Fremdsprachen Lehren und Lernen
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Narr Verlag Tübingen
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Gnutzmann Küster SchrammZur Einführung in den Themenschwerpunkt
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Jenny Jakisch
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44 (2015) • Heft 2 © 2015 Narr Francke Attempto Verlag J ENNY J AKISCH * Zur Einführung in den Themenschwerpunkt Mit der Mehrsprachigkeitsdidaktik widmet sich das vorliegende Themenheft einem Forschungsfeld, an dem mittlerweile kein Weg mehr vorbeiführt. Fragen der Konzeptualisierung, Förderung und didaktischen Modellierung von Mehrsprachigkeit werden seit vielen Jahren in den fremdsprachendidaktischen Diskursen - vor allem romanistischer Art - verhandelt. Dabei besteht in den verschiedenen (Teil-)Disziplinen Einigkeit darüber, dass der Ausbau von Kenntnissen in mehr als einer Fremdsprache wichtig und sinnvoll ist. Nach wie vor offen ist allerdings, wie der Beitrag der einzelnen Fächer zur Mehrsprachigkeitsentwicklung konkret aussehen kann und welche Elemente eine Mehrsprachigkeitsdidaktik beinhalten sollte. Angesichts der vielfältigen Anforderungen und Wünsche, denen diese gerecht werden müsste, verwundert es jedoch kaum, dass viele Ansätze zur Anbahnung von Mehrsprachigkeit derzeit noch eher unverbunden nebeneinander stehen bzw. sich auf Einzelmaßnahmen beschränken. Schon der Mehrsprachigkeitsbegriff selbst gibt Raum zu unterschiedlichen Auslegungen. Als kleinster gemeinsamer Nenner kann sicherlich die richtungsweisende Vorgabe der Sprachenpolitik der Europäischen Union verstanden werden: Jeder EU-Bürger sollte zusätzlich zur Muttersprache über ausbaufähige Kenntnisse in zwei weiteren Sprachen verfügen. Die inhaltliche Füllung dieser Leitvorstellung fällt jedoch weniger konkret aus, und es wird bewusst offen gehalten, welcher Art die Kompetenzen in den weiteren Sprachen sein sollen. Dem Mehrsprachigkeitsgedanken zufolge geht es damit weniger um bestimmte sprachliche ‚Fixpunkte‘, die erreicht werden müssen, als um die Tatsache, dass überhaupt eine Auseinandersetzung mit zusätzlichen Sprachen stattfindet.Die Komplexität des Mehrsprachigkeitsbegriffs resultiert auch daraus, dass unter ihm unterschiedliche Formen der Mehrsprachigkeit subsumiert werden. Andere Sprachen werden nämlich längst nicht mehr nur in der Schule gelernt (schulische Mehrsprachigkeit), sondern immer häufiger in Form verschiedener Herkunftssprachen bereits in den Unterricht mitgebracht (lebensweltliche Mehrsprachigkeit). Dementsprechend vielfältig sind die Ansätze, die unter dem Oberbegriff Mehrsprachigkeit firmieren. Sie reichen von der (romanischen) Interkomprehension über die * Korrespondenzadresse: Dr. Jenny J AKISCH , TU Braunschweig, Englisches Seminar, Bienroder Weg 80, 38106 B RAUNSCHWEIG . E-Mail: j.jakisch@tu-braunschweig.de Arbeitsbereiche: Mehrsprachigkeitsdidaktik, Praktika und Praxis in der Lehrerbildung, Englisch als europäische Verkehrssprache. Mehrspra chigkeit sdidaktik 4 Jenny Jakisch 44 (2015) • Heft 2 Förderung der Herkunftssprachen bis hin zu transcurricularem Fremdsprachenlernen mit besonderem Fokus auf der Entwicklung von Sprachlernkompetenz. Hinzu kommt, dass in der schulischen Realität nach wie vor häufig das Bild eines überwiegend einsprachigen, von Fächergrenzen und -traditionen geprägten Fremdsprachenunterrichts vorherrscht, während Fachdidaktiker schon seit Langem für eine Überwindung dieser Form des ‚monolingualen Habitus‘ plädieren. Dabei gerät allerdings mitunter in Vergessenheit, dass der Mehrsprachigkeitserziehung im schulischen Alltag durchaus Grenzen gesetzt sind und dass allzu idealistische Mehrsprachigkeitsvorstellungen Gefahr laufen, bei den beteiligten Akteuren (v.a. bei den Lehrern) eher das Gegenteil zu bewirken. Vor