eJournals Fremdsprachen Lehren und Lernen 47/2

Fremdsprachen Lehren und Lernen
flul
0932-6936
2941-0797
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2018
472 Gnutzmann Küster Schramm

„Schulfranzösisch“ und Phraseologie

121
2018
Oliver Wicher
flul4720113
47 (2018) • Heft 2 © 2018 Narr Francke Attempto Verlag O LIVER W ICHER * „Schulfranzösisch“ und Phraseologie Korpusstudien zur sprachlichen Realitätsnähe französischer Lehrbuchtexte Abstract. The contribution presents a corpus-based investigation into the linguistic authenticity of French foreign language textbooks (‘school French’). To this end, the author introduces the French Foreign Language Textbook Corpus (FFLTC), which is comprised of all invented texts from the three current German textbook series Découvertes Série jaune, À Plus! and Tous Ensemble. The comparison with the Corpus de référence du français contemporain (CRFC) provides evidence that ‘school French’ inadequately reflects the real use of lexicogrammatical structures: many communicatively relevant phrasemes are underrepresented and differ substantially in frequency and distribution from the reference corpus. The findings will give the opportunity to discuss how phrasemes can be better integrated into textbooks so that the presumed dichotomy of learnervs. language orientation can be overcome. 1. Einleitung Lehrbuchtexte sind bekanntermaßen als didaktisierte Texte zu sehen, da sie als Material allein für das Lehren und Lernen im Fremdsprachenunterricht aufbereitet sind (L EITZKE -U NGERER 2010: 14f.). Entsprechend besteht ein gewisses Spannungsverhältnis hinsichtlich ihrer sprachlichen Ausgestaltung: Einerseits müssen sie sprachliche Mittel so präsentieren, wie sie in realen Kommunikationssituationen gebraucht werden, damit Lernende gemäß dem Globalziel des Fremdsprachenunterrichts interkulturelle Kontakt- und Begegnungssituationen kompetent bewältigen können; andererseits müssen die Texte dem sprachlichen Niveau der Lernenden angepasst sein, damit die Strukturen kognitiv verarbeitet werden können und somit eine schrittweise Progression ermöglicht wird (P IENEMANN 1998). Dieses Spannungsverhältnis zwischen Sprach- und Lernerorientierung wird von der fachdidaktischen Forschung seit langer Zeit untersucht und fällt für die Beurteilung der Lehrbuchtexte tendenziell negativ aus: Sie seien nicht kongruent mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch, bildeten keine realen Kommunikationssituationen ab und wählten kommunikative Redemittel inadäquat aus (vgl. z.B. M ERTENS 2002, S CHÄFER 2009). * Korrespondenzadresse: Oliver W ICHER , M.Ed., Universität Paderborn, Institut für Romanistik, Warburger Str. 100, 33098 P ADERBORN . E-Mail: oliver.wicher@upb.de Arbeitsbereiche: Sprachwissenschaft und Fremdsprachendidaktik, Korpuslinguistik, sprachliche Mittel im Fremdsprachenunterricht. 114 Oliver Wicher 47 (2018) • Heft 2 Die Forderung, sprachlich realitätsnahes Französisch abzubilden, zieht unweigerlich die Frage nach sich, wie Realitätsnähe empirisch valide überprüft werden kann. Die Korpuslinguistik kann hier als Hilfe dienen. Die von ihr entwickelten Referenzkorpora haben den Anspruch, den tatsächlichen Sprachgebrauch in all seinen Facetten abzubilden. Während für das Englische mit dem British National Corpus (BNC) und dem Corpus of Contemporary American English (COCA) zwei sorgfältig kompilierte Referenzkorpora existieren, war die Situation für das Französische bis dato unbefriedigend. Korpora wie FRANTEXT basieren ausschließlich auf schriftlichen, zumeist literarischen Quellen und können damit nicht die Alltagssprache repräsentieren. Mit der Zusammenstellung des Corpus de référence du français contemporain (CRFC; S IEPMANN / B ÜRGEL / D IWERSY 2017) lässt sich diese Forschungslücke schließen. Gleichzeitig kann durch den technologischen Fortschritt auch sprachliches Material von Lehrbuchtexten effizient kompiliert werden. In Anlehnung an Pionierarbeiten aus der Anglistik (R ÖMER 2005, M EUNIER / G OUVERNEUR 2009) soll daher das French Foreign Language Textbook Corpus (FFLTC) vorgestellt werden, das alle didaktisierten Lehrbuchtexte der aktuellen kompetenzorientierten Lehrbuchgeneration beinhaltet und somit die Analyse von „Schulfranzösisch“ in seiner Gesamtheit möglich macht. Der Vergleich von sprachlichen Strukturen in beiden Korpora kann die sprachliche Realitätsnähe konstruierter Lehrbuchtexte auf breiter quantitativer Basis bewerten. Als Untersuchungsgegenstand bietet sich ein Bereich an, der seit einigen Jahren