Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2015
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Gnutzmann Küster SchrammInklusion im Fremdsprachenunterricht
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2015
David Gerlach
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44 (2015) • Heft 1 © 2015 Narr Francke Attempto Verlag D AVID G ERLACH * Inklusion im Fremdsprachenunterricht Zwischen Ansprüchen und Grenzen von Heterogenität, Fachdidaktik und Unterricht(srealität) Abstract. Although inclusive education is being widely debated in the field of pedagogy, its practical implications for concrete subjects, especially foreign language teaching (FLT), have not yet been discussed in full detail. This article provides an overview of the German perspectives on inclusive FLT on the basis of both the relevant literature and an interview study, which was conducted during a research seminar at the Philipps University of Marburg (Germany) with special needs teachers and foreign language teachers. Results show the need for a change in teacher education, but also yield optimistic perspectives on the basis of established principles in FLT, which could be extended towards inclusive FLT. 0. Einleitung Durch das Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2009 besteht eine (auch schul-)rechtliche Grundlage für die Gleichstellung behinderter und nicht-behinderter Menschen. Im Kern geht es darum, Menschen mit Behinderungen dieselben (Bildungs-)Chancen zu ermöglichen, wie sie von nicht-eingeschränkten Menschen genutzt werden können. Die Umsetzung von Inklusion wird dabei in der Regel in Bezug auf Kinder und Jugendliche diskutiert (z.B. W ERNING 2014), dann auch nicht selten kontrovers und entlädt sich hierzulande mitunter polemisierend durch die beteiligten Personen sowie die Rezeption in Medien und stellt das dahinterstehende Konzept oder auch das deutsche Förderschulsystem in Frage. 1 Kritiker 2 führen dabei häufig an, Inklusion sei lediglich eine Umetikettierung * Korrespondenzadresse: Dr. David G ERLACH , Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Philipps-Universität Marburg, Institut für Schulpädagogik (AG Fremdsprachenforschung), Hans-Meerwein-Str. (Mehrzweckgebäude, IFS), 35032 M ARBURG . E-Mail: david.gerlach@uni-marburg.de Arbeitsbereiche: Fremdsprachendidaktik und -methodik, Professionalität von Fremdsprachenlehrkräften, Lernschwierigkeiten. 1 Z.B. der „Fall Henri“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 25.5.2014. 2 Zwar wird in weiten Teilen des Beitrags darauf geachtet, sowohl die weibliche als auch die männliche bzw. eine allgemeine Form zu verwenden, an Stellen, wo dies zu Lasten der Lesbarkeit gehen würde, wird N i c h t t h e m a t i s c h e r T e i l 124 David Gerlach 44 (2015) • Heft 1 der Integration, die bereits seit vielen Jahren - mehr oder weniger erfolgreich - in Deutschland umgesetzt werde. Tatsächlich wird dies ein Stück weit dadurch gestützt, dass das von der Bundesregierung verabschiedete Gesetz nicht von Inklusion, sondern von Integration sprach: Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen … (D EUTSCHE B UNDESREGIERUNG 2008: 1436; [Hervorhebung D.G.]) Wenn dieser „Fehler“ auch mittlerweile korrigiert wurde bzw. anders dargestellt wird, lohnt sich doch eine genauere Betrachtung des aktuell diskutierten, deutlich weiter reichenden Inklusionsbegriffs in seinem allgemein-pädagogischen Kontext, worauf im Folgenden zunächst eingegangen wird. Anschließend wird diese Konzeptualisierung auf die Perspektive der Fachdidaktiken, spezifischer dann auf die Fremdsprachendidaktik, übertragen, um darauffolgend die Ergebnisse eines Forschungsseminars vorzustellen, welches am Institut für Schulpädagogik der Philipps-Universität Marburg im Sommersemester 2014 stattfand und der Frage nachging, wie inklusiver Fremdsprachenunterricht unter den Zwängen, Forderungen und Möglichkeiten gelingen kann. 1. Inklusion aus allgemein-pädagogischer Perspektive Die Inklusionsdebatte wird, wie oben bereits angedeutet, an vielerlei Stellen als Diskussion geführt, wie behinderte und nicht-behinderte Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichtet werden können. Diese Kategorisierungen werden dabei allerdings aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive scharf kritisiert, da sich inklusive Pädagogik vielmehr dem „Abbau von Bildungsungleichheit verpflichtet“ (B UDDE / H UMM - RICH 2013) fühlt und somit nicht auf exkludierende Zuschreibungen abzielt. 3 Eine Abgrenzung der Begriffe Inklusion und Exklusion bzw. Separation ist aufgrund der Schärfe ihrer Bezeichnungen wohl nicht nötig, möglicherweise aber - aufgrund der oben bereits angesprochenen (falschen) Interpretation - zur Integration im schulischen Kontext durchaus zweckmäßig: Inklusion ist die konsequente Weiterführung von Integration. Während der Begriff „Integration“ nahe legt, darunter das Hereinnehmen eines Kindes in ein bestehendes System zu verstehen, ohne das System substantiell zu verändern, geht Inklusion davon aus, dass das Recht aller Kinder auf gemeinsame Bildung und Erziehung nur durch einen umfassenden Reformprozess zu realisieren ist. Schulen wie Kindertagesstätten müssen so ausgestattet werden, dass sie kein Kind aussondern. Alle - Kinder, Jugendliche, Pädagoginnen und Pädagogen, Eltern, Verwaltung, Politik - tragen dazu bei, dass Inklusion gelingt (Vorwort der Hrsg. in B OOTH et al. 2006: 4). die männliche Form im generischen Sinne verwendet. 