eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 46/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
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2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2017
461 Gnutzmann Küster Schramm

Französisch, Spanisch, Italienisch –

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2017
Marcus Bär
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© 2017 Narr Francke Attempto Verlag 46 (2017) • Heft 1 M ARCUS B ÄR * Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen im deutschen Bildungssystem Abstract. The following article addresses the status of second foreign languages within the German educational system, whereby focussing in particular on the Romance languages - French, Spanish, and Italian - as taught in schools. It examines to what extent these languages compete with each other and what the main reasons for this are. Does educational policy supply the basis necessary to attain a stronger cooperation between the individual languages within the school context? Current decisions made at federal state level are raising concerns that, in the future, school children in Germany will not be able to achieve the goal - “Native Language Plus Two” - advertised by the European Union. On the contrary, in certain federal states, like, for example, Lower Saxony and Hamburg, the tendency to weaken rather than to reinforce the status of second foreign languages in the Oberstufe is emerging, in turn leading to a firmer establishment of individual bilingualism as opposed to plurilingualism. 1. Ausgangssituation Vor ca. 15 Jahren sah Andreas N IEWELER (2001: 4) „an den Schulen eine teilweise erbitterte Konkurrenz der Fremdsprachen: Französisch gegen Latein, Spanisch gegen Französisch usw.“ - mit dem Ergebnis, dass jede Sprache „um die Gunst der wählenden Schülerschaft [buhle]“. Zum damaligen Zeitpunkt schienen sich insbesondere die romanischen Schulsprachen, die traditionell die Stellung als zweite und/ oder dritte Fremdsprache innehaben, gegenseitig Konkurrenz zu machen. Und heute: Hat sich etwas an dieser Wahrnehmung geändert? Welche Stellung haben die romanischen Schulsprachen im deutschen Bildungssystem? Hat sich die konkurrierende Situation der zweiten und dritten Fremdsprachen evtl. sogar weiter verschärft? Tatsache ist, dass aufgrund der stets voranschreitenden Globalisierung immer mehr Sprachen in die Schulen drängen und das Sprachenangebot immer weiter wächst, die für das Erlernen einer Fremdsprache zur Verfügung stehende Zeit hingegen nicht steigt. Tatsache ist auch, dass trotz einzelner Flexibilisierungen, die von der Kultus- * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Marcus B ÄR , Bergische Universität Wuppertal, Gaußstraße 20, 42119 W UPPERTAL . E-Mail: mbaer@uni-wuppertal.de Arbeitsbereiche: Mehrsprachigkeitsdidaktik und Interkomprehensionsforschung, Aufgabenorientierung und Konstruktion komplexer Lernaufgaben für den Spanischunterricht, europäische Sprach- und Bildungspolitik. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen 87 46 (2017) • Heft 1 ministerkonferenz (KMK) seit dem sog. Hamburger Abkommen aus dem Jahr 1964 vorgenommen worden sind, weiterhin nur an Schulformen, die zur Allgemeinen Hochschulreife führen, von den Schülerinnen und Schülern zwei Fremdsprachen belegt werden müssen; an allen anderen Schulformen kann eine zweite Fremdsprache als Wahlfach belegt werden (vgl. hierzu KMK 1964: §§ 9-13). Diese über 50 Jahre alte Regelung führt letzten Endes dazu, dass das von der Europäischen Kommission propagierte Ziel „Muttersprache plus zwei“ im Sinne einer Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit in Deutschland klar verfehlt wird und die Schülerinnen und Schüler hierzulande durchschnittlich 1,3 bis 1,4 Sprachen (inkl. Latein) im allgemeinbildenden Sekundarbereich erlernen (vgl. hierzu bspw. E URYDICE 2008: 66). Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass Belegungszahlen keinerlei Rückschluss auf die tatsächlich im Fremdsprachenunterricht erworbenen Fertigkeiten und Kompetenzen erlauben. 2. Sprachkonkurrenz statt Sprachenfolge Wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe, dürfte es im Sinne des o.g. EU- Ziels im deutschen Bildungssystem eigentlich nicht darum gehen, zu einem bestimmten Zeitpunkt „entweder Französisch oder Spanisch oder eine andere Sprache zu lernen“ (B ÄR 2012a: 245; Hervorhebungen im Original), da ein solches Entweder-Oder, vor dem letzten Endes alle Schülerinnen und Schüler der 6. oder 7. Klasse im Gymnasium stehen, dazu führt, dass in den Köpfen der Lernenden künstlich Mauern zwischen den Sprachen hochgezogen werden, die das Gegeneinander-Ausspielen der Sprachen befördern. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die bei C ASPARI / R ÖSSLER (2008: 61) zitierte Aussage eines Fachleiters für Französisch an einer Berliner Schule hingewiesen: „Solange ich an dieser Schule Französisch- Fachleiter bin, werden wir kein Spanisch bekommen. Dafür sorge ich“. Öffentlichkeitswirksam wurde dieses Gegeneinander der Sprachen bzw. die Angst vieler Französischlehrkräfte vor der steigenden Zahl der Spanischschülerinnen und -schüler bspw. auch im Spiegel unter dem Titel „Shakira schlägt Jacques Brel - Deutsche Schüler wollen lieber Spanisch als Französisch lernen“ im doppelten Sinne einseitig dargestellt (vgl. F RIEDMANN 2011). Dieser Artikel ist ein Paradebeispiel dafür, wie einfach es letzten Endes ist, allein durch die Darstellungsweise (Grafiken, …) oder auch durch eine gezielte Auswahl an Daten die öffentliche Wahrnehmung in die eine oder andere Richtung zu lenken und im konkreten Fall Missstimmung gegen die sog. Gallier-Lobby in den Ministerien zu schüren (vgl. ebd.). In der Regel verfehlen solche plumpen Stimmungsmacher ihr Ziel nicht. Es ist daher umso wichtiger, dass im Folgenden der Versuch unternommen wird, die zur Verfügung stehenden Datensätze des Statistischen Bundesamtes möglichst objektiv darzulegen und zugleich auf potenzielle Manipulationsfallen hinzuweisen. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 88 Marcus Bär 46 (2017) • Heft 1 2.1 Belegungszahlen laut Angaben des Statistischen Bundesamtes Es sei vorab erwähnt, dass die reinen Zahlen für ganz Deutschland nur einen sehr begrenzten Aussagewert haben, zumal die meisten Regelungen und Vorgaben sprachen- und bildungspolitscher Art länderspezifisch sind und sich daher viele beobachtbare Entwicklungen auch nur auf einzelne Bundesländer beziehen. Laut dem Zahlenwerk des Statistischen Bundesamtes betrug die Gesamtschülerzahl im Schuljahr 2014/ 15 etwa 8,3 Millionen (vgl. D ESTATIS 2015: 39). 1 Hiervon besuchten ungefähr 1,52 Millionen Schülerinnen und Schüler das Fach Französisch (18,4%), ungefähr 400.000 das Fach Spanisch (4,8%) und etwa 50.000 das Fach Italienisch (0,6%). Zehn Jahre zuvor lag die Gesamtschülerzahl noch bei etwa 9,5 Millionen, von denen wiederum knapp 1,69 Millionen das Fach Französisch belegten (17,7%), ca. 210.000 das Fach Spanisch (2,2%) und knapp 45.000 das Fach Italienisch (0,5%). Aus diesen Zahlen wird deutlich, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die eine romanische Schulsprache belegen, wächst, auch wenn im Falle von Französisch die absolute Zahl in den letzten Jahren gesunken ist. Es wird zudem deutlich, dass die Zahl der Französischlernenden in etwa vier Mal so hoch ist wie die Zahl der Spanischlernenden, die wiederum acht Mal so hoch ist wie die Zahl der Italienischlernenden. Je nach Stoßrichtung der beabsichtigten Aussage kann man nun hervorheben, dass sich die Zahl der Spanischlernenden in den letzten zehn Jahren deutschlandweit etwa verdoppelt hat (oder - bei Wahl des Zeitraums von 2000/ 2001 bis 2010/ 2011 - um über 200% gestiegen ist, vgl. hierzu B ÄR 2012b: 36), während im gleichen Zeitraum die Zahl der Französischlernenden um knapp 200.000 abgenommen hat, oder aber der Fokus wird auf den seit Jahrzehnten stabilen bzw. leicht anwachsenden Anteil von ca. 17 bis 19% der Schülerschaft gelegt, die das Fach Französisch wählen, während der Anteil der Spanischlernenden trotz (angeblichen) Booms noch immer unter 5% liegt und somit über 95% der Schülerschaft keinen Kontakt mit der spanischen Sprache haben. Wie bereits angedeutet, bilden die genannten Zahlen keine Grundlage für eine sachgerechte Diskussion, da die Belegungen in den einzelnen Bundesländern z.T. sehr unterschiedlich sind. So schwankt der Anteil der Spanischlernenden zwischen 16,9% in Hamburg und nur 1,9% in Rheinland-Pfalz (über alle Schuljahre hinweg), der Anteil der Französischlernenden ist im Saarland mit 59,9% am größten und in Bremen mit 11,9% am geringsten. 2 In Hamburg und Bremen übersteigt die Zahl der Spanischlernenden die Zahl der Französischlernenden, auch wenn in Bremen die Schülerzahl, die Spanisch belegt, gegen den bundesweiten Trend in den letzten zehn Jahren um fast ein Viertel abgenommen hat. Und Italienisch? Fast 80% der Italie- 1 Sämtliche Berechnungen erfolgen unter Ausschluss der folgenden Schulformen: Vorklassen, Schulkindergärten, Abendschulen, Kollegs. 