eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 47/1

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2018
471 Gnutzmann Küster Schramm

Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-) Unterricht

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2018
Malte Brinkmann
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© 2018 Narr Francke Attempto Verlag 47 (2018) • Heft 1 M ALTE B RINKMANN * Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-) Unterricht Sozial- und demokratietheoretische Überlegungen mit Humboldt und Nancy Abstract. The article discusses the relation of Bildung, politics, language and community in a bildungs-theoretical and foundational theoretical perspective. Nancy’s post-democratic and socialtheoretical thinking is combined with language-theoretical insights of Humboldt and made fruitful for contexts of (foreign) language teaching. Bildung and education, both aiming at democracy, cannot be reduced to contexts of political education. Following Nancy, the article argues that democracy as a way of being with each other (Mit-ein-ander) ontologically precedes all communication and all institutions. Following Humboldt’s theory of Bildung and the concepts of alienation and of not-understanding, language education can be defined as communication (Mit-teilung) between one’s own and the foreign. In this sense, a challenge for foreign language teaching would be to offer openness for expeausitions (Nancy) and experiences of foreignness, which can express themselves in a system of verbal symbols as well as in expressions of the lived body. Negative experiences - disappointment, irritation, failure - can thus unfold productive meaning for processes of teaching and learning. 1. Problemaufriss Die Demokratie ist in der Krise. Diese Diagnose scheint sich von links wie von rechts angesichts des wachsenden Populismus, Nationalismus und Protektionismus durchzusetzen. Sie hat sich in eine Postdemokratie verwandelt. Die Postdemokratie - so die vielfach diskutierte These von Colin C ROUCH - legitimiert vor der Fassade demokratischer Institutionen eine neoliberale Elite, die den Staat mittels PR-Kampagnen im Interesse globaler Unternehmen und Verbände kolonisiert (vgl. C ROUCH 2008). Dies führe zu einer epidemischen Entpolitisierung in der Bevölkerung. Im Zuge der sich daran anschließenden Debatte (vgl. A GAMBEN 2012; Bundeszentrale für politische Bildung 2011) hat die amerikanische Politologin Wendy B ROWN (2012: 57-63) fünf Prozesse identifiziert, die zu einer „Entdemokratisierung“ der liberalen bürgerlichen Demokratie des Westens führten: (1) Herrschaft des Kapitals * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Malte B RINKMANN , Humboldt-Universität zu Berlin, Allgemeine Erziehungswissenschaft, Institut für Erziehungswissenschaft, Unter den Linden 6, 10999 B ERLIN . E-Mail: malte.brinkmann@hu-berlin.de Arbeitsbereiche: Bildungs-, Lern-, Übungstheorien, videographische Unterrichtsforschung, Phänomenologische Erziehungswissenschaft Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht 89 47 (2018) • Heft 1 über die Politik; (2) Ablösung der demokratischen durch die neoliberale Rationalität, die sich nunmehr an Effizienz und Effektivität statt an Diskursen und Argumenten orientiert; (3) Erosion der nationalstaatlichen Souveränität durch die Globalisierung; (4) Verrechtlichung der Politik durch zunehmende gleichsam legislative Macht von nationalen und internationalen Gerichten sowie (5) Erosion der nationalstaatlichen Souveränität durch die Globalisierung. Auch die Schule steht aktuell unter dem Titel „Inklusion“ als Ort der Reproduktion gesellschaftlicher Funktionen und Formationen sowie aufgrund ihrer exkludierenden Struktur in der Kritik (vgl. A HRBECK 2016). Die Apologien der Schule, die mittlerweile auftauchen (vgl. M ASSCHELEIN / S IMONS 2013; R EICHENBACH 2013), richten sich gegen aktuelle Tendenzen, die sie als Delegitimierung und Entprofessionalisierung der öffentlichen Schule beschreiben und die mitgängig zur medial inszenierten Schulkritik und Schulreform formuliert werden (vgl. P RECHT 2013). Reformpädagogisch orientierte Versuche, demokratische Strukturen, Gleichheit und Partizipation in der Schule einzuführen, geraten in das Spannungsgefüge zwischen der selektiven Ordnung einer meritokratischen Gesellschaft und den auf Emanzipation und Autonomie ausgerichteten Zielen pädagogischen „Handelns“. So kommen in empirischen Studien die strukturellen Paradoxien einer „inszenierten Mitbestimmung“ (B UDDE 2010) von demokratischen Verfahren wie jener des Klassenrates (vgl. DE B OER 2006) oder der Schülerselbstverwaltung (vgl. H ELSPER 1996) in den Blick, Verfahren mithin, die selbst unbeabsichtigte Effekte wie Exklusion und Selektion erzeugen können. Im Gefüge dieser Spannung geraten traditionelle normative Konzepte wie Partizipation und Inklusion in die Gefahr, zur feiertagsrednerischen Beschwörungsformel zu verkommen. Bleiben sie auf der Ebene der „Pathosformeln“ (vgl. R IEGER -L ADICH 2002), können sie weder die Komplexität schulischen Unterrichts noch das Verhältnis von Schule, Staat und Gesellschaft angemessen einfangen. Dazu bedarf es einer genaueren pädagogischen Bestimmung der Relation von Bildung und Politik. 