Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2007
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BalmeEditorial: Das Theater als Medium Mit der vorliegenden Nummer von Forum Modernes Theater erscheint das erste Heft der Zeitschrift unter neuer redaktioneller Leitung und mit einem neuen Herausgebergremium. Im Folgenden soll die Neuausrichtung kurz skizziert werden, die, so ist die Hoffnung, an die Errungenschaften der ersten Herausgebergeneration anschließt und doch neue Akzente setzt. Insbesondere die personelle Besetzung des Beirats soll diese Neuausrichtung der Zeitschrift dokumentieren. War unter den ersten Herausgebern nur Hans- Peter Bayerdörfer hauptamtlicher Theaterwissenschaftler, so setzt sich der neue Beirat ausschließlich aus TheaterwissenschaftlerInnen zusammen, die zentralen Forschungsansätzen des Fachs Rechnung tragen und darüber hinaus eine breite Palette an dramen- und theatergeschichtlichen Interessen vertreten. Vor einundzwanzig Jahren, im Jahr 1986, erschien die erste Nummer einer vom Bochumer Anglisten Günter Ahrends begründeten Theaterzeitschrift. Der Titel war bereits Programm. Im Vergleich zu einer noch stark historisch ausgerichteten (aber bereits im Wandel begriffenen) Theaterwissenschaft sollte das Theater der Moderne im Vordergrund stehen. Der aus Hans-Peter Bayerdörfer (Germanistik und Theaterwissenschaft), Marianne Kesting (Komparatistik), Herta Schmid (Slavistik) und Karlheinz Stierle (Romanistik) bestehende Herausgeberbeirat - später kamen Rudolf Münz (Theaerwissenschaft) und Wilfried Floeck (Hispanistik) hinzu - deckte die Dramenliteratur der modernen europäischen Theatergeschichte beinahe flächendeckend ab. Blickt man auf Einzelhefte (und die dazugehörige Schriftenreihe) zurück, so lässt sich unschwer eine einzigartige dramenkomparatistische Forschungsleistung erkennen. Die Tatsache, dass neben Deutsch auch Englisch und Französisch zugelassene Publikationssprachen waren, hat maßgeblich zur Internationalisierung der Zeitschrift beigetragen. Die Gründung der Zeitschrift fiel mit der Expansion des Fachs Theaterwissenschaft in den 1980er und 1990er Jahren zusammen, so dass FMT bald zum führenden Organ des sich neu konstituierenden Fachs wurde. Die Neuformierung manifestierte sich zum einen in einer Erschließung neuer theatertheoretischer und aufführungsanalytischer Diskussionskontexte (hier war Erika Fischer-Lichtes dreibändige Semiotik des Theaters (1983) ein Schlüsselwerk), zum anderen in einem grundsätzlichen Verständnis des Theaters jenseits nationalphilologischer Traditionsbestände. So wurde FMT dem Umstand gerecht, dass bei allen nationalen Spezialinteressen das Theater der Moderne seit seinen Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert ein internationales Phänomen war. Vor allem zeichnete sich die moderne Dramatik durch eine eindrucksvolle Mobilität aus: Die großen Namen des modernen Dramas - Chekhov, Ibsen, Strindberg, Synge, Lorca, Pirandello, Shaw, Brecht, u.v.a.m. - wurden bald zum festen Bestandteil eines weltweit gespielten Kanons anspruchsvoller Dramatik. Dass Theater und Drama in der europäischen Theatertradition eine fast unzertrennliche Einheit bilden, bedarf keiner besonderen Erläuterung. Diesem Bündnis hat auch FMT auf hervorragende Weise Rechnung getragen. Besonders im deutschsprachigen Raum zeichnete sich jedoch eine theaterästhetische Trendwende ab, bei der, wenn nicht eine Abkehr von der Vorrangstellung des Dramentextes, so doch zumindest ihre dezidierte Infragestellung unübersehbar wurde. Die seit dem Erscheinen von Hans-Thies Lehmanns Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 1-4. Gunter Narr Verlag Tübingen 2 Editorial international rezipiertem Standardwerk unter dem Namen ‘Postdramatisches Theater’ (1999) bekannt gewordene Tendenz macht deutlich, dass Theater nicht mehr vornehmlich über die Dramenliteratur erschlossen werden