3 Einen Überblick über die Diskussionen und Entwicklungen um Inklusion und seine Begrifflichkeiten liefert z.B. H INZ (2013), vgl. auch die deutlich kritischere Betrachtung von A HRBECK (2014). Inklusion im Fremdsprachenunterricht 125 44 (2015) • Heft 1 Die angestrebten Reformen werden folglich als gesamtgesellschaftlicher Prozess gesehen, der in vielen Bereichen Anpassungen und Öffnungen erfordert. Der Wunsch dieses breiten Inklusionsverständnisses ist eine gesellschaftliche Bewusstmachung und Verstetigung von Chancengleichheit, dessen Grundlagen im Kinder- und Jugendbereich als „inklusive Schulkultur“ (P REUSS -L AUSITZ 2014: 51) gelegt und entsprechend weitergegeben werden sollen. Die Forderungen, die damit einhergehen, sind komplex und stellen häufig bestehende Strukturen auf verschiedenen Ebenen in Frage: ein barrierefreier Ausbau der Schulen, die Abschaffung von Sonder- und Förderschulen (obwohl „in der UN-Konvention davon … an keiner Stelle die Rede [ist]“, A HRBECK 2014: 23), Fortbildungen für Lehrpersonen sowie die Integration von Schulbegleitern und sonderpädagogisch aus- und fortgebildeten Förderkräften an Regelschulen. Inwiefern dieses angestrebte Konzept der „Schule für alle“ allerdings umsetzbar ist, zeigt sich gerade auch in der sonderpädagogischen Diskussion als heftig umstritten (Übersicht auch in ebd.; S PECK 2011). A HRBECK (2014), selbst Gegner der „totalen Inklusion“, spricht sich für sonderpädagogische Einrichtungen aus, da dort stark beeinträchtigte Kinder am besten gefördert werden könnten. Gleichzeitig bezieht er Stellung gegenüber in Medien vorherrschenden Positionen, das Förderschulsystem sei rückständig, denn behinderte Schülerinnen und Schüler würden dort nicht ausreichend gestützt und nicht zu einer gesellschaftlichen Teilhabe befähigt. A HRBECK warnt damit vor zu hohen Erwartungen, welche Regelschulen möglicherweise selbst mit der nötigen Unterstützung nicht leisten können. Dabei haben auch Inklusions-Befürworter eine Reihe an Studien vorzuweisen, die für eine inklusive Beschulung sprechen: Die sozialen sowie fachlichen Kompetenzen der vormals sonderpädagogisch beschulten Schülerinnen und Schüler werden durch die Interaktion mit anderen gestärkt, und die langfristigen Prognosen für Schulerfolg und Berufschancen durch inklusiven Unterricht sind sehr positiv (K OCAJ et al. 2014; E CKART et al. 2011). Die Sorge, dass gute Lernende im inklusiven Unterricht weniger Leistung erbringen oder ihr Klassenziel nicht erreichen, konnte bei einer lernzieldifferenten Beurteilung in inklusiven Klassen hingegen nicht bestätigt werden (Übersicht in P REUSS -L AUSITZ 2009). 4 Jedoch: Viele Studien, die ebenfalls in Medien breit - aber auch oft oberflächlich - rezipiert werden, differenzieren teilweise nicht eindeutig nach dem Grad der Behinderung. So scheint bei einem barrierefreien Ausbau einer Regelschule der Unterricht mit einem gehbehinderten, ansonsten aber gesunden Kind ohne Weiteres möglich. Einleuchtend ist auch die Notwendigkeit umfassender Unterstützung für Kinder mit beispielsweise geistig-emotionalen oder sprachlichen Beeinträchtigungen. Insbesondere an weiterführenden Schulen, zu denen es im Gegensatz zum Primarbereich bislang nur wenige Untersuchungen gibt, wird allerdings auch weiterhin auf eine gewisse Progression fachlicher wie sprachlicher Kompetenzen zunehmend Wert gelegt (bzw. muss für berufsqualifizierende Abschlüsse gelegt werden), hier klafft aber 4 K LEMM und P REUSS -L AUSITZ (2011) führen ergänzend eine Vielzahl Studien zu integrativer/ inklusiver Pädagogik auf, u.a. auch zu Qualitätskriterien „guten inklusiven Unterrichts“. 126 David Gerlach 44 (2015) • Heft 1 die Schere des Kompetenzzuwachses von behinderten und nicht-behinderten Lernenden mit zunehmendem Alter der Kinder und Jugendlichen mutmaßlich stärker auseinander. Es mag daher nicht überraschen, dass in Untersuchungen zu Einstellungen von Lehrpersonen gegenüber Inklusion oft keine eindeutige Tendenz festzustellen ist: Die Befürwortung gemeinsamen Unterrichts ist laut internationalen Studien häufig abhängig von der Art der Behinderung und der nötigen fachlichen, sonderpädagogischen Unterstützung (H ORNE / T IMMONS 2009), zuweilen zeigt sich eine deutlich ablehnende Haltung gegen eine vollkommene Inklusion (A VRAMIDIS / N ORWICH 2002). Damit verbunden sind oft mangelnde Qualifizierungen und ein hoher Bedarf an Aus- und Fortbildungen für Lehrpersonen, deren Durchführung und Teilnahme (G ÖTZ et al. 2015) sowie die Konfrontation und der reflektierte Umgang mit