eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 47/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2018
472 Gnutzmann Küster Schramm

Digitale Differenzierung benötigt Informationen zu Sprache, Aufgabe und Lerner

121
2018
Detmar Meurers
Kordula de Kuthy
Verena Möller
Florian Nuxoll
Björn Rudzewitz
Ramon Ziai
flul4720064
© 2018 Narr Francke Attempto Verlag 47 (2018) • Heft 2 D ETMAR M EURERS , K ORDULA D E K UTHY , V ERENA M ÖLLER , F LORIAN N UXOLL , B JÖRN R UDZEWITZ , R AMON Z IAI * Digitale Differenzierung benötigt Informationen zu Sprache, Aufgabe und Lerner Zur Generierung von individuellem Feedback in einem interaktiven Arbeitsheft Abstract. While digitization is often linked to the promise of individualized learning support, current tools in foreign language learning fall short of delivering on this promise. We argue that for tools to provide valid individualized feedback to learners, it is essential for the computational methods to integrate the analysis of learner language with information about tasks and learners. Making the vision concrete, we present the intelligent language tutoring system FeedBook, which was developed to replace a traditional 7th grade English workbook. The system integrates task, learner, and language information to provide learners with immediate scaffolding feedback. The feedback is designed to incrementally guide a learner towards successful completion of exercises covering the lexical and grammatical concepts of the official school curriculum. In addition to fostering learning, interactive practice at home that is independent of parents also has the potential of reducing educational inequality. 1. Motivation Schülerinnen und Schüler (SuS) sprechen und schreiben im Fremdsprachenunterricht regelmäßig in der Fremdsprache, in der Klasse und bei Hausaufgaben, eine Anforderung, die in Deutschland auch Teil der KMK Bildungsstandards ist (z.B. KMK 2012: 16f.). Sprachlicher Output hat vielfältige Anlässe und Funktionen, von der Einübung sprachlicher Formen über bedeutungsbasierte Übungen bis zu funktionalen Aufgaben im Sinne eines task-basierten Lernens (vgl. E LLIS 2003). Für das Lernen spielt hierbei die Möglichkeit, Rückmeldungen zu Form, Inhalt oder Funktion der sprachlichen Äußerungen zu erhalten, eine besondere Rolle. Feedback hat einen sehr starken Einfluss auf das Lernen, insbesondere wenn es hilft, fehlerhafte Hypothesen zu erkennen und zu überwinden (vgl. H ATTIE / T IMPERLEY 2007). Die Education Endowment Foundation führt in ihrer Zusammenfassung der Evidenz im Bildungs- * Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Detmar M EURERS , Universität Tübingen, Seminar für Sprachwissenschaft, Wilhelmstraße 19, 72074 T ÜBINGEN (zusammen mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des T1 Transferprojekts „Feedbook“ im Sonderforschungsbereich SFB 833). E-Mail: detmar.meurers@uni-tuebingen.de Arbeitsbereiche: Computerlinguistik, Zweitspracherwerbsforschung, cf. http: / / icall-research.de Digitale Differenzierung benötigt Informationen zu Sprache, Aufgabe und Lerner 65 47 (2018) • Heft 2 bereich Feedback sogar als den stärksten Einflussfaktor auf das Lernen überhaupt auf. 1 In der Spracherwerbsforschung werden verschiedene Perspektiven zur Art der für den Fremdspracherwerb sinnvollen oder notwendigen Aufgaben und zur Art der Rückmeldungen vertreten - von einem grammatikzentrierten Focus-on-Forms- Ansatz (vgl. S HEEN 2005) über inhaltsorientierte Ansätze mit Incidental Focus-on- Form (vgl. D OUGHTY / W ILLIAMS 1998) und dem hierzu verwandten Noticing-the- Gap der Output Hypothesis (vgl. S WAIN 2005) zur Betonung der sozialen Interaktion als essentiellem Bestandteil des Lernens (vgl. L ANTOLF / T HORNE / P OEHNER 2015). Implizites oder explizites Feedback ist jedoch durchgängig zentral. Besonders effektiv ist schrittweises, formatives Feedback (vgl. S HUTE 2008), das als sogenanntes Scaffolding den Lernenden systematisch ermöglicht, Aufgaben erfolgreich zu bearbeiten, zu deren Lösung sie alleine noch nicht in der Lage wären, und die dabei relevanten sprachlichen Aspekte zu üben. In der Schulrealität ist es für Schülerinnen und Schüler (SuS) jedoch oft nur sehr eingeschränkt möglich, individuelles Feedback zu erhalten. Die wenigen Stunden des Fremdsprachenunterrichts werden für gemeinsame Aktivitäten in der Klasse oder in Gruppen benötigt, eine Besprechung der Hausaufgaben in der Klasse kann bei Aufgabentypen, zu denen die unterschiedlichen, von Schülern gewählten richtigen oder falschen Lösungsoptionen nicht eng begrenzt und offensichtlich sind, kaum auf individuelle Schwierigkeiten und Lösungsschritte eingehen. Sofern die SuS schriftliches Feedback auf ihre Arbeiten erhalten, erfolgt dies üblicherweise lange nachdem die SuS sich mit der Aufgabe selber beschäftigt haben und wirkt somit kaum unterstützend bei der Bearbeitung. Für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern ist dieser Mangel an individuellem Scaffolding besonders spürbar, da sie auch zu Hause