an Bedeutung gewonnen hat und als konstitutiver Bestandteil eines idiomatischen Sprachgebrauchs angesehen wird: die Lexikogrammatik, d.h. die Verknüpfungen der traditionell als getrennt betrachteten Bereiche Lexik und Grammatik. Eine ganze Reihe von korpuslinguistischen Arbeiten hat Evidenz dafür gegeben, dass Sprache hauptsächlich lexikogrammatischer Natur ist; sie besteht zu wesentlichen Teilen aus mehr oder weniger stark präformierten Einheiten unterschiedlicher Schematizität (Phraseme, Idiome, Kollokationen, Konstruktionen usw.; vgl. W RAY 2002). Für das Englische haben bereits einige Arbeiten den Anteil von Mehrworteinheiten in Lehrbüchern untersucht (G OUVERNEUR 2008, M EUNIER / G OUVERNEUR 2009, S IEPMANN 2014), empirische Evidenz für Französischlehrbücher im deutschsprachigen Raum steht aber bislang aus. Es lohnt sich also, die sprachliche Realitätsnähe französischer Lehrbuchtexte der aktuellen Lehrbuchgeneration näher zu beleuchten. Im Fokus der Untersuchung stehen Phraseme, d.h. Mehrworteinheiten wie pas mal, même si oder à partir de: Ihnen kommt eine besondere Rolle zu, da sie als sprachliche „Schmiermittel“ fungieren und diverse kommunikative Funktionen einnehmen können (vgl. einführend B URGER 5 2015). Sie sind essentieller Bestandteil eines idiomatischen Sprachgebrauchs (P AWLEY / S NYDER 1983, F ORSBERG 2009). Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: Kapitel 2 skizziert die theoretischen Vorüberlegungen und begründet das Potenzial korpuslinguistischer Ansätze für die Analyse von Lehrbuchtexten. Kapitel 3 präsentiert die beiden Korpora und erklärt die Methodik der Studie. Kapitel 4 widmet sich den Ergebnissen der empirischen Analyse und diskutiert Möglichkeiten der frequenzbasierten Inputoptimierung in „Schulfranzösisch“ und Phraseologie 115 47 (2018) • Heft 2 Lehrbüchern. Kapitel 5 zieht abschließend ein kurzes Fazit und weist auf zukünftige Forschungsdesiderate hin. 2. Theoretische Vorüberlegungen 2.1 Lehrbuchtexte und sprachliche Realität: bisherige Arbeiten Die Frage nach der Realitätsnähe von Lehrbuchtexten ist unmittelbar verknüpft mit dem Begriff der Authentizität (vgl. G ILMORE 2007 für einen Überblick). In der Regel wird Authentizität dabei als ein mehrdimensionales Konzept verstanden. Beispielsweise sind nach R ÖSSLER (2010) mündliche Lehrbuchdialoge dann authentisch, wenn sie in einer lernerrelevanten formellen oder informellen Kommunikationssituation eingebettet sind, realistische Sprechakte beinhalten sowie durch die Auswahl passender Redemittel konzeptionell mündliche Sprache repräsentieren. Diese letzte Dimension entspricht der sprachlich-linguistischen bzw. zielsprachlichen/ -kulturellen Authentizität im Sinne von E DELHOFF (1985), B ECHTEL / R OVIRÒ (2010) und L EITZKE -U NGERER (2010). Einen wichtigen Beitrag liefert hierzu auch M ERTENS (2002), indem er den - zugegebenermaßen schwer zu operationalisierenden - Authentizitätsbegriff durch den des dialogue réaliste ersetzt. Kriterien eines realistischen Lehrbuchtextes seien demnach die Konzeption für den Unterricht, muttersprachliche Autor(inn)en und die Zielgruppenrelevanz. Darauf basierend sei „die verwendete Sprache [...] so zu wählen, dass der Text den Eindruck vermittelt, ‚naturel‘ zu sein“ (M ERTENS 2002: 202). Eng verwoben mit dem Authentizitätsbegriff ist der Diskurs um die sprachliche Norm. Häufig wird dabei für eine diasystematisch leicht markierte Varietät plädiert, so vor allem in Form konzeptioneller Nähesprache im Sinne des Nähe-Distanz-Modells von K OCH / O ESTERREICHER ( 2 2011) (vgl. R ÖSSLER 2010: 31). Einige Fallstudien widmen sich der Repräsentation diastratischer und diaphasischer Varietäten (S CHÄFER 2009, R ÖSSLER 2010, S CHÖPP 2011, W IELAND 2011). Lehrbuchtexte wurden daraufhin geprüft, ob und inwieweit sie nähesprachliche Elemente einbauen, z.B. ne-Elision, Dislokationen, Ellipsen oder markierte Lexik. Merkmale diatopischer Variation sind Untersuchungsgegenstand bei R EIMANN (2011) und S TADIE (2011). Ein blinder Fleck ist allerdings bislang die Überprüfung der genrebedingten Frequenz und damit des Gebrauchs diasystematisch unmarkierter lexikogrammatischer Strukturen: Wie verhält es sich mit der Verteilung der subjonctif-Auslöser im tatsächlichen Gebrauch, mit der Substitution von on für nous, mit der Verwendung der Tempora in Alltagskonversation, mit dem Anteil von Mehrworteinheiten usw.? - Fragen, die ohne die Konsultation umfangreicher genrebreiter Korpora freilich nur schwer beantwortet werden können. Mit der zunehmenden