren des stimulated recall richteten sich die Fragen in allen Interviews zunächst auf die Sprachlernbiographie der Gesprächsteilnehmer/ innen. Allein in diesem Punkt folgten die Gespräche ausschließlich dem Typus eines leitfadengestützten Interviews. In allen nachfolgenden Phasen war die gemeinsame Betrachtung des Rechercheverlaufs anhand eines Videostreams leitend. Ich habe bewusst auf eine genaue Vorstrukturierung verzichtet und mich in den Zwischenfragen oft von spontanen Assoziationen leiten lassen, um den Gesprächsverlauf möglichst offen zu halten und den Interviewpartner/ innen zugleich eigene Thematisierungen nahezulegen. Gleichwohl hatte ich als Interviewer meine Forschungsfragen selbstverständlich im Hinterkopf, auf die ich an mir passend erscheinenden Stellen zurückgekommen bin. Sie spiegeln sich in den Kategorien, die der Inhaltsanalyse zugrundegelegt wurden: 1. Sprachlernbiographien (welche Sprachen wurden in welcher Reihenfolge, in welchen Kontexten, ggf. zu welchen Zielen erworben bzw. gelernt? ) 12 Nicht einzeln aufgeführt sind jene Sprachen, die nur von einer Person gesprochen und nicht genutzt wurden. 86 Lutz Küster 43 (2014) • Heft 2 2. Sprachennutzung im Internet (welche Sprachen des eigenen Sprachbesitzes werden aus welchen Gründen in den einzelnen Recherchephasen vorrangig herangezogen? ) 3. Nutzung medialer Angebote (welche Arten von Internetquellen, wie z.B. Wikipedia oder YouTube, werden aus welchen Gründen bevorzugt aufgerufen? ) 5.1 Sprachlernbiographien Es mag daran liegen, dass sich nur diejenigen Studierenden zu einem Vertiefungsgespräch bereitfanden, die eine besondere Affinität zu Fragen der Mehrsprachigkeit haben. Tatsache ist, dass der Reichtum des von den Interviewpartnern genannten Sprachbesitzes sich als weit überdurchschnittlich erwies. Insbesondere stellte sich in den Gesprächen heraus, dass viele Befragte (im Folgenden B1-B8) über Kompetenzen in einer deutlich höheren Zahl von Fremdsprachen verfügen, als sie zuvor schriftlich angeben hatten. Sie erklärten dies in der Regel damit, dass sie die Sprachen nur eingeschränkt beherrschten und in Internetkontexten nicht verwendeten. Vier der Befragten (B3, B6, B7 und B8) waren erstsprachlich deutsch sozialisiert, zwei hatten Russisch bzw. Ukrainisch (B1 und B2), eine Bulgarisch (B4) und der einzige männliche Gesprächspartner (B5) Französisch als Erstsprache. Bei den erstsprachlich nichtdeutsch Sozialisierten war die Breite der individuellen Mehrsprachigkeit besonders beeindruckend. So gab B1 neben Russisch und Ukrainisch als Erstbzw. Zweitsprache Kompetenzen in Englisch, Französisch, Deutsch, Chinesisch, Norwegisch und Schwedisch an. B2 als Studentin der Historischen Linguistik (MA) mit BA-Abschluss in der Klassischen Philologie wiederum verwies auf (überwiegend fundierte) Kompetenzen in so unterschiedlichen Sprachen wie Italienisch, Englisch, Hindi, Rajasthani, Sanskrit, Latein, Altgriechisch und Altkirchenslawisch. B5 lernte Deutsch als erste Fremdsprache in Frankreich, es folgten Englisch, Italienisch und Spanisch sowie, noch sehr im Anfangsstadium, Russisch und Chinesisch. Interessant ist auch die Sprachbiographie von B6, die mit Deutsch als L1 im sorbischen Sprachgebiet aufwuchs, weswegen sie im schulischen Unterricht Sorbisch als Pflichtfach ab Jg. 7 hatte, ergänzt durch Englisch (ab Jg. 5), Russisch (ab Jg. 8) und Französisch (ab Jg. 9). Ein Auslandsjahr (in Jg. 11) verbrachte sie in Schweden, woraus sie fließende Schwedischkenntnisse behalten hat; durch Reisekontakte motiviert lernte sie ferner Niederländisch sowie später auf der Universität Spanisch; sie verbrachte ein Freiwilliges Soziales Jahr in Chile und belegt derzeit einen Spanischkurs auf dem Niveau C 1 des GeR. Diese Beispiele untermauern die Erfahrungstatsache, dass eine früh angelegte