Heterogenität im Unterrichtsalltag (W ITTEK 2013) jedoch eine positive, förderliche Einstellung gegenüber Inklusion deutlich begünstigen kann. 2. Inklusion aus fachdidaktischer Perspektive Die Auseinandersetzung der Fachdidaktiken mit Inklusion ist noch sehr jung. 5 Oft stehen diese in Fortführung allgemein-pädagogischer und didaktischer, in der Tendenz (kritisch-)konstruktivistischer Konzeptionen (z.B. R EICH 2014, K ULLMANN et al. 2014), welche - wie oben bereits dargestellt - Inklusion als nötigen, gesamtgesellschaftlichen Prozess sehen und daher veränderte Rahmenbedingungen fordern, in denen Fachunterricht stattfinden sollte. Dabei steht eine Vielzahl fachdidaktischer Prinzipien im Vordergrund, die erfüllt werden müssten: Individualisierung und individuelle Lernziele, Umgang mit Heterogenität, offenere Unterrichtsformen, fortlaufende Evaluierung des Unterrichtsprozesses und Supervision der Lehrkräfte (vgl. A MRHEIN / R EICH 2014: 35-36). A MRHEIN und R EICH sehen aufgrund der vielfältigen Ansätze der unterschiedlichen Fachdidaktiken die Notwendigkeit, dass diese sich einzeln mit der Rolle der Sonderpädagogik in ihren Disziplinen und der damit einhergehenden Öffnung und Weiterentwicklung von (Fach-)Lehrerbildung interdisziplinär auseinandersetzen, zumal „die überwiegende Mehrheit der handelnden Kolleginnen und Kollegen im traditionellen exkludierenden Paradigma der besonderen Lern- und Entwicklungsförderung professionalisiert wurden“ (ebd.: 42). Außerdem: „Inklusiver Unterricht stößt da an Grenzen, wo die Aspekte der Individualisierung und Differenzierung, der integrierten Förderung und der individualisierten Bewertung nicht umgesetzt werden (können)“ (W ERNING 2014). Zentral dürfte also neben der Diskussion von Struktur und Rahmenbedingungen insbesondere in den fachdidaktischen Überlegungen vermehrt die Rolle der Lehrpersonen 5 Im Herausgeberbeitrag von A MRHEIN / D ZIAK -M AHLER (2014) wagen die Autorinnen und Autoren eine konzeptionelle Annäherung von Didaktik und Fachdidaktik an Inklusion und liefern darüber hinaus Überlegungen und (Seminar-)Konzepte aus verschiedenen Fächern (für die Fremdsprachen: K ÜCHLER / R OTERS 2014). Inklusion im Fremdsprachenunterricht 127 44 (2015) • Heft 1 zur Sprache kommen: Sie (und ihre Ausbildung) werden als Schlüsselpositionen in der Umsetzung von Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozessen gesehen, die Inklusion anschieben und ihre Umsetzung ermöglichen können. Die damit verbundenen Anforderungen an Lehrerbildung und die handelnden Personen in den verschiedenen Phasen sind enorm. 6 3. Inklusion aus fremdsprachendidaktischer Perspektive Wie K ÜCHLER und R OTERS (2014) anmerken, sind Inklusion und Heterogenität als Themen in den zuletzt erschienenen fremdsprachendidaktischen Handbüchern nicht vertreten, höchstens indirekt durch Schlagwörter wie Individualisierung oder Differenzierung. Allgemeine Empfehlungen in einschlägigen fremdsprachendidaktischen Zeitschriften sind ebenfalls rar. 7 Wenn auf Einschränkungen beim Lernen eingegangen wird, so geschieht dies häufig „vor dem Hintergrund sprachbezogener Herausforderungen … wie etwa Migrationshintergrund oder Lese-Rechtschreib-Schwäche“ (ebd.: 237 [Hervorhebung im Original]). Als Grund hierfür zeigt T RAUTMANN (2010), dass sich die Fremdsprachenforschung über mehrere Jahrzehnte hinweg primär mit Faktoren des Spracherwerbs und seiner allgemeinen Theoriebildung auseinandergesetzt hat, aber weniger mit individuellen Einflussfaktoren des Lernens und Erwerbens. Erst seit kurzem „wird gewissermaßen bei den individuellen Lernern (Schülern) nach Ursachen für Differenzen gesucht“ (ebd.: 4), da nun auch tendenziell konstruktivistischere Unterrichtskonzepte in fremdsprachendidaktischen Strukturen eingeführt werden. Vernachlässigt wurde und wird weiterhin der Blick auf „Zusammenhänge zwischen sozialen Umwelten von Schülergruppen“ und „Interaktionsprozesse[n] im Unterricht“ (ebd.: 4-5). Die Fremdsprachendidaktik muss möglicherweise ebenfalls Konzepte von Inklusion aus der allgemeinen und Förderschulpädagogik für sich neu bewerten (vgl. A MRHEIN / B ONGARTZ 2014). Dass insbesondere der hohe Stellenwert von individualisiertem Unterricht und Binnendifferenzierung in der fremdsprachendidaktischen Diskussion der vergangenen Jahre einen hohen Stellenwert genießt, wird in diesem Zusammenhang als gute Grundlage gesehen. In den wenigen Publikationen werden häufig die besondere Stellung des Fremdsprachenunterrichts und sein Bildungsbegriff als ein Grund genannt, dass gerade die Auseinandersetzung mit Sprachen in kultureller wie sozialer Hinsicht die Teilhabe behinderter Menschen fördere (z.B. MITTENDRIN E .V. 2011: 104 ff.). Das der Fremdsprachendidaktik ständig implizite und zum Unterrichtsgegenstand gemachte „Fremde“ im (inter-/ trans-)kulturellen und literarischen Kontext kann somit auch im Zusammenhang des gemeinsamen Lernens als Chance umgedeutet werden, denn: „Fremdheit bedeutet damit nicht Gegensatz zum oder Bedrohung des Eigenen, sondern ist Potenzial für dessen Veränderung“ (H ALLET / K ÖNIGS 2013: 15; 6 Beispiele für Ansätze in verschiedenen Phasen beschreibt S CHUPPENER (2014). 