Popularität (quantitativ-)korpuslinguistischer Analysen und der Kompilation muttersprachlicher Referenzkorpora kann diese Forschungslücke gefüllt werden. Sprachliche Eigenschaften der Lehrbuchtexte können mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch systematisch ver- 116 Oliver Wicher 47 (2018) • Heft 2 glichen werden. Sprachliche Realitätsnähe wird hier operationalisiert als Maß der Abweichung vom Referenzkorpus. Wegweisend sind die Arbeiten aus der Anglistik (vgl. G ILMORE 2007: 98-103 sowie M EUNIER / G OUVERNEUR 2009). So zeigen die Arbeiten von R ÖMER (2005, 2007), dass Strukturen wie das progressive und Konditionalsätze in Frequenz und Gebrauch in den Lehrbuchtexten („school English“) deutlich vom gesprochenen Standard abweichen. Für den Bereich der Mehrworteinheiten und Kollokationen kommen K OPROWSKI (2005) und T SAI (2015) zu ähnlichen Ergebnissen. G OUVERNEUR (2008) demonstriert anhand eines pädagogisch annotierten Lehrbuchkorpus, welche lexikogrammatischen Muster der hochfrequenten Verben take und make die Lehrbücher fokussieren und an welche Übungsformate und Arbeitsaufträge jene gekoppelt sind. Der Gebrauch von Diskursmarkern wird von G ILMORE (2004) untersucht; der Darstellung in Lehrbüchern wird dabei ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Für das Französische weisen erste Studien in dieselbe Richtung: V IALLETON / L EWIS (2014) und S URCOUF / G IROUD (2016) widmen sich phonetischen und pragmatischen Merkmalen von Hörtexten französischer Schulbücher. Beide Arbeiten legen nahe, dass konstruierte Hörtexte gesprochenes Französisch nur unzureichend repräsentieren; insbesondere scheint es einen Mangel an typischen Diskursmerkmalen (Überschneidungen, Selbstreparaturen) zu geben. E TIENNE / S AX (2009) untersuchen Aspekte sprachlicher Variation in Lehrbüchern. Die Autorinnen kommen zu dem Ergebnis, dass Phänomene wie der ne-Ausfall, die on-nous-Substitution und Varianten von Interrogativkonstruktionen nicht adäquat dargestellt werden. Ergänzend hierzu können die Befunde von H ILDEBRANDT (2016) gesehen werden, der Daten aus der Daily Soap Plus Belle la Vie auswertet. Als Konsequenzen für den Französischunterricht ergäben sich als prioritäre Standardformen elidiertes t’es, on statt nous und ne-Ausfall. Fragekonstruktionen (qui est-ce que usw.) sollten auf Intonationsfragen reduziert werden und das futur simple eine ähnliche Relevanz erhalten wie das futur composé. 2.2 Eine frequenzbasierte, lexikogrammatische Korpusanalyse der Realitätsnähe von Lehrbuchtexten Korpusbasierte Ansätze zur Analyse von Lehrbuchtexten haben grundsätzlich mehrere Vorteile. Erstens können in der Regel repräsentative Aussagen zu Frequenz, Streuung und lexikogrammatischen Mustern sprachlicher Einheiten getroffen werden: Wenn alle relevanten Sprachdaten eines Lehrbuches erfasst werden, kann mit einer Grundgesamtheit anstelle einer Stichprobe gearbeitet werden. Zweitens können durch ein adäquates tagging sprachliche Phänomene auf mehreren Ebenen untersucht werden (Lexik, Syntax, Pragmatik usw.); mit entsprechender Infrastruktur (z.B. dem Tool AntConc) können Frequenz- und Kookkurrenzanalysen getätigt werden. Schließlich kann der „vertikale“ Blick auf Konkordanzen sprachliche Muster ans Licht bringen, die durch das „horizontale“ Lesen einzelner Texte (sog. pageby-page approach) verborgen bleiben. Anstelle der mühsamen manuellen Suche der „Schulfranzösisch“ und Phraseologie 117 47 (2018) • Heft 2 interessierenden Strukturen können schnell und präzise alle Vorkommnisse erfasst werden. Möchte man beispielsweise erfahren, in welchen Kontexten die Konstruktion j’aimerais im Schulfranzösischen auftaucht, zeigt eine Konkordanz schnell die entsprechenden Instanzen und gibt einen Hinweis auf ein Muster mit verbaler Komplementierung (vgl. Abb. 1). Gegebenenfalls können die einzelnen Okkurrenzen durch Anklicken der Zeile genauer auf ihren kommunikativen Kontext hin untersucht werden. Abb. 1: Screenshot einer Konkordanz im FFLTC mit der Konstruktion j’aimerais auf der Plattform Sketch Engine Vor diesem Hintergrund ist es geboten, einige wesentliche Aspekte einer korpusbasierten Herangehensweise an die Analyse von Lehrbuchtexten zu erläutern. Sie betreffen u.a. die Idiomatizität von Sprache sowie die Frequenz und Distribution sprachlicher Einheiten. Seit ca. zwei Jahrzehnten liegt mit den konstruktionsgrammatischen Theorien ein attraktives Modell der Sprachbeschreibung vor. Trotz gewisser Unterschiede liegt den einzelnen Strömungen eine gemeinsame Grundannahme