kann. Will man dieser Neuausrichtung eine begriffliche Umrahmung geben, so wäre die Bezeichnung ‘Theater als Medium’ eine Etikettierung, die der neuen redaktionellen Philosophie gerecht wird. Ohne hier eine ontologisch wasserdichte Definition der medialen Konstituenten des Theaters vornehmen zu wollen, signalisiert die methodische Ausrichtung ‘Theater als Medium’ eine möglichst große Bandbreite an Forschungsperspektiven, die von Kunsttheater über Kulturwissenschaft bis hin zu Berührungspunkten mit anderen Medien reichen. Die hier abgedruckten Artikel stammen von neuen Mitgliedern des Herausgeberbeirats und sollen einige dieser Perspektiven aufzeigen. ‘Theater als Medium’ signalisiert zunächst eine programmatische Öffnung hin zu den anderen ‘Sparten’, Tanz- und Musiktheater. Beide genießen zuweilen den Ruf, die innovativsten Spielarten des Theaters zu sein, was beim Musiktheater sowohl hinsichtlich der Opernregie als auch in seiner postdramatischen Ausformung eine gewisse Berechtigung hat. In seinem Beitrag zeigt Jürgen Schläder z.B. anhand von Martin Kušejs Fidelio-Inszenierung, dass für die heutige Opernregie hergebrachte Deutungstraditionen und Sehkonventionen nicht mehr sakrosankt sind, und dass dekonstruktivistische Verfahren auch hier zur Anwendung kommen. Dekonstruktion bedeutet in diesem Zusammenhang keine Änderung der Noten, sondern eine mit szenischen Mitteln arbeitende radikale Neudeutung und Anpassung an zeitgenössische Denkmuster. Dass seit Pina Bausch Theatertanz (im weitesten Sinne des Begriffs) zahlreiche Choreographen hervorgebracht hat, die beständig die Grenzen des Theatermediums testen und diese immer wieder neu ziehen, kann nicht einmal als umstritten gelten: Der Beitrag von Gerald Siegmund zu William Forsythes Performance-Installation Human Writes zeigt, dass Forsythe nicht nur mit Gattungsgrenzen experimentiert, sondern auch grundsätzliche politische und philosophische Fragen über den Zusammenhang von Individuellem und Allgemeinem stellt, um “die Chance einer Politisierung der Körper in der Kunst” neu zu diskutieren. ‘Theater als Medium’ signalisiert auch eine Forschungsperspektive, die seit Anfang der 1990er Jahre in erster Linie unter dem Label Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft diskutiert worden ist. Für die Theaterwissenschaft bedeutete dies eine Öffnung zu theatralen Phänomenen hin, die nicht mit der reinen Kunstfunktion des Theaters zu erfassen waren. Dies geschah vor allem über die Begriffe ‘Theatralität’ und ‘Performativität’, die einerseits im Zentrum des herkömmlichen Theaterbegriffs stehen, andererseits weit über dieses Zentrum in zahlreiche nichtästhetische Felder hineinreichen. Diese Expansion machte vor allem deutlich, dass die Theaterwissenschaft eine multipolare Wissenschaft ist, die sogar das Etikett ‘Kulturwissenschaft’ sprengt. In ihrem Beitrag “Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft. Perspektiven einer theaterwissenschaftlichen Emotionsforschung” argumentiert Doris Kolesch, dass die Theaterwissenschaft ihren Gegenständen nicht gerecht werden könne, “wenn sie sich ausschließlich als Kulturwissenschaft versteht, sondern nur dann, wenn sie sich zugleich als Kunst-, Medien- und Kulturwissenschaft profiliert.” Das Feld der Emotionsforschung sei geradezu prädestiniert, nicht nur diese verschiedenen Seiten der Theaterwissenschaft zu zeigen sondern auch unter Beweis zu stellen, dass das Fach in einem wichtigen interdisziplinären Forschungsfeld einen signifikanten Beitrag leisten könne. Anhand der wohl meist diskutierten schauspieltheoretischen Schrift der europäischen Theatergeschichte, Diderots Das Theater als Medium 3 Paradoxe sur le Comédien, zeigt Kolesch, wie Diderots Essay über die Theatralität von Emotionen nicht nur als eine Reflexion über die Schauspielkunst, sondern auch, oder gar vielmehr als “kulturtheoretischer Entwurf über die Bedingungen