2. Bildung und Politik Die grundlagentheoretische Reflexion auf das Verhältnis von Schule, Staat, Gesellschaft und Individuum, das heißt auf der Relation von Pädagogik und Politik, hat frühe Wurzeln. Wilhelm von H UMBOLDT entwirft in seiner im Jahr 1792 verfassten Schrift Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1960a) die grundlegenden Gedanken, dass Bildung weder durch Herkunft oder Anlagen determiniert noch einseitig auf die politischen Ziele des Staates oder die gesellschaftlichen Funktionen der Gesellschaft orientiert werden dürfe. An die Stelle des zuvor dominierenden Duals von Mensch und Bürger bzw. Einzelnem und Staat tritt bei Humboldt das komplexe Verhältnis bürgerlicher Gesellschaften zwischen Individuum, Staat, Gesellschaft und Nation (vgl. B ENNER 1995). Bildung 90 Malte Brinkmann 47 (2018) • Heft 1 wird als Transformation bestimmt und maßgeblich an die Sprache als Medium und Stoff der Bildung gebunden. H EGEL kann an diese Gedanken anschließen und den Transformationscharakter pädagogischen Handelns in der Schule genauer bestimmen (vgl. zum Folgenden: B RINKMANN 2017a). In seinen Nürnberger Schulreden bestimmt er die Schule als „Mittelsphäre“ (H EGEL 1986: 349), die zwischen der „Familie und der wirklichen Welt“ (ebd.: 348) steht. Die besondere Sphäre der öffentlichen Institution Schule zwischen Familie und Gesellschaft hat ihre eigene Handlungslogik hervorzubringen. Diese besteht darin, familiale und gesellschaftliche Fragen des Rechts, der Ökonomie, der Geschlechter, der Religion und der Kunst in pädagogische Fragen zu transformieren. Denn die Schule hat in der bürgerlichen Gesellschaft eine staatliche Aufgabe zu erfüllen, nämlich in die „wirklichen Verhältnisse“ (ebd.) pädagogisch einzuführen. Schulische Inhalte sind abstrakte Symbolsysteme, Kulturtechniken, Wissensformen und Reflexionsweisen wie etwa Schriftsprache, Mathematik, naturwissenschaftliche Grundkenntnisse, Geschichte oder Fremdsprachen und auch sozialer Umgang. Diese lassen sich gerade nicht im unmittelbaren Gebrauch und Umgang erlernen (vgl. B ENNER 2003). Die Schule bringt daher ihre eigene natürlich-künstliche Lebenswelt hervor. Als Sphäre zwischen Kind, Familie und Gesellschaft sind ihre Akteure, die Lehrpersonen wie auch die Lehrmittel, „Amphibien“ (L ANGEVELD 1966: 53). Unterricht hat demzufolge einen künstlichen, inszenatorischen Charakter. Zu unterrichten bedarf einer besonderen Kunst der Vermittlung dieser Differenz zwischen Lebenswelt und künstlicher Schulwelt (vgl. B RINKMANN 2017a). Bildung, Politik, Staat und Schule stehen so gesehen in einem nicht-teleologischen und nicht-hierarchischen Verhältnis zueinander. Sie müssen ohne Rückgriff auf absolute und transzendentale Begründungsfiguren legitimiert werden, wobei diese Legitimationen selbst geschichtlich und kulturell unter Bedingungen von Relativität und Pluralität ausfallen. Mit dem „Einbruch der Geschichte“ (F OUCAULT 1974) wird die Erfahrung in der Moderne und Postmoderne von Kontingenz, Relativität und Pluralität bestimmt. Es müssen jeweils neue, vorläufige Legitimationen für Bildung, Gesellschaft, Gemeinschaft und Unterricht gefunden werden. Die wissenschaftliche Pädagogik als eigenständige Disziplin kann sich nicht mehr auf aus anderen Disziplinen „importierte“ oder politisch verordnete Vorgaben verlassen. Sie muss selbst bestimmen, was als pädagogisch gilt und welche Ziele pädagogisches Handeln erreichen soll. Damit kommt die Eigenlogik und Eigenständigkeit pädagogischen Handelns und pädagogischer Institutionen in den Blick. Die freiheitliche Demokratie ist die einzige unter den bekannten Staatsformen, deren Prinzipien es nicht zulassen, Lebensformen von Menschen zu normieren und Pädagogik durch normative Setzung von Erziehungszielen zu einem angewandten Teil der Politik zu machen (vgl. B ENNER 2001). Pädagogisches Handeln muss daher von anderen gesellschaftlichen Praxis- und Wissensformen unterschieden und in ein reflexives Verhältnis gesetzt werden. Ich möchte im Folgenden die These vertreten, dass sich Bildung und Erziehung zur Demokratie nicht auf Kenntnisse des politischen Systems, ja noch nicht einmal Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht 91 47 (2018) • Heft 1 auf politische Bildung beschränken lassen. In der Postmoderne treten dezentrierende Erfahrungen der Fremdheit, Andersheit, des Miss-Verstehens und des Konflikts in den Mittelpunkt. Zu fragen ist daher zum einen, wie diese Differenzen im Sinne einer postdemokratischen Theorie einzufangen sind und zum anderen, wie diese im Medium der Sprache und des Leibes erfahren und pädagogisch fruchtbar gemacht werden können. Mit N ANCY (1988, 2000, 2004, 2012) möchte ich zeigen, dass Demokratie als Weise des Mit-ein-ander-seins ontologisch aller Kommunikation, allen gesellschaftlichen Institutionen und Praxen vorausliegt. Wird das Pädagogische als Teil des Sozialen gesehen und von anderen gesellschaftlichen Praxen und Wissensformen unterschieden, können neue Perspektiven auf Bildungsprozesse erzeugt werden. Mit H UMBOLDT s (1960a, b, c, 1963) Theorie der sprachlich fundierten Bildung und den Begriffen der Entfremdung und des Nicht-Verstehens lässt sich Sprachenbildung als Mitteilung im Anspruch vom Anderen sowie im Gegenanspruch des Anderen bestimmen. Mit der Öffnung hin zum sprachlich und leiblich Fremden kann eine „Erweiterung der Weltansicht“ (H UMBOLDT ) stattfinden. Für die Sprachenbildung möchte ich im Folgenden zeigen, dass gerade der Doppelaspekt von Sprache als gesprochener Sprache, die sich auf ein Zeichensystem bezieht, einerseits und leiblich exponierender Ausdruck andererseits durchaus produktiv ist. Im