eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 46/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
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2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2017
461 Gnutzmann Küster Schramm

Chiara CERRI, Sabine JENTGES (Hrsg.): Raumwahrnehmung, interkulturelles Lernen und Fremdsprachenunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2015, 162 Seiten [€ 16,00]

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2017
Lutz Küster
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© 2017 Narr Francke Attempto Verlag 46 (2017) • Heft 1 B u c h b e s p r e c h u n g e n • R e z e n s i o n s a rti k e l Chiara C ERRI , Sabine J ENTGES (Hrsg.): Raumwahrnehmung, interkulturelles Lernen und Fremdsprachenunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2015, 162 Seiten [€ 16,00] In den Kultur- und Literaturwissenschaften bestimmt seit langem der spatial turn die Forschungsdiskurse. Nach verschiedenen anderen turns gilt die Aufmerksamkeit nunmehr dem ‚Raum‘ als sozialem Konstrukt und als Kategorie individueller und kollektiver Bedeutungskonstruktionen. Nicht die scheinbare Objektivität materieller Umwelt, sondern deren kulturelle Kodifizierung rückt somit ins Zentrum der Betrachtung. Bislang ist diese Entwicklung in der Fremdsprachendidaktik noch wenig rezipiert worden. Insofern verdient der vorliegende Sammelband eine besondere Aufmerksamkeit. Er geht aus einem 14-tägigen Erasmus Intensivprogramm mit dem Titel „Tracing European Space: Language, Culture, and Identity“ hervor, das 2014 an der FU Berlin mit DaF-Studierenden aus sechs verschiedenen Ländern stattfand. Ziel der Ausbildungsmaßnahme war es, am Beispiel Berlins die Teilnehmer/ innen anhand der Raumkategorie für landeskundlich-kulturelle Wahrnehmungen zu sensibilisieren und auf diesem Wege fremdsprachliches und vor allem interkulturelles Lernen miteinander zu verbinden. Dies geschah in praxisbezogener Weise über Erkundungen vor Ort oder über mediale Artefakte, aber auch über theoretische Einführungsveranstaltungen. Diese doppelte Ausrichtung spiegelt sich in dem Buch dergestalt wider, dass es neben zwei vorrangig theoretisch ausgerichteten Beiträgen sechs Berichte zu Lehr-Lern- Projekten umfasst. Den Band einleitend umreißen die beiden Herausgeberinnen gemeinsam mit Yvonne D ELHEY die Grundgedanken des genannten Intensivprogramms, dessen Zielsetzung und Durchführung sowie die Schwerpunktsetzungen der einzelnen Beiträge. Dem Zielkonzept der interkulturellen Kompetenz widmen sich Sylwia A DAMCZAK -K RYSZTOFOWICZ , Sabine J ENTGES und Antje S TORK . Hierbei lehnen sie sich an A UERNHEIMER s Gliederung in die Bereiche Wissen, Haltungen und Fähigkeiten an, welche sie wiederum einer kognitiven, einer affektiven und einer pragmatischen Dimension zuordnen. Dabei vertreten sie eine kulturrelativistische Position von der „Gleichwertigkeit aller Kulturen“, der zufolge es wichtig sei, „Angehörigen fremder Kulturen nicht das eigene Modell aufzunötigen“. In der hier gewählten Diktion zeigt sich ein Grundwiderspruch, der nicht nur im vorliegenden Band, sondern auch in anderen kulturdidaktischen Schriften zu finden ist. Er besteht darin, einerseits explizit ein Verständnis diskursiver Verfasstheit und damit von Heterogenität und Dynamik aller kulturellen Selbst- und Fremdzuschreibungen zu vertreten, andererseits jedoch in der Benennung konkreter didaktischer Zielsetzungen reduktionistische Formulierungen zu wählen, die homogenisierenden Sichtweisen einer statischen Verfasstheit von ‚eigen‘ und ‚fremd‘ Vorschub leisten. Ein solcher Zwiespalt zeigt sich auch im zweiten Teil des Beitrags. Einige der dort vorgestellten „Aktivitäten zum interkulturellen Lernen“ geben zwar vielfältige Anregungen zur Reflexion lernerseitiger Vorannahmen sowie zu deren Revision, was im Einklang mit dem vertretenen Kulturkonzept steht, ein anderes Beispiel hingegen (kultursemantische Kontrastierung von Frühstücksgewohnheiten) lässt ein eher traditionelles Verständnis erkennen. Im zweiten Grundlagenbeitrag gehen Chiara C ERRI und Henriette D AUSEND auf neuere Raumkonzepte ein und fragen nach deren Eignung für