2 Betrachtet man innerhalb eines Bundeslands die Anteile in einzelnen Schulformen und/ oder Jahrgangsbereichen, wird man u.a. feststellen, dass im Saarland nahezu 90% der Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I an Gymnasien das Fach Französisch belegen, aber zugleich auch über 12% dieser Schülerschaft das Fach Spanisch. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen 89 46 (2017) • Heft 1 nischlernenden finden sich in NRW, Bayern und Baden-Württemberg; in allen anderen Bundesländern spielt das Fach Italienisch nur eine marginale Rolle. Eine solche marginale Rolle spielt auch das Spanische in nahezu allen Schulformen mit Ausnahme des Gymnasiums und der Gesamtschulen. Hier wiederum kann es vor allem im Sekundarbereich II punkten: Am Gymnasium belegen 18,3% der Oberstufenschülerinnen und -schüler das Fach Spanisch, an Gesamtschulen sogar 36,9%. An Schulformen wie Haupt- und Realschulen, die infolge des o.g. Hamburger Abkommens nur eine Pflichtfremdsprache kennen, liegt der Anteil der Spanischlernenden hingegen unter 1%. 2.2 Moderner Imperialismus im deutschen Schulsystem Der kleine Exkurs in die Zahlenwelt sollte ausreichen, um nachvollziehen zu können, dass die Unterschiede sowohl in den einzelnen Bundesländern als auch in den jeweiligen Schulformen und Jahrgangsstufen zu groß sind, um allgemeingültige Aussagen zu treffen bzw. pauschale Antworten à la Spiegel im Hinblick auf die konkurrierende Situation der Fremdsprachen im deutschen Bildungssystem zu geben. Die vielfach zitierte Konkurrenz der (zweiten, dritten, …) Fremdsprachen ergibt sich schlichtweg aus dem Fakt, dass im deutschen Bildungssystem nur an einer Schulform (Gymnasium) zwei Fremdsprachen (für eine gewisse Zeit) belegt werden müssen, von denen eine (Englisch) gesetzt ist. Diese Tatsache ist dahingehend zu bedauern, dass eine von der Europäischen Kommission propagierte (wichtige und richtige) Zielsetzung, nämlich dass jede(r) Bürgerin und Bürger Europas neben ihrer/ seiner Muttersprache über Kenntnisse in mindestens zwei weiteren Sprachen verfügen sollte, in Deutschland nicht flächendeckend umsetzbar ist und die Schülerinnen und Schüler somit statt zu einer individuellen Mehrsprachigkeit eher zu einer Zweisprachigkeit (bei Berücksichtigung der qualitativen Komponente in vielen Fällen auch nur zu einer Anderthalbsprachigkeit) erzogen werden: „Aus dem stereotypen Sprachenpaar Deutsch plus Englisch kann sehr leicht, statt einer Basis für echte Mehrsprachigkeit, eine Form der Anderthalbsprachigkeit entstehen, die nur ein paar Schritte aus der Einsprachigkeit herausführt und insofern eine kulturelle Sackgasse darstellt“ (W EINRICH 2002: 35). Die sprachen- und bildungspolitischen Vorgaben führen somit dazu, dass alle an Schulen angebotenen Sprachen (und nicht nur die typischen romanischen Schulsprachen Französisch, Spanisch und Italienisch) mit Ausnahme des Englischen in Konkurrenz stehen. Für jede einzelne Sprache ließen sich diverse Gründe finden, sie zu erlernen, aber das hiesige Schulsystem lässt dies nicht zu, sondern privilegiert durch Festlegungen zur Sprachenreihenfolge, Stundentafel, Versetzungsrelevanz usw. einige wenige und ganz besonders das Englische. Der Aussage von Antonio de Nebrija folgend, der im Prolog zur ersten Grammatik des Spanischen aus dem Jahr 1492 den Satz „Siempre la lengua fue compañera del imperio“ prägte und somit die Bedeutung von Sprachenpolitik unterstrich, könnte man heute - mehr als 500 Jahre später - von einem modernen Imperialismus sprechen. Es soll durch diese Einschät- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 90 Marcus Bär 46 (2017) • Heft 1 zung aber keinesfalls der Eindruck entstehen, dass das Fach Englisch als Schuldiger im Sinne einer bislang nicht realisierten Entwicklung hin zu einer individuellen Mehrsprachigkeit definiert werden soll. Dies wäre zu kurz gedacht, zumal eine (simple) Erweiterung des Sprachenangebots sowie eine stärkere Flexibilisierung der Sprachenreihenfolge in sich keinen Beitrag hierzu leisten würden, denn: „Die Tatsache, dass 13 statt 2 Sorten Frischkäse in einem Supermarkt angeboten werden, bedeutet nicht, dass jeder Kunde von nun an mehr Frischkäse kauft“ (E DMONDSON 2004: 40). Ist der Wegfall der Konkurrenzsituation das Ziel bei gleichzeitiger Erfüllung des EU-Ziels, so müsste das Fremdsprachenangebot radikal (auf zwei? ) gekürzt werden und für alle Schulformen die Belegung zweier (bzw. dieser zwei? ) Fremdsprachen verpflichtend sein. Ein solches Vorgehen wäre weltfremd und an Unsinnigkeit nicht zu überbieten. Ein größeres und vielfältigeres Fremdsprachenangebot verschärft hingegen die Konkurrenzsituation - wohlgemerkt nur unter der Prämisse, dass die Anzahl der zu lernenden Fremdsprachen weiterhin mit eins oder zwei festgelegt bleibt und