kaum oder keine Unterstützung bei der Bearbeitung der Hausaufgaben erwarten können. Gerade für den Fremdsprachenunterricht ist die erfolgreiche individuelle Bearbeitung von Aufgaben, ob als Hausaufgaben oder in individuellen Arbeitsblöcken in der Ganztagsschule, aber prinzipiell von besonderer Bedeutung. Eine erfolgreiche kommunikative Verwendung der Fremdsprache in der Klasse setzt voraus, dass die SuS das jeweils benötigte Sprachmaterial soweit eingeübt haben und beherrschen, dass sie hinreichend flüssig und korrekt an der Kommunikation teilnehmen können. So werden auch im aktuellen Task-Based Learning (vgl. E LLIS 2003) systematisch die SuS durch Pre-Task Aktivitäten schrittweise darauf vorbereitet, die eigentliche funktionale Aufgabe (Task) erfolgreich angehen zu können. Solche Pre-Task Aktivitäten werden teilweise in den Unterricht integriert, allerdings spielen im Zweitspracherwerb bekanntermaßen individuelle Unterschiede zwischen den Schülern eine große Rolle (vgl. D ÖRNYEI 2005). Die unterschiedliche individuelle Sprachbegabung ist gerade auch im Schulalter ein wichtiger Faktor (vgl. L I 2015). Entspre- 1 https: / / educationendowmentfoundation.org.uk/ evidence-summaries/ teaching-learning-toolkit (31.05.2018). 66 Detmar Meurers et al. 47 (2018) • Heft 2 chend benötigen unterschiedliche SuS unterschiedlich viel Zeit für das Einüben von sprachlichen Formen und Ausdrucksmöglichkeiten. Hausaufgaben und ähnliche, eigenständige Arbeitsblöcke können prinzipiell Übungsmöglichkeiten bieten. Allerdings muss ihre Schwierigkeit dann so auf die individuellen Fähigkeiten abgestimmt sein, dass einerseits eine erfolgreiche Bearbeitung möglich ist, andererseits die Aufgaben auch hinreichend fordernd für einen Lernfortschritt sind. Aufgrund der großen individuellen Unterschiede zwischen den SuS wird dies jedoch selten der Fall sein, wenn die gleichen Aufgaben für die ganze Klasse aufgegeben werden und sie ohne individuelles Scaffolding Feedback bearbeitet werden müssen. Das soziokulturelle Konzept der Zone of Proximal Development (ZPD, vgl. A LJAAFREH / L ANTOLF 1994) verdeutlicht anschaulich diesen Bereich, in dem Lernende mit Hilfe von unterstützender Interaktion in der Lage sind, Aufgaben anzugehen, für die sie ihre Fähigkeiten erweitern müssen. A LJAAFREH / L ANTOLF (1994: 466) betonen in diesem Kontext, „adjustments [of feedback] cannot be determined a priori; rather, they must be collaboratively negotiated on-line with the learner“. Auch wenn man wohl annehmen kann, dass es einen gewissen Bereich gibt, in dem eine Schülerin 2 neue Aspekte des Sprachsystems und deren Verwendung ohne Scaffolding einüben kann, so ist dieser Bereich in jedem Fall weitaus schmaler, als wenn das Einüben gemeinsam mit einer unterstützenden Partnerin erfolgt. Aber wie sind adaptiv an das individuelle Lernerniveau angepasste Aufgaben mit direktem, unterstützendem Feedback in der Realität umsetzbar? Die Diskrepanz zwischen dem, was für ein effektives Lernen aufgrund der explizit gemachten, charakteristischen Eigenschaften des Fremdspracherwerbs sinnvoll wäre und was in der Schulpraxis mit den vorhandenen Personal- und Zeitressourcen möglich ist, hat einerseits zu professionellen Hausaufgabenhilfen und Tutorien geführt - diese können das systematische Problem jedoch nur punktuell adressieren. Andererseits ist es ein wesentliches Charakteristikum der Digitalisierung, dass digitale Materialien nicht statisch sein müssen. Sowohl die Auswahl als auch die Präsentation von Materialien können dynamisch und somit individualisiert erfolgen. Digitalisierung kann prinzipiell auch eine individuelle Interaktion mit den Materialien unterstützen, wobei hierzu vom Computer eine Analyse der Antwort und eine Generierung von Feedback zu leisten ist, die pädagogisch sinnvoll als Reaktion auf die konkrete Antwort reagiert und dabei sowohl die konkrete Aufgabe als auch den Sprachstand des individuellen Lernenden berücksichtigt. Sogenannte Intelligente Tutorsysteme mit einer solchen adaptiven und interaktiven Funktionalität sind für einige naturwissenschaftliche und mathematische Teilbereiche umgesetzt worden, und ihre Effektivität ist empirisch belegt (vgl. K ULIK / F LETCHER 2016), wobei die hohe Effektivität von sofortigem Feedback schon in den 90er Jahren in einer Meta-Studie nachgewiesen wurde (vgl. A ZEVEDO / B ERNARD , 1995). Zur Erstellung solcher Tutorsysteme müssen jedoch das für den gewählten 2 Wo eine geschlechterneutrale Formulierung umständlich ist oder die Lesbarkeit erschweren würde, wird in diesem Artikel meist die weibliche Form verwendet; die männlichen Referenten sind mitgemeint. Digitale Differenzierung benötigt Informationen zu Sprache, Aufgabe und Lerner 67 47 (2018) • Heft 2 Inhaltsbereich benötigte Domänenwissen und die möglichen richtigen und falschen Lösungsstrategien explizit kodiert werden, was einen entsprechend aufwändigen Prozess darstellt. Die Aufgabenformate sind so gewählt, dass die Analyse von geschriebener oder gesprochener Sprache hierbei