Mehrsprachigkeit nicht selten dazu führt, dass die Betreffenden sich mehrere weitere Sprachen zu eigen machen. Als Wege zur Mehrsprachigkeit werden neben institutionellen Lernkontexten autodidaktische Zugänge (B4) und computergestützte Programme wie Duolinguo angeführt. Was die von Einzelnen angesprochenen Sprachlernmotive angeht, werden instrumentelle Orientierungen (v.a. Vorbereitung auf Auslandsaufenthalte oder Aspekte beruflicher Nützlichkeit, letzteres fast ausschließlich in Bezug auf Englisch), aber auch ästhetisch-affektive Einstellungen angeführt. B7 z.B. begründet die Abkehr vom schu- Praktiken der Multiliteralität in einem mehrsprachig-multimedialen Kontext 87 43 (2014) • Heft 2 lisch gelernten Französisch mit einer Aversion gegen Klangqualitäten französischer Alltagskommunikation („dann höre ich immer extrem laut: ‚oui, ähh‘, ‚parce que ähh‘, ‚je ne sais pas, ähh‘ und dieses Bestimmte [sic.] geht mir so auf die Nerven“), Spanisch hingegen habe sie angefangen zu lernen, weil sie „die Sprache so schön finde“. Ein Sonderfall von Sprachlernmotivation begegnet uns bei B3. Als entscheidend schildert die Studentin die biographische Prägung durch den sozialen Vater, der seinerseits als Sohn eines ihm unbekannten französischen Vaters in Deutschland aufgewachsen war, dann aber auf „der Suche nach seinen Wurzeln“ nach Frankreich ging und dort lange lebte. Seine spät, aber intensiv entwickelte Bindung an Sprache und Land habe er der Ziehtochter nahe gebracht. Hieraus erklärt sich eine in ihrer Sprachlernbiographie und Studienwahlentscheidung (BA Französisch und Deutsch mit Lehramtsoption) wie auch in ihren Zukunftsplänen manifeste bilingual-bikulturelle Fokussierung, die in ihrer Ausschließlichkeit einen deutlichen Kontrast zur Vielsprachigkeit anderer Interviewpartner bildet. Französisch, so wird deutlich, ist ihr zu einer Herzensangelegenheit geworden und nimmt in ihrem Freizeit-Medienverhalten einen großen Raum ein. Dass „Le Monde“ ihre Startseite im Internet ist, kann vor diesem Hintergrund nicht verwundern. Auch bei Vielsprachigen kann sich ein gewisser monolingualer Habitus einstellen, wie das Beispiel von B4 zeigt. Mit Bulgarisch als Erstsprache verfügt die Studentin über Kompetenzen im Englischen, Deutschen, Italienischen, Russischen und Spanischen, legt aber großen Wert darauf, sich auf jeweils nur eine Sprache zu konzentrieren. Lehrbücher, an denen sie sich bei Selbstlernaktivitäten orientiert, dürfen z.B. nicht sprachkontrastiv angelegt sein. Diese Haltung spiegelt sich in ihren Internetrecherchen, zu denen sie kommentierend anführt: „Ich finde es schwierig, die Sprachen so zu wechseln, es ist einfacher, wenn man in einer Sprache bleibt und da ich längst nicht von meiner Muttersprache abhängig bin, ist es dann irgendwie egal, welche Sprache verwendet wird.“ 5.2 Sprachennutzung im Internet Zwar wurden, wie in Kap. 2 beschrieben, die Untersuchungsteilnehmer/ innen explizit aufgefordert, sich in der Wahl der bei den Rechercheaufgaben zu nutzenden Sprachen völlig frei zu fühlen, andererseits gab die Aufgabenstellung mit der gedachten - in einem der drei Kurse in der Folge auch umgesetzten - Perspektive einer späteren mündlichen Präsentation eine bestimmte Richtung vor. So wird in den Einzelgesprächen deutlich, dass die meisten sich in dem ersten Rechercheteil, der auf die Zielsprache des Kurses gerichtet war, von dieser Verwertungsperspektive leiten ließen und bewusst Quellen in der entsprechenden Sprache aufsuchten (z.B. B1, B2, B6, B8). Ferner machen einige Befragte einen engen Nexus von Gegenstand und Sprache für sich geltend. B5 z.B. führt explizit eine Unterscheidung von transversalen Themen, für die er vorrangig das Englische nutze, und kulturraumspezifische Fragestellungen an, bei denen die jeweilige Landessprache Vorrang habe. Dies