de facto bspw. aus personaltechnischen Überlegungen (Lehrkräfte im Landesdienst) sowie Ressourcen im Rahmen der universitären Lehrerausbildung (Professuren für die Didaktik der einzelnen Fächer) oder auch studientechnische Vorgaben (Latinum 3 ) bestimmte Sprachen zur Auswahl stehen und erst zu einem bestimmten Zeitpunkt angewählt werden können. Insbesondere in Zeiten eines wachsenden kulturellen Radikalismus ist bzw. wäre das Erlernen mehrerer Sprachen nötiger denn je, zumal die mehrheitlich anzutreffende „Fremdsprachen-Monokultur“ nicht den erforderlichen Weitblick ermöglicht sowie die Erlebbarkeit transkultureller kommunikativer Kompetenz massiv einengt (vgl. hierzu R EIMANN 2016). Eine stärkere Flexibilisierung bei der Belegung von Fremdsprachen wäre zudem dahingehend zu begrüßen, dass der (individuelle) Fremdsprachenbedarf einer Schülerin bzw. eines Schülers nicht vorhersagbar ist und es somit einer mehrsprachigen Fremdsprachenausbildung bedarf, die - an allen Schulformen - das Erlernen einer zweiten Fremdsprache obligatorisch und das Erlernen weiterer Fremdsprachen fakultativ vorsieht. 3 Hinsichtlich des Latinums wurde bspw. in NRW am 25.04.2016 u.a. §11, der den „Nachweis fremdsprachlicher Kenntnisse“ in der „Verordnung über den Zugang zum nordrhein-westfälischen Vorbereitungsdienst für Lehrämter an Schulen (Lehrerzugangsverordnung - LZV)“ regelt, dahingehend geändert, dass die erforderlichen fachwissenschaftlichen Kenntnisse in den Fächern Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch nicht mehr auf Kenntnissen in Latein beruhen müssen, was faktisch einer Abschaffung des Latinums als Zugangsvoraussetzung für die genannten Fächer entspricht. Allerdings wurde den einzelnen Hochschulen in §11, Abs. 3 zugestanden, in ihren Prüfungsordnungen weitergehende Anforderungen zu stellen. Dies hat nun zur Folge, dass die Universität Bonn zum Wintersemester 2017/ 18 Lateinkenntnisse als Sprachvoraussetzung wieder einführen will (vgl. hierzu die Internetseiten des Bonner Zentrums für Lehrerbildung), während die Bergische Universität Wuppertal am 26.08.2016 in den Allgemeinen Bestimmungen der Prüfungsordnung für die Studiengänge Master of Education in §2, Abs. 3 die Nennung der Fächer Englisch, Französisch und Spanisch bereits gestrichen hat, für deren Studium bislang Lateinkenntnisse erforderlich waren. Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass in NRW für das Lehramt an Berufskollegs mit beruflicher Fachrichtung nur noch Kenntnisse in einer Fremdsprache nachzuweisen sind (vgl. §11, Abs. 1 der LZV vom 25.04.2016). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen 91 46 (2017) • Heft 1 3. Gegenwärtige sprachenpolitische Tendenzen in ausgewählten Bundesländern 3.1 Mit einer Fremdsprache zum Abitur Aktuelle Tendenzen in einzelnen Bundesländern zeigen allerdings in eine andere Richtung: So war bspw. in der Hannoverschen Allgemeine vom 26. Juni 2015 ein Artikel mit „Ohne zweite Fremdsprache zum Abitur? “ überschrieben (D ÖHNER 2015), der Weser-Kurier titelte am 7. Juli 2015 „Streit über die zweite Fremdsprache“ (M LODOCH 2015). Erläutert werden Pläne der Landesregierung, die zweite Fremdsprache auch an Gymnasien bereits nach Klasse 10 abwählen zu können, was zur Folge hätte, dass nach der in Niedersachsen vollzogenen Rückkehr von G8 zu G9 in der gymnasialen Oberstufe ggf. nicht mehr zwei Fremdsprachen von den Schülerinnen und Schülern belegt werden müssen, sofern die Pflichtzeit bereits im Sekundarbereich I erfüllt worden ist. Da eine solche Regelung vor allem die zweiten Fremdsprachen, also vorrangig Französisch und Spanisch (und in Deutschland kurioserweise auch Latein), betrifft, verwundert es nicht, dass bspw. der Landesverband Niedersachsen des Deutschen Spanischlehrerverbands in einem Schreiben an die niedersächsische Kultusministerin unter Verweis auf eine Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur Stärkung der Fremdsprachenkompetenz (KMK 2011) die anvisierte Abschaffung der Pflichtbelegung in Klasse 11 scharf kritisiert (vgl. K RAFT 2015). Die KMK-Empfehlungen beginnen mit dem allgemeinen Hinweis, dass die „Vielfalt der Sprachen und Kulturen (…) ein Reichtum [sei], den es durch geeignete Bildungsmaßnahmen zu erschließen [gelte]“ (KMK 2011: 2). Da dem Fremdsprachenunterricht hierbei „eine besondere Rolle“ zukomme, indem er „zielorientierte Kommunikationsfähigkeit“ schaffe und „interkulturelle Handlungskompetenz“ entwickle, müssten diese Zielsetzungen „mit unter den Ländern abgestimmten Sprachlernangeboten“ erreicht werden - „beginnend mit einem flächendeckend etablierten qualitativ hochwertigen