systematisch vermieden werden kann, da ansonsten zusätzlich zur Modellierung des inhaltlichen Domänenwissens auch noch Sprache modelliert werden müsste, um die prinzipiell unendlich vielen sprachlichen Antworten und ihre Interpretation analysieren zu können. Aufgrund des durch sprachliche Antworten eröffneten unendlichen potentiellen Suchraums für mögliche Lösungen und der Schwierigkeit mit der automatischen, präzisen Interpretation von Sprache wird im Tutorsystemkontext Sprache oft als „ill-defined domain“ (L YNCH et al. 2006) charakterisiert. Entsprechend ist auch die Entwicklung von Tutorsystemen, die den Fremdspracherwerb unterstützen sollen - bei denen also nicht nur die Antworten sprachlich formuliert sind, sondern es auch um eine Sprache als die zu erlernende Domäne geht - nur wenig fortgeschritten. Hier dominiert die Grundlagenforschung, meist ohne Bezug zu realen Lernkontexten (vgl. H EIFT / S CHULZE 2007, 2015). Als Gegenstand der sich rasant entwickelnden, jungen Disziplin Computerlinguistik haben sich die Analysemethoden für Sprache allerdings in den letzten Jahren stark entwickelt. Charakteristisch für den Fremdsprachbereich ist jedoch, dass hier systematisch sprachliche Äußerungen analysiert werden müssen, die nicht der muttersprachlichen Verwendung von Sprache entsprechen, für welche die computerlinguistischen Analysemethoden entwickelt und optimiert werden. Anders als in den immer robuster werdenden computerlinguistischen Anwendungen, wie etwa Dialogsystemen im Auto, die trotz Störgeräuschen noch funktionieren, kann es bei Tutorsystemen im Fremdsprachbereich nicht darum gehen, sprachliche Fehler und Charakteristika der sprachlichen Entwicklung robust zu ignorieren - es handelt sich dabei ja gerade um die für das Feedback festzustellenden Eigenschaften. Die Lösung für das Problem, Sprache für Fremdsprachentutorsyteme so zu modellieren, dass eine reliable automatische Analyse zur Feedbackgenerierung möglich wird, liegt unserer Meinung nach darin, dass Eigenschaften der Aufgabe, die hier sprachlich erledigt wird, in die Analyse einfließen müssen. In M EURERS (2015: 4.1.1) formulieren wir das als Notwendigkeit, die Analyse zu fokussieren auf die „well-formed and ill-formed variability that is supported by different tasks“. Ein weiteres Stück relevanter Evidenz bietet sich in der (möglichst longitudinalen) Modellierung der Lernereigenschaften. Wie L ÜDELING (2008: 127ff) zeigt, ist es selbst erfahrenen Lehrpersonen nicht möglich, zu einer einheitlichen Interpretation von lernersprachlichen Texten zu kommen. Lehrende nutzen zur Interpretation einer sprachlichen Äußerung selbstverständlich Informationen zur Aufgabe und den individuellen Eigenschaften und der Entwicklung einer Schülerin. In gewissem Sinne ist es daher erstaunlich, dass die computerlinguistische Analyse von Lernersprache bislang systematisch nur die Schülerantwort selbst als Grundlage der Analyse verwendet hat. Während eine genauere Argumentation dieser Perspektive im nächsten Kapitel näher ausgeführt und in der Literatur verankert wird, wollen wir in diesem Artikel vor allem die Brücke schlagen zwi- 68 Detmar Meurers et al. 47 (2018) • Heft 2 schen den konzeptuellen Ideen und einer konkreten Umsetzung im realen Fremdsprachenunterricht. Bezugnehmend auf die digitale Unterstützung von Differenzierung als Themenschwerpunkt dieses Hefts ist Ziel unseres Artikels, die hier konzeptuell motivierte Vision von interaktiven, adaptiven Systemen für den schulischen Fremdspracherwerb zu konkretisieren. In Kapitel 2 betrachten wir zunächst als Kontext traditionelle Computer Assisted Language Learning (CALL)-Systeme und erklären exemplarisch anhand eines aktuellen Systems, inwiefern diese dem eingangs motivierten Einsatz nicht gerecht werden. Wir illustrieren, dass auch eine Erweiterung des Ansatzes durch computerlinguistische Methoden nur dann eine valide Analyse ermöglicht, wenn die Aufgabenstellung berücksichtigt wird. In Kapitel 3 stellen wir dann das FeedBook-System vor, ein interaktives Workbook für den Englischunterricht in der 7. Klasse. Neben der konkreten Illustration des interaktiven Feedbacks greifen wir die konzeptuelle Frage auf, welche Information für die Generierung von Feedback benötigt wird. Abschließend fasst Kapitel 4 die Vision einer digital unterstützten Differenzierung für den Fremdsprachenunterricht auf Basis einer computerlinguistischen Analyse, die Aufgaben und Lernereigenschaften integriert, zusammen und skizziert aktuelle Entwicklungsstränge. 2. Kontext Die Digitalisierung hat bereits seit den 1960er Jahren zur Entwicklung von CALL- Systemen geführt, die sprachliche Übungen bieten (vgl. L EVY 1997). In klassischen CALL-Systemen muss jede Aufgabe allerdings so kodiert werden, dass alle möglichen wohlgeformten und nicht wohlgeformten Antworten, auf die das System reagieren soll, explizit aufgelistet werden. Dies kann als explizite Auflistung geschehen oder in kompakter Form durch sogenannte „reguläre Ausdrücke“. 