eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 47/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2018
471 Gnutzmann Küster Schramm

Zur Einführung in den Themenschwerpunkt

61
2018
Lutz Küster
Jochen Plikat
flul4710003
47 (2018) • Heft 1 © 2018 Narr Francke Attempto Verlag L UTZ K ÜSTER , J OCHEN P LIKAT * Zur Einführung in den Themenschwerpunkt Derzeit, am Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, hat es vielfach den Anschein, als seien wir Zeugen eines tiefgreifenden politisch-gesellschaftlichen Wandels. Einige Stichwörter mögen genügen, um - in erster Linie aus europäischer Perspektive - den Wandel zu charakterisieren: zunehmende Abkehr vom europäischen Einigungsgedanken, Erstarken nationalistischer Strömungen, gestiegene Spannungen zwischen den Machtblöcken Russland, USA und China; Gefahr militärischer Konflikte im Rahmen einer bereits weitgehend überwunden geglaubten Spaltung Europas und der Welt in West und Ost; wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich und daraus resultierende gesellschaftliche Spannungen im Verhältnis sowohl der Staaten untereinander als auch im Inneren der jeweiligen Gesellschaften; intensivierte Zuwanderung von Menschen, die aus politischen und/ oder wirtschaftlichen Motiven ihre Heimat verlassen, mit daraus resultierenden Polarisierungen im Innern der aufnehmenden Gesellschaften in Befürworter und Gegner einer einwanderungsfreundlichen Politik; Erstarken populistischer und rechtsradikaler Bewegungen angesichts einer zunehmenden ethnisch-kulturellen und sprachlichen Heterogenität der Bevölkerungen; steigende Bedrohung durch religiös-fundamentalistisch motivierte Terrorakte; Strukturwandel von Öffentlichkeit durch digitale Kommunikations- und Unterhaltungselektronik und deren Einfluss auf Prozesse individueller und kollektiver Wirklichkeits- und besonders Identitätskonstruktionen, um lediglich einige hervorstechende Merkmale zu nennen. Während Friedenssicherung in Zeiten des Kalten Krieges vorwiegend auf die Vermeidung einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Staatengruppen gerichtet war, scheint sie heute darüber hinaus und vor allem eine Notwendigkeit im Hinblick auf ein gewaltfreies Zusammenleben innerhalb unserer Gesellschaften zu sein. Vor dem Hintergrund dieser hier nur stichwortartig skizzierten Entwicklungen erhält die Frage nach dem Bildungsbzw. Erziehungsauftrag von Schule eine neue * Korrespondenzadressen: Prof. Dr. Lutz K ÜSTER , Institut für Romanistik, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 B ERLIN . E-Mail: lutz.kuester@hu-berlin.de Arbeitsbereiche: Fremdsprachliche Literatur- und Mediendidaktik, Didaktik kulturellen Lernens, Kompetenzentwicklung im Bereich der Multiliteralität. Dr. Jochen P LIKAT , Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Romanistik, Unter den Linden 6, 10099 B ERLIN . E-Mail: jochen.plikat@hu-berlin.de Arbeitsbereiche: Didaktik des kulturellen Lernens, digitale Medien, Kompetenzentwicklung im Bereich der Lexik. Fachlichkeit und Bildungsauftrag im schulischen Fremdsprachenunterricht 4 Lutz Küster, Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 Dringlichkeit. Auf der Ebene aller Fächer, also auch der fremdsprachlichen, wäre demzufolge zu klären, welchen spezifischen Beitrag diese zum fächerübergreifenden Bildungsbzw. Erziehungsauftrag zu leisten willens und imstande sind. Die im Grunde vorgelagerte Frage, wie dieser Auftrag zu begründen und konkret zu fassen ist, lässt sich stets nur im Zuge gemeinschaftlicher Aushandlungsprozesse bestimmen. Insofern lassen sich beide Bereiche, der fächerübergreifende und der fachspezifische, nicht völlig voneinander trennen. Auch den Bildungs- und den Erziehungsgedanken kennzeichnen zwar unterschiedliche Denkansätze, sie beziehen sich aber auf ein und dasselbe Feld und sind daher nicht völlig losgelöst voneinander zu betrachten. Während sich mit dem Begriff ‚Erziehung‘ im schulischen Rahmen vornehmlich die bewusst lenkende Einflussnahme auf Entwicklungs- und Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler verbindet, unterstreicht der Bildungsbegriff eher die vom Einzelnen ausgehenden Bemühungen, die eigenen Denk- und Handlungsräume zu erweitern. Aufgabe von Schule wäre es folglich, hierfür bestmögliche Gelingensbedingungen zu schaffen. Die Unterschiede in der Begrifflichkeit verweisen implizit auf die offene Frage nach der Legitimation externer Normierungen. In den einzelnen Beiträgen des vorliegenden Heftes wird vor allem auf den Bildungsbegriff rekurriert. Es sind jedoch auch die verschiedenen Facetten des Erziehungsgedankens mit gemeint, wenn wir übergreifend im Titel des Themenschwerpunkts kurz vom „Bildungsauftrag“ sprechen. Ob bzw. in welchem Maße Schule Anteil an der Verfolgung staatlich definierter Ziele haben kann und soll, darüber besteht auch unter den Autorinnen und Autoren dieses Themenschwerpunktes keineswegs Einmütigkeit. So vertreten z.B. Malte B RINKMANN und Jochen P LIKAT (beide in diesem Heft) vor dem Hintergrund unterschiedlicher bildungsbzw. gesellschaftstheoretischer Ansätze in Teilen konträre Positionen. Eine Nulloption gibt es in diesem Feld nicht, denn auch eine Weigerung, sich auf überfachliche und gesellschaftliche Bildungsziele einzulassen, wäre eine politisch zu verantwortende Haltung und damit keineswegs neutral. In jedem Fall gilt, dass die Schule im Allgemeinen und der Fremdsprachenunterricht im Besonderen stets in einen sozialen Kontext eingebettet sind und Einfluss auf gesellschaftliche Transformationsprozesse nehmen - und zwar unabhängig davon, ob dies den handelnden Personen jeweils bewusst ist oder nicht. 1 Angesichts der Geschichte des fremdsprachlichen Unterrichts und seiner politischen Indienstnahme für staatlich verordnete und z.T. stark ideologisch geprägte Zwecke ist allerdings in der Tat Skepsis gegen jede Anpassung an oder gar Unterwerfung unter zeitgeistige oder machtpolitisch motivierte Zielsetzungen angebracht. Denken wir nur an die Wandlungen, die der landeskundliche Unterricht in Deutschland während des Kaiserreichs, dann der Weimarer Zeit, unter der Herrschaft des NS-Regimes und später 1 Zu der Frage, wie diese Transformationsprozesse beschaffen sind und wie sie sich im Interesse der Menschen womöglich steuern lassen, sind in den Gesellschaftswissenschaften des deutschen Sprachraums in jüngerer Zeit sehr lesenswerte Studien erschienen. Besonders hervorgehoben seien die Arbeiten von Hartmut R OSA (2016), der das Konzept der Resonanz für die Soziologie und zudem gemeinsam mit Wolfgang Endres (R OSA / E NDRES 2 2016) für die Pädagogik fruchtbar gemacht hat, sowie „Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne“ von Andreas R ECKWITZ (2017). Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 5 47 (2018) • Heft 1 auf Druck der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs bis hin zu den Ansätzen einer politisch-kritischen Landeskunde vollzogen hat. Letztere fand vor allem in den 1970er Jahren ein breites Echo, das sich im Gefolge der 68er-Bewegung einem individuell und kollektiv emanzipatorisch gedachten Projekt gesellschaftlicher Transformation verdankte (vgl. die Überblicksdarstellungen in S CHUMANN 2017, D ECKE -C ORNILL / K ÜS - TER 2015: 218ff., R ADDATZ 1996). Im Hinblick auf die Entwicklung der Fremdsprachendidaktik in jüngerer Vergangenheit lassen sich in erster Linie drei Felder überfachlichen Lernens bzw. überfachlicher Bildung ausmachen, welche Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung schulischen Fremdsprachenunterrichts nahmen. Da ist zunächst der Bereich interkulturellen Lernens zu nennen, zu dem mit den im Gießener Graduiertenkolleg „Didaktik des Fremdverstehens“ erarbeiteten Ansätzen (vgl. u.a. B REDELLA / C HRIST / L EGUTKE 2000) in der Fremdsprachendidaktik genuin eigene Profile entwickelt wurden. Ferner ist an die Medienpädagogik zu denken, wobei die Fremdsprachendidaktik sich überwiegend den eher instrumentellen Aspekten einer Nutzung digitaler Medien für unterrichtliche Zwecke widmete, die Ziele eines kritischen und verantwortungsvollen Umgangs mit ihnen u.E. dagegen nicht in ausreichendem Maße in den Blick nahm. Mit dem überfachlichen, da kognitionspsychologisch begründeten Leitziel der Lernerautonomie wiederum setzte sich unsere Disziplin intensiver auseinander. Dabei wurden neben der Effektivitätssteigerung des Lernens (Stichwort „das Lernen lernen“) auch ideologiekritische Aspekte thematisiert, u.a. von Barbara S CHMENK (vgl. 2008 und in diesem Heft). Sie stellen allesamt Versuche dar, das spezifisch Fremdsprachendidaktische, hier kurz als ‚Fachlichkeit‘ Gekennzeichnete, mit Erziehungsbzw. Bildungszielen zu verknüpfen. Doch wie stellt sich die Situation heute dar? Seit Anfang der 2000er Jahre werden die Ziele des schulischen Fremdsprachenunterrichts wesentlich bestimmt von den Vorgaben der Bildungsstandards und der auf sie Bezug nehmenden länderspezifischen Rahmenlehrpläne. Übereinstimmend orientieren sich die bildungspolitischen Normsetzungen an den Kompetenzmodellen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR; E UROPARAT 2001). Im Zuge der administrativ implementierten Output-Orientierung mit ihren Postulaten einer Rechenschaftslegung (accountability) und empirischen Fassbarkeit der Ergebnisse schulischen Unterrichts erhalten in diesem Rahmen die fertigkeitsbezogenen Teilkompetenzen gegenüber den sog. „weichen“ Kompetenzen ein vergleichsweise starkes Gewicht (vgl. H U / L EUPOLD 2008). Letztere entsprechen jedoch am ehesten den fächerübergreifenden Bildungs- und Erziehungszielen, welche durchaus auch in den genannten Vorgaben zu finden sind. Da sie aber zumeist in der Begrifflichkeit unterschiedlicher Teilkompetenzen (insbesondere der interkulturellen, aber auch der methodischen Kompetenzen) ausdifferenziert werden, steht in ihnen überwiegend die Befähigung zu Problemlösungen in konkreten Handlungssituationen im Vordergrund. Die Abiturstandards (KMK 2012) bilden in dieser Hinsicht allerdings ein gewisses Gegengewicht, da in sie auch Kompetenzziele der Sprachbewusstheit und eine weiter gefasste Text- und Medienkompetenz Eingang gefunden haben. 6 Lutz Küster, Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 Mit dem vorliegenden Themenschwerpunkt soll der Versuch unternommen werden, einen Beitrag zu der eingangs angesprochenen Diskussion um mögliche Verbindungen von Fachlichkeit und übergreifenden Bildungsbzw. Erziehungszielen, ihren Legitimationen und konkreten Ausgestaltungen zu leisten. Als vorläufige Arbeitsdefinition und damit zugleich als Gliederungshilfe und als Orientierungsrahmen für die thematische Ausdifferenzierung des Themenschwerpunkts sei der Bildungs- und Erziehungsauftrag sehr allgemein definiert als Befähigung zu Selbstständigkeit des Denkens und Handelns in sozialer Verantwortung und zu einer als bereichernd empfundenen Lebensgestaltung. Hieraus ergeben sich Anknüpfungspunkte an fremdsprachendidaktisch relevante Diskurse, die in folgenden Leitfragen deutlich werden: 1. ausgehend vom Stichwort „Selbstständigkeit“: Welche gedanklichen Impulse können von Arbeiten zum Konzept der Lernerautonomie im Überlappungsfeld von Zielen einer Sprachlern- und einer Persönlichkeitskompetenz ausgehen (wobei letztere genauer zu definieren wäre)? Welche Erweiterungen bzw. Neuorientierungen erscheinen notwendig oder sinnvoll? (s. hierzu den Beitrag von Barbara S CHMENK ) 2. ausgehend vom Stichwort „sozial“: Schulischer Fremdsprachenunterricht kann als Experimentier- und Lernfeld sozialen Lernens fungieren. Im Sinne von Kommunikations- und Interaktionsorientierung sind die sprachlernförderlichen Implikationen kooperativen und kollaborativen Arbeitens vielfach herausgearbeitet worden. Welche überfachlichen Ziele können damit zugleich bedacht werden? (Dieser Frage nehmen sich Andreas B ONNET und Elisabeth B RACKER DA P ONTE an.) 3. ausgehend von der Formulierung eines „sozial verantwortlichen Denkens und Handelns“: Die oben angesprochenen gesellschaftlichen Entwicklungen rufen Fragen politisch-ethischer Natur auf den Plan, die im Kontext der Fremdsprachendidaktik bisher unter den Leitkonzepten interkultureller Kompetenzen wie auch der intercultural citizenship (B YRAM 2008) diskutiert wurden. Wie kann vor deren Hintergrund der mögliche fremdsprachendidaktische Beitrag konzeptuell genauer gefasst und unterrichtlich realisiert werden? (Diese Thematik wird von Jochen P LIKAT behandelt.) 4. ausgehend vom Zielkonstrukt einer „Befähigung zu einer als bereichernd empfundenen Lebensgestaltung“: In diesem Bereich sind die Forschungsdiskurse zu Fragen ästhetischen Lernens zu nennen. Wie sind diese in den Rahmen eines umfassenderen Verständnisses von fremdsprachlicher und überfachlicher Bildung bzw. Erziehung zu verorten und ggf. weiterzuentwickeln? (s. hierzu den Aufsatz von Ivo S TEININGER ) 5. Eine Gemeinsamkeit aller oben angesprochenen Aspekte liegt darin, dass sie reflexive Zugänge erfordern. Welche Bedeutung hat Reflexivität als Ziel von Bildung und Erziehung im Kontext fremdsprachlichen Lernens? (s. hierzu den Beitrag von Daniela C ASPARI ) Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 7 47 (2018) • Heft 1 6. in transversaler Perspektive: Welche Impulse liefert derzeit die Erziehungswissenschaft, vor dem Hintergrund der o.g. aktuellen Entwicklungen den Bildungs- und Erziehungsauftrag neu zu denken? (Dies sind Fragen, derer sich der Beitrag von Malte B RINKMANN annimmt.) Der obigen Reihung folgend beginnt der Themenschwerpunkt mit einem Beitrag von Barbara S CHMENK . Ausgehend von dem weit verbreiteten Konzept der Lernerautonomie beleuchtet sie verschiedene Facetten dieses oft zum Slogan verkommenen Begriffs. Den sich mit ihm verbindenden Postulaten hält sie die seit H ATTIES (2008) Studie wiedererstarkten Rufe nach einer Rückkehr des „starken Lehrers“ entgegen. Dies nimmt sie zum Anlass, ihre Gedanken zur Unaufhebbarkeit des Gegensatzes von Autonomie und Heteronomie und damit zu den „Aporien des Lern- und Bildungsziels Autonomie im Kontext institutionalisierten Fremdsprachenunterrichts“ (so der Titel ihres Beitrags) zu entfalten. Vor diesem Hintergrund könne das zentrale, Fachliches und Überfachliches verbindende Ziel des Fremdsprachenunterrichts nur darin bestehen, dilemmatische Strukturen wie diese zu reflektieren und kritische Urteilsfähigkeit zu entwickeln bzw. zu stärken. Die eingangs umrissenen aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen führen zur Infragestellung gegebener sozialer und politischer Strukturen und daher zu einer Zunahme an Ungewissheit. Diesen Begriff stellen Andreas B ONNET und Elisabeth B RACKER DA P ONTE ins Zentrum ihres Beitrags. Der schulische Erziehungs- und Bildungsauftrag muss - so ihre Überlegung - u.a. darin bestehen, dass Lernende nicht nur Ungewissheit auszuhalten lernen, sondern dass sie auch die Fähigkeiten entwickeln, diese in ungewissen Situationen produktiv und eigenverantwortlich einzusetzen. Das Autorenduo berichtet über drei empirische Studien, in denen gezeigt werden konnte, dass die genannten Fähigkeiten sowohl auf social skills als auch auf Reflexivität angewiesen sind. Diese seien, so das Fazit des Beitrags, entscheidend dafür, dass gesellschaftliche Partizipation möglich wird. Zu dieser Partizipation müsse sogar die Fähigkeit gezählt werden, die Setzungen schulischen Lernens selbst in Frage zu stellen. B ONNET und B RACKER DA P ONTE kommen zu dem Ergebnis, dass die Kompetenzorientierung bisweilen im Gegensatz zu einem solchen reflektierten sozialen Lernen stehen kann, welches die Infragestellung gegebener Strukturen ausdrücklich vorsieht. Ungewissheit entsteht auch aus der Infragestellung von so genannten Metaerzählungen durch die postmoderne Philosophie. Wenn jedoch keine Metaerzählungen und somit keine normative Rahmung für ethische Fragestellungen mehr zur Verfügung stehen, wird die kritische Beurteilung kultureller Phänomene unmöglich oder zumindest beliebig. Wie kann in diesem Vakuum der schulische Erziehungsauftrag, der auch die Erziehung zu sozialer Verantwortung beinhaltet, verwirklicht werden? Mit dieser Fragestellung beschäftigt sich Jochen P LIKAT in seinem Beitrag. Er arbeitet heraus, dass das verbreitetste Modell interkultureller Kompetenz, das auf Michael B YRAM (1997) zurückgeht und den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen entscheidend geprägt hat, eine harmonistische und relativistische Schieflage aufweist. P LIKAT erläutert anhand des antiken Euthyphron-Dialogs, dass religiöse Normen hier unter keinen Umständen einen Ausweg bieten. Er schlägt stattdessen den so genannten 8 Lutz Küster, Jochen Plikat 47 (2018) • Heft 1 Evolutionären Humanismus als ethische Rahmung vor. Dieser ist in weiten Teilen mit den Allgemeinen Menschenrechten kompatibel, kann in Konfliktfällen aber auch zu deren Reflexion und Weiterentwicklung dienen. Einer anderen Facette des Erziehungs- und Bildungsauftrags ist Ivo S TEININGERS Beitrag gewidmet, den persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen, die im GeR im Kapitel zu den Allgemeinen Kompetenzen unter dem Begriff savoir être zusammengefasst sind. Sie sind in der Regel auch für Modellierungen literarischer Kompetenzen von entscheidender Bedeutung. Im Beitrag wird eine empirische Studie vorgestellt, welche die Entwicklung persönlichkeitsbezogener Kompetenzen bei der Arbeit mit authentischen literarischen Texten im Englischunterricht in den Blick nimmt. S TEININGER formuliert auf dieser Grundlage Gelingensbedingungen, deren Einhaltung dazu führen soll, dass durch literarisches Lesen im Fremdsprachenunterricht sowohl Erziehungs- und Bildungsziele berücksichtigt als auch literarisch-ästhetische Kompetenzen entwickelt werden. Dies zeigt, welch wichtige Rolle gerade Literatur im Kontext der in diesem Band diskutierten Thematik spielen kann. Wie der Autonomieist auch der Reflexivitätsbegriff außerordentlich facettenreich. Daniela C ASPARI zeichnet in ihrem Beitrag die wichtigsten Verständnisse von Reflexivität in der Fremdsprachendidaktik und in angrenzenden Disziplinen nach. Anschließend widmet sie sich dem Begriffspaar Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz, welches in das Kompetenzmodell der KMK-Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (KMK 2012) Eingang gefunden hat. In beiden Bereichen geht es im Kern um Reflexion, die sich im einen Fall auf verschiedene Domänen von Sprache, im anderen Fall auf den Sprachlernprozess richtet. Hier könnte das Lernen einer Fremdsprache, so C ASPARI s Fazit, einen wichtigen, über den Fremdsprachenunterricht hinausweisenden Beitrag zu einer durchgängigen Sprachbildung der Schülerinnen und Schüler und somit zum schulischen Erziehungs- und Bildungsauftrag leisten. Im Rahmen bildungstheoretischer Erörterungen geht Malte B RINKMANN von der in jüngeren soziologischen Studien vertretenen Diagnose einer „Entdemokratisierung“ der westlichen Gesellschaften aus und reflektiert deren Implikationen für das Verständnis schulischen Handelns. Im Hinblick auf fremdsprachliches Lernen rückt er die Auseinandersetzung mit Fremdheit ins Zentrum seiner Überlegungen, wobei er einen Bogen von H UMBOLDTS Bildungs- und Sprachtheorie über dekonstruktivistische Ansätze bei F OUCAULT hin zu Jean Luc N ANCY spannt. Dessen phänomenologisch fundierte Gedanken zur Ereignishaftigkeit des Leiblichen macht er fruchtbar für einen veränderten Blick auf Sinnverstehen und Sinnproduzieren (als Mit-teilen) im Unterricht, das immer auch die Erfahrung des Nicht-Verstehens und Missverstehens einschließt. Als „negative Erfahrungen“ - so eine zentrale Überlegung B RINKMANNS - verfügen diese über ein hohes Lernpotenzial, insbesondere dann, wenn sie als singuläre Erfahrungen in ein gemeinschaftliches Suchen und Mit-teilen münden. „(Fremd-)Sprachenbildung als Mitteilung zwischen Eigenem und Fremden kann so als demokratisches Mit-ein-ander-sein bestimmt werden [...]“, lautet sein Fazit, das somit über den unterrichtlichen Rahmen hinaus die politisch-gesellschaftliche Dimension der angesprochenen Lernprozesse unterstreicht. Zur Einführung in den Themenschwerpunkt 9 47 (2018) • Heft 1 Der vorliegende Themenschwerpunkt deckt ein weites Feld unterschiedlicher Aspekte ab, die allesamt um die Frage kreisen, worin der überfachliche Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schule besteht und wie sich dessen Realisierung mit den spezifisch fachlichen Anliegen fremdsprachlichen Lernens und Lehrens verbinden lässt. Die große Mehrzahl der hier vertretenen Autorinnen und Autoren ist in der Fremdsprachendidaktik verankert und argumentiert dementsprechend vor dem Hintergrund fachdidaktischer Theoriebildung. Bewusst haben wir uns allerdings zusätzlich um einen dezidiert erziehungswissenschaftlichen Beitrag bemüht, der uns und unserer Leserschaft Einblicke in gegenwärtige grundlagentheoretische Reflexionen gewährt, welche das genuin Überfachliche unseres Themas berühren. Wir hoffen, dass viele Leserinnen und Leser hierin, wie auch in den Aufsätzen dieses Heftes insgesamt, Anregungen finden, die eigenen didaktischen und methodischen Wissensbestände, Problemsichten und Einstellungen zu erweitern. Literatur B REDELLA , Lothar / C HRIST , Herbert / L EGUTKE , Michael K. (Hrsg.) (2000): Fremdverstehen zwischen Theorie und Praxis. T übingen: Narr. B YRAM , Michael (1997): Teaching and assessing intercultural communicative competence. Clevedon: Multilingual Matters. B YRAM , Michael (2008): From Foreign Language Education to Education for Intercultural Citizenship. Essays and Reflections. Clevedon/ Tonawanda/ North York: Multilingual Matters. D ECKE -C ORNILL , Helene / K ÜSTER , Lutz ( 3 2015): Fremdsprachendidaktik. Tübingen: Narr. E UROPARAT (Hrsg.) (2001): GeR = Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen [Niveau A1, A2, B1, B2, C1, C2]. Berlin: Langenscheidt. H ATTIE , John (2008): Visible Learning: A Synthesis over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. London et al.: Routledge. H U , Adelheid / L EUPOLD , Eynar (2008): „Kompetenzorientierung und Französischunterricht“. In: T ESCH , Bernd / L EUPOLD , Eynar / K ÖLLER , Olaf (Hrsg.) (2008): Bildungsstandards Französisch: konkret. Berlin: Cornelsen Scriptor, 51-84. KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland) (2012): Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache (Englisch / Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10. 2012). https: / / www.kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2012/ 2012_10_ 18-Bildungsstandards-Fortgef-FS-Abi.pdf (16.11.2017). R ADDATZ , Volker (1996): „Fremdsprachenunterricht zwischen Landeskunde und Interkulturalität“. In: Fremdsprachenunterricht 40/ 4.4: 242-252. R ECKWITZ , Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp. R OSA , Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp. R OSA , Hartmut / E NDRES , Wolfgang ( 2 2016): Resonanzpädagogik. Berlin: Suhrkamp. S CHMENK , Barbara (2008): Lernerautonomie: Karriere und Sloganisierung des Autonomiebegriffs. Tübingen: Narr. S CHUMANN , Adelheid ( 2 2017): „Landeskunde“. In: S URKAMP , Carola (Hrsg.): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Ansätze - Methoden - Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler, 187-188.