Fremdsprachenunterricht im Primarbereich bis hin zu einem vielfältigen Fremdsprachenangebot in den weiterführenden Schulen“ (ebd.). Eine entgegengesetzte Meinung vertritt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW): Statt den Verlust sprachlicher und kultureller Vielfalt zu beklagen, sieht die GEW in dem „Wegfall der Pflicht zur zweiten Fremdsprache in 11 (…) nicht weniger Unterricht und Niveau, sondern“ die Erweiterung der „Möglichkeiten für die Naturwissenschaften, die gesellschaftswissenschaftlichen und die ästhetischen Fächer und auch die Fremdsprachen selbst“, da hierdurch die Sekundarstufe II „um interessante und hoch qualifizierte Angebote“ erweitert werden könnte (S AUERLAND 2015). Begründet wird die Einschätzung mit dem Hinweis, dass die Belegung einer zweiten Fremdsprache in den Klassen 6 bis 10 ausreiche, was laut KMK-Beschluss zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe formal stimmt (vgl. KMK 1972/ 2013: 9), aber dennoch verheerende Auswirkungen auf die Fortführung der zweiten Fremdsprache in der Qualifikationsphase haben dürfte, zumal nach einer Abwahl nach Klasse 10 eine potenzielle Wiederaufnahme in Klasse 12 Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 92 Marcus Bär 46 (2017) • Heft 1 verhindert würde und somit eine weitere Engführung auf das Englische zu erwarten wäre. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass trotz eventuell gleichbleibender Anforderungen in Bezug auf die Dauer der Belegungspflicht der zweiten Fremdsprache (bei G9: 7.-11. Klasse, bei G8: 6.-10. Klasse) lern- und entwicklungspsychologische Faktoren durch die Vorverlegung von Klasse 7 auf Klasse 6 in der Diskussion zumeist unberücksichtigt bleiben. 4 Das niedersächsische Kultusministerium (NKM) hat daraufhin im Februar 2016 einen Änderungsentwurf zur Verordnung über die gymnasiale Oberstufe (VO-GO) veröffentlicht. In § 8, Abs. 2 heißt es zunächst, dass „jede Schülerin und jeder Schüler […] am Unterricht in zwei Fremdsprachen teilnehmen [muss]“, um diese Pflicht sogleich in Abs. 3 wie folgt einzuschränken: „Abweichend von Absatz 2 kann der Schulvorstand beschließen, von der verpflichtenden Belegung einer zweiten Fremdsprache abzusehen und zusätzlich ein Wahlpflichtangebot einzurichten. Der Unterricht findet im Umfang von drei Wochenstunden statt. […] Die Verpflichtung der Schule, Unterricht in einer zweiten Fremdsprache anzubieten, bleibt hiervon unberührt“ (NKM 2016a: 1f.). Das NKM verteidigt den Änderungsentwurf dahingehend, dass durch den möglichen Wegfall einer Belegungspflicht die Schulen einen größeren Spielraum erhalten und zudem „Schülerinnen und Schüler, die bereits im 11. Schuljahrgang wissen, dass sie ein anderes Profil in der Qualifikationsphase anwählen möchten, [sich] dann schon in der Einführungsphase durch das zusätzliche Wahlpflichtangebot intensiv auf die entsprechenden Schwerpunktfächer vorbereiten“ (NKM 2016b). Den Stellungnahmen diverser Verbände, unter ihnen des Fachverbandes Moderne Fremdsprachen Niedersachsen, des Landesverbands Niedersachsen des Deutschen Spanischlehrerverbands und des Philologenverbands Niedersachsen, ist eine deutliche Kritik an der geplanten Neuregelung zu entnehmen, die vorgesehene Verbindlichkeit zur Belegung einer zweiten Fremdsprache in der Einführungsphase durch einen Beschluss des jeweiligen Schulvorstands aufheben zu können 5 : „Der FMF Niedersachsen lehnt eine derartige de facto-Optionalität grundsätzlich ab, da diese Regelung eine enorm wichtige fremdsprachenpolitische Entscheidung an ein Gremium einer Schule überträgt, dessen Entscheidung interessegeleitet und von kurz- und mittelfristig angelegten Motiven abhängig sein wird“ (S CHÜLER 2016: 1; Hervorhebungen im Original). Stattdessen wird gefordert, „in puncto Fremdsprachen eine Position einzunehmen, die dem Erlernen von modernen Fremdsprachen eine klare curriculare Priorität einräumt“ (ebd.). Ergänzend verweist K RAFT (2016: 2) darauf, dass „eine solch bildungsrelevante Entscheidung auf der Basis eines richtungsweisenden fremdsprachenpolitischen Konzepts zu treffen [sei]“ und dass die „Verantwortung für die Zukunftsperspektiven der Schüler(innen) […] nicht auf ein 4 Weitergehende Ausführungen zu den Auswirkungen auf die Sekundarstufe I (G8/ G9) erfolgen am Ende von Kapitel 3.1. 5 Laut § 38b des seit 01.08.2015 geltenden Niedersächsischen Schulgesetzes besteht der Schulvorstand aus Lehrkräften (50%), Erziehungsberechtigten (25%) sowie Schülerinnen und Schülern (25%). Entscheidungen werden mit einfacher Mehrheit (Ja/ Nein) gefällt. Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen 93 46 (2017) • Heft 1 ständig wechselndes Gremium der unteren Ebene verlagert werden [dürfe]“, da eine solche Entscheidung „originär der obersten Schulbehörde“ obliege. Den hier nur exemplarisch verdeutlichten Einwänden der Verbände kann auch aus fremdsprachendidaktischer Sicht nur beigepflichtet werden: Ein von einem Gremium der unteren Ebene vollzogener Tausch (von einer Fremdsprache zu einem wie auch immer gearteten Wahlpflichtangebot) ist ein bedeutender Verlust des Bildungswerts, das das (Weiter-)Lernen von Sprachen und Kulturen nicht ersetzen kann. Zudem ist davon auszugehen, dass die Vorverlegung in Klasse 10 im Hinblick auf die Entscheidung, ob eine Schülerin bzw. ein Schüler in der Qualifikationsphase (Klassen 12 und 13) einen Kurs auf grundlegendem oder erhöhtem Niveau belegen will, dazu führt, dass mehr Abwahlen der Fächer Französisch und Spanisch erfolgen werden, da die Schülerinnen und Schüler zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht überblicken können, welche Konsequenzen hiermit verbunden sind und sich stattdessen mehrheitlich von kurzfristigen Überlegungen leiten lassen bzw. den Weg des geringsten Widerstands wählen werden. In der Folge werden in der Qualifikationsphase deutlich weniger Schülerinnen und Schüler als bisher eine (zweite oder dritte) Fremdsprache belegen und somit eine Vielzahl von Lernenden tatsächlich lediglich mit (profunden) Kenntnissen in einer Fremdsprache, nämlich im Englischen, die Hochschulreife erwerben. Denkbar ist sogar, dass die Einrichtung von Kursen in der Qualifikationsphase - unabhängig davon, ob auf grundlegendem oder erhöhtem Niveau - durch den geringeren oder gänzlich fehlenden Zulauf aus der Einführungsphase entweder erschwert oder nahezu unmöglich wird. Wie Erfahrungen bspw. aus Hamburg zeigen, wo die Verpflichtung zur Belegung einer zweiten Fremdsprache in der gymnasialen Oberstufe abgeschafft wurde, finden Kurse in der Q1 und Q2 aufgrund der geringen Schülerzahlen oftmals jahrgangsübergreifend statt. Solche jahrgangsbzw. niveauübergreifende Kurse sind für das (Weiter-)Lernen jedweder Fremdsprache aus didaktischer Sicht als ungeeignet einzustufen und mindern die Erfolgschancen einer jeden Schülerin bzw. eines jeden Schülers, die bzw. der daran interessiert ist, ihre bzw. seine Fremdsprachenkenntnisse kontinuierlich zu erweitern und zu festigen. Es muss insgesamt festgehalten werden, dass die vorgeschlagenen Änderungen nahezu sämtliche Überlegungen und Bemühungen konterkarieren, die individuelle Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler zu fördern, was wiederum im Zuge der immer weiter fortschreitenden Globalisierung letzten Endes alternativlos ist. In der Konsequenz werden in Deutschland noch weniger Schülerinnen und Schüler als bisher das EU-Ziel „Muttersprache plus zwei“ erreichen und schlechter auf interkulturelle Handlungssituationen vorbereitet sein. Es bleibt daher zu hoffen, dass im Falle Niedersachsens die Einwände der Verbände von der Landesregierung gehört und berücksichtigt werden, um einem langsamen (aber ziemlich sicheren) Aussterben der zweiten Fremdsprache(n) in der gymnasialen Oberstufe entgegenzuwirken. Die genannten Regelungen haben darüber hinaus auch Auswirkungen auf den Bereich der Sekundarstufe I. Wie bereits weiter oben angedeutet, würden zwar - wie von der GEW beschrieben - durch die Rückkehr von G8 zu G9 beim Wegfall der Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 94 Marcus Bär 46 (2017) • Heft 1 Belegverpflichtung in Klasse 11 in Niedersachsen keine Stunden für die zweiten Fremdsprachen verloren gehen, da die frühere Verpflichtung (7.-11. Klasse) durch die Summe der Belegungen in den Klassen 6 bis 10 gleich bleiben würde, allerdings berücksichtigt diese Aussage nicht die entwicklungs- und lernpsychologischen Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schüler der Klassen 6/ 7 bzw. 10/ 11. Durch den frühe(re)n Beginn der zweiten Fremdsprache in Klasse 6 (statt 7) ist die erste Fremdsprache bei Schülerinnen und Schülern (nach einem Jahr G8) oftmals noch nicht derart gefestigt, dass sich über sie Erschließungsmöglichkeiten auf sprachlicher und methodisch-strategischer Ebene ergeben und somit die Transfermöglichkeiten von einer ersten auf weitere Fremdsprachen - im Sinne einer Brückensprache 6 - deutlich geringer sind. Die bewusste Nutzung von Transferbasen (insbesondere auf sprachlicher Ebene) zur Förderung und Entwicklung einer individuellen Mehrsprachigkeit (im Sinne eines integrierten statt additiven Begriffsverständnisses) erfordert von den Schülerinnen und Schülern eine kognitive Reife, die in Klasse 6 häufig noch nicht