diesem Hintergrund unternimmt das Themenheft „Mehrsprachigkeitsdidaktik“ den Versuch, die Expertise der verschiedenen fremdsprachendidaktischen Fächer zusammenzuführen, aber auch kritisch zu reflektieren, welche möglichen Chancen und Herausforderungen sich mit mehrsprachigkeitsdidaktischen Lehr- und Lernformen verbinden. Zu diesem Zweck werden unterschiedliche Sprachen (z.B. Englisch, Spanisch, Italienisch und Russisch), Zielgruppen (Schüler, Lehrer, Studierende) sowie Forschungskontexte (neben Deutschland weitere europäische Länder) in den Blick genommen. Der einführende Beitrag von H ÉLÈNE M ARTINEZ (Universität Gießen) zeichnet die Wandlung nach, die der Mehrsprachigkeitsbegriff in den letzten Jahren erfahren hat, und skizziert davon ausgehend gegenwärtige Aufgaben, Herausforderungen und Potenziale der Mehrsprachigkeitsdidaktik. Dabei wird deutlich, dass es bereits eine Vielzahl von Aufgabenformaten gibt, um Mehrsprachigkeit zu fördern, deren curriculare Anbindung aber noch weitgehend aussteht. Die Autorin unterstreicht ferner, dass den Lehrkräften eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Mehrsprachigkeit zukommt und plädiert dafür, Standards für die Lehrerbildung zu erarbeiten, in denen die dafür notwendigen Kompetenzen aufgefächert werden. J ENNY J AKISCH (TU Braunschweig) beschäftigt sich mit der Rolle, die dem Fach Englisch im Rahmen der Mehrsprachigkeitsförderung zuteilwird. Als am häufigsten gelernte 1. Fremdsprache muss hier eine Grundsteinlegung für Mehrsprachigkeit und vernetzendes Sprachenlernen erfolgen. Sie skizziert, auf welchen Mehrsprachigkeitsfeldern der Englischunterricht aktiv werden könnte, und diskutiert mögliche Vor- und Nachteile einer diesbezüglichen Öffnung des Englischunterrichts. Die eher verhaltenen Reaktionen der von ihr befragten Schüler/ -innen und Lehrer/ -innen zu Mehrsprachigkeit im und durch Englischunterricht lassen deutlich werden, dass die Selbstverständlichkeit, mit der die Fremdsprachendidaktik für mehrsprachigkeitsförderlichen Englischunterricht eintritt, in der Schulpraxis einer Rechtfertigung bedarf. Im darauf folgenden Beitrag von G ABRIELE B LELL (Universität Hannover) wird demonstriert, wie sich mehrsprachige Filme als Abbild einer sprachlich und kulturell vielfältigen Welt für die Mehrsprachigkeitserziehung - mit besonderem Schwerpunkt auf dem inter- und transkulturellen Lernen - einsetzen lassen. Am Beispiel des Sprachenpaares Englisch-Spanisch zeigt die Autorin anschaulich auf, welche Optionen für das mehrsprachige sprachrezeptive sowie sprachproduktive Handeln derartige Filme Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 5 44 (2015) • Heft 2 als Unterrichtsgegenstand bieten. Die von ihr skizzierten Aufgabenformate sind vielfältig und reichen von der Spracharbeit im engeren Sinne (z.B. Suche nach lexikalischen Gemeinsamkeiten zwischen dem Englischen und Spanischen) bis hin zur Diskussion gesellschaftspolitischer Fragen (z.B. Einwanderung). F RANK S CHÖPP (Universität Würzburg) widmet sich Vernetzungsmöglichkeiten zwischen dem Italienischen und Englischen. Da Italienisch meist als 3. oder 4. Fremdsprache gelernt wird, haben die Schüler schon Sprachwissen und Sprachlernerfahrungen aus anderen Sprachen. Wie Schöpp ermitteln konnte, greifen sie jedoch weniger auf ihre Kenntnisse aus anderen romanischen Sprachen zurück, sondern nutzen das Englische als Brückensprache, um sich unbekannte italienische Wörter und Strukturen zu erschließen. Der Autor spricht sich dafür aus, dieses Potenzial nicht ungenutzt zu lassen und demonstriert anhand konkreter Unterrichtsbeispiele, in welcher Form Kenntnisse aus dem Englischen für die Entschlüsselung italienischer Texte genutzt werden können. Im Zentrum des Beitrags von G RIT M EHLHORN (Universität Leipzig) steht die lebensweltliche Mehrsprachigkeit. Genauer geht es um die Situation von Herkunftssprechern des Russischen und Polnischen, die ihre in der Familie erworbenen Sprachen im institutionellen Kontext weiterlernen. Die von ihr präsentierten Daten aus Interviews mit Schüler/ -innen, ihren Eltern und Lehrenden geben aufschlussreiche Einblicke in die Wahrnehmung vorhandenen Sprachenpotenzials und den Umgang mit dieser Ressource. Wiewohl die Jugendlichen selbst ihre Mehrsprachigkeit als positiv empfinden und ihre Russischbzw. Polnischlehrkräfte große Anstrengungen unternehmen, um einen ansprechenden und motivierenden Unterricht zu gestalten, werden außerhalb des Herkunftssprachenunterrichts im normalen Schulalltag kaum Möglichkeiten geschaffen, diese Kenntnisse einzubringen. Dass dies eine Aufgabe ist, die nicht allein die Fremdsprachenlehrkräfte betrifft, erläutert E LISABETH L ANGER (Universität Wien). Ihre Ausführungen zum Umgang mit Sprache(n) im Fachunterricht in Österreich beruhen auf der Erkenntnis, dass sprachliches und fachliches Lernen untrennbar miteinander verbunden sind. Kenntnisse in der Bildungssprache sind daher die Voraussetzung für sachfachliches Lernen. Sie können aber nicht bei allen Schülern vorausgesetzt werden - sei es, weil diese aus bildungsfernen Schichten kommen, sei es, weil sie mit einer anderen Sprache als der Umgebungssprache aufgewachsen sind. Ein sprachaufmerksamer Sachfachunterricht, wie ihn die Autorin anhand verschiedener Beispiele charakterisiert, trägt der Tatsache Rechnung, dass viele Schüler insbesondere beim Umgang mit Texten an ihre (sprachlichen) Grenzen stoßen. Lehrkräfte dafür zu sensibilisieren, sollte daher fester Bestandteil der Lehrerbildung sein. K ATJA L OCHTMAN (Vrije Universiteit Brussel) gibt einen Überblick über mehrsprachigkeitsförderliche Angebote in den Beneluxländern. Ähnlich wie in Deutschland ist auch dort der traditionelle, an einer Sprache ausgerichtete Fremdsprachenunterricht noch weit verbreitet - und das, obwohl das Beneluxgebiet per se mehrsprachig ist. Sie stellt den bilingualen Sachfachunterricht als eine Möglichkeit vor, die individuelle Mehrsprachigkeit zu fördern. Da das gewählte Kommunikationsmedium für alle Ler- 6 Jenny Jakisch 44 (2015) • Heft 2 nenden eine Fremdsprache ist, hätten auch Schüler mit einer anderen Herkunftssprache hier die gleichen Ausgangsbedingungen. Es fehlt jedoch derzeit noch an geeigneten Aus- und Fortbildungsprogrammen für Content and Language Integrated Learning. Der das Themenheft schließende Beitrag von S ÍLVIA M ELO -P FEIFER (Universität Hamburg) stellt eindrücklich zur Schau, wie kreativ Sprachbenutzer mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ausdrucksmitteln umgehen, wenn sie den entsprechenden Raum dazu haben. Die Autorin widmet sich der Interkomprehension zwischen romanischen Sprachen und präsentiert Daten, die eine Weiterentwicklung des ‚klassischen‘ Interkomprehensionsansatzes nahelegen. Dieser zielt darauf ab, sich auf Grundlage einer Brückensprache eine Sprache, die man nicht formal erlernt hat, rezeptiv zu erschließen. In den von ihr untersuchten mehrsprachigen Chatrooms werden sprachliche Grenzen insofern irrelevant, als die Sprecher alle ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen Ressourcen mobilisieren, um gemeinsam in einem dynamischen Prozess Bedeutung auszuhandeln. Die Beiträge bilden die Vielfalt ab, die die Mehrsprachigkeitsdidaktik auszeichnet. Trotz unterschiedlicher Ansätze und Initiativen, die sie in den Blick nehmen, haben sie eines gemeinsam: Sie alle zeigen, dass es an der Zeit ist, das Sprachenlernen sowie dessen Erforschung nicht als Einzelaufgabe ausgewählter Fächer und Disziplinen zu verstehen. Die längst zur Normalität gewordene sprachliche und kulturelle Vielfalt macht ein Umdenken nötig, bei dem Sprachen stets im Plural gedacht und verstanden werden.