3 Das System modelliert Sprache nicht allgemein und es gibt kein separates Modell des Lerners oder des Lernens - alles muss explizit ausbuchstabiert werden für alle erwarteten Antworten und die Systemreaktion hierzu (vgl. M EURERS 2012). Sprache wird also nicht intensional, eigenständig charakterisiert, sondern tritt nur extensional in der Menge aufgelisteter sprachlicher Äußerungen in Erscheinung. Ein solches Vorgehen ist nur für relativ geschlossene Aufgabenformate realistisch umsetzbar, da ansonsten die möglichen Varianten korrekter Antworten und die möglichen Fehlertypen sich schnell exponentiell zu hunderttausenden Möglichkeiten ausmultiplizieren, was N AGATA (2009) anschaulich illustriert. Schon für Aufgaben zum Einüben von Formen sind alle (un)möglichen Antwortvarianten nur mit sehr großem Aufwand manuell auflistbar. Gänzlich undenkbar ist eine solche manuelle 3 Mit „ regulären Ausdrücken“ können Mengen von Zeichenketten kompakt beschrieben werden, so dass sie von einer Vielzahl von Programmen unterstützt werden. Zusätzlich zum Alphabet werden Operatoren wie das Fragezeichen für Optionalität oder der Stern für beliebige Wiederholungen einer Zeichenkette verwendet. Siehe https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Regulärer_Ausdruck (04.06.2018) Digitale Differenzierung benötigt Informationen zu Sprache, Aufgabe und Lerner 69 47 (2018) • Heft 2 Spezifikation für bedeutungsbasierte und aufgabenorientierte Aufgaben als zentrale Komponenten eines zeitgemäßen Fremdsprachenunterrichts. Hierzu müssten alle Formvarianten erkannt werden, die die relevanten Bedeutungen oder Funktionen realisieren können, so dass solche aktuellen Aufgabentypen sich in CALL-Systemen nicht realisieren lassen. Betrachtet man für die geschlossenen Aufgabenformate von verbreiteten CALL- Systemen die nach einer Eingabe erzeugten Systemrückmeldungen, so findet man systematisch nur einfaches wahr/ falsch-Feedback. In Abbildung 1 (  S. 70) hat zum Beispiel das kapiert.de-System falsche Antworten in rot markiert - egal, ob es sich um eine falsche Verdopplung eines Konsonanten (swimm) handelt, eine vergessene Verbpartikel (in), eine doppelte Vergangenheitsmarkierung (would began), oder eine eigentlich sogar mögliche Konjunktivform (were) handelt. Während die Meldung „Something is wrong here.“ offensichtlich keinen zusätzlichen Informationsgehalt bietet, sieht man bei dem ebenfalls angefügten „tipp“ erst auf den zweiten Blick, dass der Hinweis „Im Hauptsatz: would+infinitive” zu verwenden überhaupt nichts mit den konkreten Eingaben, den gemachten Fehlern und ihren Ursachen zu tun hat. Eine Schülerin kann bei Verwendung dieses Systems somit letztlich nur die Dinge üben, die sie prinzipiell schon kann - ein interaktives Scaffolding des Lernprozesses findet nicht statt. Relevant für die Diskussion hier ist, dass das Ausspezifizieren der möglichen Lernerfehlertypen und ihrer Kombination mit möglichen korrekten Antwortteilen für manche Aufgaben prinzipiell realisierbar wäre und so eine Systemantwort mit differenziertem Feedback für diese Fehlertypen (und auch der Aufbau eines expliziten Lernermodells zu Fehlern und Kompetenzen) denkbar wäre. Der Aufwand für solch eine Spezifikation ist jedoch sehr hoch und fällt für jede neue Aufgabe wieder an, da hier keine Schnittstelle zu einer Modellierung der Sprache oder der Lernenden existiert - es muss alles explizit für jede Aufgabe neu spezifiziert werden. Betrachtet man die sehr eingeschränkten möglichen Aufgabentypen, den hohen Aufwand für ihre Kodierung und die Beschränktheit von binärem Feedback, so ist es wenig verwunderlich, dass CALL-Systeme derzeit kaum in Schulen in Deutschland eingesetzt werden (wobei uns hierzu keine systematische Analyse der in deutschen Schulen genutzten Systeme bekannt ist und wir gerne Hinweisen auf Ausnahmen nachgehen). Für Intelligente Tutorsysteme und die oft Intelligent CALL (ICALL) benannte Erweiterung von CALL-Systemen mit einer Natural Language Processing (NLP)- Komponente zur automatischen Sprachanalyse sieht die Situation leider wenig vielversprechender aus - jedoch aus gänzlich anderen Gründen. Solche Systeme modellieren Sprache explizit durch automatische Wortartentagger und Parser zur Analyse der grammatischen Struktur und Relationen; sie können ggf. lexikalisch-semantische Relationen analysieren und Paraphrasen erkennen. Wie H EIFT / S CHULZE (2007) in ihrem breiten Überblick über eine Vielzahl von ICALL-Projekten ausführen, haben sich diese Projekte jedoch typischerweise exklusiv mit der NLP-Seite beschäftigt, meist ohne erkennbare Berücksichtigung von Erkenntnissen aus der Zweitspracherwerbsforschung oder der Fremdsprachendidaktik zu effektiven Aufgabentypen, 70 Detmar Meurers et al. 47 (2018) • Heft 2 Feedback oder zur Modellierung von Lernenden und Lernen. Entsprechend dem engen Fokus der meisten Forschungsprojekte in diesem Bereich wurden die entwickelten Algorithmen und Systeme bis auf ganz wenige Ausnahmen nie mit realen Lernenden oder authentischer Lernersprache getestet. Abb. 1: Typisches