gegeben ist. Es sollte daher grundsätzlich geprüft werden, die Belegungspflicht der zweiten Fremdsprachen in die Klassenstufen 7 bis 11 (statt 6 bis 10 bzw. 11) zu verlegen, zumal zudem die sich durch G8 vielerorts ergebende Hauptbelastung in der Unter- und Mittelstufe ein wenig entschärft werden könnte. Auf diese Weise würde sich auch keine Anschlusslücke zur Qualifikationsphase ergeben, die derzeit in Bundesländern entstanden ist, die die Belegpflicht in Klasse 11 mit dem Hinweis abgeschafft haben, dass der für das Abitur vorgeschriebene Nachweis zweier Fremdsprachen durch die Vorverlegung in Klasse 6 bereits nach Klasse 10 erfüllt ist. Während bspw. Nordrhein-Westfalen sowohl für das Gymnasium (G8) als auch für die Gesamtschulen (G9) den Beginn der zweiten Fremdsprache grundsätzlich in Klasse 6 vorsieht (vgl. MSW NRW 2012: §§ 17 und 19), gestattet Niedersachsen seinen Integrierten Gesamtschulen (G9) die Möglichkeit, eine zweite Fremdsprache „erst ab Schuljahrgang 7 anzubieten“ (NKM 2014: 444). 7 Aufgrund der vorherigen Ausführungen sollte bestenfalls auch den (G9-)Gymnasien in Niedersachsen eine solche Möglichkeit zugestanden werden, sodass es zu einer Gleichstellung bezüglich der Wahlmöglichkeit des Beginns der zweiten Fremdsprache kommt (vgl. hierzu auch K RAFT 2016: 3). 3.2 Anzahl der zweiten Fremdsprachen im Angebot der Schulen Um beim Beispiel Niedersachsen zu bleiben: Beachtenswert erscheint zu dem bisher Gesagten auch der weiter oben zitierte (zunächst unscheinbar wirkende) Satz hin- 6 Der Begriff „Brückensprache“ geht auf die von Horst G. K LEIN und Tilbert D. S TEGMANN entwickelte Methode der sieben Siebe (EuroCom) zurück und bezeichnet diejenigen Sprachenkenntnisse, die von Lernenden als „Brücke“ (Transferbasen) zwischen Ausgangs- und Zielsprache genutzt werden, um die neu zu erlernende Sprache (rezeptiv) schneller und effizienter zu erschließen (vgl. K LEIN / S TEGMANN 2000). 7 Eine solche Entscheidung kann „der Schulvorstand mit Zustimmung des Schulelternrats“ treffen (vgl. ebd.). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen 95 46 (2017) • Heft 1 sichtlich der schulischen Verpflichtung, Unterricht in einer zweiten Fremdsprache während der Einführungsphase anbieten zu müssen (§ 8, Abs. 3, Satz 5). Wie K RAFT (2016: 1) betont, lässt die Formulierung „die Lesart zu, dass die Schule aus ihrem Kanon der zweiten Fremdsprachen lediglich eine einzige zweite Fremdsprache in der Einführungsphase anbieten muss“. Eine solche Auslegung ist zwar nicht unbedingt zu erwarten, könnte aber - z.B. aufgrund knapper werdender finanzieller Ressourcen oder einer bestimmten Personalsituation - als legale Verknappung des Angebots ausgenutzt werden. Die oben zitierte Vielfalt der Sprachen und Kulturen (vgl. KMK 2011: 2) kann - auch angesichts des weiter oben erläuterten Zitats von E DMONDSON (2004: 40) - nur erhalten werden, wenn ein Mindestmaß an Sprachenvielfalt von den Schulen angeboten wird, zumal das Vorhalten lediglich einer (zweiten) Fremdsprache diese in ungerechtfertigter Art und Weise privilegieren und den Weg zu einem oben angesprochenen modernen Imperialismus ebnen würde. Alles andere wäre ein Verstoß gegen die ethische Prämisse der Gleichwertigkeit aller Sprachen. Sollten (einzelne) Schulen dennoch - aus welchen Gründen auch immer - nur eine vorab festgelegte (zweite) Fremdsprache in der Einführungsphase anbieten wollen oder können, so hätte dies auch unweigerlich Auswirkungen auf die Wahl derselben in Klasse 6 und somit letzten Endes auch auf die von einzelnen Bildungspolitikern immer wieder zur Schau gestellten vielfältigen Sprachangebotspaletten in der Sekundarstufe I, die in Teilen hinfällig wären. 8 3.3 Sinkende Anwahlzahlen durch neue Belegauflagen Obwohl aus den zu Beginn genannten Zahlen des Statistischen Bundesamts erkennbar wird, dass die Belegungszahlen für Französisch, Spanisch und Italienisch trotz sinkender Gesamtschülerzahl seit mehreren Jahren stabil sind oder gar ansteigen, soll im Folgendem ein zweites Beispiel angeführt werden, das exemplarisch das Dilemma der zweiten (und dritten) Fremdsprachen verdeutlicht. Im Land Bremen hat die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die Spanisch als zweite oder dritte Fremdsprache anwählen, in den letzten Jahren gegen den Bundestrend deutlich abgenommen. Die sinkenden Anwahlzahlen haben u.a. mit der Auslagerung des Unterrichts zweiter und dritter Fremdsprachen in weniger attraktive Randstunden zu tun, aber auch mit der Pflicht, in der Einführungsphase 9 mindestens zwei naturwissenschaftliche Fächer (Biologie, Chemie oder Physik) im Umfang von sechs