bürgerlicher Subjektivität” zu lesen wäre. Eine ähnliche, aber methodisch anders akzentuierte Verbindung von Schauspieltheorie, Theatergeschichte, Emotionen und Medien stellt Wolf-Dieter Ernst in seinem Beitrag “Schauspiel durch Medien um 1900. Die verdeckte Funktion der Techne bei Konstantin Stanislawski und Alexander Moissi” her. Ausgehend vom Begriff der ‘visuellen Energie’ stellt Ernst eine Suchformel vor, welche die Debatten um die Erweckung und Kontrolle von Affekten durch den Schauspieler neu positioniert. Anhand der Rezeption des Schauspielers Moissi durch Franz Kafka und einer Neubestimmung des antiken Begriffs der energeia entwickelt Ernst eine neuartige Perspektive auf das alte Problem der schauspielerischen Energie und ihrer Affizierungsmacht. Das Theater als Medium zu betrachten, bedeutet nicht einfach ein Interesse an der Beziehung zu anderen Medien, obwohl dies zurzeit allenthalben zu beobachten ist. Neben Regie, Dramaturgie, Bühnenbild, Licht und Kostüm gehört der Zuständigkeitsbereich ‘Video’ inzwischen zu den selbstverständlichen künstlerischen Gestaltungsfeldern des zeitgenössischen Theaters. Die Verwendung von Video bedeutet zunächst eine sinnliche Erweiterung der theatralen Darstellungsmittel wie Beleuchtung oder Bühnenbild. Diese Erweiterung spricht in erster Linie den Sehsinn an, was wie die letzten beiden Beiträge demonstrieren, immer wieder Irritationen in kritisch-diskursiven Einordnungen des Theaters als Kunstform auslöst. In seinem Beitrag zu Max Reinhardts legendärer Sommernachtstraum-Inszenierung spürt Peter Marx ein Geflecht genealogischer Linien und zeitgenössischer Bezüge auf, um die Inszenierung in die “Vielstimmigkeiten ihrer historischen Bezüge zu setzen.” Dazu gehört in erster Linie eine “ängstlich bestrittene Nähe zum Spektakel und damit zu zwar populären, aber kulturell als minderwertig betrachteten Theaterformen.” Diese Nähe war, wie Marx zeigt, deshalb so prekär, weil diese Verwandtschaft eben nicht klar räumlich und kulturell geschieden war, sondern sowohl in den prestigeträchtigen Hoftheatern als auch in den dezidiert kommerziellen Theaterformen zu finden war. Residuen der von Marx konstatierten kritischen Zurückhaltung gegenüber einer Überbetonung der visuellen Komponente des Theaters lassen sich heute noch beobachten. In ihrem Beitrag, “Wem gehören die Bilder? Bildpolitik und Medienkritik im Theater: eine Frage der Gewalten-Teilung” gehen Kati Röttger und Alexander Jackob der Frage nach, inwiefern das Medium Theater als “besonderer Ort der Bilder verstanden werden kann.” Sie gehen zunächst von dem kontroversen ontologischen Status medialer Bilder aus und diskutieren insbesondere die Frage der Gewaltdarstellung. In ihrer Argumentation ist das Theater durchaus ein Medium; es verfüge aber aufgrund der körperlichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern über Möglichkeiten, die mediale Gewalt in Bildern zu reflektieren, die Zuschauer in die Entscheidungsprozesse über die spezifische Macht der Medien und der Bilder aktiv mit einzubeziehen und damit eine kritischere Haltung zu ermöglichen. In Zukunft wird FMT abwechselnd Schwerpunkthefte und thematisch offene Nummern gestalten. Die Redaktion ist bemüht, Theater in seinen kulturellen, ästhetischen und geschichtlichen Erscheinungsformen, auch in Bezug zu benachbarten Disziplinen, zu diskutieren. FMT ist eine peerreview-Zeitschrift. Alle eingesandten Artikel werden einer Begutachtung durch Fachleute unterzogen mit dem Ziel, möglichst hohe wissenschaftliche Standards zu erreichen. 