7 Hier sei beispielhaft auf Babylonia 3/ 2012 und Praxis Fremdsprachenunterricht 1/ 2012 hingewiesen. 128 David Gerlach 44 (2015) • Heft 1 vgl. ebenso K ÜCHLER / R OTERS 2014). Auch die Literaturdidaktik im Speziellen wird zur Förderung eines motivierenden und produktiven Umgangs mit den Fremdsprachen als lohnenswert angesehen, damit die Lernenden „in ihrer kognitiven und emotionalen Entwicklung und ihrer ästhetischen Bildung angemessen begleitet und gefördert [...] werden“ (A LBERS 2014: 155). Zusätzlich zu den Möglichkeiten interkulturellen und literarischen Lernens führt M ENDEZ (2012) auf der Basis eigener Erfahrungen z.B. eine individualisierte Unterrichtsmethodik, den Einsatz des Nachteilsausgleichs sowie soziales Lernen im Fremdsprachenunterricht auf. Häufig werden darüber hinaus für inklusiven Fremdsprachenunterricht mutmaßlich förderliche Medien (z.B. Bildkarten, größere Tafelanschriften, zusätzliches Fördermaterial), bestimmte Ansätze der Methodik (ritualisierte Stundenabläufe, häufige Methodenwechsel) sowie bestimmte Sozialformen (kooperative Lernformen, Tandemarbeit) genannt (M ENDEZ 2012; K ÜCHLER / R OTERS 2014), diese sind aber tatsächlich selten spezifisch für den Fremdsprachenunterricht, sondern finden sich auch in Empfehlungen anderer Fächer wieder. Eines der Anliegen dieses Beitrags soll daher sein, konkretere Gelingensbedingungen für inklusiven Fremdsprachenunterricht aufzuzeigen, was anhand der im Folgenden darzustellenden Analyse von Experteninterviews geschehen soll. 3.1 Methodische Vorgehensweise der Untersuchung Das Seminar „Inklusion im Fremdsprachenunterricht“, das im Sommersemester 2014 an der Philipps-Universität stattfand, hatte zum Ziel, sowohl eine Einführung in qualitative Forschungsmethoden zu geben als auch Inklusion aus fremdsprachendidaktischer Perspektive zu untersuchen - motiviert durch den oben bereits dargestellten Mangel an Erhebungen und konkreten Empfehlungen. Die Seminarteilnehmer führten Experteninterviews mit Sonder- und Förderpädagogen mit Fremdsprachenlehrerfahrung sowie Fremdsprachenlehrkräften an Regelschulen mit Erfahrung in inklusivem Unterrichten durch. 8 Durch ihre Anlage als Experteninterviews und die damit einhergehende Analyseorientierung am Inhalt wurden die Interviews nach einfachen Regeln (D RESING / P EHL 2013) transkribiert, anonymisiert und in Anlehnung an die inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse nach K UCKARTZ (2014) ausgewertet. Für diesen Beitrag wurde eine Auswahl von 12 Interviews zusammengestellt und separat neu betrachtet, um insbesondere eine komparative Betrachtung empfohlener methodischer Hinweise vornehmen zu können. Die Interviewpartner wurden durch Anfragen bei hessischen (Förder-)Schulen bzw. Behinderteneinrichtungen rekrutiert. Sie teilten sich folgendermaßen auf: 8 Im Zuge des Seminars wurden auch vereinzelt administrativ arbeitendes Personal sowie behinderte Studierende nach ihren Erfahrungen befragt. Die Ergebnisse waren im Einzelnen jedoch hochindividuell und ließen sich aufgrund der geringen Anzahl im Kategorienraster nicht zielführend vergleichen und analysieren, weswegen auf sie hier nicht genauer eingegangen werden soll. Inklusion im Fremdsprachenunterricht 129 44 (2015) • Heft 1 • Fremdsprachenlehrkräfte an Regelschulen mit Inklusionserfahrung: 7 (4 weiblich, 3 männlich) • Sonder-/ Förderlehrkräfte mit fremdsprachenunterrichtlicher Erfahrung: 5 (3 weiblich, 2 männlich) Im Kern folgten die Interviews den folgenden Leitfragen, die ggf. durch Nachfragen vertieft wurden: 1. Was ist für Sie Inklusion? 2. Welche Erfahrungen konnten Sie mit Inklusion in Ihrem Fremdsprachenunterricht machen? 3. Wie gehen Sie im inklusiven Fremdsprachenunterricht vor? 4. Welche Unterstützung bekommen Sie für Ihren inklusiven Fremdsprachenunterricht? 5. Was wünschen Sie sich für Ihren Fremdsprachenunterricht mit inklusiv zu unterrichtenden Lernenden? Die Einstiegsfrage wurde bewusst allgemein gewählt, um eine generelle Einstellung der Befragten zur Thematik zu erhalten. Die weiteren Fragen beschäftigten sich dann konkreter mit dem Untersuchungsziel, drehten sich speziell um den methodischen Zugang (3.), entsprechende Rahmenbedingungen (4.) und sollten mit einer erzählgenerierenden Abschlussfrage (5.) perspektivisch noch vorhandene Schwierigkeiten und damit verbundene Wünsche und Erwartungen evozieren. 3.2 Ergebnisse Im Folgenden werden die Ergebnisse der Interviewanalyse dargestellt. Die gestellten Fragen gaben bereits ein grobes Analyse- und Kategorienraster vor, welches allerdings insbesondere für methodische Aspekte des Unterrichts im Zuge der Analyse deduktiv weiter aufgegliedert wurde. Aufgrund des begrenzten Platzes im Rahmen dieses Beitrags werden die Kernergebnisse jeweils knapp gebündelt für die vier verschiedenen Zielgruppen dargestellt und erst anschließend in der Diskussion kontrastiert, durch weitere Zitate ergänzt und auf die vorliegende Literatur bezogen. 