Wochenstunden sowie insgesamt drei gesellschaftswissenschaftliche Fächer (Geschichte plus zwei weitere Fächer wie bspw. Geographie, Politik oder Religionskunde) im Umfang von 8 Vergleichbar erscheinen in diesem Zusammenhang die Ausführungen des Ministeriums für Bildung des Landes Sachsen-Anhalt auf eine Anfrage des Autors zur Situation des Spanischen in Sachsen-Anhalt, die verdeutlichen, dass Entwicklungen, das Wahlangebot der zweiten Fremdsprachen an Realschulen (bzw. in der dortigen Denomination Sekundarschulen) ab Klasse 7 gezielt um weitere Sprachen wie bspw. Spanisch zu erweitern, aufgrund der personellen Situation bzw. der Anzahl der entsprechend ausgebildeten Lehrkräfte nicht beabsichtigt seien. 9 Die Einführungsphase entspricht in Bremen der 10. Jahrgangsstufe (G8). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 96 Marcus Bär 46 (2017) • Heft 1 ebenfalls sechs Wochenstunden zu belegen (vgl. SKBB 2015: 5, 16). Zusammen mit den weiteren Belegauflagen hat dies zu einem starken Rückgang bei der Belegung zweiter und dritter Fremdsprachen geführt. Schülerinnen und Schüler, die an der Belegung weiterer Fremdsprachen während der Oberstufenzeit interessiert sind, werden durch die sich hieraus ergebenden nahezu unverantwortlich hohen Stundenbelastungen von 37 Wochenstunden (und mehr) abgeschreckt, sodass auch hier ein Weg in Richtung Zweistatt Mehrsprachigkeit für die Mehrzahl der Abiturientinnen und Abiturienten eingeschlagen worden ist. 10 Verschärft wird diese Problematik durch das System der sog. „Profiloberstufe“, das nicht nur in Bremen, sondern bspw. auch in Hamburg dazu geführt hat, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die eine zweite (oder dritte) Fremdsprache auf erhöhtem Niveau belegen, sehr gering ist und somit die Dominanz des Englischen weiter perpetuiert wird. In Hamburg liegt ein weiterer Grund für die Aufwertung des Englischen gegenüber den zweiten Fremdsprachen in der erfolgten Reduzierung der Mindeststundenzahl für die zweite Fremdsprache (Wahlpflichtfach ab Jahrgangsstufe 6 oder 7 bis Jahrgangsstufe 10) auf mind. 532 Unterrichtsstunden, die im Jahr 2011 im Rahmen der Änderungen der sog. Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Grundschule und die Jahrgangsstufen 5 bis 10 der Stadtteilschule und des Gymnasiums (APO-GrundStGy 11 ) erfolgte (vgl. BSB HH 2011: 35, 44). 12 4. Schlussfolgerungen Der Blick hinter die Kulissen bzw. die Analyse einzelner Verordnungen und Auflagen, die die Situation der Fremdsprachen insgesamt, aber insbesondere der zweiten und dritten Fremdsprachen und somit explizit des Französischen und Spanischen betreffen, macht deutlich, dass es in der Summe in den letzten Jahren immer wieder Entscheidungen auf Seiten der Sprachen- und Bildungspolitik gegeben hat (z.B. Bremen und Hamburg) und weiter geben wird (z.B. Niedersachsen), die sehr konkret die Möglichkeiten und Optionen für Schülerinnen und Schüler einschränken, neben Englisch vertiefte Kenntnisse in weiteren Sprachen und Kulturen zu erlangen. Die zunächst im Jahr 1995 im sog. „Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung - Lehren und Lernen“ der Europäischen Kommission formulierte und im Jahr 2002 beim Europäischen Rat in Barcelona bestärkte Zielsetzung „Muttersprache plus zwei“ wird - wie die erläuterten Beispiele gezeigt haben - von der deutschen Bildungspolitik entweder ignoriert oder in Teilen konterkariert. Sollte dieser Weg weiter verfolgt werden, wird Deutschland in Bezug auf die Förderung individueller Mehrsprachigkeit im europäischen Vergleich weiter zurückfallen und die (berufli- 10 Die hohen Stundenbelastungen sind in Teilen auch der Umstellung von G9 auf G8 geschuldet. 11 Als Stadtteilschulen werden in Hamburg seit der zum 1. August 2010 in Kraft getretenen Schulreform alle vorherigen Haupt-, Real- und Gesamtschulen bezeichnet. 12 532 Unterrichtsstunden entsprechen 14 Wochenstunden - verteilt auf vier oder fünf Jahre (vgl. ebd.). Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Französisch, Spanisch, Italienisch - Zur Stellung der romanischen Schulsprachen 97 46 (2017) • Heft 1 chen) Chancen unserer Schülerinnen und Schüler auf einem globalisierten Arbeitsmarkt sinken. „Einsprachigkeit ist heilbar“ lautete 1997 der Titel eines von A MMON [et al.] herausgegebenen Sammelbands - es scheint an der Zeit zu sein, diesen Ausruf 20 Jahre später erneut und vielleicht lauter als jemals zuvor zu wiederholen. Literatur A MMON , Ulrich et al. (1997): Einsprachigkeit ist heilbar - Überlegungen zur neuen Mehrsprachigkeit Europas. Tübingen: Niemeyer. 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