zugrunde: Sprache ist durchsetzt von mehr oder weniger schematischen Form-Bedeutungs-Korrespondenzen, sogenannten Konstruktionen (G OLDBERG 1995, 2006). Eng mit dem Konstruktionsbegriff verbunden ist das Konzept der Lexikogrammatik; Wortschatz und Grammatik sind nicht als zwei separate Module zu betrachten, sondern formen ein lexikogrammatisches Kontinuum. Auf dem einen Pol des Kontinuums stehen sprachliche Strukturen ohne jegliche lexikalische Füllung wie Argumentstrukturkonstruktionen; auf dem anderen Pol befinden sich verfestigte Mehrworteinheiten, deren Syntax nicht immer durch Phrasenstrukturregeln erklärt werden kann (qui plus est, en ce qui concerne). Das Mittelfeld wird durch mehr oder weniger feste Strukturen besetzt, z.B. in Form flektierbarer Kollokationen (mettre la table). Diese „Medaille“ der Lexikogrammatik kann grundsätzlich von zwei Seiten betrachtet werden (H UNSTON 2015). Einerseits können im lexis to grammar-Ansatz Kookkurrenzmuster eines einzelnen Lexems betrachtet werden. Wesentliche dazugehörige Strömungen sind die Kollokationsforschung, die Phraseologie oder die pattern grammar (H UNSTON / F RANCIS 2000). Andererseits können grammatische 118 Oliver Wicher 47 (2018) • Heft 2 Strukturen auf ihre lexikalischen Präferenzen hin analysiert werden. In diesem grammar to lexis-Ansatz lässt sich beispielsweise die intensiv rezipierte Kollostruktionsanalyse (S TEFANOWITSCH / G RIES 2003 und nachfolgende Arbeiten) verorten. Neben der lexikogrammatischen Natur von Sprache hat die Korpuslinguistik eine weitere zentrale Erkenntnis zu Tage gefördert. Die Verteilung sprachlicher Einheiten folgt häufig einem frequenzbasierten Prinzip, das sich in Form einer Zipfschen Kurve beschreiben lässt: In einer Kategorie, beispielsweise die der subjonctif-Konstruktionen, lässt sich ein höchstfrequenter Prototyp ausmachen (il faut que). Die Frequenzkurve fällt anschließend logarithmisch ab; einen großen Teil bilden niedrigfrequente, periphere Mitglieder der Kategorie (défendre que, tolérer que usw.; vgl. auch E LLIS / O’D ONNELL / R ÖMER 2015: 167f.). Das Kriterium der Frequenz kann nun eine Brücke schlagen zwischen den Prinzipien der Lerner- und der Sprachorientierung. Hochfrequente Einheiten sind insofern lernerrelevant, als sie kognitiv schneller registriert, verarbeitet und abgerufen werden; als Prototypen einer Kategorie erleichtern sie zudem die Verarbeitung niedrigfrequenter Einheiten (E LLIS 2002). Mit K OPROWSKI (2005: 324) kann daher die Frequenz (gemeinsam mit der Spannweite) als „the most objective and empirically substantiated, and least controversial starting point“ angesehen werden, um sprachliche Strukturen hinsichtlich ihrer Lernerrelevanz festzumachen. Für Lehrbuchtexte ergäbe sich damit die Notwendigkeit, einen Fokus auf diese hochfrequenten Einheiten zu legen, um einen optimalen Input zu gewährleisten (vgl. S CHMIDT 2008). Eine solche „häufigkeitsbasierte Fremdsprachendidaktik“ (T SCHIRNER 2005) folgt also dem Prinzip des statistisch fundierten Sprachlernens: Es werden diejenigen Einheiten prioritär vermittelt, denen der Lernende auch mit der größten Wahrscheinlichkeit in der Fremdsprache begegnet. Die Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens ergibt sich auch aus dem Leitziel der interkulturellen kommunikativen Handlungsfähigkeit, die ohne eine adäquate Beherrschung der sprachlichen Mittel nur unzureichend ausgebaut werden kann (vgl. E DMONDSON / H OUSE 1998, B ÜRGEL / R EIMANN 2017). 3. Methodik und Korpora Wie lässt sich nun die sprachliche Realitätsnähe von „Schulfranzösisch“ messen und bewerten? Die Herangehensweise ist von der Methodologie der Lernerkorpuslinguistik inspiriert, die in der contrastive interlanguage analysis lernersprachliche mit muttersprachlichen Merkmalen vergleicht (einen Überblick bieten G RANGER / G IL - QUIN / M EUNIER 2015). Für eine Lehrbuchkorpuslinguistik gilt das Gleiche: Es werden zwei Korpora herangezogen. Eines enthält die zu untersuchenden Daten der Lehrwerke (focus corpus), das andere dient als muttersprachliches Referenzkorpus (reference corpus). Mithilfe statistischer Verfahren können nun (normalisierte) Häufigkeiten und Verteilungen eines (lexiko-)grammatischen Phänomens berechnet und verglichen werden. Der Grad an sprachlicher Realitätsnähe wird damit operationalisiert als Grad der Unterbzw. Überrepräsentation im Vergleich zum Referenzkor- „Schulfranzösisch“ und Phraseologie 119 47 (2018) • Heft 2 pus. Quantifizierbar ist der Unterschied beispielsweise durch den Vergleich von (prozentualen) Frequenzdaten oder durch inferentielle Verfahren wie Signifikanz- und Effektstärkenmaße, die die Wahrscheinlichkeit bzw. das Ausmaß eines statistischen Unterschiedes beschreiben. Das FFLTC umfasst die aktuelle Lehrbuchgeneration Découvertes Série jaune (Déc; Klett; Bände 1-5), A Plus! (AP; Cornelsen; Bände 1-4 + Charnières) und Tous Ensemble (TE; Klett; Bände 1-4). Die Daten wurden ausschließlich den Schülerbänden entnommen. Texte aus grammatischen Beiheften oder dem cahier d’activités wurden nicht berücksichtigt. In das Korpus eingeflossen ist jegliche Art von Text, die eine „konstruierte Echtheit“ (D ECKE -C ORNILL 2004: 25) suggeriert: Lehrbuchtexte, Sprechblasen, konstruierte Texte für Leseverstehensaufgaben, Sachtexte und Infoboxen. Nicht berücksichtigt wurden kreative Texte wie Gedichte und Raps sowie Comic- und Romanauszüge, da diese in der Regel keine didaktisierten Texte sind. Auch Texte, die einzig dem Zweck der Grammatikschulung dienen, z.B. bei der Umwandlung eines Textes vom Präsens in die Vergangenheit, wurden vernachlässigt. Gleiches gilt für Aufgabenstellungen, Arbeitsanweisungen und Lückentexte. Die relevanten Texte wurden auf digitalem Wege von den Verlagen zur Verfügung gestellt. 1 Für jeden Band wurde eine Textdatei erstellt. Jede Datei wurde manuell geprüft und auf Tippfehler hin untersucht. Anschließend wurden die Dateien auf die Korpusplattform Sketch Engine hochgeladen und mit dem Tree Tagger (S CHMID 1994) annotiert. Dieser „etikettiert“ die Daten mit den entsprechenden Wortarten. Damit ist es möglich, lemmatisierte Suchen durchzuführen, z.B. kann nach allen imparfait-Formen eines Verbs gesucht werden oder nach den flektierten Varianten einer Kollokation wie mettre la table. Das FFLTC umfasst insgesamt rund 102.000 Wörter und ist wie in Abb. 2 (  S. 120) zusammengesetzt: 1 Den Verlagen sei für die Freigabe der Verwendungsrechte gedankt. Ein herzlicher Dank gilt zudem Gabriella Lombardo für die Hilfe bei der Korpuskompilation. 120 Oliver Wicher 47 (2018) • Heft 2 Abb. 2: Zusammensetzung des FFLTC; Schema adaptiert nach R ÖMER (2004) Als Referenzkorpus dient das CRFC. Es ist mit einem Umfang von rund 310 Millionen Wörtern das erste genreübergreifende Referenzkorpus der französischen Gegenwartssprache (S IEPMANN / B ÜRGEL / D IWERSY 2017). Tab. 1 illustriert die Zusammensetzung des CRFC und den Umfang seiner Subkorpora: Kategorie Subkorpus Umfang Gesprochen Informell Formell 30 30 Pseudo-gesprochen Theaterskripte Filmuntertitel Chats und SMS Diskussionsforen 30 2,5 2,5 60 155 Mill. Geschrieben Wissenschaftliche Literatur Sachbücher Romane Zeitungen Magazine Tagebücher und Blogs Briefe und E-Mails Verschiedenes 30 30 30 45 10 514 155 Mill. Tab. 1: Zusammensetzung des CRFC (S IEPMANN et al. 2017: 70) „Schulfranzösisch“ und Phraseologie 121 47 (2018) • Heft 2 Die Kategorie der gesprochenen Daten umfasst 60 Millionen Wörter: universitäre Vorlesungen und Parlamentsreden im formellen Teil, Alltagskonversation im informellen Teil. Das Korpus der schriftlichen Daten umfasst u.a. wissenschaftliche Literatur, Sachbücher, Prosa, Zeitungsartikel oder Magazine und umfasst 155 Millionen Wörter. Die Besonderheit ist der große Umfang an „pseudo-gesprochenen“ nähesprachlichen Formaten: Theaterstücke, Filmuntertitel, Chats und SMS sowie Diskussionsforen; diese Subkorpora umfassen 95 Millionen Wörter. Wie wurde nun bei der Analyse verfahren? Vor dem Hintergrund der „lexikogrammatischen Medaille“ wird die lexis to grammar-Seite betrachtet, d.h. Frequenz und Verteilung von Phrasemen. Als Ausgangspunkt dienen die Befunde von B ÜRGEL / S IEPMANN (2016) zur Repräsentation von Phrasemen in den Vokabelverzeichnissen der Lehrbücher. Nun sollen die konstruierten Lehrbuchtexte in ihrer Gesamtheit daraufhin untersucht werden, wie häufig die 50 wichtigsten Phraseme des Französischen darin auftreten. Dieser Stichprobenumfang sollte genügen, einen repräsentativen Eindruck über die Idiomatizität von „Schulfranzösisch“ zu gewinnen. Über die entsprechenden Suchanfragen auf der Korpusplattform Sketch Engine werden die Frequenzen der Phraseme im Lehrbuchkorpus ermittelt und mit dem Rang im Referenzkorpus verglichen. 