3.2.1 Fremdsprachenlehrkräfte an Regelschulen mit Inklusionserfahrung An Regelschulen arbeitende Fremdsprachenlehrkräfte mit entsprechender Erfahrung im Feld der Inklusion sprechen allgemein positiv vom inklusiven Gedanken, wie er oben bereits beschrieben wurde, wenn alle Schüler, Schülerinnen, Jugendlichen wohnortnah in die Schule gehen und unterrichtet werden, egal welche Einschränkung oder Behinderung (…) und welche Lernvoraussetzungen sie haben (IR4 9 ). 9 Um die Interviewtranskriptionen eindeutig zuzuordnen, wurden sie folgendermaßen codiert: IR1 = 130 David Gerlach 44 (2015) • Heft 1 Ein anderer Interviewpartner (IR2) beschreibt, dass alle Lernenden, die er in seinen Inklusionsklassen an einer integrierten Gesamtschule kennengelernt hat, sehr vom gemeinsamen Unterricht profitiert hätten. Die Befragten sehen aber persönlich auch Schwierigkeiten in der Umsetzung: I: Was bedeutet Inklusion für Sie persönlich? IR7: (schmunzelt) Das ist eine gute Frage! Zuerst einmal bedeutet es für mich Mehrarbeit, würde ich sagen. Nachdem ich mein Referendariat an einer Regelschule, an einem Gymnasium gemacht habe und ich jetzt hier in die inklusive Schule hineingeraten bin, ist es auf jeden Fall deshalb Mehrarbeit, weil Unterricht anders und mehr vorbereitet werden muss. Der mit der Vorbereitung verbundene Mehraufwand findet sich im Kategorienraster für alle Lehrpersonen an Regelschulen wieder. Dabei betont der Großteil, dass der Aufwand abhängig ist von Art und Grad einer Behinderung. Ein Interviewpartner erwähnt ebenfalls, dass er vielfach in inklusiven Unterrichtsformen beobachten konnte, dass nach einer gewissen Eingewöhnungsphase aller Schülerinnen und Schüler insbesondere in sozialer Hinsicht die gegenseitige Akzeptanz schnell und sichtbar zunehme. Unter methodischen Gesichtspunkten lässt sich eine Reihe von Aspekten zusammenfassen, die die Befragten als förderlich im inklusiven Fremdsprachenunterricht ansehen: • starke Ritualisierung des Unterrichts • Nutzung einfacher Sprache • multisensorisches Arbeiten (insbesondere im Zusammenhang mit Wortschatzerwerb) • stärkerer Fokus auf mündliche Sprachproduktion/ Kommunikation Insbesondere der Schwerpunkt auf den letztgenannten Aspekt wird häufiger betont, da dies in der Wahrnehmung der Lehrkräfte effektiver und einfacher zu bewerkstelligen ist als z.B. Textproduktion. In bestimmten Bereichen, z.B. Grammatikvermittlung und Leistungsbewertung, aber auch in inhaltlich geprägten Bereichen wie Landeskunde, wird stark differenziert: IR4: Dann kann man, wenn das Thema was-weiß-ich ist, London, oder das Thema ist Kanada, dann würde dieses Kind versuchen, mit seinem sprachlichen Fremdsprachenausdruck das Land zu beschreiben oder auch über Liedtexte, über irgendwelche Materialien zu arbeiten, während andere darüber ein Referat halten. IR1: Wir differenzieren die Arbeiten komplett. Das heißt (...) die bekommen auf ihren Lernstand hin zugeschnittene Arbeiten. Die orientieren sich thematisch immer an dem, was wir in der Klasse insgesamt machen und haben dann aber beispielsweise aus Förderschulmaterialien zusammengestellt. Genauso wie (...) das hab ich jetzt für mich im Englischunterricht entdeckt, ich relativ viel auch mit denen in Freiarbeit mache, einfach um diese unterschiedlichen Niveaus auch irgendwo aufzufangen. Interviewpartner an Regelschule Nr. 1, IF1 = Förder-/ Sonderpädagogen. Aus Gründen der Lesbarkeit werden die Interviewstellen vom Fließtext separiert dargestellt, auf Zeilenangaben wird verzichtet. Inklusion im Fremdsprachenunterricht 131 44 (2015) • Heft 1 Eine andere Interviewpartnerin beschreibt, dass es kaum mehr Schwierigkeiten im Unterrichtsablauf gibt, wenn eine zweite Lehrkraft sich ebenfalls im Klassenraum befindet. Die Ergebnisse der Fragen nach gewährter Unterstützung sowie Wünschen lassen sich daher für die Regelschullehrer insofern zusammenfassen, als personelle Unterstützung im laufenden Unterricht gewünscht, aber bislang selten ermöglicht wurde. Dabei werden jedoch nur von einer Lehrkraft explizit sonderpädagogische Fachkräfte zur Unterstützung genannt, die anderen wünschen sich vor allem eine veränderte Ausbildung und bessere Fortbildungen sowie mehr geeignetes Fördermaterial. Technische Hilfsmittel für bestimmte Behinderungen würden meist ohnehin durch Krankenkassen der Betroffenen gestellt, daher sehen die Befragten dies eher selten als Einschränkung. 