ein interkulturelles und fremdsprachliches Lernen. An einer chinesischen Weltkarte aus dem 18. Jahrhundert illustrieren sie die Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 133 46 (2017) • Heft 1 zentrale These, dass Raumvorstellungen kulturell kodiert sind. Soziologische, geographische und kulturwissenschaftliche Konzeptualisierungen aufgreifend gehen sie zunächst auf S CHEFFER s Modell „selektiver Kulturräume“ (vgl. S. 38f.) ein. Dies strebe die „Erfassung der räumlichen Verteilung von Menschen mit bestimmten Eigenschaften“ an, was ermögliche, den Einzelnen als „nicht nur einer einzigen Kultur zugehörig, sondern als Teil unterschiedlicher Gemeinschaften“ zu betrachten (S CHEFFER , zitiert auf S. 38). Ähnlich seien die Überlegungen J OACHIMSTHALER s zur Überschneidung mehrerer Kulturräume an einem physischen Ort zu verstehen. In Abgrenzung zu älteren „Container“-Vorstellungen von ‚Raum‘ als „System von Lagebeziehungen materieller Objekte“ (S. 40) sei allerdings entscheidend, dass ‚Raum‘ nunmehr als Kategorie von Sinneswahrnehmungen und Bedeutungskonstruktionen verstanden werde. Veranschaulicht wird dies an mentalen Landkarten, die von DaF-Studierenden entworfen wurden. Die fremdsprachendidaktische Perspektive kommt am Ende des Beitrags in zwei von studentischer Seite entwickelten Unterrichtsvorschlägen zum Tragen, in denen die Kulturraumverdichtung am Beispiel der Universitätsstadt Marburg bzw. an Manifestationen von street art in einem nicht näher benannten urbanen Raum erkundet wird. Die nachfolgenden Projektberichte geben einen detaillierten Einblick in unterschiedliche Unterrichtsarrangements, in denen Raumwahrnehmungen thematisiert und zum Gegenstand kulturellen Lernens gemacht wurden. Im ersten verfolgen Corinna L ÖWE und Susanne S CHARNOWSKI eine ethno-/ historiographische Perspektive, indem sie die „Aneignung von Stadträumen in Jugendbuch und Film der DDR“ untersuchen. An unterschiedlichen Medientexten rekonstruierten die Studierenden unter ihrer Leitung die in den kulturellen Artefakten transportierten Vorstellungen des Lebens in der Metropole Berlin und kontrastieren diese mit eigenen, in aktuellen Ortserkundungen entstandenen Eindrücken. Letzteres bestimmt auch den Ansatz von Yvonne D ELHEY , Dorota O KONSKA und Andrea S CHÄFER , wenn sie zwei vorab an den Standorten Essen und Nijmegen bereits erprobte Unterrichtskonzepte miteinander kombinieren, in denen zum einen der fremdsprachliche Lernort Kunstmuseum, zum anderen die Stadt selbst als zu lesendes Palimpsest im Mittelpunkt standen. Mit Street Art als „Ausdrucksform menschlicher Bedürfnisse“ (S. 84) beschäftigte sich ein Vorhaben, das Henriette D AUSEND vorstellt. Einleitend hebt sie die Unterschiedlichkeit von Varianten (Graffiti, Tags, Pieces u.a.) und Funktionen der Street Art hervor. Symbole und Zeichen würden, so ist zu lesen, nicht nur verbreitet, um das eigene „Alter Ego innerhalb der individuellen subkulturellen Zugehörigkeit zu definieren, Raum zu markieren und Existenzen zu legitimieren“ (S. 88), sondern auch um auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam zu machen und „das Recht auf Mitgestaltung des öffentlichen Raums einzufordern“ (ebd.). Vor dem Hintergrund einer auf diese Zusammenhänge gerichteten Einführung erstellten Studierende arbeitsteilig in Gruppen Planungsmodelle einer Unterrichtseinheit, deren Ziel es ist, über Berliner Stadterkundungen „Street Art als Indikator gesellschaftlicher Ideen lesen“ (S. 90) zu lernen. Um „Räume als Schlüssel zum landeskundlichen Lernen“ (so der Titel) geht es nachfolgend Chiara C ERRI und Sabine J ENTGES . Vor dem Hintergrund eines Rückblicks auf Landeskundekonzepte der Vergangenheit argumentieren sie, dass der Raumansatz besser als jene dem landeskundlichen Unterricht ein solides theoretisches Fundament vermitteln könne. Die in ihrem Projekt erarbeiteten Unterrichtsvorschläge basieren erneut auf Stadterkundungen. Dies gilt ebenso für den Beitrag von Sylwia A DAMCZAK -K RYSZTOFOWICZ und Antje S TORK , mit dem Unterschied allerdings, dass hier ausgehend von Denkmälern Unterrichtsvorschläge entwickelt werden, welche die Wahrnehmung bedeutender Persönlichkeiten