4. Ergebnisse: Phraseme im Schulfranzösischen B ÜRGEL / S IEPMANN (2016) widmen sich unter anderem der Frage, wie viele der höchst frequenten französischen Phraseme in den Vokabelverzeichnissen der Lehrbücher aufgelistet sind. 2 Unterschieden wird dabei grundsätzlich zwischen strukturellen (STR; die Zusammenhänge zwischen sprachlichen Einheiten herstellen), referentiellen (REF; die auf außersprachliche Sachverhalte referieren) und kommunikativen Phrasemen (COM; die kommunikative Handlungen vollziehen). Das ernüchternde Ergebnis: Nur ein Bruchteil der Phraseme ist in den Vokabelverzeichnissen der Lehrbücher aufgeführt. An dieser Stelle soll auf den Befunden aufgebaut und betrachtet werden, wie stark konstruierte Lehrbuchtexte von Phrasemen durchsetzt sind. Ausgehend von der Annahme, dass Lehrbuchtexte die sprachliche Realität angemessen abbilden sollten, sollten hochfrequente Phraseme auch mit entsprechender Frequenz berücksichtigt werden. Tab. 2 (  S. 122) listet die 50 häufigsten Phraseme des Französischen auf und kontrastiert sie mit ihrer Frequenz im FFLTC. 2 Die frequenzbasierte Liste mit den höchst frequenten Phrasemen, die auf Basis des CRFC entwickelt worden ist, ist auf den Homepages der Autoren einsehbar. 122 Oliver Wicher 47 (2018) • Heft 2 Rang Phrasem Typ Frequenz FFLTC Rang Phrasem Typ Frequenz FFLTC 1 un peu STR 89 26 moins de STR 12 2 plus de STR 75 27 face à STR 2 3 parce que STR 122 28 lors de STR 0 4 par exemple STR 57 29 à partir de STR 3 5 en plus STR 20 30 au niveau STR 1 6 quelque chose REF 41 31 au sein de STR 0 7 alors que STR 8 32 grâce à STR 6 8 beaucoup de STR 130 33 afin de STR 0 9 comme ça REF 24 34 par rapport à STR 0 10 quand même STR 21 35 en particulier REF 1 11 en effet STR 12 36 autour de STR 2 12 ainsi que STR 6 37 bien sûr REF 32 13 peu de STR 27 38 tant que STR 0 14 nombre de STR 15 39 de nombreux STR 8 15 tout le monde REF 75 40 au lieu de STR 0 16 au moins STR 9 41 tout ça REF 3 17 même si STR 7 42 tout à fait STR/ COM 0 18 plus tard STR 47 43 du point de vue REF 0 19 non plus STR 12 44 en tout STR 1 20 de même STR 0 45 pas du tout REF 7 21 avant de STR 0 46 au contraire STR 1 22 d’accord COM 62 47 plus ou moins STR 1 23 de plus en plus STR 6 48 tandis que STR 0 24 sans doute REF 0 49 en fait STR 2 25 bien que STR 0 50 le temps de STR 10 Tab. 2: Frequenzliste der Phraseme: Rang im CRFC, Phrasemtyp und absolute Frequenz im FFLTC Von den 50 häufigsten Phrasemen kommen 13 im FFLTC überhaupt nicht vor. Mit der Ausnahme von sans doute und du point de vue handelt es sich bei allen um strukturelle Phraseme. 18 Phraseme treten weniger als zehn Mal auf. Auch hier sind es hauptsächlich Satzverketter wie alors que, ainsi que, même si, bien que oder tant que. Alle anderen Kandidaten okkurrieren häufiger als zehn Mal, wenngleich eine frequenzbasierte Systematik nicht festzustellen ist. Auffällig ist der Frequenzkontrast zwischen der ersten und der zweiten Hälfte der Liste: Während die ca. häufigsten 20 Phraseme im FFLTC durchaus frequent sind, fallen die Frequenzen ab Rang 20 stark ab; mit Ausnahme der Diskursmarker d’accord und bien sûr sind alle Kandidaten niedrigfrequent. 3 3 In allen fünf Okkurrenzen tritt bien que im Muster mit que-Nebensatz auf (TE 4: je crois bien que...), muss also von der Zählung herausgenommen werden. Ähnlich ist das einzige Vorkommen von tant que in Form der Phrase en tant que bénévole (Déc 5). Die Einheit en tout erscheint von zwei Instanzen einmal nicht als Phrasem (AP 3: Vous pouvez y ajouter des garnitures en tout genre). „Schulfranzösisch“ und Phraseologie 123 47 (2018) • Heft 2 Welche möglichen Gründe gibt es für diese Verteilung? Die höchst frequenten Phraseme sind in der Regel polyfunktional bzw. semantisch blass und daher in unterschiedlichsten Kommunikationssituationen gebräuchlich. Das häufigste Phrasem un peu kann als Abschwächungspartikel verwendet werden wie in Les gens sont un peu bizarres, tu ne trouves pas? (Déc 1) oder aber als Quantifizierer wie in [E]lle me donne un peu d’argent (TE 3). Als Mengenangabe erklärt sich auch die sehr hohe Frequenz von beaucoup de. Mit d’accord und bien sûr sind zwei „Zustimmungsmarker“ relativ frequent, en effet hingegen tritt nur ein dutzendmal auf - und elfmal davon in satzinitialer Position, wie die obere Konkordanz in Abb. 3 zeigt. TE 4 , près des rivières. En effet , avant de manger, il trempe TE 4 mais il est très fragile. En effet , le corail meurt si la mer TE 4 Lully a composées pour le roi. En effet , Louis XIV a choisi ce TE 4 les générations futures . En effet , voici la réaction d'une AP 4 Il ne faut pas, surtout pas! En effet , quand on sort le Carambar AP 4 les deux guerres mondiales. En effet , la Première Guerre mondiale AP-Char qui accompagnent le MDS. En effet , le MDS soutient des AP-Char français et allemand. En effet , depuis 2007, l'Allemagne AP-Char quand