3.2.2 Sonder-/ Förderlehrkräfte mit fremdsprachenunterrichtlicher Erfahrung Ähnlich wie bei der vorgenannten Gruppe ist das Verständnis von Inklusion auch bei Sonder- und Förderlehrkräften in der Tendenz idealistisch, wenn es auch negative Einzelbeispiele gibt: IF2: … ich hab bisher noch nicht gelungene Inklusion gesehen und so, was bei uns im Kollegium so gesprochen wird, wie die sogenannten inklusiven Klassen laufen, das überzeugt mich bisher noch nicht so richtig. Generell wird die konkrete Umsetzung von Inklusion in dieser Zielgruppe eher kritisch gesehen. Die Förderschullehrkräfte arbeiten meist in deutlich kleineren Klassen im Vergleich zu Regelschullehrkräften und sind dort meist auch auf bestimmte Förderschwerpunkte explizit innerhalb einer Lerngruppe festgelegt. Obwohl IF2 das vorliegende Lehrwerk, angepasst an Förderschulen (Klick! Englisch, Cornelsen), positiv beschreibt, betont sie - wie andere Interviewpartner -, dass der Fokus weniger auf Schreibkompetenz liege, sondern deutlich stärker auf Hörverstehen sowie mündliche Sprachproduktion. Darüber hinaus arbeiten die Förderlehrkräfte verstärkt mit Bildern und Bildkarten, um Wortschatz zu trainieren, weniger inhaltsorientiert, dafür mehr spielerisch, in der kleinen Lerngruppe aber eher frontal und präsentierend. Differenzierung wird ebenso stark betont - ein Beispiel: IF1: Also ich muss quasi jedes Kind mir anschauen und schauen, was ist möglich zu erfassen und was ist möglich an Unterrichtsstruktur, an Hilfestellung dazuzugeben, dass das Kind sich möglichst gut orientieren kann im Lernangebot und dann möglichst das auch nutzen kann. Insbesondere bezogen auf geistig behinderte Lernende betont IF1, dass diese lernzieldifferent nur an ihrem eigenen Fortschritt und nicht an der Klassennorm bewertet werden sollten. Ferner hat der stützende Einsatz der Muttersprache für viele Förderlehrkräfte eine große Bedeutung. Eine junge Förderlehrkraft beschreibt dahingehend ihren Anfangsschwierigkeiten, formuliert aber direkt auch Lösungsmöglichkeiten für ihre eventuelle Überforderung durch rein fremdsprachige Anteile im Englischunterricht mit Förderschwerpunkt: IF3: Also ich habe angefangen und habe nur Englisch gesprochen, dann habe ich gemerkt, OK, das ist echt schwierig oder da müsste ich mich vielleicht noch mehr vorher strukturieren, 132 David Gerlach 44 (2015) • Heft 1 damit ich genau mir überlege, welche Sätze ich wann wie sage und wann ich da noch visuelle Unterstützung nutze. Also ich spreche schon auch ab und zu mal Deutsch oder lasse noch mal auf Deutsch wiederholen. Die Förderlehrkräfte sehen in der technischen, baulichen und personellen Ausstattung von Regelschulen weiterhin das größte Hindernis für Inklusion. Die meisten von ihnen wären dafür aufgeschlossen, ihre Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen, wenn beispielsweise Team-Teaching-Settings ermöglicht würden. An den Stellen, an denen dies schon geschieht, sind die sonderpädagogisch qualifizierten Lehrkräfte jedoch selten nur an einer Schule eingesetzt, sondern wechseln oft im Laufe eines Tages mehrfach den Einsatzort. 3.3 Diskussion Beim direkten Vergleich der Einstellungen zu Inklusion beider Zielgruppen zeigt sich, dass Förderlehrkräfte den Inklusionsbegriff etwas negativer bewerten, zumindest der Umsetzung skeptischer gegenüberstehen. Das mag überraschen, da oft den Regelschullehrkräften eine negative Wahrnehmung von Inklusion zugeschrieben wird (s.o.), weil sie sich von den damit verbundenen Ansprüchen überfordert fühlen. Möglicherweise besteht die Diskrepanz in der hier betrachteten, kleinen Zielgruppe darin, dass die befragten Förderpädagogen sich selbst als hochkompetent einschätzen und daher in der Tendenz der Umsetzung sonderpädagogischer Maßnahmen im Regelschulbetrieb eher skeptisch gegenüberstehen. Dass allerdings Kinder mit bestimmten Behinderungen an der Förderschule in jedem Fall besser aufgehoben wären (A HRBECK 2014), wird von keiner Förderschullehrkraft benannt. Bezogen auf förderliche Rahmenbedingungen eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts nennen Regelschullehrkräfte selten schulische, bauliche Bedingungen oder technische Voraussetzungen, die geschaffen werden müssten, obwohl dies in der Literatur (z.B. M ENDEZ 2012) durchaus betont wird. Auch auf unterrichtsmethodischer Ebene wird die Notwendigkeit einer starken Ritualisierung nur von den Fremdsprachenlehrkräften an Regelschulen genannt, möglicherweise da der Förderunterricht an Sonderschulen ohnehin stark phasiert und ritualisiert abläuft und mit vielen Methodenwechseln einhergeht. Der Einsatz der Muttersprache hingegen kommt stärker bei den Förderlehrkräften zur Sprache als bei der anderen Zielgruppe. Darüber hinaus ähneln sich jedoch die meisten unterrichtspraktischen Empfehlungen, wie z.B. der stärkere Fokus auf Sprachproduktion bei Vernachlässigung der Schriftsprache sowie eine möglichst multisensorische Herangehensweise mit Hörübungen, Bildkarten und spielerischen Ansätzen. Die lernzieldifferente Betrachtung und Bewertung der in einem inklusiven Unterricht von verschiedenen Lernenden erbrachten Leistungen ohne curriculare Zwänge sollte darüber hinaus selbstverständlich werden und könnte durch offenere Unterrichtsformen bewerkstelligt werden. Interessanterweise begründen die Regelschullehrkräfte den schwächeren Fokus auf Schriftsprache und individuelle Textproduktion meist eher mit der Behinderung und einer vergleichsweise höheren Effizienz von Sprechförderung. Förderlehrkräfte hinge- Inklusion im