lässt sich an den Rechercheverläufen oftmals, allerdings keineswegs durchgehend bestätigen. Vielmehr griffen 88 Lutz Küster 43 (2014) • Heft 2 verschiedene Probanden auch gerne auf ihre Erstbzw. Zweitsprache zurück und begründeten dies (wie B1) mit erworbener Gewohnheit oder mit Zeitersparnis (B7). Letzteres Motiv wird von mehreren Interviewpartnern vielfach als Grund für die Wahl des Englischen herangezogen, da ihnen das Lesen in dieser Sprache zumeist leichter falle als in anderen. Aus Gründen der Zeitökonomie in der Informationsgewinnung und -verarbeitung spielen Sprachlernmotive interessanterweise für die Befragten keine explizit genannte Rolle im Internet, bei der Entscheidung für private Buchlektüren im Falle von B6 hingegen sehr wohl. Weitere Motive der Sprachenwahl betreffen die Quantität und die Qualität der Informationen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass die Befragten aus rein pragmatischen Erwägungen bevozugt jene Quellen aufsuchten, die im Hinblick auf ihr thematisches Interesse sich als besonders ergiebig erwiesen. Einzelne Probanden suchten jedoch auch speziell nach Seiten, bei denen sie divergierende politisch-kulturell geprägte Tendenzen vermuteten, um sich in deren Kontrastierung ein möglichst objektives Bild zu verschaffen (so z.B. B1 zu Vladimir Putin oder B3 zur Darstellung und Wertung von Sexaffairen französischer Politiker). In dieser Hinsicht zeigen sich die Untersuchungsteilnehmer/ innen in unterschiedlichem Maße sensibilisiert: Während B5 aus dem genannten Grund bewusst Wikipedia-Seiten in verschiedenen Sprachen heranzieht, wird B7 erst im Zuge des Interviews darauf aufmerksam, dass Wikipedia-Artikel nach sprachlich-räumlicher Provenienz in je eigener Weise tendenziös sein können. 5.3 Nutzung medialer Angebote Gerade in Bezug auf die Verlässlichkeit von Internetquellen ist eine medienkritische Haltung besonders relevant. Durchgängig lassen die Befragten erkennen, dass ihnen die Umstrittenheit von Wikipedia als Informationsquelle in akademischen Kontexten sehr wohl bekannt ist. Überwiegend wird die online-Enzyklopädie jedoch als sehr hilfreich v.a. für eine erste Orientierung genannt. B7 gibt an, in 95% Recherchevorgänge am heimischen Rechner mit einem Blick in Wikipedia zu beginnen. Dort aufgeführte Links werden von vielen als Ausgangspunkte für weitere Seiten geschätzt, insbesonde Links zu YouTube (B2, B4, B5, B8) sind sehr beliebt. Skepsis gegenüber Wikipedia-Nutzung wird namentlich von B3, B7 und B8 geäußert. Letztere formuliert den Anspruch an sich selbst, Wikipedia-Informationen anhand anderer Quellen zu überprüfen. Gerade in diesem Punkt ist allerdings relativierend zu bedenken, dass Angaben vom Kriterium sozialer Erwünschtheit (mit)bestimmt sein können. Auffälligerweise zeigt sich in den Rechercheverläufen und Kommentaren von B6, die nicht als erstes auf Wikipedia geht und im Gespräch den Vorsatz benennt, auch andere Quellen zu nutzen, dass sie später gleichwohl recht häufig Wikipedia-Seiten aufruft. Skepsis äußert B3 z.B. ebenfalls in Bezug auf YouTube, das sie als „das Wikipedia der Videos“ bezeichnet. Auch hier sieht sie die Gefahr mangelnder Objektivität, weswegen sie nach „neutralen Quellen“ wie der ARD suche. Diese Haltung ist allerdings eher die Ausnahme. Denn YouTube mit den eigenen Verlinkungen wird ähnlich wie Wikipedia von verschiedenen Befragten als Ausgangspunkt für weitere Recherchen Praktiken der Multiliteralität in einem mehrsprachig-multimedialen Kontext 89 43 (2014) • Heft 2 angeführt. Andere Anbieter wie Twitter und Facebook spielen in den Interviews nur eine marginale Rolle. B8 als Studentin der Sozialwissenschaften nutzt z.B. Twitter nicht selbst als Medium interpersonaler Kommunikation, wohl aber als ergiebige Informationsquelle zu Politikern der Gegenwart; diese