Fremdsprachenerwerb fordert der leiblich wie zeichenhaft geäußerte Anspruch des Fremden das Eigene in Antworten heraus. Ich werde zunächst die grundlagentheoretischen Überlegungen von Wilhelm von H UMBOLDT zum elementaren Zusammenhang von Bildung, Sprache und Denken darstellen (Abschnitt 2). Danach werde ich aus der Perspektive aktueller subjektkritischer und sozialtheoretischer Positionen in der Erziehungswissenschaft zwei Abgrenzungsbewegungen zu H UMBOLDT s idealistischer Perspektive thematisieren, die sich mit den Konzepten von Autonomie, Mündigkeit und Negativität verbinden (Abschnitt 3). Im daran anschließenden zweiten Teil des Beitrags wird zunächst die radikale Demokratietheorie Jean-Luc N ANCY s vorgestellt, die das Mit-sein der Gemeinschaft als Mit-teilung und Ausgesetztsein bestimmt (Abschnitt 4). Schließlich wird der Versuch unternommen, (Fremd-)Sprachenbildung als Mit-teilung zwischen Eigenem und Fremden demokratietheoretisch zu bestimmen (Abschnitt 5). 3. Bildung und Sprache bei Wilhelm von H UMBOLDT H UMBOLDT reagiert mit seiner Bildungstheorie auf den Wandel von der geschlossenen zur offenen Gesellschaft (vgl. H UMBOLDT 1960c). Die Grundlagen der Bildungstheorie Wilhelm von H UMBOLDT s liegen in den Pluralitäts- und Kontingenzerfahrungen der Moderne. Alle überkommenen Bestimmungen des Menschen, sowohl individuelle wie allgemeine, sind hinfällig geworden. Es gibt keinen universalen Maßstab von Bildung (vgl. H UMBOLDT 1960b: 234f.). Der Mensch muss sich vielmehr seine Bestimmung selbst geben: Bildung ist damit zuerst Selbstvergewisserung und Selbstbildung. Grundkategorie von H UMBOLDT s dynamisiertem Men- 92 Malte Brinkmann 47 (2018) • Heft 1 schen- und Weltbild ist die Wechselwirkung. Menschliche Spontaneität steht in Wechselwirkung mit seiner Empfänglichkeit (vgl. ebd. 235f.). Der Mensch muss sich mithin Ziel und Sinn seines Lebens selbst suchen. Er kann diese Aufgaben übernehmen, weil er bildsam ist, das heißt, er kann sich in Wechselwirkung von Spontaneität und Rezeptivität entwerfen, sich Ziele geben und Welt aneignen, mit anderen Worten: sich bilden. Bildung ist damit prinzipiell unabschließbar und offen, teleologisch unbestimmt. In ihr kann weder das Subjekt mit sich selbst identisch werden, noch das Subjekt mit der Welt zusammenfallen, da sonst die prinzipielle Unterschiedenheit von Selbst und Ich, von Mensch und Welt eingeschliffen wäre. Bildung ist nach H UMBOLDT die „höchste und proportionirlichste“ Entfaltung aller menschlichen Kräfte (H UMBOLDT 1960a: 64) unter der Voraussetzung, dass eine „Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ stattfindet (H UMBOLDT 1960b: 235f.). Kriterium der bildenden Wechselwirkung ist der Begriff von Entfremdung. Weil sich der Mensch bildend in die Welt entäußert und sich Welt aneignet, läuft er Gefahr, sich „in dieser Entfremdung zu verlieren“ (H UMBOLDT 1960b: 64f.). Bildung ist daher negativ bestimmt. Sie ist notwendig Entfremdung in und durch die Welt und zugleich Rückgang aus der Entfremdung. In diesem Rückgang konstituiert sich das autonome Individuum, indem es sich das Fremde bildend aneignet und es damit zu einem Teil des Selbst werden lässt. Das autonome Individuum ist somit Fundament und zugleich Ziel des Bildungsprozesses. Aber die Ent-Entfremdung ist nicht grundsätzliche Aufhebung der Entfremdung. Denn bildend kann nur etwas wirken, was fremd und unbekannt, ungewiss und unverfügbar ist, was den Menschen aus sich selbst herausführt. In bloßer Identität mit sich selbst könnte sich der Mensch nicht bilden, könnte nicht nach seiner Bestimmung fragen. In reiner Identität mit der Welt könnten keine Erfahrungen gemacht werden (vgl. B ENNER 2003: 104). Bildung ist also Neu-Erfahrung durch Aneignung von Welt und zugleich fortschreitende Entfremdung in die Welt. H UMBOLDT s Bildungstheorie ist aufs Engste mit seiner Sprachtheorie verbunden. Die bildende Wechselwirkung als Bildungsbewegung ist vornehmlich geprägt von und durch Sprache. Menschliche Welt und menschliches Weltverhältnis sind sprachlich bedingt. Es gibt daher für die Menschen keine außersprachliche Position. Sprache ist ergon (als Stoff und Material) und zugleich energeia (Kraft, Vollzug, Tätigkeit) (vgl. Menze 1980: 31). In jeder Sprache liegt „eine eigentümliche Weltansicht“ (H UMBOLDT 1963: 433f.). In jeder sprachlichen Mitteilung wird daher nicht nur etwas Bestehendes durch Sprache reproduziert und reaktualisiert; es kommt auch etwas Individuelles - des Sprechers, der Nation, der Ethnien - hinzu. Das Verhältnis des Menschen zur Sprache ist dabei ambivalent, indem die „Gewalt des Menschen“ über die Sprache der „Macht der Sprache“ über ihn entgegengestellt wird (H UMBOLDT 1963: 438f.). Sprache als Weltansicht hat nach H UMBOLDT eine subjektive (a), eine intersubjektive und differenzielle (b) und eine Perspektive für die Sprachenbildung (c). Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht 93 47 (2018) • Heft 1 a. H UMBOLDT s Sprachtheorie findet sich verdichtet in der Einleitung zu seinem Werk über das Kawi, eine der Hochsprachen Javas, mit dem Titel Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (H UMBOLDT 1963: 368-756). Dort schreibt er: „Sprache ist das bildende Organ des Gedankens (…) Subjective Thätigkeit bildet im Denken ein Objekt […] Hierzu aber ist die Sprache unentbehrlich. Denn indem in ihr das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugnis desselben zum eignen Ohre zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objectivität hinüber versetzt, ohne darum der Subjectivität entzogen zu werden. Das vermag nur die Sprache […]“ (ebd. 428f.). Im Denken stellen sich Vorstellungen dem Subjekt als Subjekt gegenüber. Das gelingt nur durch Sprache, weil in der Artikulation der Laute diese vom Subjekt vernommen werden können und so zu ihm zurückkehren können. Diese sprachlich bedingte und leiblich fundierte Reflexivität ist die Bedingung der Möglichkeit des Denkens, ein Apriori, das noch „vor aller Kommunikation“ erscheint (vgl. K OLLER 2003: 523). Das Sprechen der Sprache konstituiert damit einen Welt- und Mitbezug. Die Sprache ist damit als „historisches Apriori“ (F OUCAULT ) des menschlichen Welt-, Mit- und Selbstzugangs zu bezeichnen (vgl. B ENNER 2003: 128). In diesem bildenden Welt-, Mit- und Selbstverhältnis sind die Sinne nicht nur rezeptiv. Sie formen das Aufgenommene schöpferisch um und bringen es als Äußerung vor sich selbst. Denken ist inneres Sprechen und Sprache äußeres Denken (vgl. M ENZE 1980: 30). Sprechen lässt sich damit weder auf Informationsweitergabe reduzieren, noch ist Sprache universell. Sie ist vielmehr nur als individuelles Sprechen in actu möglich. H UMBOLDT erteilt damit abbildtheoretischen und nominalistischen Sprachtheorien eine Absage (vgl. B ENNER 2003: 127). b. Die intersubjektive Dimension der Sprache als bildendem Medium und Ausdruck einer Weltansicht kommt dann zum Tragen, wenn H UMBOLDT sein Gedankenexperiment in die empirische Wirklichkeit überträgt. „In der Erscheinung entwickelt sich jedoch die Sprache nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat. Denn die Objectivität wird gesteigert, wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde widertönt“ (H UMBOLDT 1963: 429). Die Objektivierung der subjektiven Vorstellung gelingt nicht nur dadurch, dass das Subjekt sie artikuliert. Sie gelingt auch und vor allem dadurch, dass die Vorstellung von einem Anderen ausgesprochen wird und durch ihn zum Subjekt zurückkehrt. Selbst-Verstehen und Fremd-Verstehen stehen also in einem Wechselwirkungsverhältnis. Im Fremd-Verstehen ereignet sich eine Entfremdung der subjektiven Objektivierungen. Gerade weil jeder seine eigene Sprache spricht und seine eigene Weltansicht artikuliert, ist „alles Verstehen […] immer zugleich ein Nicht-Verstehen“ (ebd. 439). Gerade das 94 Malte Brinkmann 47 (2018) • Heft 1 Nicht-Verstehen ist also die Bedingung der Möglichkeit von Verstehen (vgl. K OLLER 2003: 524). Selbst-Verstehen wird so nur über den Umweg des Fremd-Verstehens möglich. c. Diese differenzielle Dimension des Sprechens und der Sprachbildung im Horizont von Fremd-Verstehen und Entfremdung bedeutet nicht Assimilation oder Identifizierung von fremden und anderen Sprachen, Weltansichten und Menschen, sondern die „Kultivierung und das Fruchtbarmachen der Differenz“ (ebd. 527). Sprachenbildung bedeutet daher insbesondere das Erlernen „einer fremden Sprache als Gewinnung eines neuen Standpunktes in der bisherigen Weltansicht“ (H UMBOLDT 1963: 434) und damit die Transformation der eigenen Welt- und Selbstbezüge. Der Mensch lernt damit nicht nur einen neuen Stoff (die fremde Sprache), sondern er erhält damit auch eine neue Weise des Welt- und Selbstzugangs. Sprachenlernen im Sinne H UMBOLDT s als Erwerb einer neuen Weltansicht hat daher nicht nur für eine Theorie der interkulturellen Bildung große Bedeutung (vgl. K OLLER 2003). H UMBOLDT s Bildungstheorie kann auch und vor allem der (Fremd-)Sprachenbildung eine bildungstheoretische Grundlage geben. 4. Das Subjekt der Bildung: Negativität und Sprache Mit dem in der Postmoderne radikalisierten Transformationsgedanken gehen im aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskurs zwei folgenreiche Abgrenzungsbewegungen gegenüber traditionellen Vorstellungen von Bildung und Erziehung einher: Zum einen sind die Ziele Emanzipation und Autonomie problematisch geworden. Statt „monarchistisch“ geleiteter Selbstvorstellungen wird von einem pluralistischen, differenten und dezentrierten Selbst ausgegangen (R EICHENBACH 2001: 443), das wesentlich von Fremdheit und Andersheit bestimmt ist (vgl. L IPPITZ 2007). Bildungstheorien müssen reflektieren, dass das Selbst weder seine Fundamente in einer allumfassenden, logozentrischen Vernunft noch in einer humanistischen Tradition oder seiner eurozentrischen Geschichte finden kann. Emanzipation und Mündigkeit werden zu „Pathosformeln“ (R IEGER -L ADICH 2002), Autonomie zur Illusion (vgl. M EYER -D RAWE 2000). Bildung darf daher weder Andere und Fremde noch die eigenen, pluralen und differenten Teile des Selbst im Zeichen einer identifizierenden Vernunft kolonisieren (vgl. R EICHENBACH 2001: 443). Zusammen mit der Kritik an den metaphysischen Grundlagen des traditionellen Bildungskonzepts - dem Konzept einer universalen bzw. transzendentalen Vernunft, einer universalen „Idee der Menschheit“ sowie des Menschlichen (vgl. B RINKMANN 2017b) - wird Kritik an dessen individualistischen Fundamenten laut. Traditionelle Bildungstheorien können - darin besteht weitgehend Einigkeit im Diskurs der Bildungstheorie und -philosophie - die sozialen und gesellschaftlichen Grundlagen nicht angemessen erfassen (vgl. B RINKMANN 2016a). So findet momentan in der Er- Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht 95 47 (2018) • Heft 1 ziehungswissenschaft eine Verschiebung von der individualtheoretischen zu einer sozialtheoretischen Orientierung statt. Es wird davon ausgegangen, dass nicht nur voneinander oder vom Anderen etwas gelernt wird, sondern auch vor Anderen etwas voneinander gelernt wird - auch wenn diese nur imaginär anwesend sind (vgl. B EDORF 2010; R ICKEN 2013; B RINKMANN 2016b). Macht, Anerkennung, Subjektivierung und Andersheit werden zu wichtigen Begriffen im Diskurs aktueller Bildungstheorie (vgl. B RINKMANN 2016a). Bildung ist damit nicht mehr am Begriff der Identität (im Sinne von Selbigkeit und Einheitlichkeit) zu denken. Stattdessen kommen Brüche, Irritationen und Enttäuschungen im Prozess der Bildung und des Lernens in den Blick. Die widerständigen und passiven Aspekte werden in neueren Lern- und Bildungstheorien unter dem Titel „negative Erfahrungen“ verhandelt. Sie gelten als konstitutive Momente von Bildungs- und Lernprozessen. Negativität ist hier nicht im landläufigen Sinn als etwas Schlechtes, Lästiges oder Gefährliches zu verstehen. Durch Irritationen, Enttäuschungen, Missverstehen, Scheitern und durch Fehler wird vielmehr ein Suchen, Fragen, Probieren oder Forschen angeregt (vgl. B ENNER 2005). Negative Erfahrungen sind daher bedeutsame Anlässe für Lernen und Umlernen (vgl. M EYER -D RAWE 2008; R ÖDEL 2017). Ein nicht gelöstes Problem, eine nicht beantwortete Frage, ein irritiertes Wundern und Staunen kann das schon vorhandene „positive“ Wissen und Können herausfordern. Nach B UCK (1989) kann es in der negativen Erfahrung zu einer Umwendung und Umstrukturierung des Erfahrungshorizontes und damit zu einer bildenden Erfahrung kommen. Als Krisenerfahrungen sind sie zudem ein wichtiges Element in biographischen Bildungsprozessen, in denen Selbst- und Weltverhältnisse transformiert werden (K OLLER 2012). Trotz der m.E. berechtigten Kritik an H UMBOLDT s individualistischer Bildungstheorie und ihren anthropologisch-normativen Grundlagen (vgl. K OLLER 2012) lassen sich in grundlagentheoretischer Perspektive für das Verhältnis von Bildung und Negativität wichtige Einsichten ableiten: Entfremdung im Bildungsprozess und Nicht-Verstehen sind, wie gezeigt, bei H UMBOLDT wichtige Grundzüge. Als negative Erfahrungen gelten hier nicht nur jene, die im Sprachenlernen „gemacht“ werden, weil etwas nicht gewusst oder gekonnt wird. Die negative Erfahrung im Sinne von Entfremdung ist vielmehr die apriorische Bedingung der Möglichkeit von subjektivem Verstehen als Selbst-Verstehen und objektivem Verstehen als Fremd-Verstehen, weil alle Vorstellungen zum einen durch die Sinne und zum anderen durch Andere objektiviert werden müssen. Die Veränderung des Entäußerten durch das schöpferische „Einlegen von Sinn“ durch die Sinne und durch den Anderen bedeutet, dass Verstehen immer von einer Differenz begleitet wird, in der und mit der das Gesagte und Gedachte verfremdet wird. Das Verstehen ist auf das Nicht-Verstehen geradezu angewiesen, weil es nicht in Identifizierung, Kolonisierung und Universalisierung umschlagen darf. Daher ist Sprachenbildung vorzüglich auf die Mitteilung angewiesen, das heißt auf den je individuellen Austausch von Zweien oder mehreren. In der Hinwendung zum Anderen und im Anspruch vom Anderen sowie im Gegenanspruch des Anderen geschieht die Öffnung hin zum Fremden und damit das 96 Malte Brinkmann 47 (2018) • Heft 1 Durchbrechen der Isolation des Subjekts. Nur so kann eine Erweiterung der Weltansicht gelingen. H UMBOLDT s bildungstheoretische Grundlegung kann daher auch als Grundlage einer Sprachenbildung und einer Bildungsgemeinschaft im Horizont von Sprache, Differenz und Heterogenität gelesen werden. Letzterer Punkt macht H UMBOLDT s Sprachtheorie für eine Theorie der pädagogischen Gemeinschaft und der demokratischen Bildung interessant. 1 Im Folgenden soll zunächst die Perspektive auf den Zusammenhang von Gemeinschaft und Demokratie mit dem französischen Philosophen Jean-Luc N ANCY vertieft werden. N ANCY gilt als einer der profiliertesten Vertreter einer an D ERRIDA und H EIDEGGER orientierten dekonstruktiven Philosophie, die sich dem durch totalitären Gebrauch belasteten Begriff der Gemeinschaft widmet und einen radikalen Versuch unternimmt, Demokratie neu zu denken. Danach werde ich wieder H UMBOLDT aufgreifen und versuchen, Sprachenbildung bildungstheoretisch und demokratietheoretisch als Mit-teilung zwischen Eigenem und Fremdem zu bestimmen. 5. Singulär plural sein - Gemeinschaft und Demokratie bei N ANCY Die Kritik am Individuum und Subjekt mit dem Befund der Risshaftigkeit, Brüchigkeit und Pluralität des Subjekts sowie die Kritik an Identität, Autonomie und Emanzipation sind auch Ausgangspunkte aktueller sozialwissenschaftlicher und postdemokratischer Diskurse (vgl. L ACLAU / M OUFFE 2000; N ANCY 2004, 2008; R ANCIÈRE 2002; für die Erziehungswissenschaft vgl. R ICKEN 2006; S CHÄFER 2012; B IESTA 2009). Das Konzept des dezentrierten Subjekts lässt auch das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft radikal anders erscheinen. Das Subjekt wird nicht mehr wie in traditionellen Sozialisationstheorien der Gesellschaft gegenübergestellt und als Rollenträger identifiziert (vgl. F END 2006). Vielmehr wird eingestanden, dass das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst immer im Horizont des Sozialen stattfindet. Von den Anderen und dem Sozialen, von den Dritten und dem Dritten her, ergibt sich der Rahmen, in dem das Subjekt nach sich selbst fragt, sich konstituiert und unter dessen Bedingungen es wahrnimmt, handelt und urteilt. In den gesellschaftlichen Ansprüchen wird das Subjekt konventionalisiert, normalisiert und subjektiviert. Zugleich aber geht es in diesen Konventionalisierungen, Normalisierungen und Subjektivationen nicht auf. Es bleibt ein Moment der „Singularität“ (R ICKEN 2013: 29), in der sich die Differenz zwischen dem Individuum und dem Sozialen als ein Zwischenraum anzeigt. Das Subjekt antwortet auf Ansprüche und Normen des Sozi- 1 Bisher wurde H UMBOLDT s Bildungs- und Sprachtheorie entweder hermeneutisch (M ENZE 1965), transzendentalphilosophisch (B ENNER 2003) oder differenztheoretisch (K OLLER 2003) ausgelegt. Arbeiten zum Verhältnis von Bildung und Politik beschränken sich bisher auf die politischen und bildungspolitischen Schriften H UMBOLDT s (vgl. B ENNER 2003: 47-76; M ENZE 1975). Die politische Bedeutung der Sprachenbildung bei H UMBOLDT unter den Bedingungen von Differenz und Negativität wurden bisher noch nicht thematisiert. Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht 97 47 (2018) • Heft 1 alen, ohne dass diese Antworten vollständig in diesem aufgingen, ohne dass sich eine bruchlose „soziale Identität“ konstituierte. Gesucht wird in diesen sozialtheoretischen Diskursen nicht nur nach neuen Konzepten, mittels derer sich diese Erfahrungen des Subjekts erfassen ließen - Subjektivation, Anerkennung, Responsivität -, gesucht wird auch nach Konzepten, mittels derer sich das Soziale diesseits des Gegensatzes von Gesellschaft und Gemeinschaft erfassen ließe. Jean-Luc N ANCY hat in seiner Philosophie die Gemeinschaft als jenes Zwischen bzw. als jene Differenz beschrieben, die das Mit-einander-sein als singulär-pluralsein mitkonstituiert. Das Wie der Gemeinschaft in Staat, Volk, Nation, Klasse und Schule wird aus der Entgegensetzung zur Gesellschaft herausgeholt, ohne Gemeinschaft romantisch, idealistisch oder totalitär misszuverstehen (vgl. S CHÄFER 2012: 125). Gemeinschaft wird zunächst dekonstruktiv als „entwerkte (désoeuvrée)“ Gemeinschaft gesehen, womit eine Kritik an romantischen Vorstellungen von Gemeinschaft (R OUSSEAU ), an den an Produktion orientierten „totalen“ Vorstellungen des Kommunismus wie auch an den rassistischen Vorstellungen der Volksgemeinschaft verbunden ist (N ANCY 2015: 54f.; 59f.). N ANCY s in Anlehnung an H EIDEGGER entwickelte Ontologie des Mit-seins versucht das Mit, in dem mitgeteilt wird, im Gemeinschaftlichen des „Kommunismus (commune)“ „wiederzufinden“ (N ANCY 1988: 11). Mit-sein erhält eine existenziale bzw. ko-existenziale Bedeutung: „Die Dinge sind nicht nur nebeneinander, sondern treten in eine Beziehung; es bildet sich ein Sinnzusammenhang, der freilich keine konkrete Gestalt und keine Autonomie hat, aber es findet eine Zirkulation statt zwischen den Elementen“ (N ANCY 2015: 62). Das Commune des Mit- und Gemeinsam-seins wird gegen Harmonie, Einheit und Totalität abgegrenzt. Gemeinschaft ist daher nichts Festes, Vorliegendes, Bestehendes, sie ist „weder ein herzustellendes Werk, noch eine verlorene Kommunikation [...], sondern der Raum selbst, das Eröffnen eines Raums der Erfahrung, des Draußen, des Außer-Sich-Sein(s)“ (N ANCY 1988: 45). Gemeinschaft ist also ein Zwischen: das, was das Subjekt individualisiert und zugleich im Mit-sein der Individuen das Soziale konstituiert. Pluralität und Singularität sind in diesem Geschehen zwei Momente einer Differenz. Sie konstituieren sich gegenseitig, ohne dass sie einen Ursprung, eine Einheit oder eine Identität vorweisen könnten. In diesem Zwischen konstituiert sich eine „plurale Ontologie“ (N ANCY 2004: 12), in der das Sein „nur als mit-ein-ander-seiend sei, wobei es Mit und als das Mit dieser singulär-pluralen Ko- Existenz zirkuliert“ (N ANCY 2004: 21, Herv. i.O.). Das Mit-sein konstituiert sich performativ in der Mit-teilung, die auch als exponierende Antwort auf die gesellschaftliche „Frage, Erwartung, Ereignis, Aufforderung“ zu verstehen ist (N ANCY , 1988: 33). N ANCY bestimmt die Singularität in der Mit-teilung als „Expeausition“ - ein Wortspiel, das sowohl die Haut (peau) als auch Position beinhaltet und auf den körperlich-leiblichen Charakter des Mit-seins als ontologischem Fundament verweist (vgl. N ANCY 2000/ 2014: 36; 147). Mit der Expeausition des Subjekts im Mit-sein kommen so Affizierbarkeit, Berührbarkeit 98 Malte Brinkmann 47 (2018) • Heft 1 und Verletzlichkeit der Körper in den Blick - eine Perspektive, die N ANCY in leibphänomenologischer Tradition thematisiert (vgl. B RINKMANN 2017d) und die sich mit B UTLER s ebenfalls ontologischem Begriff der Prekarisierung verbinden lässt (vgl. M AGYAR -H AAS 2016: 123). Demokratietheoretisch wird bei N ANCY der Begriff der Demokratie auf die Gemeinschaft, auf das Mit-sein, ausgeweitet und ontologisiert. 2 Politik wird unter die Maßgaben des Gemeinschaftlichen gestellt und damit ihre Reichweite und ihre „Gewalt“ eingeschränkt (N ANCY 2012: 88). Politik darf nicht andere Praxen des Zusammenlebens homogenisieren und kolonisieren. Vielmehr hat sie diese Praxen zu ermöglichen: „Die Politik muss die Form des Zugangs zu einer Öffnung der anderen Form bereitstellen. […] Sie muss unentwegt neue Möglichkeiten zur Entstehung von Formen oder Ordnungen des Sinns schaffen. Dafür darf sie sich selbst nicht […] als Form herausbilden: Die anderen Formen oder Ordnungen umfassen nämlich Zwecke, die Selbstzwecke darstellen (Künste, Sprache, Liebe, Denken, Wissen [und so kann man ergänzen: Bildung, MB]“ (N ANCY 2012: 87f.). In einer Demokratie lassen sich pädagogische Ziele daher nicht aus - für sich genommen legitimen - Ansprüchen anderer gesellschaftlicher Praxen und Systeme (Ökonomie, Kunst, Medien, Religionen, Politik) ableiten (vgl. F INK 1970). Bildung und Pädagogik müssen vielmehr als eigenständige Praxis- und Wissensbereiche von anderen gesellschaftlichen Praxis- und Wissensbereichen unterschieden werden. Bildung und Schule dürfen nicht durch normative Setzungen von Unterrichtszielen aus dem Politischen, Ökonomischen, Ästhetischen oder Religiösen zu einem angewandten Teil der Politik gemacht werden (H UMBOLDT 1960a; B ENNER 2001). Vielmehr muss die Eigenlogik pädagogischen Denkens und Handelns herausgestellt und nach seinem spezifischen sozialen Mit-einander-seins gefragt werden. Demokratiebildung lässt sich daher nicht in Bezug auf eine Staatsform oder deren Kenntnisse und auch nicht in Bezug auf eine Lebensform (vgl. D EWEY 2004) legitimieren, deren kleinste Einheit die Schule wäre (die sog. „Embryonic Society“ nach D EWEY ). Vielmehr liegt Demokratie als Weise des Mit-ein-ander-seins ontologisch allen Kommunikationen, allen gesellschaftlichen Institutionen und Praxen voraus, indem sie sowohl das Singuläre als auch das Soziale aus einer Differenz entstehen lässt. N ANCY kommt damit zu einem ähnlichen Ergebnis wie schon H UMBOLDT vor ihm: Bildung und Erziehung zur Demokratie können sich daher nicht auf Kenntnisse des politischen Systems und nicht auf politische Bildung beschränken. Das Modell des dezentrierten Subjekts lässt konventionelle Versprechen der Pädagogik (vgl. S CHÄFER 2012) und ambitionierte Programme fragwürdig erscheinen, die auf der „Versöhnung“ von Individuum und Gemeinschaft, auf „Vermittlung“ von kulturellem Wissen, sozialen Normen und sozialer Identität, auf „Vorbereitung“ der Edukanden für eine ungewisse und kontingente Zukunft im Schonraum des 2 Dieses Politik- und Demokratie-Verständnis hat N ANCY auch viel Kritik eingebracht, vgl. M AGYAR - H AAS 2016: 21; B USCH 2012: 239. Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht 99 47 (2018) • Heft 1 Pädagogischen zielen. Das Pädagogische als Teil des Sozialen zu sehen und darin die Konstitution von Subjektivität als gebrochenes und fragiles Verhältnis zu sich selbst im Angesicht und in Antwort auf Andere und Anderes zu sehen - das ermöglicht eine neue Perspektive auf Subjektivierungsprozesse, die weder in Unterwerfung noch in Befreiung und Reflexion aufgehen, das heißt auf die Relationen dieser Konstitutionsprozesse innerhalb des Sozialen. Damit kommt das Soziale der pädagogischen Ordnung ebenso in den Blick wie das Singuläre der antwortenden, sich exponierenden Subjekte. 6. Sprachenbildung als Mit-teilung zwischen Eigenem und Fremdem Mit der Perspektive auf Leiblichkeit und Körperlichkeit wird Sprache nicht nur sprachtheoretisch als Symbolsystem, sondern als Ausdruck menschlicher Existenz thematisch. Sprache als „Weltansicht“ (H UMBOLDT ) meint sowohl den gesprochenen als auch den sinnlichen Ausdruck (vgl. B RINKMANN 2016b, 2017c). Das historische Apriori der Sprache als Bedingung der Möglichkeit von Selbst-, Mit- und Welt- Bezug wird damit radikalisiert: Die sprachlich bedingte und leiblich fundierte Reflexivität wird aus den transzendentalphilosophischen und anthropologischen Legitimationszusammenhängen H UMBOLDT s gelöst. Das hat zunächst eine Differenzierung zur Folge: Sprache als Ausdrucksmedium des Leibes, als Medium des In-der- Welt-seins und der Mit-teilung muss systematisch von der Sprache in Symbolsystemen unterschieden werden (vgl. B RINKMANN 2017c). Die phänomenologische Theorie des leiblichen, kinästhetischen Ausdrucks, die sich auf H EIDEGGER und M ERLEAU -P ONTY beruft, und die auch N ANCY zitiert (vgl. N ANCY 2000: 58f.), geht von einer doppelten Konnotation aus. Die Zeichenhaftigkeit des Sprechens (und Denkens sensu H UMBOLDT ) kann so von der Ereignishaftigkeit des Leiblichen (in der Expeausition der Mit-teilung sensu N ANCY ) unterschieden werden. Leiblicher Ausdruck, etwa im Zeigen, und sprachlicher Ausdruck, im Sprechen, gehören unterschiedlichen Registern an. Der Ausdruck des Leibes im Sinne der Expeausition rückt erstens die Sozialität der Mit-teilung im Angesicht von Anderen und zweitens mögliche Verletzlichkeiten, Irritationen und Miss- und Andersverstehen in den Vordergrund. Letztere sind Ereignisse, die die Normalisierungen des Sozialen unterlaufen. Leibliche Äußerungen setzen zwar ein kulturelles Symbolsystem voraus, in das sie sich einfügen. Der Körper und seine Materialität sind damit in die Normalisierung gesellschaftlicher und sozialer Ordnungen eingespannt. In der Singularität der Expeausition, im leiblichen Ausdruck ereignet sich aber etwas, das sich sowohl der symbolischen und diskursiven Dekodierung als auch der gesellschaftlichen Normalisierung entzieht, sich aber in der leiblichen Geste und in der Antwort des oder der Anderen darauf zeigt. 3 3 Ich habe unlängst versucht, diese ambivalente Struktur des Ausdrucks zwischen Sagen und Zeigen bzw. zwischen der Materialität des Körpers (im Zeichen gesellschaftlicher Normierungen, Symbolsys- 100 Malte Brinkmann 47 (2018) • Heft 1 Mit N ANCY und unter kritischer Aufnahme der bildungstheoretischen Einsichten H UMBOLDT s lässt sich ein anderer Blick auf Sinnverstehen und Sinnproduzieren (als Mit-teilen) und im Verhältnis von Fragen, Zeigen, Antworten und Exponieren im Unterricht werfen (vgl. B RINKMANN 2017c). Das Singuläre im Unterricht ließe sich als existenzielle bzw. koexistenzielle, zunächst nicht verbalisierbare, ereignishafte Erfahrung in einer pädagogischen Ordnung sehen, ohne diese Relation aber als „Widerstand“, „Opposition“ oder „Subversion“ identifizieren zu müssen. Vielmehr ist sie ein Teil des Sozialen und damit Teil des Unterrichts, der sich wie das Subjekt nicht mehr auf eine Einheit zurückführen lässt. Heterogenität ist damit nicht nur als Ansammlung von Unterschiedlichkeiten zu verstehen, sondern als dezentrierendes Moment eines Sozialen, das sich im Zwischen von Singulärem und Sozialem, zwischen Inklusion und Exklusion konstituiert. Dieses Zwischen als Zwischen der Körper und der Mit-teilungen wird im Unterricht als Antwortgeschehen zwischen Anspruch und Antwort kenntlich (vgl. B RINKMANN 2016b). Damit wird das Fremde als Nicht-Identifizierbares in den Antworten deutlich (vgl. W ALDENFELS 2006). Eine Weise der Erfahrung des Fremden ist das Nicht-Verstehen und Missverstehen. Die Negativität der Mit-teilung kommt so in den Blick - und damit die produktiven Chancen für Lernen und Bildung. Gerade in den Momenten der Singularität könnte sich ein Ereignis manifestieren, in dem eine bildende Erfahrung möglich wird, eine Erfahrung, die das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst und zu Anderen betrifft (vgl. B RINKMANN 2017c). Für die Sprachenbildung wäre also gerade der Doppelaspekt von Sprache als gesprochener und zeichenhafter Sprache einerseits und leiblich exponierendem Ausdruck andererseits durchaus produktiv. Im Fremdsprachenerwerb wird durch das Fremde der Fremdsprache das Eigene herausgefordert. Auf der Grundlage dieser Verschränkung von Eigenem und Fremdem lassen sich für eine Didaktik des Fremdsprachenverstehens zusammenfassend drei bildungs- und sozialtheoretische Perspektiven nennen: Fremdheit im Sprachverstehen wäre erstens in der anderen, sprachlich vermittelten Weltansicht aufzusuchen (sachliche Ebene), zweitens in der bildenden Entfremdungserfahrung im Prozess des Spracherwerbs (subjektive Ebene) und schließlich im leiblich-kommunikativen Antwortgeschehen im Unterricht (soziale Ebene). Auf allen drei Ebenen artikulieren sich negative Erfahrungen auf je unterschiedliche Weise: als Nicht-Verstehen oder Anders-Verstehen (sachliche Ebene), als Entfremdung (subjektive Ebene), als Expeausition und Ereignis (soziale Ebene). Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts wäre es, auf allen drei Ebenen Offenheiten für Mit-teilungen, Expeausitionen und Ereignisse zu bieten. Das erfordert Sensibilität und Achtsamkeit auf Seiten der Lehrpersonen für Brüche und Fremdheitserfahrungen, die sich nicht nur sprachlich, sondern auch leiblich, nicht nur individuell, sondern auch vor Anderen äußern (wie etwa in der Scham vor Anderen). Überhaupt können aus dieser Perspektive negative Lernerfahrungen - Enttäuteme und Dekodierungen) und seiner Performativität (des Leibes als Exposition und Ereignis) für eine pädagogische Theorie des Verstehens im Unterricht fruchtbar zu machen (vgl. B RINKMANN 2017c). Bildung, Sprache, Demokratie im (Fremdsprachen-)Unterricht 101 47 (2018) • Heft 1 schungen, Irritationen, Scheitern im Nicht-Wissen und Nicht-Können - eine produktive Bedeutung für Lehr-Lern-Prozesse entfalten. Über die vielbeschworene Fehlerkultur hinaus können sie auf der sachlichen, subjektiven und sozialen Ebene als konstitutiv für bildende Lernprozesse gelten, weil ohne sie eine Transformation des Eigenen im Angesicht des Fremden nicht möglich ist. Sie ermöglichen damit ein Fragwürdig-Werden des Eigenen, ein Staunen, ein Wundern, ein Fragen und ein Zweifeln. Sprechen im Horizont einer fremden Weltansicht wird so als andere, nicht identifizierbare und nicht-homogenisierbare Äußerung sichtbar. Diese lässt sich nicht „vermitteln“ und auch nicht „herstellen“. Sie lässt sich vielmehr anerkennen und - im oben dargestellten Sinne - verstehen. 4 (Fremd-)Sprachenunterricht aus sozial- und demokratietheoretischer Perspektive zu sehen bedeutet mit N ANCY , dass neben den Ergebnissen, dem Wissen und Können, die Prozesse und Erfahrungen im Unterricht bedeutsam werden. Unter Bedingungen von Kontingenz, Pluralität und Relativität kann Vermittlung anders bestimmt werden, nämlich als „Vermittlung eines gemeinsamen Suchens“ (F INK 1970: 147). Gemeinsam-Lernen als Mit-teilen wird damit als Fragen und Forschen wichtig. Am Anfang einer Verständigung über die gemeinsam erfahrene Situation oder über die vor Anderen sich ereignende Expeausition steht im Unterricht das Problem, dass Lernen nicht geradewegs beginnt oder stattfindet. Eine negative Erfahrung kann zwar durch Fragen und Zeigen, mit Unterrichtsmaterialien und in Aufgabenstellungen gezielt inszeniert werden (vgl. B RINKMANN 2012), sie bleibt aber an die Unverfügbarkeit der singulären Erfahrung gebunden. (Fremd-)Sprachenbildung als Mit-teilung zwischen Eigenem und Fremdem kann so als demokratisches Mit-ein-ander-sein bestimmt werden, in dem sprachliches und leibliches Missverstehen, Nicht-Verstehen und Anders-Verstehen Anfang gemeinschaftlichen Lernens werden kann. Literatur A GAMBEN , Giorgio / B ADIOU , Alain / Ž IŽEK , Slavoj / R ANCIÈRE , Jacques / N ANCY , Jean-Luc / B ROWN , Wendy / B ENSAÏD , Daniel / R OSS , Kristin (2012): Demokratie? Eine Debatte. Berlin: Suhrkamp. A HRBECK , Bernd ( 3 2016): Inklusion - Eine Kritik. 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