même été un choc. En effet , comme son aîné Roger Milia, AP-Char parents les y envoient>. En effet , la situation s'améliore. TE 3 le carnet de réservation. En effet , la table 11 est réservée C'est le déluge sur le peloton en effet , on a du mal à devant nous l'a tuée ? -C'est possible, en effet . -En Afghanistan, j'ai vu Le syndicat majoritaire voulait en effet mettre la pression sur le Grande-Bretagne demain... -C'est en effet surtout en Grande-Bretagne dire. Langres, en Haute-Marne, est en effet l'une des plus anciennes cette mode de vie ? ? ? Personne en effet n'a envisagé de condamner ma part je considère qu'elle sert en effet principalement à produire Abb. 3: Konkordanzen von en effet im FFLTC sowie im CRFC Diese Verteilung entspricht nicht der im Referenzkorpus: Von rund 85.000 Okkurrenzen von en effet im CRFC entfallen zwei Drittel auf eine satzmediale oder -finale Stellung wie in Je pense en effet qu’il s’agit là de débats bien plus délicats qu’il n’y paraît (Foren). In satzinitialer Position ist es somit nicht nur die geringer frequente Variante; eine textsortenspezifische Frequenzanalyse offenbart zudem, dass es ausschließlich in stark distanzsprachlichen Registern wie wissenschaftlichen Artikeln oder Reden gebraucht wird, während es in der häufigeren satzmedial-/ finalen Variante eine deutlich größere Spannweite hat (vgl. die untere Beispiel-Konkordanz aus Fernsehen und Foren in Abb. 3). Das Fehlen der elf strukturellen Phraseme ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass sie als Konnektoren eine gewisse (syntaktische) Komplexität implizieren, die tendenziell eher in der Distanzals in der Nähesprache gegeben ist und sie somit erst dann auftreten, wenn Lernende zusammenhängende Textproduktionen bewältigen können. Dass Phraseme wie afin de oder au sein de im Schulfranzösischen nicht attestiert sind, ließe sich dahingehend erklären, dass an ihrer Stelle die lexikogrammatisch einfacheren Lexeme pour und dans vermittelt werden. Auffällig ist zudem, 124 Oliver Wicher 47 (2018) • Heft 2 dass sie allesamt einen debzw. à-Anschluss haben und somit tendenziell schwieriger für Lernende zu beherrschen sind, da der kontraktierte Teilungsartikel eine zusätzliche potentielle Fehlerquelle darstellt. Hier wäre für distanzsprachliche Formate, beispielsweise für die im dritten Lernjahr häufig vorgesehenen Bewerbungsschreiben, eine registersensible Variation in der Textproduktion angebracht. Das Beispiel sans doute zeigt schließlich, wie grammatische Strukturen um Phraseme bereichert werden können, um zu einer veritablen Lexikogrammatik zu gelangen: Beim explorativen Überblicken von Konkordanzen von sans doute fällt auf, dass das Phrasem häufig in der mise en relief-Konstruktion c’est X qui/ que eingebettet ist, die vorzugsweise mit definiten Nominalphrasen zu kookkurrieren scheint (vgl. Abb. 4). Nun ist die mise en relief für Lernende insofern kommunikativ relevant, als sie die typische Konstruktion zur Betonung von Konstituenten ist; vorgesehen ist sie im vierten Lernjahr (z.B. bei Déc 4, Unité 1). Hier bietet es sich nun an, den Lernenden nach Sicherung der Grundkonstruktion sukzessive solche Erweiterungen zu vermitteln, damit sie eine gewisse Flexibilität in der mündlichen und schriftlichen Sprachproduktion erringen. Zentral ist die Ankopplung an eine spezifische kommunikative Funktion - in diesem Fall dient die Konstruktion dazu, ein zweifelsfreies Urteil über ein Thema zu fällen. Es steht zu vermuten, dass Detailanalysen dieser Art für den Rest der Phraseme ähnliche Unterschiede hinsichtlich lexikogrammatischer Gebrauchsmuster entdecken werden. individus dissimulés. Mais c'est sans doute chez les Lycaons que le sont aubergistes. Mais c'est sans doute le labour qui permet de j'étais bien stupide et c'est sans doute la cupidité que l'on a à dans la réflexion ..... c'est sans doute la richesse que m'on pas de conservateurs, c'est sans doute les extras que tu utilis pas les pauvres, c'est sans doute pour vous l'argent que ils ouvriront, on dira que c'est sans doute dans le transport qu'il obstines dans ce sentiment, c'est sans doute la ruine que tu invites C'est mon métier et c'est sans doute le métier qui vous perme prie. Bob _ Pardonnez moi, c'est sans doute le vin qui me monte à la Dans un autre style, c'est sans doute avec les équipes que ça même chose. Curieusement, c'est sans doute l'émission que j'ai pu Abb. 4: Konkordanz der um sans doute erweiterten mise en relief-Konstruktion im CRFC Davon ausgehend, dass der Anteil an Phrasemen