bezögen dort oft klarere Positionen als in anderen medialen Kontexten. Der mit YouTube oder Videoanbietern wie BMTV oder TV5 (B3) verbundene Modus audiovisueller Rezeption wird gerade unter der Leitperspektive späterer mündlicher Präsentationen als Vorteil gesehen. Ähnliches gilt für Fotos (B1, B2, B8), die z.B. über Google Pictures oder IMDb (B4) im Netz gesucht werden. Nur ein Befragter (B5) hebt explizit eine Nützlichkeit von Online- Wörterbüchern hervor; er verweist namentlich auf die Anbieter WordReference und Linguee. Das klassische Printmedium Buch spielt lediglich für B7 eine ausgewiesene Rolle in ihren Recherchen, mit der Begründung, dass nicht wenige bereits auszugsweise im Internet einsehbar sind. Die Gespräche zu den medialen Nutzungsprofilen gaben nicht nur mir, sondern z.B. im Falle von B8 auch der Gesprächspartnerin neue Einsichten. So fällt der Studentin anhand ihrer Recherverläufe auf, dass die gleichzeitige Öffnung sehr vieler Tabs sich für sie als nicht zielführend erwiesen hat. Insofern hat das Interview einen Beitrag zur Schärfung von media awareness geleistet. 6. Fazit und Ausblick Insgesamt wird an der Studie deutlich, in welchem Umfang und auf welche Weise die Probanden mediale und mehrsprachliche Kompetenzen sowie Kenntnisse über diskursive Muster und Genres digitaler Kommunikation, mithin available designs in der Terminologie des Multiliteralitätsprogramms (vgl. N EW L ONDON G ROUP 2000: 23), in Alltag und Studium nutzen. Literalitäten bzw. Kompetenzen sind nicht beobachtbar, und Vernetzungen, die intraindividuell im Gehirn verortet sind, sind es ebensowenig. Dennoch gibt die vorgestellte Studie deutliche Hinweise darauf, dass unter den Probanden Praktiken von Mehrsprachigkeit und Multimedialität nicht nur breit gestreut sind, sondern auf je eigene Weise und in variablem Maße miteinander verbunden werden. Dies erhärtet die Vermutung von der Vernetzung unterschiedlicher Literalitäten in einem Komplex, der als Multiliteralität bezeichnet werden kann. Insgesamt bildet die Untersuchung einen Beitrag zu fremdsprachenbezogener Lerner(er)forschung, der den Blick schärfen kann für die Komplexität individueller sprachlich-medialer Praktiken und Lernvorgänge. 90 Lutz Küster 43 (2014) • Heft 2 Literatur E LSNER , Daniela / K ÜSTER , Lutz / V IEBROCK , Britta (Hrsg.) (2007): Fremdsprachenkompetenzen für ein wachsendes Europa. Das Leitziel „Multiliteralität“. Frankfurt/ M.: Lang. G ROEBEN , Norbert (2002): „Anforderungen an die theoretische Konzeptualisierung von Medienkompetenz“. In: G ROEBEN , Norbert / H URRELMANN , Bettina (Hrsg.): Medienkompetenz. Voraussetzungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim/ München: Juventa, 11-22. K UCKARTZ , Udo ( 2 2014): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim/ Basel: Beltz Juventa. K UCKARTZ , Udo / D RESING , Thorsten / R ÄDIKER , Stefan / S TEFER , Claus ( 2 2008): Qualitative Evaluation. Der Einstieg in die Praxis. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. K ÜSTER , Lutz (2012): „Vernetzendes Lernen: Eckpunkte eines Forschungsvorhabens zu Zielen und Praktiken der Multiliteralität in ihrer Relevanz für Lerneridentitäten“. In: L EITZKE -U NGERER , Eva / B LELL , Gabriele / V ENCES , Ursula (Hrsg.): English-Español: Vernetzung im kompetenzorientierten Spanischunterricht. Stuttgart: ibidem, 315-328. N EW L ONDON G ROUP (1996): „A pedagogy of multiliteracies: Designing social futures“. In: Harvard Educational Review 66.1 [http: / / www.pwrfaculty.net/ summer-seminar/ files/ 2011/ 12/ new-londonmultiliteracies.pdf (13.08.2014)]. N EW L ONDON G ROUP (2000): „A pedagogy of multiliteracies: Designing social futures“. In: C OPE , Bill / K ALANTZIS , Mary (Hrsg.): Multiliteracies: Literacy Learning and the Design of Social Futures. London: Routledge, 9-37.