wahr/ falsch-Feedback in kapiert.de 4 Anders als bei den klassischen CALL-Systemen liegt das Fehlen von ICALL-Systemen in der Praxis nicht an einer grundsätzlichen Inkompatibilität des Ansatzes mit relevanten Aufgabentypen und geeigneter Lernermodellierung, sondern an der fehlenden Berücksichtigung von Erkenntnissen zu Aufgaben, Lernern und Feedback aus der Zweitspracherwerbsforschung und der Fremdsprachendidaktik beim Einsatz und der Weiterentwicklung von computerlinguistischen Analyseverfahren. Hier setzt unsere Forschung an. A MARAL / M EURERS (2011) charakterisieren grundsätzliche 4 https: / / www.kapiert.de (31.05.2018) Digitale Differenzierung benötigt Informationen zu Sprache, Aufgabe und Lerner 71 47 (2018) • Heft 2 Anforderungen für die Integration von ICALL in reale Lehr- und Lernkontexte und Q UIXAL / M EURERS (2016) arbeiten auf dieser Basis die Verbindung zwischen einem Aufgabendesign im Sinne des aufgabenorientierten Ansatzes und einer effektiven computerlinguistischen Analyse heraus. Die Relevanz und das Potential von expliziter Lernermodellierung wird thematisiert in A MARAL / M EURERS (2008). Schwierigkeiten bei der Interpretation von Lernersprache in einer computerlinguistischen Analyse im Gegensatz zur Konzeptionalisierung durch den Lerner werden in A MARAL / M EURERS (2009) charakterisiert und in M EURERS / D ICKINSON (2017) auf eine breitere Basis gestellt. Um den Anforderungen gerecht werden zu können, die aus der interdisziplinären Perspektive auf die Analyse von Sprache, Aufgaben und Lerner erwachsen, stellen A MARAL / M EURERS / Z IAI (2011) eine flexible Verarbeitungsarchitektur vor. Auf der konzeptionellen Seite zentral ist hierbei die Einsicht, dass eine valide Analyse von Lernerantworten alleine auf Basis der Antworten nicht möglich ist. Ein Beispiel wie (1) aus dem Hiroshima English Learners’ Corpus (HELC, M IURA 1998) ist zunächst ein augenscheinliches Gegenbeispiel. (1) I don’t know where he live. Der Satz scheint transparent interpretierbar, enthält aber einen offensichtlichen Kongruenzfehler (he live). Schon bei der Frage, welches Feedback hier angemessen ist, wird es jedoch ohne weitere Informationen schwierig: Wurde hier die falsche finite Verbform gewählt? Oder ist eigentlich ein pluralisches Subjekt, wie they intendiert? Ohne die Aufgabenstellung oder den (außer)sprachlichen Kontext zu kennen, über den hier gesprochen wird, ist das schwer zu entscheiden. Schließlich ist auch möglich, dass es sich bei live gar nicht um eine finite, sondern um eine morphologisch unmarkierte Form handelt, wie sie durchaus charakteristisch sein kann für bestimmte Fremdsprachlernende, in diesem Fall möglicherweise auch nur spezifisch für noch unverstandene abhängige Satzkonstruktionen. Für eine valide Interpretation der zugrundeliegenden Misskonzeption müssten wir letztlich mehr über diese Lernerin und den Lernverlauf wissen. Offensichtlicher wird die Problematik anhand der HELC-Beispiele in (2). (2) a. I don’t know b. I didn’t know c. I don’t know his lives. d. I know where he lives. e. I know he lived. f. I don’t know he is live. Jeder dieser Sätze ist für sich genommen wohlgeformt, so dass durch eine solche, rein sprachbasierte Analyse kein Feedback zu geben ist. Dass diese Analyse zu kurz greift, wird jedoch offensichtlich, wenn man berücksichtigt, dass diese Sätze alle Teil einer Übersetzungsübung sind und der zu übersetzende japanische Satz I don’t know where he lives. bedeutet. Mit dieser aufgabenspezifischen Information wird deutlich, 72 Detmar Meurers et al. 47 (2018) • Heft 2 dass die Lernenden hier unter anderem Schwierigkeiten mit der Negation und der Verwendung von do haben sowie semantisch verwandte Worte mit ähnlicher Form, wie das Verb to live, das Nomen life und das Adjektiv live, verwechseln. Für Lehrende mag das hier Ausgeführte offensichtlich sein - natürlich interpretieren sie eine Lerneräußerung im Kontext der gestellten Aufgabe und berücksichtigen dabei, was sie über die bisherige Entwicklung der Sprachfähigkeiten dieses Lerners wissen. Umso erstaunlicher ist es, dass automatische Analyseansätze systematisch nur auf Basis der Lerneräußerung, ohne Berücksichtigung von Aufgabe und Lernenden, vorgehen. Für eine reliable, valide Analyse von Lernersprache mit computerlinguistischen Methoden ist hier ein Umdenken erforderlich. Das im nächsten Kapitel beschriebene FeedBook-System geht hierzu je nach Aufgabentyp unterschiedlich vor. Während für ganz offene Aufgabenformate, für die letztlich beliebige, individuell unterschiedliche Inhalte zu analysieren sind, nur traditionelle Orthographie- und Grammatikanalysen verwendet werden, basiert bei geschlosseneren Aufgabenformaten die Analyse auf Musterlösungen der Aufgaben, auf die computerlinguistische Modelle von wohlgeformter und fehlerhafter Sprache angewandt werden. Entsprechend der Perspektive aus M EURERS (2015, 4.1.1) wird hier also der Suchraum definiert als die wohlgeformte und lernerspezifische Variabilität der Sprache, die aus einer gegebenen Aufgabe resultieren kann. 3. Feedback im interaktiven Workbook FeedBook Ausgangspunkt der FeedBook-Entwicklung im Rahmen eines DFG-Forschungstransferprojekts (2016-2019, http: / / feedbook.schule) mit der Westermann Gruppe war das gedruckte Workbook eines für den englischen Fremdsprachenunterricht an Gymnasien eingeführten Schulbuchs für die 7. Klasse, Camden Town Gymnasium 3. Aus dem gedruckten Workbook wurden 230 Aufgaben im digitalen FeedBook umgesetzt; die restlichen 36 Aufgaben wurden nicht umgesetzt, da es sich z.B. um Partnerübungen handelt. Zu den umgesetzten Aufgabentypen gehören geschlossene Formate wie Lückentexte, aber auch eine Reihe von relativ offenen Typen, wie Fragen zum Lese- oder Hörverstehen, sowie ganz freie Aufgaben, für die SuS individuelle eigene Inhalte liefern. Betrachten wir zunächst als Ausgangs- und Referenzpunkt die traditionelle Bearbeitung einer Aufgabe auf Papier. In Abbildung 2 (  S. 73) hat ein Schüler eine Übung zur Verwendung von Zeiten in Konditionalsätzen als Hausaufgabe ausgefüllt. Digitale Differenzierung benötigt Informationen zu Sprache, Aufgabe und Lerner 73 47 (2018) • Heft 2 Abb. 2: Eine Schülerantwort im Papierarbeitsheft Aus Sicht des Schülers ist die Aufgabe erledigt. Er weiß zu diesem Zeitpunkt nichts von potentiellen Problemen im Aufgabenverständnis, der Zeitenverwendung oder der Rechtschreibung. Bei der Besprechung der Aufgaben im Unterricht kann die Lehrerin kaum auf individuelle Probleme eingehen, sie hat typischerweise nicht die einzelnen bearbeiteten Aufgaben sichten können, und die SuS werden bei der Besprechung der Aufgaben kaum auf die Vielzahl von aufgabenspezifischen und allgemeinen sprachlichen Problemen hinweisen. Wird die Antwort ins digitale FeedBook eingegeben, so erscheint wie in Abbildung 3 dargestellt, direkt während der Bearbeitung eine Rückmeldung - hier zu der wohl wichtigsten Abweichung von den erwarteten Antworten, nämlich der falsch gewählten Zeitform. Abb. 3: Feedback zur Zeitenfolge in Conditionals Neben dem konzeptuellen Feedback, das den Lerner in die Lage versetzen soll, die Lösung der Aufgabe mit den in der Klasse eingeführten Konzepten wie Konditionalsätze und die darin zu verwendenden Zeiten in Verbindung zu setzen, zeigt Abbildung 3 auch die Lernerantwort, in der das Verb, um dessen Zeitform es geht, rot hervorgehoben ist - diese Konkretisierung erscheint erst in einem zweiten Schritt, nachdem der Lerner auf das Lupensymbol geklickt hat, und verdeutlicht den Bezug zwischen dem Feedback und der Stelle der Lernerantwort, auf die es sich bezieht. 74 Detmar Meurers et al. 47 (2018) • Heft 2 Rückmeldungen zur Verwendung von Zeitenformen erfolgen auch in anderen grammatischen oder aufgabenspezifischen Kontexten, wie in Abbildung 4 illustriert ist. Abb. 4: Feedback zur Zeitenverwendung Natürlich sind die zu analysierenden Formen manchmal auch gar nicht wohlgeformt. In Abbildung 5 sehen wir ein Beispiel für Feedback zu einer Verletzung einer morphosyntaktischen Subregularität. Abb. 5: Feedback zu morphosyntaktischen Subregularitäten Digitale Differenzierung benötigt Informationen zu Sprache, Aufgabe und Lerner 75 47 (2018) • Heft 2 Wichtig ist hierbei, dass solche Regularitäten zur Bildung von grammatischen Formen nicht von Hand als Teil der Aufgabe kodiert sind, denn das würde ja bedeuten, dass, wie in den traditionellen CALL-Systemen, der gesamte Aufwand für jede Aufgabe neu entstehen würde. Das FeedBook System integriert stattdessen drei miteinander interagierende Wissensquellen: Aufgabe, Lerner und Zielsprache. Die Analyse geht von einer Musterlösung der Aufgabe aus. Es geht bei diesen Musterlösungen nicht darum, alle denkbaren richtigen und falschen Lösungen zu kodieren, sondern ein Muster für jede inhaltlich unterschiedliche Antwort. Von dieser Musterantwort werden dann mit computerlinguistischen Methoden verschiedene mögliche, grammatische Antworten und die lernertypischen, nichtzielsprachlichen Varianten generiert, zusammen mit den für die lernersprachlichen Varianten passenden Feedbackmeldungen. 5 Diese Komponente modelliert also potentielle (Miss)Konzeptionen des Lerners und wendet sie an auf die konkrete Aufgabe. Im FeedBook Projekt deckt diese Komponente die lexikalischen und grammatischen sprachlichen Mittel des Bildungsplans 6 für die 7. Klasse ab. Neben der Bildung und Verwendung der unterschiedlichen Zeitformen im Aktiv und Passiv, sind dies unter anderem die Verwendung von berichteter Rede, die Bildung von Konditionalsätzen, Relativsätzen, Komparativkonstruktionen oder lexikalische Mittel wie Reflexivpronomen. Abbildung 6 (  S. 76) zeigt ein Beispiel für Feedback zur Bildung von Komparativen. 5 Auch zu den unterschiedlichen grammatischen Varianten ist es prinzipiell sinnvoll explizit zu erfassen, welche von Lernenden verwendet werden, da Evidenz für erworbene Fähigkeiten in einem adaptiven, interaktiven System auch für die Art der Rückmeldung und die Sequenzierung des Materials genutzt werden können. Wir planen in Zukunft ein solches vollständigeres Learner Model zu realisieren. 6 http: / / www.bildungsplaene-bw.de/ ,Lde/ LS/ BP2016BW/ ALLG/ GYM/ E1/ IK (31.05.2018). 76 Detmar Meurers et al. 47 (2018) • Heft 2 Abb. 6: Feedback zur Bildung von Komparativen Neben der Modellierung von Aufgaben und Lernenden wird als weitere Komponente eine Modellierung der wohlgeformten Sprache benötigt. Im Projekt CoMiC (http: / / purl.org/ icall/ comic) haben wir gezeigt, dass auf Basis von Musterantworten für Leseverständnisaufgaben auch solche relativ offenen, bedeutungsbasierten Aufgaben automatisch analysiert werden können (Meurers et al. 2011), indem Zuordnungen zwischen Synonymen und Paraphrasen durch aktuelle computerlinguistische Methoden gefunden werden können. Diese Komponente bildet also einen gewissen Teil der Möglichkeiten des Sprachsystems ab, eine bestimmte Bedeutung unterschiedlich auszudrücken. Das FeedBook Projekt ist derzeit dabei, die sprachliche Vielfalt der möglichen Realisierungen schrittweise hinzuzufügen. Eine Analyse sprachlicher Fehler kann daher auch für relativ offene Aufgabenformate wie die Hörverstehensaufgabe in Abbildung 7 (  S. 77) erfolgen. Digitale Differenzierung benötigt Informationen zu Sprache, Aufgabe und Lerner 77 47 (2018) • Heft 2 Abb. 7: Feedback zu Zeitformen bei Hörverstehensaufgaben Für ganz freie Aufgabenformate, in denen die Lernenden jeweils unterschiedliche Antworten schreiben können, kann die Analyse naturgemäß nicht auf Basis der Aufgabeneigenschaften eingeschränkt werden. Das FeedBook integriert für diesen Aufgabentyp stattdessen ein unabhängig entwickeltes Werkzeug zur orthographischen und grammatischen Analyse für das Englische, das Language Tool (N ABER 2003). Wie in Textverarbeitungsprogrammen üblich, liefert das Language Tool allgemeine Rückmeldungen zu dem geschriebenen Text. Das Language Tool zeigt dabei alle Fehler auf einmal an. In Abbildung 8 (  S. 78) sehen wir das Feedback zu einem Kongruenzfehler und zwei weitere farblich angezeigte Fehler zu Orthographie und Wortwiederholung, zu denen nach Anklicken ebenfalls entsprechendes sprachliches Feedback angezeigt werden würde. Zu beachten ist in unserem Kontext, dass hier weder Eigenschaften der Aufgabe und ihres pädagogischen Zweckes berücksichtigt werden, noch die Tatsache, dass es sich um Sprachlerner mit spezifischen Lernerspracheigenschaften und Feedbackerwartungen handelt. Die Rückmeldungen des allgemeinen Schreibwerkzeugs Language Tool sind nicht dafür ausgelegt, eine schrittweise, erfolgreiche Bearbeitung von Aufgaben zu unterstützen, wie das ansonsten im FeedBook der Fall ist. Eine über allgemeine Sprachkorrekturen hinausgehende, pädagogisch zielführende Unterstützung der Bearbeitung von offenen Aufgaben sollte sich jedoch in bestimmten Fällen ableiten lassen: Offene Aufgaben folgen im aufgabenorientierten Ansatz oft auf vorbereitende Übungen, in denen die 78 Detmar Meurers et al. 47 (2018) • Heft 2 relevanten sprachlichen Eigenschaften eingeübt werden. In der Weiterentwicklung des FeedBooks planen wir daher, in solchen offenen Aufgaben gezielt Feedback zu genau jenen sprachlichen Eigenschaften zu geben, die vorher in den vorbereitenden Schritten eingeübt werden. Abb. 8: Feedback in ganz offenen Aufgabenformaten 4. Zusammenfassung und Kontextualisierung Der Artikel beschreibt und exemplifiziert sowohl die Herausforderungen der Digitalisierung von Lehrmaterialien als auch Chancen und neue Möglichkeiten der Differenzierung. Das den Ansatz illustrierende FeedBook bietet SuS beim Bearbeiten von Aufgaben interaktives, individuelles Feedback, welches im Sinne eines Scaffolding ein inkrementelles und am Ende erfolgreiches Bearbeiten der Aufgaben zu Hause ermöglicht. Die großen individuellen Unterschiede unter den SuS als Charakteristikum des Fremdspracherwerbs motivieren ein solches individuelles Einüben von sprachlichen Formen und ihrer Funktion. Dieses Üben ersetzt hierbei nicht den Unterricht, sondern hilft vielmehr, im Sinne von Pre-Task Aktivitäten, eine homogenere Basis sprachlicher Fähigkeiten zu etablieren, die für eine gemeinsame erfolgreiche kommunikative Verwendung der Fremdsprache in der Klasse benötigt wird. Digitale Differenzierung benötigt Informationen zu Sprache, Aufgabe und Lerner 79 47 (2018) • Heft 2 Für die Lehrerinnen bietet das FeedBook die Möglichkeit, ohne zusätzlichen Aufwand Lernschwierigkeiten der Klasse und einzelner Schüler oder Schülergruppen zu identifizieren, die dann gezielt im Unterricht besprochen und mit Hilfe geeigneter Sequenzierung weiterer Aufgaben adressiert werden können. Eine systematische Weiterentwicklung und Umsetzung der exemplarisch illustrierten Perspektive zur digital unterstützten individuellen Förderung und Binnendifferenzierung in der Schulrealität ist allerdings direkt von der politischen Weichenstellung abhängig. Der vom Bund (seit längerem) geplante DigitalPakt#D (BMBF 2016) konzentriert sich auf die Finanzierung der digitalen Infrastruktur, verbunden mit der Erwartung, dass die Länder pädagogische Konzepte und die Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen umsetzen. Erstaunlicherweise scheint neben Hardware, Pädagogik und Lehrerfortbildung an eine Förderung der Forschung und Entwicklung von interaktiver, adaptiver Software als eigentliche, essentielle Grundlage für effektive digitale Bildung nicht gedacht zu sein. Im aktuellen KMK Strategiepapier „Bildung in der Digitalen Welt” (KMK 2017) findet sich schon im Vorwort die Aussage „Digitale Medien halten ein großes Potential zur Gestaltung neuer Lehr- und Lernprozesse bereit, wenn wir allein an die Möglichkeiten zur individuellen Förderung von Schülerinnen und Schülern denken“. Zudem wird explizit als Ziel formuliert, dass „bei der Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen […] digitale Lernumgebungen entsprechend curricularer Vorgaben dem Primat des Pädagogischen folgend systematisch eingesetzt [werden]“ (ebd.: 12). Zur Entwicklung der dazu grundlegenden Methoden und Software liest man hingegen nichts, sie entstehen anscheinend von selber: „Die sich ständig erweiternde Verfügbarkeit von digitalen Bildungsinhalten ermöglicht zunehmend auch die Übernahme von Verantwortung zur Planung und Gestaltung der persönlichen Lernziele und Lernwege durch die Lernenden“ (ebd.: 13). So sieht die KMK vor allem einen Bedarf darin, die Lehrerinnen fortzubilden, damit sie in der Lage sind die lerntheoretischen und didaktischen Möglichkeiten der digitalen Medien für die individuelle Förderung Einzelner oder von Gruppen inner- und außerhalb des Unterrichts zu nutzen und aus der Vielzahl der angebotenen Bildungsmedien (gewerbliche Angebote der Verlage und Open Educational Resources/ OER) anhand entsprechender Qualitätskriterien für die Einzel- oder Gruppenarbeit geeignete Materialien und Programme zu identifizieren (ebd.: 27). Von einer Vielzahl von digitalen Systemen zur individuellen Förderung kann in Deutschland aber eindeutig keine Rede sein. Uns ist derzeit außer dem hier diskutierten FeedBook-Prototypen kein einziges Tutorsystem zum Einsatz im schulischen Fremdsprachenunterricht bekannt. Individuelle Förderung durch intelligente digitale Systeme findet in deutschen Schulen bislang nicht statt und, was gravierender ist, es fehlen in Deutschland sowohl die Forschungslandschaft als auch Firmen mit Entwicklungskompetenz in diesem Bereich. Eine wissenschaftlich fundierte Vision zur Entwicklung von interaktiven digitalen Materialien für das schulische Fremdsprachlernen ist bislang auch bei den etablierten Bildungsverlagen nicht erkennbar. Das fundamentale Missverständnis in der Bundes- und Landespolitik, dass 80 Detmar Meurers et al. 47 (2018) • Heft 2 Inhalte und Software der digitalen Bildung letztlich von selber entstehen werden, „dass nun jede nutzende Person und somit auch Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte Medien selbst entwickeln und verteilen können“ (ebd.: 31), speist sich aus Entwicklungen wie der von Wikipedia, die quasi aus dem Nichts durch ehrenamtliches Zusammenwirken zum größten Lexikon der Welt wurde. Durch die Zusammenarbeit von SuS und Lehrkräften, die Materialien in die vielbeschworene digitale Bildungscloud hochladen, erhält man jedoch offensichtlich keine interaktiven, adaptiven Systeme zur individuellen Förderung und Binnendifferenzierung. Wie wir in diesem Artikel versucht haben aufzuzeigen, wird die Digitalisierung gerade da erfolgreich sein können, wo sie Mechanismen des Lernens (hier: des Fremdspracherwerbs) aufgreift und unterstützt. Eine tragfähige Brücke zwischen Spracherwerbsmechanismen und digitalen Werkzeugen zu etablieren, ist daher die zentrale Aufgabe für eine erfolgreiche Entwicklung der digitalen Fremdsprachenbildung. Digitalisierung ist kein Wert an sich - es ist essentiell, durch solch eine Verzahnung konkret zu machen, was durch sie unterstützt werden kann und soll. Ein nachhaltiger Fortschritt in der Forschung und Entwicklung entsprechender Systeme benötigt spezifische Förderprogramme und gesetzliche Vorgaben. Mit etwas Optimismus lässt sich dieser dringend benötigte Gestaltungswillen auch im KMK Dokument entdecken: „Damit sichergestellt werden kann, dass Lehrenden und Lernenden qualitativ hochwertige digitale Bildungsmedien zur Verfügung stehen, sind in den Ländern vorhandene Zulassungsverfahren für Lehr- und Lernmittel zu überprüfen und entsprechend den Anforderungen an digitale Bildungsmedien anzupassen“ und „Die Länder setzen sich dafür ein, dass Lehrenden und Lernenden digitale Bildungsmedien mit ihren vielfältigen Einsatzszenarien in geprüfter Qualität dauerhaft zur Verfügung stehen und deren Nutzung in Lehr- und Lernprozessen möglichst einfach sein soll“ (ebd.: 33). Vor diesem Hintergrund ist die in diesem Artikel motivierte und anhand des FeedBook-Systems konkretisierte Perspektive als nachhaltig weiterentwickelbare Vision gedacht, als Bestandteil eines effektiven, digital unterstützten Fremdspracherwerbs im Schulkontext auf wissenschaftlicher Basis. 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