ein relevanter Prädiktor für die Idiomatizität eines Sprachgebrauchs ist, muss somit für „Schulfranzösisch“ ein gemischtes Urteil gefällt werden. Die höchst frequenten Phraseme des Französischen sind - bis ungefähr zum Rang 20 - durchaus häufig vertreten. Dies scheint jedoch daran zu liegen, dass sie als generell polyfunktionale Einheiten vielseitige Verwendungsweisen haben. Ab Rang 20 jedoch sind viele Kandidaten nur unzureichend attestiert. Es ist dieser Bereich, der über subjektive Intuition nur schwer identifiziert werden kann; der Rekurs auf Korpora ist daher unerlässlich (vgl. D E F LORIO -H ANSEN 2010: 268f.). Zudem legen Konkordanzanalysen Evidenz vor, dass auch die typischen Gebrauchskontexte der Phraseme vom Referenzkorpus abzuwei- „Schulfranzösisch“ und Phraseologie 125 47 (2018) • Heft 2 chen scheinen. Dass die konstruierten Lehrbuchtexte also idiomatisch seien und damit den tatsächlichen Sprachgebrauch abbildeten, kann nur eingeschränkt bestätigt werden. Welche Implikationen ergeben sich für die Gestaltung zukünftiger Lehrbücher? Von Korpuslinguisten bereitgestellte Frequenzlisten können zunächst als Referenz für die Auswahl sprachlicher Mittel dienen. Wie in Kap. 2 dargelegt, gilt das Prinzip der Häufigkeitsorientierung: Frequenten Einheiten begegnet der Lernende mit einer hohen Wahrscheinlichkeit; entsprechend relevant sind sie für die kommunikative Bewältigung fremdsprachlicher Kontaktsituationen. Phraseme sind daher zunächst stärker in Lehrbuchtexte einzustreuen. Damit kann primär der inzidentelle Erwerb gefördert werden. Zur Bewusstmachung der kommunikativen Relevanz sollten die Einheiten anschließend im Rahmen form-fokussierender Aktivitäten kognitiviert werden: Welche Bedeutung(en) hat ein Phrasem wie tout à fait, in welchen Situationen und Gebrauchsmustern wird es verwendet? Für distanzsprachliche Textsorten, beispielsweise argumentative Texte, ist ein Schwerpunkt auf strukturelle Phraseme zu setzen (de plus, ainsi que, en effet); für nähesprachliche Formate, z.B. informelle Alltagsdialoge, sollten Diskursmarker Priorität erhalten (quand même, c’est vrai, pas mal). Wie ein phrasembasierter Lehrbuchdialog aussehen kann, demonstriert B ÜRGEL (2017). 5. Fazit und Ausblick Für die Zukunft ergibt sich ein breites Spektrum weiterer Untersuchungsgebiete. Aus Platzgründen konnten die hier präsentierten Ergebnisse nicht auf lehrwerkspezifische Unterschiede eingehen. Ein korpusbasierter Ansatz ist für solche kontrastive Forschungen besonders effizient, da ohne Mühe Subkorpora der entsprechenden Lehrwerke erstellt und quantitativ verglichen werden können. Die Daten lassen sich außerdem mit weiteren Metadaten annotieren. So kann eine registerspezifische Annotation herausarbeiten, welche Mehrworteinheiten in welchen Registern besonders prominent sind oder fehlen. Phraseme stellen schließlich als Mehrworteinheiten nur die eine Seite der lexikogrammatischen Medaille dar. Auf der anderen Seite kann ein grammar to lexis-Ansatz lexikalische Einschränkungen grammatischer Phänomene untersuchen. Es mehren sich z.B. die Hinweise darauf, dass viele grammatische Strukturen nur mit einem bestimmten Set an lexikalischen Einheiten kookkurrieren, was kein unbeträchtliches Argument gegen die traditionelle regelbasierte Grammatikvermittlung darstellen würde (vgl. z.B. C HAMBERS 2013 zum subjonctif). Es bleibt zu hoffen, dass die Befunde eine Diskussion darüber anstoßen, wie Korpuslinguistik und Fremdsprachendidaktik weiter zueinander finden können. Plädiert wird für eine stärkere Berücksichtigung korpusbasierter Erkenntnisse, da über das Prinzip der Frequenzbasierung lernerrelevante sprachliche Mittel erkannt werden und Lernende somit von Lehrbuchtexten profitieren können, die sprachlich stärker an der kommunikativen Realität orientiert sind. 126 Oliver Wicher 47 (2018) • Heft 2 Literatur B ACHMANN -S TEIN , Andrea / S TEIN , Stephan (Hrsg.) (2009): Mediale Varietäten: gesprochene und geschriebene Sprache und ihre fremdsprachendidaktischen Potenziale. Landau: Verlag Empirische Pädagogik (= Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung, Sonderheft 15). B ECHTEL , Mark / R OVIRÒ , Bàrbara (2010): „Authentizität im kompetenzorientierten Französisch- und Spanischunterricht“. In: F RINGS / L EITZKE -U NGERER (Hrsg.), 207-227. B ÜRGEL , Christoph (2017): „Ça vaut le coup, c’est sûr et certain! Mit Phrasemen zum natürlichen Sprachgebrauch“. In: Der fremdsprachliche Unterricht Französisch 148, 9-15. 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