der alten Bundesrepublik zu rekonstruieren versuchen. Den Band beschließt ein Text von Camilla B ADSTÜBNER -K IZIG und Marta J ACHANOWSKA - B UDYCH zur Frage, wie vergangene städtische Räume medial erfahren und didaktisch genutzt Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG 134 Buchbesprechungen • Rezensionsartikel 46 (2017) • Heft 1 werden können. Grundlage bilden hier Spielfilme aus dem bzw. über das Berlin der 1920er/ 1930er Jahre. Fremdsprachenunterricht hat, wie die beiden letztgenannten Autorinnen anmerken, ein grundsätzliches Raumproblem und damit „einen besonderen Grund, sich den Einflüssen des spatial turn zu öffnen“ (S. 133f.). Denn anders als der Zweitsprachenunterricht finde er in der Regel in Räumen statt, in denen die Verwendung der Fremdsprache nicht zwingend notwendig ist, weswegen er sich „in einer Art künstlichem Raum-Zeit-Konstrukt“ (S. 134) abspiele. Inwieweit jedoch der spatial turn für die Fremdsprachendidaktik grundlegend neue Perspektiven vermitteln kann, muss auch nach der Lektüre des Buches offen bleiben. Impulse zur Gestaltung einer erlebnisbasierten Fremdsprachenvermittlung, wie die im Band dargelegten, können zum einen an den in einem Exkurs behandelten Ansatz der „Erlebten Landeskunde“ zurückgreifen, zum anderen dürfte signifikant sein, dass es den Studierenden z.T. schwer fiel, die „vor Ort (in Berlin) erfahrenen didaktischen Ansätze auf die Situation an einem anderen Ort zu übertragen“ (S. 150). Damit erscheint der mögliche Anwendungsbereich der vorgestellten Projekte doch begrenzt. Innerhalb der angesprochenen doppelten Ausrichtung des Bandes auf Praxisberichte und theoretische Grundsatzüberlegungen überwiegt die erstgenannte. Der geleistete Beitrag zur theoretischen Fundierung eines am Raumkonzept orientierten fremdsprachlich-kulturellen Lernens verdient gewiss Anerkennung, bedarf jedoch weiterer Studien. Nicht nur für die Kultur-, sondern besonders auch für die Literaturdidaktik dürften hier noch unentdeckte Potenziale liegen. Des Weiteren wäre es angesichts des grundsätzlichen Raumproblems fremdsprachlichen Lernens vermutlich ergiebig, die zahlreichen bestehenden Forschungen zum fremdsprachlichen Klassenraum, zu außerschulischen Lernorten, zu virtuellen Lernräumen, zum „dritten Raum“ etc. im Lichte des spatial turn neu zu perspektivieren. Dies hingegen will der vorliegende Band nicht leisten. Sein Fokus liegt eindeutig auf den landeskundlichen Aspekten von Raumerkundungen. Hierzu liefert er lesenswerte Anregungen. Berlin L UTZ K ÜSTER Bettina D EUTSCH : Mehrsprachigkeit durch bilingualen Unterricht? Analysen der Sichtweisen aus europäischer Bildungspolitik, Fremdsprachendidaktik und Unterrichtspraxis. Frankfurt/ M.: Lang 2016 (Kolloquium Fremdsprachenunterricht; Band 55), 310 Seiten [€ 53,20] Bei dem nachfolgend rezensierten Werk handelt es sich um die im Jahr 2015 eingereichte Dissertationsschrift von Bettina D EUTSCH , mit der diese das Ziel verfolgt, „ein differenziertes Gesamtbild vom Beitrag des bilingualen Unterrichts für die Förderung von Mehrsprachigkeit“ (3) zu zeichnen, indem „die postulierten und vermuteten Zusammenhänge zwischen den Konzepten von Mehrsprachigkeit und bilingualem Unterricht/ CLIL“ (ibid.) aus verschiedenen Perspektiven herausgearbeitet werden. Hierdurch möchte die Verfasserin Antworten darauf finden, welche Auffassungen Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler von den Konzepten Mehrsprachigkeit und bilingualer Unterricht haben und inwiefern diese Konzepte miteinander verbunden werden. Zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen gliedert D EUTSCH ihre Arbeit in sieben Kapitel. Nach einer Einleitung, in der die o.g. Ziele der Arbeit angeführt werden, widmet sich die Verfasserin in den Kapiteln 2 und 3 den beiden zentralen Begriffen der Arbeit sowohl aus sprachenpolitisch europäischer als auch aus fremdsprachendidaktischer Sicht. Sie zeichnet hierbei einerseits die wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte nach und erläutert anderer- Lizenziert für Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG am 27.01.2022 um 08: 06 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG