eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 47/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
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2018
471 Gnutzmann Küster Schramm

Reflexives Fremdsprachenlernen –

61
2018
Daniela Caspari
flul4710072
© 2018 Narr Francke Attempto Verlag 47 (2018) • Heft 1 D ANIELA C ASPARI * Reflexives Fremdsprachenlernen - eine Chance zur Verbindung von Fachlichkeit und Bildungsauftrag im Fremdsprachenunterricht Abstract. Although metacognition has developed a well-established research tradition over the past decades, there is still surprisingly little consensus about the relevance of reflective learning as a metacognitive resource in the context of foreign language acquisition. Providing an insight into this unclear relation is the aim of the following paper. By example of the language domains “language awareness” (Sprachbewusstheit) and “language learning” (Sprachlernkompetenz) the significance and the function of reflective learning for foreign language teaching will be analysed and compared with the role of reflection skills for the educational mandate according to the German National Curriculum (Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife). Reflective learning appears, thus, to function as the trait d’union between foreign language teaching and broader educational goals. 1. Einleitung Sucht man in den aktuellen Handbüchern zur Fremdsprachendidaktik und in der Literaturdatenbank des „Fachportals Pädagogik“ nach den Begriffen „Reflexion“, „Reflexivität“, „reflexives Lehren bzw. Lernen“ oder „Reflexionskompetenz“, so ergibt sich ein uneinheitliches Bild: Während im 386 Textseiten umfassenden Handbuch Fremdsprachendidaktik (H ALLET / K ÖNIGS 2013) zu diesen Begriffen im Index 17 Erwähnungen plus Mehrfacherwähnungen im Artikel 72 „Spracherwerb und Sprachenlernen“ zu finden sind, führt das 658 Textseiten umfassende Handbuch Fremdsprachenunterricht (B URWITZ -M ELZER et al. 2016) nur fünf Einträge auf. Im Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik (S URKAMP 2017) gibt es keinen eigenen Eintrag zu diesen Begriffen und auch die Trefferquote bei einer Abfrage zu den Begriffen „Reflex*“ und „Fremdsprachen*“ im Fachportal Pädagogik im Oktober 2017 ergab mit 47 Einträgen verteilt über die Jahre 1997 bis 2014 im Vergleich zu anderen Suchbegriffen außerordentlich wenige Titel. Offenbar besteht in der fremdsprachendidaktischen Diskussion keine Einigkeit über die Bedeutung der reflexiven Dimension des Fremdsprachenlehrens und -lernens, selbst wenn M YCZKO 2010 * Korrespondenzadresse: Univ.-Prof. Dr. Daniela C ASPARI , Freie Universität Berlin, Institut für Romanische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, 14197 B ERLIN E-Mail: caspari@zedat.fu-berlin.de Arbeitsbereiche: Literaturdidaktik, Lehrerforschung, Kompetenzorientiertes Fremdsprachenlernen Reflexives Fremdsprachenlernen 73 47 (2018) • Heft 1 einen Sammelband mit dem Titel Reflexion als Schlüsselphänomen der gegenwärtigen Fremdsprachendidaktik herausgegeben hat. Ein 2015 von ihr verfasster Zeitschriftenbeitrag ist denn auch vorsichtiger formuliert: „Wie viel Reflexion braucht der Fremdsprachenlerner? “ (M YCZKO 2015). Dieser Befund überrascht, denn die sog. metakognitive Wende, d.h. die Erkenntnis, dass Lernen auch durch individuelle Einsicht und Beurteilung der eigenen kognitiven Prozesse beeinflusst wird, hat seit Ende der 1970er Jahre in der Fremdsprachenforschung bzw. -didaktik eine breite Resonanz gefunden (vgl. N ERLICKI 2014: 186). So wurde „Metakognition“, das Wissen über die eigenen kognitiven Zustände und Prozesse sowie die Fähigkeit, diese regulieren zu können (vgl. S CHRAMM 2017: 251), ein zentraler Bestandteil der seit den 1990er Jahren durchgeführten Forschungen zur Lernerautonomie sowie zum Erwerb von Lernstrategien und -techniken. Um Stellenwert und mögliche Funktionen „reflexiven Lernens“ im Kontext von Fremdsprachenunterricht zu diskutieren, werden im Folgenden zunächst unterschiedliche Konzepte und Aspekte aus der pädagogischen Lernforschung vorgestellt. Danach werden anhand der Kompetenzbereiche Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz Ziele und Funktionen von Reflexion für das Fremdsprachenlernen und den Fremdsprachenunterricht aus fremdsprachendidaktischer Sicht erörtert. Sie werden mit der Bedeutung von Reflexion in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) verglichen, bevor abschließend der Beitrag reflexiven Lernens für überfachliche Lern- und Bildungsprozesse skizziert wird. 2. Reflexives Lernen - Annäherungen an ein Konzept „Reflektieren“ abgeleitet aus dem Lateinischen „reflectere“ (re- = wieder, zurück und flectere = biegen, beugen) „seine Gedanken auf etwas hinwenden“ (Duden online, 24.10.2017), bezeichnet eine besondere Art des Denkens, das sich durch eine hohe Intensität und eine spezielle Haltung auszeichnet, die es ermöglicht, „Dinge von einem anderen Standpunkt oder einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten“ (H ILZENSAUER 2008: 2). Reflexion ist in verschiedenen Wissenschaften ein zentraler Begriff. In Bezug auf das Lernen zeichnet H ILZENSAUER (2008) eine Reihe unterschiedlicher pädagogischer Konzeptionen nach und stellt sie einander gegenüber. Theorie/ Modell und Vertreter Beieinflusst von/ durch Kernaussagen Pragmatismus und kommunikative Interaktionspädagogik. John Dewey (1859-1952) Chicagoer Schule des Pragmatismus mit Charles Sanders Peirce 1389-1914) und William James (1842- 1910) Lernen setzt Handeln voraus, primäre Erfahrungen werden (maßgeblich durch Reflexion) in sekundäre Erfahrungen übertragen 74 Daniela Caspari 47 (2018) • Heft 1 Theorie/ Modell und Vertreter Beieinflusst von/ durch Kernaussagen Kritische Psychologie und Subjekttheorie, Klaus Holzkamp (1927-1955) Marxistische Position der Philosophie (die Umwelt bestimmt das Sein) sowie Konstruktivismus Wandel vom Bedingungsdiskurs hin zum Begründungsdiskurs. Subjekt als Zentrum seiner Interessen und Handlungen. Expansives Lernen vs. Defensives Lernen Erfahrungslernen (Experiential Learning), David A. Kolb (geb. 1939) John Dewey (1859-1952) und Jean Piaget (1896- 1980) Learning Cycle: konkrete Erfahrung (1) werden reflektiert (2), danach generalisiert (3) und übertragen (4) bevor sie wieder in konkretes Handeln (1) münden. The reflective practicioner, Donald A. Schön (1930- 1997) John Dewey (1859-1952) und später auch David Kolb (geb. 1939) Reflection in Action (Reflexion im aktuellen Handlungszusammenhang) - Reflection on Action (nachträgliche Reflexion vergangener Situationen). Reflection: Turning experience into Learning, David Boud. Rosemary Keogh, David Walker John Dewey (1859-1952), David Kolb (geb. 1939) Konkrete Erfahrungen - Reflexiver Prozess (Trennung von Erfahrung und Gefühl) - Neue Perspektive über die gemachten Erfahrungen Reflective Cycle, Graham Gibbs (Universität Oxford) Inspiriert von Dewey, und v.a. Kolbs Learning Cycle Sechs Schritte zur Reflexion: (1) Description, (2) Feelings, (3) Evaluation, (4) Analysis, (5) Conclusion, (6) Action Plan Selbstreflexion als Reflexion zweiter Ordnung, Horst Siebert (geb. 1939) Konstruktivismus, v.a. systemisch konstruktivistische Didaktik Selbstreflexion - Problemreflexion - Gruppenreflexion. Reflexives Lernen als Lernhaltung, weniger als Methode. Tabelle 1: Überblick über Reflexionsmodelle und Konzepte (H ILZENSAUER 2008: 8) Wesentliche Unterschiede der dargestellten Konzepte bestehen vor allem in der zugrunde liegenden Lerntheorie, im Gegenstand der Reflexion (Lerngegenstand, Lernprozess, lernendes Ich), in der Bedeutung von Misserfolgen, in der Berücksichtigung von Emotionen sowie im Einbezug der Gruppe. Außerdem wird der Reflexionsprozess unterschiedlich modelliert. Wesentliche Gemeinsamkeiten der Konzepte hingegen, so Hilzensauer (vgl. 2008: 8), bestehen in der Bedeutung der Erfahrung als Grundlage für Reflexion sowie in einem zyklischen Ansatz, d.h., „dass die fortlaufende Kontinuität reflexiver Handlungen von wesentlicher Bedeutung ist“ (ebd. 8). Das von ihm skizzierte Reflexionsmodell (vgl. ebd.: 9-10) unterscheidet folgende drei Ebenen: • Reflexion über den Lerngegenstand, d.h. das „Nachdenken über die Lerninhalte zum Zwecke der weiteren Lernaktivitäten“ (ebd.: 9), das jedem Menschen bis zu einem gewissen Grade vertraut und bereits in den Lehrplänen der Grundschule verankert sei (ebd.). Reflexives Fremdsprachenlernen 75 47 (2018) • Heft 1 • Reflexion über die Lernhandlung, d.h. die organisationalen und situativen Elemente des Lernprozesses. Dies beinhalte Lernplanung und Organisation, Lernmethoden und Strategien, Lernsetting, Vorwissen und soziale Eingebundenheit. Diese Reflexion stelle die Frage, „wie erfolgreich die geplanten Lernschritte und Methoden in Bezug auf das Lernziel waren und welche Änderungen für die Erreichung der Ziele notwendig sind“ (ebd.). • Reflexion über das Lernvermögen, d.h. die „Fähigkeit […], sich seiner eigenen Lernprozesse bewusst zu sein und diese durch Reflexion positiv beeinflussen zu können. Es wird als Synonym für die ‚Reflexion über das Lernen‘ verwendet“ (ebd.: 10). Im gleichen Heft der Zeitschrift Bildungsforschung unterscheidet J ENERT (2008) die zweite und dritte Ebene anhand des jeweiligen Reflexionsgegenstandes: Bei der „problemorientierten Reflexion“ liege der Reflexionsgegenstand außerhalb der eigenen Person (externes Problem), notwendig dafür sei metakognitives Wissen im Sinne von „Wissen über das eigene (deklarative) Wissen“. Auf der „übergeordneten Ebene“ gehe es dagegen darum, das eigene Lernverhalten zu reflektieren und ggf. zu verändern. Für diese Reflexionsebene, die er als „lern- und verhaltensbezogene Reflexion“ bezeichnet, benötige man epistemisches (Meta-)Wissen über eigene kognitive Strategien und Vorstellungen (J ENERT 2008: 8). W EBER (1999) dagegen nimmt in seinem breit gefassten Konzept reflexiven Lernens keine Unterscheidung zwischen verschiedenen Ebenen vor: „,Reflexives Lernen‘ nennt man jenes Lernen, bei dem der Lernende über das eigene Lernen nachdenkt, d.h. so er von einer kognitiven Metaebene aus über die Absichten, Inhalte und Aufgaben, über den Sinn und Zweck, die Vorgehensweisen und Strategien, aber auch über die Ergebnisse, die Kontrolle, Korrektur und Weiterführung seines Lernens reflektiert“ (ebd.: 65). In der von ihm skizzierten Theorie des „bildenden Lernens“ stellt das „kognitive und reflexive Lernen“ eine von vier Dimensionen dar: „Diese Dimension […] umfasst das Denken und Erkennen, den Aufbau kognitiver Strukturen und Wissensstrukturen, das gedankliche Erfassen von Sachverhalten und Sachzusammenhängen, von Bedeutungen und Sinnzusammenhängen, das Problemlösen durch Einsicht aber auch durch Reflexion über das kognitive Lernen (= metakognitives Lernen) und die Selbstreflexion des Lernenden (z.B. Selbstkontrolle des Lernens). ‚Bildendes Lernen‘ ist auf die Qualität des anspruchsvollen, kognitiven und reflexiven menschlichen Lernens angewiesen“ (ebd.: 64-65). Seiner Ansicht nach gewinnen solche selbstbildenden Lernprozesse mit dem Jugendalter an Bedeutung. S CHMELTER (2004) bezieht sich in seinem Konzept der „Reflexion“ bzw. des „reflexiven Denken“ auf den Psychologen O PWIS (1998). In seiner Studie über das Fremdsprachenlernen im Tandem geht S CHMELTER davon aus, dass Reflexion „verstanden als die Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln steuern, kontrollieren und überwachen zu können […] zum Selbstverständnis des Menschen“ (ebd.: 293) 76 Daniela Caspari 47 (2018) • Heft 1 gehört. Wichtiger Bestandteil des reflexiven Denkens sei die „Betrachtung und Gewichtung alternativer Handlungsoptionen“ (ebd.: 293). Dafür benötige der Mensch neben der Fähigkeit zur Introspektion ein internes oder externes „Protokoll“ seines Vorgehens, z.B. in Form von Tagebuchaufzeichnungen, bearbeiteten Aufgaben oder Rückmeldungen der Lernpartner/ innen, um von seinen unmittelbaren gedanklichen Überlegungen zurücktreten und die Betrachtungsebene wechseln zu können. Um Modifikationen des eigenen Handelns vornehmen und neue Strategien entwickeln zu können, müsse der Mensch zudem auf vorhandene Wissensbestände, auch in Form von Erfahrungen, zurückgreifen können. Wie S CHMELTER (vgl. 2010: 34-35) in einem Aufsatz zu Fremdsprachenlernen auf der Primarstufe in Anlehnung an H ASSELHORN (2004) ausführt, beginnen Kinder zwischen acht und zehn Jahren immer mehr über sich, über ihr eigenes Wissen sowie über ihr eigenes Lernen nachzudenken. Am Ende der Grundschulzeit seien sie dann in der Lage, von sich aus und bewusst Lernstrategien anzuwenden, auch wenn diese oft noch nicht effizient sind. Im Alter von ungefähr elf bis zwölf Jahren komme es dann zu einem deutlichen Anstieg der systemischen metakognitiven Funktionen und zu einer zunehmend selbstständigen und kompetenten Strategienutzung. M ARTINEZ (2005: 76) ergänzt für ihre Studie zu Lernerautonomie die sozio-interaktive Perspektive: „LA. [Lernerautonomie] […] beruht auf einem erweiterten Verständnis von Fremdsprachenlernen, das (individuell) konstruktiv, reflexiv und soziointeraktiv ist. […] Sie hängt von der Fähigkeit des Lerners ab, die Komponenten des Lernprozesses zu steuern und von der Unterstützung der Kompetenz- und Autonomieerfahrungen der Lernenden durch die soziale Umgebung - sei es im Klassenzimmer, sei es im Rahmen selbstgesteuerten Fremdsprachenlernens“. Aus den dargestellten Konzepten können folgende Aspekte für die nähere Bestimmung von „reflexivem Lernen“ abgeleitet werden: Grundlage für reflexives Lernen sind Erfahrungen, die vom Lerner bzw. der Lernerin auf einer kognitiven Meta- Ebene, zumeist in einem zyklischen Prozess, überdacht werden. Gegenstand der Reflexion können die Lerngegenstände, das eigene Wissen und die eigenen Lernvorgänge incl. der damit jeweils verbundenen Gefühle sein. Ziel des reflexiven Lernens ist die positive Beeinflussung der Lernprozesse und -ergebnisse. Notwendig sind dafür je nach Reflexionsgegenstand Sachwissen und metakognitives Wissen. Für Prozesse des reflexiven Lernens, für die in der Sekundarstufe I i.d.R. die notwendigen entwicklungspsychologischen Voraussetzungen bestehen, kann die Unterstützung durch „Protokolle“ der Lernhandlungen und Lernergebnisse sowie durch andere Gruppenmitglieder hilfreich sein. Unklar ist, ob Reflexion über Misserfolge oder über erfolgreiches Lernen zielführender ist. Reflexives Fremdsprachenlernen 77 47 (2018) • Heft 1 3. Bereiche und Beiträge reflexiven Lernens im Fremdsprachenunterricht In den 1970er Jahren begann sich die Fremdsprachenforschung anlässlich der Hinwendung zum Lerner vermehrt mit dessen Kognitionen zu beschäftigen. Parallel dazu wandelte sich im kommunikativen Ansatz die Auffassung von der Rolle des Lerners hin zu einem aktiven, sein Lernen mitgestaltenden Individuum. Diese Auffassung vom Lerner wurde seit den 1990er Jahren durch die Forschungen zu Lernertypen, Lernstrategien und -techniken sowie im Zuge der Lernerorientierung und Autonomieförderung bestärkt und ausdifferenziert. Ebenfalls in den 1990er Jahren entwickelte sich das Konzept interkulturellen Lernens für den Fremdsprachenunterricht, das mit Perspektivenwechsel bzw. -übernahme und Perspektivenkoordination vom Lerner ein hohes Maß an Selbstreflexivität verlangt, ähnlich wie der seit den 1970er Jahren diskutierte hermeneutische Ansatz in der Literaturdidaktik, der vom Leser u.a. eine Revision der ersten, subjektiven Leseeindrücke erwartet. In den 1990er Jahren erschienen die ersten einflussreichen Aufsätze zu language awareness bzw. Sprachbewusstheit/ Sprachlernbewusstheit (vgl. u.a. L UCHTENBERG 1995, G NUTZMANN 1997, K NAPP -P OTTHOFF 1997), d.h. zu den Konzepten, die gegenwärtig vermutlich am deutlichsten und nachdrücklichsten die Notwendigkeit von Reflexion einfordern. So konzentriert sich auch der oben bereits angesprochene Aufsatz von M YCZKO (2015) auf die Förderung von Sprach-, Sprachlern- und Kulturbewusstheit. 3.1 Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz in der Fremdsprachendidaktik Das Ziel der 32. Frühjahrskonferenz, deren Beiträge unter dem Titel Sprachenbewusstheit im Fremdsprachenunterricht veröffentlicht wurden, bestand im Ausloten der „Möglichkeiten und Grenzen der Kognitivierung im Rahmen von Spracherwerb und Sprachvermittlung“ (B URWITZ -M ELZER / K ÖNIGS / K RUMM 2012: 7). Dabei spielen die Konzepte Sprachenbewusstheit 1 und Sprachlernbewusstheit eine zentrale Rolle. B URWITZ -M ELZER (2012: 27-30) unterscheidet enge und weite Konzepte von Sprachenbewusstheit. Während sich engere Ansätze mit nur einem Ausschnitt von Sprachenbewusstheit befassten (z.B. grammatikalischem Wissen als Basis für die Fehleridentifikation und -korrektur), favorisiert sie wie viele andere Autorinnen und Autoren des Sammelbandes weite Ansätze, die sich an die britische Tradition der language awareness anlehnen. Sie favorisiert die Definition von G NUTZMANN (1997), die deutlich mache, dass Sprach(en)bewusstheit nicht als isolierte Teilkom- 1 K LIPPEL (2012: 68) weist darauf hin, dass in der heutigen Welt und insbesondere in Kontexten des Fremdsprachenlernens Menschen mehr als eine Sprache zur Verfügung steht, so dass eine Unterscheidung von Sprachbewusstheit und Sprachenbewusstheit nicht erforderlich sei. 78 Daniela Caspari 47 (2018) • Heft 1 petenz, sondern transversal zu fast allen anderen Kompetenzbereichen des Fremdsprachenunterrichts angelegt ist. Damit folge G NUTZMANN der im language awareness-Ansatz vertretenen holistischen Auffassung von Sprache, sprachlichem Wissen, Sprachverwendung und Sprachenlernen. Auf dieser Basis unterscheidet er verschiedene Domänen der Sprachbewusstheit: eine affektive, eine soziale, eine politische, eine kognitive sowie eine Performanz-Domäne (ebd.: 232-235). 2 S CHRAMM (2012: 199-201) greift diese weite Auffassung auf und erarbeitet daraus ein Modell, das alle diese Domänen bzw. Dimensionen umfasst. Es basiert auf der Auffassung, dass es sich bei „Sprach(en)bewusstheit und Sprach(en)lernbewusstheit um Bereiche expliziten metakognitiven Wissens“ (ebd.: 199) handelt, die in allen Dimensionen mit kognitivierenden Verfahren erarbeitet werden können: „Die sprachbezogene Metakognition beinhaltet im deklarativen Bereich (metakognitives) Wissen über Sprach(n) und sprachliches Handeln und im prozeduralen Bereich das (metakognitive) Können, also die Exekutive (Kontrolle und Steuerung) des sprachlichen Handelns. [Dabei] […] stellt explizites Wissen über Sprach(n) und sprachliches Handeln einen wesentlichen Aspekt der Metakognition dar, der jedoch auch durch implizite Metakognitionen ergänzt wird“ (ebd.: 199). Die Konzepte Sprachenbewusstheit und Sprachlernbewusstheit bzw. Sprachlernkompetenz 3 weisen zwar unterschiedliche Schwerpunkte auf, sind aber nicht klar voneinander abzugrenzen. Sprachenbewusstheit fokussiert in erster Linie auf deklaratives und prozedurales Wissen über Sprache, sprachliche Strukturen und Sprachgebrauch. Sprachlernbewusstheit fokussiert auf Wissen über Aneignungsprozesse von Sprache, die sich u.a. im Wissen über und im Gebrauch von Sprachlernstrategien niederschlagen. Dabei greift Sprachlernbewusstheit auf Sprachenbewusstheit zurück: „Sprachbewusstheit setzt sprachliches Wissen voraus und generiert neues sprachliches Wissen […]. Sprachbewusstheit (language awareness) [....] speist Sprachlernbewusstheit (learning awareness) und beeinflusst die Verwendung von Lernstrategien“ (M EHLHORN 2012: 121). M EIßNER (2012: 137) weist auch auf den umgekehrten Effekt hin: „Wenn z.B. ein Vorschulkind bemerkt, dass man etwas nicht so, sondern anders sagt und dieses Andere benennt, so zeigt es sowohl sprachlich-prozeduales Wissen als auch Wissen über dieses. […] Stellt es nun eine Frage zur sprachlichen Disambiguierung, so steht hinter dieser eine mögliche Sprachhypothese und - wie angeklungen - der Wunsch nach Erweiterung der eigenen Sprachlernkompetenz.“ Fremdsprachenforschung und Fremdsprachenunterricht fokussieren traditionell auf den Aspekt des Erwerbs und der Anwendung von sprachlichem Wissen, wie sich 2 Um die soziale und politische Dimension des Konzepts stärker hervorzuheben und der häufig zu beobachtenden Reduktion von Sprachbewusstheit auf die explizite Kenntnis von grammatischen Regeln zu begegnen, favorisiert S CHMELTER (2012: 189) die Bezeichnung „kritische Sprachbewusstheit“ bzw. critical language awareness. 3 In den Beiträgen des Sammelbandes werden beide Begriffe meiner Beobachtung nach unterschiedslos verwendet. In den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) wird der Begriff Sprachlernkompetenz benutzt, der sich m.E. in den letzten Jahren durchgesetzt hat. Reflexives Fremdsprachenlernen 79 47 (2018) • Heft 1 auch in den Beiträgen des Sammelbandes zeigt. M EIßNER (ebd.: 136) dagegen plädiert vehement für eine stärkere Berücksichtigung der Sprachlernkompetenz: „Kompetenzentwicklung? Ja, aber nicht nur über sprachliches Wissen und Sprachenbewusstheit, sondern über Sprachlernbewusstheit“. Institutioneller Fremdsprachenunterricht weist der Vermittlung von explizitem sprachlichen, insb. grammatikalischem Wissen nach wie vor einen großen Raum zu, ohne dass bislang geklärt ist, ob bzw. in welchem Maße der Erwerb von (meta-) sprachlichem Wissen den Sprachlernprozess tatsächlich unterstützt. Es gebe, so G NUTZMANN (2012: 43-44), keine gesicherten Ergebnisse darüber, dass explizites, bewusstes Sprachwissen in implizites, automatisiertes Wissen überführbar sei, zudem lasse sich dieser Prozess empirisch auch nur schwer nachweisen (vgl. ferner die widersprüchlichen Befunde in M EIßNER 2012: 133-134). Das Gleiche gilt für die Förderung von Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz: „Man könnte […] den Schluss ziehen, dass es sich bei sprachlichem Wissen und bei der Sprach(en)bewusstheit um ein Prinzip handele, das dem fremdsprachlichen Aneignungsvorgang zu Grunde liegt: Es ist per se [Hervorhebung im Original] lernfördernd, wenn man ihm den nötigen Raum zur Entfaltung gibt, also den Unterricht so organisiert, dass Lernende die Gelegenheit erhalten, ihr Wissen über Sprache, Sprachen und (Fremdsprachen-) Lernen zu reflektieren und zu systematisieren. Ganz so eindeutig ist dieser Befund allerdings bei näherem Hinsehen nicht […]“ (K ÖNIGS 2012: 77). K ÖNIGS weist im Folgenden, ebenso wie S CHRAMM (2012: 203-205) und K LIPPEL (2012: 69-71), darauf hin, dass die „lernerseitige Reflexion nicht automatisch lernfördernd ist“ (K ÖNIGS 2012: 78). Selbst im Bereich von Lernstrategien und Lerntechniken, deren lernförderliche Wirksamkeit erwiesen sei (vgl. S CHMIDT 2010: 863), gebe es keine Erfolgsgarantie (vgl. das Beispiel in K ÖNIGS 2012: 78). Notwendig seien vielmehr entsprechende Dispositionen auf Lernerseite, die auch lernertypenabhängig sind, sowie geeignete unterrichtliche Verfahren: „Sprachliches und sprachlernbezogenes Wissen, so lässt sich folgern, stellen damit kein automatisch lernwirksames Prinzip dar, sondern entfalten ‚nur‘ unter bestimmten Bedingungen eine lernfördernde Wirkung“ (K ÖNIGS 2012: 78). Während Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz vor allem als Mittel zum Sprachenlernen diskutiert werden, heben insb. K RUMM (2012), K ÜSTER (2012) und S CHRAMM (2012) weitere Ziele hervor. K RUMM (2012) führt als Lernziele für das „Curriculum Mehrsprachigkeit“ neben funktionalen Zielen u.a. an, dass die Schülerinnen und Schüler „Fragen der (gesellschaftlichen) Vielsprachigkeit und der (persönlichen) Mehrsprachigkeit in einer fachlichen Weise“ bearbeiten, dass sie „ein Bild von der Sprachenvielfalt in Österreich gewinnen“ und ihre persönliche Sprachenbiographie „mit der Geschichte ihrer Familie sowie ansatzweise mit sprachengeographischen und sprachsoziologischen Gegebenheiten in Verbindung bringen“ können (ebd.: 89). S CHRAMM (2012: 199-201) nimmt in ihrem umfassenden Modell „Sprach(en)bewusstheit und Sprach(en)lernbewusstheit als explizite Metakognition“ in das Feld der Kognition ebenfalls „Mathematik“ und „mathematisches Lernen“ auf. Damit 80 Daniela Caspari 47 (2018) • Heft 1 deutet sie an, dass Sprache(n) und Sprach(en)lernen wie andere Kognitionen (hier als Beispiel Mathematik und mathematisches Lernen) Gegenstand entsprechender metakognitiver Wissensbereiche sein können. Obwohl sie die Förderung sprachlichen Könnens nach wie vor als zentral erachtet, sieht sie in der expliziten Metakognition dennoch ein lohnenswertes Ziel des Fremdsprachenunterrichts. Denn die Förderung von Sprach(en)bewusstheit stelle einen „genuinen Beitrag des Fremdsprachenunterrichts zur Bildung des einzelnen [sic] dar, dem im Gesamtmosaik der Lehr- und Lernziele des Fremdsprachenunterrichts neben übergreifenden Zielen wie Team-, Reflexions- oder Kritikfähigkeit durchaus eine wichtige Bedeutung zukommt“ (ebd.: 201). K ÜSTER (2012) geht noch weiter. Er stellt dar, dass language awareness, die er am Übergangsbereich zwischen Kognition, die sich auf die Gegenstände des Lernens richte, und - zumindest in der Erweiterung um language learning awareness (vgl. R AMPILLON 1997) - Metakognition ansiedelt, neben kognitiven auch affektive und attitudinale Aspekte von Sprachenlernen und Sprachgebrauch umfasst. Insofern könne man von einer „auf die jeweils individuelle Anverwandlung von Sprache(n) gerichtete Erkenntnis- und Reflexionstätigkeit sprechen“ (ebd.: 93). Falls Lehrpersonen das Prinzip der Reflexivität an geeigneten Stellen immer wieder zur Geltung brächten, könne sich auf Seiten der Lernenden eine reflexive Haltung ausbilden, „die dann in einer weitgefasste[n] Awareness“ münde (ebd.: 94). Sie impliziere „dass sich der/ die Lernende auch der persönlichen Relevanz des Lernens und seiner Inhalte bewusst“ werde (ebd.: 94). K ÜSTER stellt diese Zielsetzung von language awareness gegen Ansätze, die das Reflektieren über Sprache und Sprachenlernen selbst in Diskursen zur Lernerautonomie in erster Linie als „instrumentelle Orientierung von Selbststeuerung und Metakognition“ betrachteten, wodurch die „emanzipatorische Perspektive von Lernerautonomie im Sinne einer möglichst umfassenden Selbstbestimmung“ verloren gehe (ebd.: 94). Er plädiert stattdessen für eine weite Zielsetzung, die pragmatische Ziele zwar einschlösse, jedoch über sie hinausginge und Metakognition und Reflexivität als Beitrag zur Bildung im Sinne einer unabschließbaren Klärung des Selbst- und Weltbezugs betrachte (vgl. ebd.: 94f.). Besonders relevant erscheinen ihm hier „Verbindungen zwischen den Identitätskonstruktionen der Lerner und deren Wissen um eigene Entwicklungsaufgaben und Bildungsverläufe“ (ebd.: 94f.). Darüber hinaus verweist K ÜSTER darauf, dass Fremdsprachenlernen nicht vorrangig ein individueller Prozess sei, sondern ein „in interaktiven Kontexten eingebettetes und komplex-interdependentes soziales Geschehen“ (ebd.: 96), für das soziale Partizipation unabdingbar sei. Beim Nachzeichnen der wichtigsten Aspekte der Diskussion um Sprachenbewusstheit und Sprachlernkompetenz wird deutlich, dass - allerdings in sehr unterschiedlicher Gewichtung - alle vier Bereiche der Allgemeinen Kompetenzen nach dem Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (E UROPARAT 2001: 22-24) zum Tragen kommen: Wissen (savoir), Können (savoir-faire), persönlichkeitsbezogene Kompetenzen (savoir-être) und Lernfähigkeit (savoir apprendre). Reflexives Fremdsprachenlernen 81 47 (2018) • Heft 1 3.2 (Selbst-)Reflexion in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife 4 Wie in einigen zu Beginn zitierten didaktischen Kompendien sucht man auch in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife (KMK 2012) vergebens nach dem Begriff „Reflexionskompetenz“. Eine genaue Lektüre der Modellierung der einzelnen Kompetenzbereiche und der jeweiligen Standards zeigt jedoch, dass der (Selbst-)Reflexion in vielen Bereichen eine wichtige Bedeutung zukommt. Dies gilt zum einen für den Bereich der Sprachbewussheit (im Folgenden KMK 2012: 21), definiert als „Sensibilität für und Nachdenken über Sprache und sprachlich vermittelte Kommunikation“. Sie zielt auf den Erwerb von „Einsichten in Struktur und Gebrauch der Zielsprache und anderer Sprachen“, was ein Nachdenken über „die Rolle und Verwendung von Sprachen in der Welt, z.B. im Kontext kultureller und politischer Einflüsse“ einschließt. Sprachbewusstheit soll dazu führen, „die Ausdrucksmittel und Varianten einer Sprache bewusst zu nutzen“ und „mündliche und schriftliche Kommunikationsprozesse sicher zu bewältigen“. Differenzierter wird die Rolle der (Selbst-)Reflexion im Kompetenzbereich „Sprachlernkompetenz“ dargestellt. Dort heißt es: „Sprachlernkompetenz beinhaltet die Fähigkeit und Bereitschaft, das eigene Sprachenlernen selbstständig zu analysieren und bewusst zu gestalten, wobei die Schülerinnen und Schüler auf ihr mehrsprachiges Wissen und auf individuelle Sprachlernerfahrungen zurückgreifen. Sprachlernkompetenz zeigt sich erstens im Verfügen über sprachbezogene Lernmethoden und in der Beherrschung daraus abgeleiteter, konkreter Strategien. Sie zeigt sich zweitens in der Beobachtung und Evaluation der eigenen Sprachlernmotivation, -prozesse und -ergebnisse sowie drittens in der Bereitschaft und Fähigkeit, begründete Konsequenzen daraus zu ziehen. Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz haben überdies einen eigenen Bildungswert, sowohl im Hinblick auf die Persönlichkeitsbildung der jungen Erwachsenen als auch auf Berufs- und Wissenschaftspropädeutik. Die Schülerinnen und Schüler können ihre sprachlichen Kompetenzen und ihre vorhandene Mehrsprachigkeit (Erstsprache, ggf. Zweitsprache, Fremdsprachen) selbstständig und reflektiert erweitern. Dabei nutzen sie zielgerichtet ein breites Repertoire von Strategien und Techniken des reflexiven Sprachenlernens“ (KMK 2012: 22). Interessant scheint mir, dass die (Selbst-)Reflexion zwar in erster Linie instrumentell gefasst ist, d.h. als Hilfsmittel zum Sprachenlernen betrachtet wird. Darüber hinaus wird ihr jedoch explizit ein „eigener Bildungswert“ zuerkannt, und zwar sowohl für die „Persönlichkeitsbildung“ als auch als Teil der „Berufs- und Wissenschaftspropädeutik“ (ebd.: 22). Implizit zeigt sich ein Bildungswert zudem darin, dass das Reflektieren über das eigene (Sprachen-)Lernen eine wichtige Voraussetzung für Lernerautonomie ist, eines der zentralen Bildungsziele der deutschen Schule. Aber auch in anderen Kompetenzbereichen wird Reflexionsfähigkeit gefordert. Weniger in den funktionalen kommunikativen Kompetenzen, obwohl die Formulie- 4 In diesem Abschnitt stütze ich mich auf eine Analyse, die ich für eine Tagung der Klett-Akademie Französisch am 28./ 29.11.2016 unternommen habe. 82 Daniela Caspari 47 (2018) • Heft 1 rungen wie „ein adressatengerechtes und situationsangemessenes Gespräch in der Fremdsprache führen“ (Kompetenzbereich Sprechen, ebd.: 16), „Schreibprozesse selbstständig planen, umsetzen und reflektieren“ (Kompetenzbereich Schreiben, ebd.: 17) oder „Informationen adressatengerecht und situationsangemessen in der jeweils anderen Sprache zusammenfassend wiedergeben“ bzw. „interkulturelle Kompetenz und entsprechende kommunikative Strategien einsetzen, um adressatenrelevante Inhalte und Absichten in der jeweils anderen Sprache zu vermitteln“ (Kompetenzbereich Sprachmittlung, ebd.: 18) deutlich machen, dass für ein Gelingen (selbst-)reflexive Prozesse vonnöten sind. Ein größerer Raum kommt der (Selbst-)Reflexion in den komplexeren Kompetenzbereichen „Interkulturelle Kompetenz“ und „Text- und Medienkompetenz“ zu. Dort wird u.a. dargelegt, dass interkulturelle Kompetenz nicht nur das Verfügen über Wissen verlangt, sondern ebenfalls das Verfügen über Einstellungen und Bewusstheit: „Dazu zählen insbesondere die Bereitschaft und Fähigkeit, anderen respektvoll zu begegnen, sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen und beim eigenen Sprachhandeln sprachliche und inhaltliche Risiken einzugehen. Im Prozess interkulturellen Verstehens und Handelns spielt außerdem Bewusstheit eine wichtige Rolle. Die Schülerinnen und Schüler entwickeln die Fähigkeit und Bereitschaft, ihr persönliches Verstehen und Handeln zu hinterfragen und mit den eigenen Standpunkten Unvereinbares auszuhalten und in der interkulturellen Auseinandersetzung zu reflektieren“ (ebd.: 19). Konkretisiert werden diese Aspekte u.a. in der Standardformulierung „[Die Schülerinnen und Schüler können] ihre Wahrnehmungen und (Vor-)Urteile erkennen, hinterfragen, relativieren und ggf. revidieren“ und „[sie können] einen Perspektivenwechsel vollziehen sowie verschiedene Perspektiven vergleichen und abwägen“ (ebd.: 20). Auch bei „Text- und Medienkompetenz“ ist die (Selbst-)Reflexion sowohl in der Erläuterung des Kompetenzbereiches als auch in Standardformulierungen enthalten: „Text- und Medienkompetenz ermöglicht das Verstehen und Deuten von kontinuierlichen und diskontinuierlichen - auch audio- und audiovisuellen - Texten in ihren Bezügen und Voraussetzungen. Sie umfasst das Erkennen konventionalisierter, kulturspezifisch geprägter Charakteristika von Texten und Medien, die Verwendung dieser Charakteristika bei der Produktion eigener Texte sowie die Reflektion [sic.] des individuellen Rezeptions- und Produktionsprozesses“ (ebd.: 20). U.a. sollen sich die Schülerinnen und Schüler „mit den Perspektiven und Handlungsmustern von Akteuren, Charakteren und Figuren auseinandersetzen und ggf. einen Perspektivenwechsel vollziehen“ (ebd.: 20), „ihr Erstverstehen kritisch reflektieren, relativieren und ggf. revidieren“ (ebd.: 21) und, auf erhöhtem Niveau, „die von ihnen vollzogenen Deutungs- und Produktionsprozesse reflektieren und darlegen“ (ebd.: 21). Insgesamt spielt die (Selbst-)Reflexion in den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife eine wichtige Rolle. Sie wird in allen Kompetenzbereichen aufgeführt, wobei im Bereich der sprachlich-funktionalen Kompetenzen die instru- Reflexives Fremdsprachenlernen 83 47 (2018) • Heft 1 mentelle Funktion überwiegt. In den anderen Kompetenzbereichen wird dagegen auch die bildende Dimension von (selbst-)reflexiven Prozessen als Ziel genannt. Vergleicht man die fremdsprachendidaktische Diskussion um Sprachbewusstheit und Sprachlernkompetenz sowie die Bedeutung von (Selbst-)Reflexion in den Bildungsstandards mit den in Abschnitt 2 zusammengestellten Aspekten aus den pädagogischen Konzepten, so kann eine große Übereinstimmung konstatiert werden. Möglicherweise wird in den - neueren - fremdsprachenbezogenen Publikationen die Bedeutung von prozeduralem Wissen höher gewichtet, ferner scheint weitgehend Konsens darüber zu bestehen, dass Reflexion neben der kognitiven und performativen Dimension eine affektive, eine soziale und eine sprachkritische Dimension beinhaltet. Damit kommt Bildungszielen in den fremdsprachenbezogenen Texten eine tendenziell größere Bedeutung zu. 4. Reflexivität als Beitrag zur überfachlichen Bildungszielen Wie oben bereits dargelegt wurde, sind die Bereitschaft zu und der Erfolg bzw. Gewinn von (selbst-)reflexiven Lernformen stark von den Akteuren des Fremdsprachenunterrichts abhängig. K LIPPEL (2012: 70-71) z.B. verweist in ihrem Beitrag auf die hohe Bedeutung der individuellen Lernerfaktoren: Die Fähigkeit und Bereitschaft zu Reflexion über Sprache und Sprachenlernen sowie die Notwendigkeit für erfolgreiches Fremdsprachenlernen seien individuell höchst verschieden. Sie schlussfolgert: „Ist die gegenwärtige undifferenziert positive Einschätzung jeglicher ‚awareness‘ tatsächlich angebracht, wenn viele Lernprozesse unterhalb der Bewusstseinsschwelle ablaufen und somit der Reflexion gar nicht zugänglich sind? “ (ebd.: 70f.). Dazu kommt, dass es vielen Schülerinnen und Schülern gerade in der Mittelstufe nicht nur als „Zeitverschwendung“, sondern auch als mühsam und teilweise unangenehm erscheint, sich mit den Prozessen und Ergebnissen ihres Lernens auseinanderzusetzen. Dies gilt gerade für stark ergebnisorientierte Lerner und solche mit einer Tendenz zur Fremdattribuierung oder der Angst vor Gesichtsverlust. Auch von den Lehrerinnen und Lehrern verlangt der Einsatz solcher Instrumente nicht nur die Bereitschaft, dafür Unterrichtszeit bereitzustellen, und die Fähigkeit, solche Prozesse sensibel zu unterstützen, sondern vor allem die generelle Bereitschaft, sich auf die Schülerinnen und Schüler als Individuen einzulassen und sie als Experten für ihr eigenes Lernen ernst zu nehmen. Zudem ist eine offene, lernförderliche und wertschätzende Atmosphäre im Klassenzimmer unbedingte Voraussetzung dafür, damit selbstreflexive Prozesse und der Austausch darüber gelingen können. Angesichts des großen Potenzials reflexiver Prozesse halte ich es trotz dieser Einwände und Herausforderungen für notwendig, (selbst-)reflexives Lernen zu einem durchgängigen Prinzip modernen Fremdsprachenunterrichts zu erheben. Gerade angesichts der zunehmenden Heterogenität der Schülerinnen und Schüler und der daraus erwachsenden Anforderungen an differenziertes Lernen und Lehren ist es unumgänglich, dass Lerner mit Hilfe ihrer Lehrpersonen die Lehr- und Lern- 84 Daniela Caspari 47 (2018) • Heft 1 verfahren herausfinden, die für ihr individuelles Lernen besonders förderlich sind. Auch wenn es wie ein Widerspruch klingen mag, ist es angesichts der notwendigen Individualisierung genauso notwendig, dass die Lehrperson zusammen mit ihrer Lerngruppe herausfindet, welche Lehr- und Lernformen für gemeinsames Lernen jeweils besonders günstig sind, denn schulisches Lernen bedeutet immer auch soziales Lernen und gerade Fremdsprachenunterricht muss Gelegenheiten zu vielfältiger Kommunikation mit- und untereinander bereitstellen. Ein m.E. genau so wichtiger Grund, warum aktueller Fremdsprachenunterricht das Nachdenken über Sprache(n) und Sprachenlernen als durchgängiges Prinzip betrachten sollte, liegt in der sprachlichen Vielfalt im Individuum und im Klassenzimmer. Zwar wird im Zuge der „Durchgängigen Sprachbildung“ inzwischen gefordert, dass die Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler in jedem Fachunterricht zu berücksichtigen sei, jedoch ist der Fremdsprachenunterricht neben dem Fach Deutsch der einzige schulische Ort, an dem die „gesamte Sprachlichkeit“ der Schülerinnen und Schüler bewusst gemacht, gewürdigt und funktional für weiteres Sprachenlernen nutzbar gemacht werden kann. Damit kommt dem Fremdsprachenunterricht m.E. die zentrale Funktion in der Förderung der gesamtsprachlichen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler in Hinblick auf eine mehrsprachige und mehrkulturelle Kompetenz zu (vgl. im Folgenden C ASPARI 2017: 210ff). Ein noch zu entwerfendes Modell mehrsprachiger und mehrkultureller Kompetenz (vgl. auch Hallet/ Königs 2013a: 305-306) beruht auf der Vorstellung, dass die sprachliche Kompetenz jedes Individuums dessen Kompetenzen in allen Sprachen und sprachlichen Varietäten umfasst und dass durch das Zusammenwirken der Sprachen spezifische Einstellungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgebildet werden, die beim konkreten Gebrauch von Sprache(n) sowie beim Lernen von (weiteren) Sprachen angewendet werden können. Diese spezifischen Elemente betreffen vor allem das Wissen über Sprache im Allgemeinen und über Einzelsprachen im Vergleich sowie übertragbare Strategien des Spracherwerbs bzw. Sprachenlernens und des Sprach(en)gebrauchs. In einem solchen Modell käme der Sprachbewusstheit und der Sprachlernkompetenz und damit der Reflexivität eine wichtige, wenn nicht sogar die zentrale Rolle zu. Ein so verstandener Fremdsprachenunterricht, der in und mit der Förderung der Zielsprache ebenfalls die Ausbildung der mehrsprachigen und mehrkulturellen Kompetenz eines Individuums unterstützt, schlägt nicht nur die Brücke zu anderen schulischen Fächern und stellt den m.E. spezifischen Beitrag des Fremdsprachenunterrichts zur „Durchgängigen Sprachbildung“ dar (vgl. C ASPARI 2017). Er verbindet darüber hinaus auf ideale Weise Fachlichkeit und Bildungsauftrag der Schule, weil er in der Erfüllung des fachlichen Ziels einen grundlegenden Beitrag zur (Selbst-)Bildung der Schülerinnen und Schüler zu leisten vermag. Mit einer solchen Zielstellung geht „reflexives Lernen“ deutlich über die in Abschnitt 2 dargestellten pädagogischen Ansätze hinaus, es greift vielmehr die über eine instrumentelle Funktion hinausgehenden fremdsprachendidaktischen Ansätze in Abschnitt 3.1 auf und fokussiert sie. Ob die in Abschnitt 3.2 wiedergegebenen Ausschnitte aus den Reflexives Fremdsprachenlernen 85 47 (2018) • Heft 1 Bildungsstandards für die Abiturprüfung (KMK 2012) mit der skizzierten Vorstellung der Förderung der gesamtsprachlichen und -kulturellen Bildung eines Individuum kompatibel sind, kann erst nach der Entwicklung eines entsprechenden fachdidaktischen Modells beurteilt werden. Zumindest enthält das Dokument Passagen, die mit einer entsprechenden Zielvorstellung vereinbar wären. Und sollte die skizzierte Vorstellung von Fremdsprachenunterricht weiter entwickelt und verbreitet werden, dürften die Begriffe „Reflexion“ oder „reflexives Lernen“ in zukünftigen Ausgaben der eingangs genannten fremdsprachendidaktischen Einführungen und Lexika womöglich doch häufiger im Index erscheinen. Literatur B URWITZ -M ELZER , Eva (2012): „Sprachenbewusstheit als Teilkompetenz des Fremdsprachenunterrichts“. In: B URWITZ -M ELZER / K ÖNIGS / K RUMM (Hrsg.), 27-39. 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