Fremdsprachenunterricht 133 44 (2015) • Heft 1 gen führen diese Verschiebung nicht zuletzt auf bereits schwache schriftsprachliche Kompetenzen in der Muttersprache Deutsch zurück, die viele behinderte Kinder ebenfalls nur unzureichend beherrschten: IF3: Hm .. also ich finde es ist schon so ein bisschen eine Schwierigkeit, dass halt manche Jugendliche Deutsch nicht so gut sprechen. Also jetzt nicht mal unbedingt, ich hab gar nicht so viele Leute, die nicht Muttersprachler sind, sondern die einfach auf Deutsch keinen geraden Satz schreiben können oder stark Dialekt sprechen oder so. Und dann denke ich manchmal schon, wäre es für die jetzt nicht noch wichtiger noch mehr Deutsch zu machen einfach? Jedoch sieht IF3, wie es im Anschluss formuliert wird, die Chance, sich im Englischunterricht in einer anderen Sprache auszudrücken, als eine Art Kompensationsstrategie zu schwachen Kompetenzen in der Muttersprache. Bezogen auf Wünsche oder Veränderungen, die mit dem Ziel eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts einhergehen sollten, wird von nur einer Förderlehrkraft - im Gegensatz dazu von vielen Fremdsprachenlehrkräften an Regelschulen - der Bedarf an Fortbildungen und einer auf Inklusion ausgerichteten Lehrerbildung explizit angesprochen. Dies kann zum einen darauf zurückgeführt werden, dass sich letztere aufgrund ihrer spezifischeren Ausbildung eine gewisse Daseinsberechtigung zugesichert wissen möchten, zum anderen sehen sie sich dadurch im Umgang mit anderen Fremdsprachenlehrern zu kompetenten Ansprechpartnern für inklusiven Unterricht und kooperatives Unterrichten. Interessanterweise sagt eine nun an einer integrierten Gesamtschule tätige, aber als Sonderpädagogin ausgebildete Referendarin: IR3: Auf Inklusion an sich würde ich noch nicht mal sagen, dass ich jetzt in der zweiten Ausbildungsphase speziell darauf vorbereitet werde, weil das einfach so viele unterschiedliche Modelle gibt, in denen Inklusion (...), oder im Moment ist es ja eigentlich noch Integration, versucht wird umzusetzen. R OHDE (2014) legt besonderen Wert auf linguistisches Wissen im Studium, speziell zum Spracherwerb, als hochschuldidaktische Voraussetzung, um dieses Wissen später in Interaktionsprozessen mit unterschiedlichen Lernenden nutzbar machen zu können. Er räumt allerdings auch ein, dass „[die] praktische Umsetzung von inklusivem Unterricht vor allem in Bezug auf die erforderlichen Betreuungspersonen […] dabei noch gar nicht thematisiert worden [ist]“ (ebd.: 20-21). A MRHEIN und B ONGARTZ (2014) merken zudem an: In diese Paradoxie geraten momentan besonders die Lehrkräfte der Sekundarstufe und hier insbesondere die Kollegen der Gymnasien. Sie sehen sich dem Anspruch ausgeliefert, sich der inklusiven Idee zu öffnen, obwohl die ihrem System immanente Logik (Förderung und Auslese) diesem Anspruch diametral entgegensteht und sie zwingt, diese Antinomie permanent auf der eigenen Handlungsebene auszugleichen (ebd.: 36). K ÜCHLER / R OTERS (2014) warnen darüber hinaus davor, dass die allgemeine Fremdsprachenlehrerbildung durch weitere Konzepte und Ansprüche „eher als ‚Mehrfachbelastung‘ empfunden [...] und dadurch eine defensive Haltung gegenüber einem individualisierten und inklusiven Unterricht begünstigt wird“ (ebd.: 245) - ein Aspekt, der sich ebenfalls durch die wiederholt in den Interviews angeklungene Belastung zeigt. 134 David Gerlach 44 (2015) • Heft 1 Auch in den Diskussionen mit den Studierenden im Seminar zeigte sich oft Besorgnis aufgrund der meist mit hohen Ansprüchen verbundenen Grundlagenliteratur zu Inklusion. Mehrfach formulierten sie daher, dass sie sich für solche Aufgaben nicht ausgebildet sähen. Es gibt aber auch neutralere Positionen: IF1: Also für mich ist der Unterricht in der Fremdsprache eigentlich nicht viel anders als der Unterricht in einem anderen Fach. Da für die Lehrerin die Förderung in allen Fächern im Fokus steht, stellt sie mit ihrer Aussage die inhaltliche Arbeit in den verschiedenen Förderschulfächern auf eine Ebene. Ähnlich formuliert es eine Kollegin an einer Regelschule: IR1: Bei uns, also wenn wir entsprechend zusammen unterrichten können oder Unterstützung durch z.B. einen Sonderschullehrer hätten bei schweren Fällen, unterscheidet sich, denke ich, also im Anfangsbereich, der Englischunterricht nicht grundlegend vom Unterricht ohne Behinderte. Heterogenität wird von IR1 damit auf methodisch-didaktischer Ebene neben der personellen Unterstützung vermutlich überwiegend mit Methoden des Anfangsunterrichts (z.B. Bildkarten, Sprachspiele etc.) begegnet. Beide Lehrende hinterfragen allerdings mit ihren Aussagen auch, ob Inklusion im Fremdsprachenunterricht überhaupt etwas anderes bedeuten muss als beispielsweise Inklusion in naturwissenschaftlichen Fächern. Sollten nicht möglicherweise übergeordnete didaktische Prinzipien (eine „inklusive Didaktik“) der Maßstab sein? Oder bieten die Fachdidaktiken bereits Ansatzpunkte und Schnittstellen, um zumindest auf didaktisch-methodischer Ebene des einzelnen Fachs Inklusion umsetzen zu können, ohne das sprichwörtliche Rad neu erfinden zu müssen? 