4 Editorial Eine Zeitschrift ist allerdings nur so gut wie ihre Inhalte. Daher werden alle interessierten KollegInnen aus den Theater-, Literatur-, und Medienwissenschaften aufgefordert, durch Ihre Einsendungen FMT noch besser zu machen. Christopher Balme, München, im Mai 2007. Inhalt Christopher Balme (München) Editorial: Das Theater als Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Aufsätze: Doris Kolesch (Berlin) Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft. Perspektiven einer theaterwissenschaftlichen Emotionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Peter W. Marx (Mainz) Ein richtiger Wald, ein wirklicher Traum: Max Reinhardts Sommernachtstraum 1905 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Wolf-Dieter Ernst (München) Schauspiel durch Medien um 1900. Die verdeckte Funktion der Techne bei Konstantin Stanislawski und Alexander Moissi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Kati Röttger (Amsterdam) und Alexander Jackob (München) Wem gehören die Bilder? Bildpolitik und Medienkritik im Theater: eine Frage der Gewalten-Teilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Jürgen Schläder (München) Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung. Zur Dekonstruktion in Martin Kušejs Stuttgarter Fidelio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Gerald Siegmund (Bern) Recht als Dis-Tanz: Choreographie und Gesetz in William Forsythes Human Writes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Rezensionen: M.A. Katritzky: The Art of Commedia: A Study in the Commedia dell’Arte 1560-1620 (Stefano Mengarelli) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Peter W. Marx: Max Reinhardt. Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur (Svetlana Jukanitschewa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Martin Baumeister: Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur 1914-1918 (Peter W. Marx) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Henrik Jungaberle, Jan Weinhold (Hgg.): Rituale in Bewegung. Rahmungs- und Reflexionsprozesse in Kulturen der Gegenwart (Wolf-Dieter Ernst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Umschlagabbildung: William Forsythe, Human Writes, Fotograf: Dominik Mentzos. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2007 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · Tübingen Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. 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Waren sie bis vor wenigen Jahren legitime Gegenstände von Psychologie und Psychoanalyse wie auch der Literatur- und Kunstwissenschaften, interessieren sich nunmehr verstärkt Disziplinen für die Erforschung von Emotionen, die diesen bislang eher eine marginale Rolle zugewiesen hatten. So entdeckt die Philosophie in den letzten Jahren zunehmend die Bedeutung von Emotionen insbesondere auch für kognitive Prozesse und für die Leistungen von Vernunft und Rationalität. In der Soziologie, aber auch in der Geschichtswissenschaft kommen Emotionen als soziales Bindegewebe von Gesellschaft in den Blick, als Formen sozialer Interaktion, die entscheidend zur Konstitution von Gruppen und Gemeinschaften beitragen, die Legitimität gesellschaftlicher Regeln, Normen und Institutionen stützen oder auch bedrohen und schließlich an Prozessen sozialer Ausgrenzung teilhaben. Doch nicht nur die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften beschäftigen sich mit der menschlichen Emotionalität, auch Biologie, Neurobiologie, Neurowissenschaften und Genetik - um nur einige führende Disziplinen zu nennen - suchen mit ihren Mitteln die Verfasstheit und Funktion von Emotionen zu ergründen. Und es sind nicht zuletzt die Erkenntnisse und Ergebnisse der naturwissenschaftlich orientierten Emotionsforschung - beispielsweise in Bezug auf Depressionen, Angst und Furcht oder auch Lust und Freude -, welche die geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächer, die sich bislang als rechtmäßige Experten für Gefühle und Affektivität verstanden hatten, unter Druck setzen. In dieser oft polemischen und einseitig überzeichneten Debatte, in der bisweilen gar die vollständige Ersetzung geistes- und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen durch die