4. Fazit und Ausblick IR5: Also spätestens bei Inklusion ist man gezwungen, den einzelnen Menschen zu sehen. Durch diese Aussage formuliert die Interviewpartnerin, was unter dem Schlagwort Individualisierung schon lange gefordert wird. Auch K ÜCHLER und R OTERS (2014) sehen „inklusive[n] Fremdsprachenunterricht [als] die Weiterführung und Intensivierung bisher schon praktizierter didaktischer Komponenten“ (ebd.: 244). Dennoch zeigen die Ergebnisse der Befragungen, dass genau diese Intensivierung - zumal unter einem neuen „Etikett“ - große Sorgen und auf praktischer Ebene Umsetzungsschwierigkeiten bereitet. Möglicherweise muss den Lehrpersonen die konsequente Weiterentwicklung bereits dem Fremdsprachenunterricht immanenter Prinzipien stärker verdeutlicht werden, um Sorgen hinsichtlich der unterrichtspraktischen Umsetzung ein Stück weit zu zerstreuen. Jedoch: Dies darf Schulen und Kultusministerien nicht davor schützen, entsprechendes sonderpädagogisches Personal in Regelschulen gezielt einzusetzen sowie entsprechende Fortbildungen und Zusatzangebote in allen Phasen der Lehrerbildung zu integrieren. Inklusion im Fremdsprachenunterricht 135 44 (2015) • Heft 1 Da die im Rahmen dieser Studie durchgeführte Interviewanalyse einen eher allgemeinen Blick auf Fremdsprachenunterricht und seine nötigen Veränderungen im Zuge von Inklusion thematisieren konnte, bleiben und ergeben sich gleichzeitig neue Forschungsdesiderate und -fragen. Unter anderem: Wie kann Individualisierung und Lernen in heterogenen Gruppen insbesondere in den Sekundarstufen vereinbar werden? Welches Wissen benötigen Lehrerinnen und Lehrer, um diesen Ansprüchen in der Praxis gerecht zu werden? Gibt es fremdsprachenunterrichtspezifische Ansätze, die inklusiven Fremdsprachenunterricht maßgeblich unterstützen können? Welche Rolle spielen die Sonderpädagogik und ihr Personal im inklusiven Fremdsprachenunterricht und wie lässt dieses sich einsetzen? Welche subjektiven Theorien bestimmen das Lehrerhandeln im Fremdsprachenunterricht im Zuge steigender Heterogenität? Und letztlich ist immer noch nicht befriedigend geklärt, wie bezogen auf unterschiedliche Lernvoraussetzungen (oder ihre Einschränkungen) insbesondere auch in kooperativen und/ oder freieren Lehr- und Lernformen Unterricht erfolgreich stattfinden kann. Dass der individuelle Lehr- und Lernerfolg stark von Art und Grad der Behinderung abhängig bleibt, ändert nichts an der Tatsache, dass das Ziel von Inklusion in seinem breiten Verständnis als Ermöglichung von Bildungsgerechtigkeit grundsätzlich positiv zu bewerten ist, das unter gesellschaftlich-sozialen Gesichtspunkten ehrenwert ist. Allerdings müssen die Weichen für Fremdheitserfahrungen, Akzeptanz und Individualisierung im Bildungssystem viel früher gestellt werden. Gleichzeitig sind die damit verbundenen Ansprüche in höheren Schulformen und auch Universitäten konsequent weiterzuführen und reflexiv zu diskutieren (B UDDE / H UMMRICH 2013). Möglicherweise muss man sich immer wieder darüber bewusst werden, dass der „inklusive Gedanke“, der erst seit wenigen Jahren in Deutschland diskutiert wird, noch stärker in der Gesellschaft ankommen muss. Die Inklusion steckt derzeit in den Kinderschuhen, aus denen sie herauswachsen muss, man kann sie aber auch nicht zwingen, „schnell erwachsen zu werden“. 10 Schule und Bildung generell, möglicherweise aber in besonderem Maße der Fremdsprachenunterricht durch seine Inhalte und Anlage, spielen hierbei eine maßgebliche Rolle. Nur: Die Rahmenbedingungen durch eine breite, inklusiv ausgerichtete Lehrerbildung sowie kompetente Unterstützung in den Schulen müssen erst noch langfristig sichergestellt werden und sich etablieren. Die Diskussionen um die Rolle der Schulen mit besonderen Förderschwerpunkten werden indes fortgeführt werden. Inwiefern jede einzelne Fachdidaktik tatsächlich einen eigenen Diskurs um Inklusion führen sollte, müssen die einzelnen Fächer wohl selbst entscheiden. Die Fremdsprachendidaktik jedenfalls scheint bereits ein gutes Repertoire an Konzepten vorliegen zu haben, die jedoch in Forschung sowie inklusiver Praxis und Unterrichtsrealität weiterentwickelt und überprüft werden müssen. Die Grundlagen für einen förderlichen, weil: individualisierenden und differenzierenden, inklusiven Fremdsprachenunterricht sind in vielerlei Hinsicht bereits vorhanden. 11 10 Siehe beispielhaft die in Finnland erst nach Jahrzehnten wirksam gewordenen Reformen eines inklusiven Schulsystems (S AHLBERG 2011). 11 Mein Dank gilt den Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern für anregende, kritische Diskussionen und 136 David Gerlach 44 (2015) • Heft 1 Literatur A HRBECK , Bernd (2014): Inklusion - eine Kritik. Stuttgart: Kohlhammer. A LBERS , Carsten (2014): „Englisch an der Förderschule: Literaturdidaktische Perspektive“. In: B ARTOSCH / R OHDE (Hrsg.), 147-156. 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