empirischen, vermeintlich “harten” Wissenschaften suggeriert wird, scheint gerade die Differenzierung und Bündelung unterschiedlichster Forschungsansätze, -methoden und -perspektiven unabdingbar. Ich bin davon überzeugt, dass solch komplexe Phänomene und Prozesse wie Emotionen nur durch die gemeinsame Anstrengung verschiedener Disziplinen adäquat erhellt werden können. Dies setzt zum einen eine wechselseitige Offenheit, Neugier und Gesprächsbereitschaft zwischen natur- und geistessowie sozialwissenschaftlichen Fächern voraus. Zum anderen aber erfordert es eine Schärfung und Stärkung der jeweiligen disziplinären Kompetenz bezüglich der Erforschung von Emotionen. Hier sehe ich eine besondere Chance für die Theaterwissenschaft, die sich historisch wie systematisch-analytisch in zentraler Weise mit Emotionen auseinandergesetzt hat bzw. setzt. Die nachfolgenden Ausführungen sind daher als Plädoyer zu verstehen, dass eine kulturwissenschaftlich orientierte Theaterwissenschaft in den derzeit virulenten Diskussionen um Emotionen ein gewichtiges Wort mitreden kann und auch mitreden sollte. Dabei soll der vielleicht etwas apodiktisch klingende Titel meines Beitrags, “Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft”, darauf hinweisen, dass ich die Beziehungen zwischen Theaterwissenschaft und Kulturwissenschaft nicht als mehr oder weniger friedliche Koha- Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 7-15. Gunter Narr Verlag Tübingen 8 Doris Kolesch bitation der beiden Disziplinen auffasse, sondern als Möglichkeit, die Theaterwissenschaft kulturwissenschaftlich zu perspektivieren ebenso wie die Kulturwissenschaft um theaterwissenschaftliche Methoden, Begrifflichkeiten und Orientierungen zu erweitern. Um diese wechselseitige Erhellung von Theater- und Kulturwissenschaft darzulegen und ihr Potential hinsichtlich der Erforschung von Emotionalität exemplarisch anzudeuten, gehe ich im Folgenden in drei Schritten vor: Zunächst entfalte ich in der gebotenen Kürze das interdisziplinäre Forschungsfeld der Theaterwissenschaft, die ihren Gegenständen meines Erachtens nicht gerecht werden kann, wenn sie sich ausschließlich als Kulturwissenschaft versteht, sondern nur dann, wenn sie sich zugleich als Kunst-, Medien- und Kulturwissenschaft profiliert. Die diesbezüglichen einleitenden Ausführungen sollen mithin vermeiden, dass der Titel meines Beitrags als zureichende Bestimmung theaterwissenschaftlichen Tuns missverstanden wird. Vor diesem Hintergrund kann dann im zweiten und dritten Schritt meiner Überlegungen die Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft im Zentrum stehen, deren Leistungsfähigkeit am Beispiel der Theatralität von Emotionen erwiesen werden soll. Dabei zeige ich zunächst an einem zentralen Text der schauspieltheoretischen Debatten des 18. Jahrhunderts, nämlich Denis Diderots Paradoxe sur le Comédien, dass eben diese Berücksichtigung der Theatralität von Emotionen erlaubt, das Paradoxe als mehr und anderes denn eine Reflexion über das Schauspiel zu lesen, nämlich als kulturtheoretischen Entwurf über die Bedingungen bürgerlicher Subjektivität. Unter Rekurs auf aktuelle Phänomene der Alltagskultur wie auch auf die derzeitige Theoriebildung zu Emotionen lege ich schließlich im dritten und letzten Schritt dar, welche innovativen Einsichten ein theaterwissenschaftlich geschulter Blick auf Emotionen nicht nur für historische Gegenstände, sondern gerade auch für gegenwärtige Problemstellungen vermitteln kann. Theaterwissenschaft als interdisziplinäres Forschungsfeld Wie schon erwähnt, soll die in diesem Beitrag vorgenommene Fokussierung auf Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft keineswegs suggerieren, Theaterwissenschaft könne hinreichend oder gar ausschließlich als Kulturwissenschaft betrieben werden. Daher seien hier in aller Kürze die kunst- und medienwissenschaftlichen Perspektivierungen von Theaterwissenschaft zumindest angesprochen, bevor im Weiteren die Möglichkeiten und Chancen einer kulturwissenschaftlich orientierten Theaterwissenschaft im Zentrum stehen. Eine Theaterwissenschaft, die sich als Kunst-, Medien- und Kulturwissenschaft versteht, ist kein Sammelbekken, keine Addition dieser drei Disziplinen, sondern hat sowohl aus ihrer recht jungen institutionellen Geschichte als auch aus den spezifischen Gegenstands- und Phänomenbereichen, die sie in den Blick nimmt, gelernt, dass es der interdisziplinären Verknüpfung dieser drei unterschiedlichen Perspektivierungen bedarf, um der Komplexität von Theater und theatralen Situationen gerecht zu werden. Damit, das sei hier en passant erwähnt, ist die Theaterwissenschaft konstitutiv auf Forschungen anderer Disziplinen angewiesen, zugleich bietet sie sich aufgrund dieser interdisziplinären Ausrichtung und aufgrund der Tatsache, dass theatrale Aufführungen häufig nicht nur Kunstereignisse darstellen, sondern auch soziale, politische, wirtschaftliche oder gar religiöse Ereignisse, für die Kooperation mit anderen Fächern in besonderer Weise an. Die starke Beteiligung theaterwissenschaftlicher Kolleginnen und Kollegen an interdisziplinären Forschungsprojekten und Forschungsverbünden bestätigt diesen Umstand. Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft 9 Die kunstwissenschaftliche Orientierung der Theaterwissenschaft kann bis zu ihrer Gründung im deutschsprachigen Raum zu Beginn des letzten Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Es war der Germanist Max Herrmann, der mit der Differenzierung von Drama und Aufführung letztere als genuinen Gegenstand der Theaterwissenschaft bestimmte, und zwar in Absetzung von der dramenorientierten Literaturwissenschaft. In seinen Forschungen zur Deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance kritisiert Herrmann im Jahre 1914, dass selbst die Spezialisten des Theaters noch immer dramatische Dichtung einerseits und Bühnenwesen oder Theateraufführung andererseits durcheinander werfen. 1 Wenn Herrmann angesichts dieser Situation betont: “Bei der Theaterkunst ist die Aufführung das Wichtigste”, 2 wird damit eine Perspektive eröffnet, die vor allem seit den späten 1960er Jahren die Theaterwissenschaft nachhaltig geprägt hat. Erforscht werden Fragen der ästhetischen Verfasstheit von Aufführungen, Aspekte ihrer produktionswie rezeptionsästhetischen Spezifik, aber auch kunstkomparative Dimensionen, wie das - bis heute nicht wirklich geklärte - Verhältnis von dramatischem Text und Aufführungstext, die Ikonographie von malerischem bzw. photographischem Bild und theatraler Szene oder die Relation von Schauspieltheorie zu Literatur-, Musik- oder auch Bildtheorie. Nun zeichnet sich Theater durch das strukturierte Zusammenspiel verschiedenster Medien und Materialien aus. Eine medienwissenschaftlich orientierte Theaterwissenschaft untersucht vor diesem Hintergrund den Einsatz unterschiedlicher, nicht nur technischer Medien auf der Bühne. Sie thematisiert Möglichkeiten und Grenzen des Medienwechsels ebenso wie das Verhältnis von Theater und theatralen Situationen zu historischen Medienumbrüchen, beispielsweise zu neuen technischen Medien wie Film, Fernsehen, Video, aber auch zu darstellungs- und wahrnehmungstheoretischen Innovationen wie der Zentralperspektive. In den letzten Jahren schließlich konnten Forschungen zur Intermedialität, also zur Frage, wie Theater Darstellungsmuster und Wahrnehmungskonventionen anderer Medien zitiert, imitiert, reflektiert oder auch kommentierend transformiert, innovative Impulse setzen. Eine so perspektivierte Theaterwissenschaft rückt von bis heute sowohl in einem Teil der Theaterpraxis als auch der Theorie anzutreffenden medienpuristischen Vorstellungen ab, die Theater auf die konkrete leibliche Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern beschränken und den Einsatz technischer Medien wie Film, Video, Mikrophon weitgehend minimieren wollen. Eine medienwissenschaftlich informierte und sensibilisierte Theaterwissenschaft hingegen betrachtet produktive Medienkollisionen in historischer wie struktureller Hinsicht als konstitutiv für jegliche Form von Theater und ist entsprechend gefordert, in einen produktiven Dialog mit Medientheorie wie Mediengeschichte zu treten. Mit diesen äußerst knappen Skizzen einer kunst- und medienwissenschaftlichen Perspektivierung der Theaterwissenschaft ist nun, so hoffe ich, der Entwurf einer kulturwissenschaftlich orientierten Theaterwissenschaft ausreichend im Kontext des interdisziplinären Forschungsfeldes der Theaterwissenschaft situiert. Weder ist dabei davon auszugehen, dass die drei hier genannten Dimensionen klar voneinander geschieden werden können, noch, dass immer alle drei Aspekte gleichberechtigt und gleichgewichtig behandelt werden können oder gar müssen. Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft beruht auf einer grundlegenden Öffnung der Theaterwissenschaft, die Erscheinungsweisen, Gebäude und Institutionen des Kunsttheaters im engeren Sinn verlässt, um sich auch den vielfältigen Formen und Funktionen von Theatralität, verstanden als grundlegendem kulturellen und kulturkonstituierenden Fak- 10 Doris Kolesch tor, zuzuwenden. Damit schwärmt die Theaterwissenschaft gleichsam in außerkünstlerische Bereiche der Gesellschaft aus und untersucht alle Arten von cultural performances (Milton Singer) wie Feste, Rituale, Spiele oder Sportveranstaltungen, aber auch alltägliches soziales Verhalten, das der Soziologe Erving Goffman schon in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts unter Rekurs auf Theaterbegrifflichkeit analysiert hat. Auch für die Kulturgeschichtsschreibung sind die Forschungen zu Theatralität relevant, insofern zum einen das Verhältnis von Theater zu anderen Genres kultureller Aufführungen im geschichtlichen Verlauf thematisiert wird, zum anderen aber auch die Relation von Theater zu alltäglichen theatralen Verhaltensformen. Aus diesem Spektrum einer möglichen kulturtheoretischen wie kulturgeschichtlichen Neuperspektivierung zentraler Begrifflichkeiten und Phänomene unseres sozialen Lebens stammt auch das Beispiel, auf das ich mich im Folgenden beziehe, um die Leistungsfähigkeit und das Potential von Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft aufzuzeigen, nämlich die Theatralität von Emotionen: Emotionen erscheinen als hervorragend geeigneter Gegenstandsbereich einer kulturwissenschaftlichen Theaterwissenschaft, weil Gefühlen in Theaterpraxis wie Theatertheorie schon immer ein zentraler Stellenwert zukam. Darüber hinaus spielen Emotionen eine grundlegende Rolle für die Konstitution sowohl von Subjektivität als auch von Sozialität, ja in ihnen durchdringen sich beide Ordnungen unauflöslich. Zum einen kann man mit Fug und Recht das abendländische Theater als Gefühlsmaschinerie bezeichnen. Emotionen kommen dabei als Gegenstand von Repräsentation und Darstellung in den Blick, aber auch als intendierte Wirkungsabsicht beim Publikum. In produktionsästhetischer Perspektive geht es um die Frage, welche Gefühle von einem Schauspieler oder einer Schauspielerin auf welche Weise dargestellt werden können bzw. dürfen; problematisiert werden in diesem Zusammenhang spezifische Inhalte, aber auch bestimmte Formen der Darstellung. In rezeptionsästhetischer Perspektive wird gefragt, welche Gefühle in welcher Form beim Zuschauer einer theatralen Aufführung erzeugt werden können und dürfen. Von der antiken Rhetorik, die den Redner in kritische Analogie zum Schauspieler setzt und zur affektiven Überwältigung des Publikums empfiehlt, die zu erzeugenden Emotionen zunächst im Rhetor oder im Schauspieler selbst zu erregen, über die 1727 veröffentlichte Schrift Dissertatio de Actione Scenica des Jesuitenpaters Franciscus Lang, die als Summa der Bühnen- und Schauspielpraxis des jesuitischen Schultheaters im 17. und 18. Jahrhundert gelten kann und die die Schauspielkunst bestimmt als “die schickliche Biegsamkeit des ganzen Körpers und der Stimme, die geeignet ist, Affekte zu erregen”, 3 über die Debatten im 18. und 19. Jahrhundert über den kalten Schauspieler oder das natürliche Gefühl bis hin zur Werbekampagne eines großen deutschen Stadttheaters, das in der letzten Saison verkündete: “Hier können sie Gefühle abonnieren”, sind Theater und Emotion auf engste miteinander verknüpft. Zum anderen müssen Emotionen als Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung ernst genommen werden, insofern sie zu jeder Zeit und in jeder Kultur vorkommen, wenn auch mit erheblichen Differenzen und Akzentuierungen. Wir können Gefühle gestalten und stilisieren, wir können sie unterdrücken oder auch stimulieren und bewusst erzeugen, doch können wir nicht nicht fühlen. Wir haben Gefühle und sind uns zugleich in ihnen gegeben, wir sind Subjekt und Objekt unserer Emotionen in einem. In Emotionen erfahren wir in komplexer, leiblicher Weise unser In-der-Welt-Sein und unsere soziale Einbindung, unsere Interaktion mit anderen Menschen wie auch unsere Abhängigkeit von ihnen. Eine theaterwissenschaftlich geschulte Perspektive auf Emotio- Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft 11 nen ist nun, so meine These, in besonderer Weise geeignet, die bis heute dominante bürgerliche Gefühlskultur zu beleuchten und Einsicht in die Gemachtheit, die Inszeniertheit und Theatralität von Emotionen zu vermitteln, welche vom noch immer vorherrschenden psychologischen und innerweltlichen Gefühlsverständnis eher verdeckt wird. Gemachte Gefühle Ich komme damit zum zweiten Teil meiner Ausführungen: dem kulturwissenschaftlich perspektivierten Blick auf historische Phänomene von Theaterpraxis wie Theatertheorie, den ich exemplarisch an Denis Diderots Paradoxe sur le Comédien, einem Schlüsseltext des sich etablierenden bürgerlichen Theaters entfalten möchte. Im 18. Jahrhundert wandelt sich die Auffassung von Emotionalität grundlegend, die bis dato gültige Affektenlehre wird abgelöst von einer Theorie der Gefühle, die letztere als individuelle psychologische Zustände eines Subjekts konzipiert. Diese Veränderungen schlagen sich nicht zuletzt in der zeitgenössischen Schauspieltheorie nieder. Diderots Paradoxe, geschrieben zwischen 1769 und 1778, jedoch erst 1830 im Druck veröffentlicht, gilt neben Francesco Riccobonis 1750 publizierter L’art du théâtre und Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik aus dem Jahre 1785 als innovativer und moderner Gegenentwurf zu der bis dahin vorherrschenden rhetorischen Tradition des empfindungsvollen, des - metaphorisch gesprochen - heißen Schauspielers, wie sie von Rémond de Sainte-Albine (Le Comédien von 1747), aber zuvor auch von Jean Baptiste Dubos (Réflexions critiques sur la poésie et la peinture von 1719) oder von Johann Georg Sulzer noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts vertreten wird (Allgemeinen Theorie der schönen Künste, 1794). Das Paradoxe gehört zu den wohl wichtigsten und meistdiskutierten schauspieltheoretischen Texten der Neuzeit. Gleichwohl ist die Forschungslage zu dieser Schrift erstaunlich wenig differenziert. Zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vertreten bis heute die These, im Paradoxe sur le Comédien ginge es um den Konflikt zwischen Gefühls- und Verstandesschauspieler, und der erste Gesprächspartner des als Dialog formulierten Textes repräsentiere Diderots Position, während der zweite Gesprächspartner sozusagen als Sprachrohr von Antonio Sticotti fungiere, der 1769 eine Schrift mit dem Titel Garrick, ou les acteurs anglois publiziert hatte, gegen die sich Diderot scharf wendet. 4 Das im Titel formulierte Paradox erweist sich im Laufe des Textes als Bündelung verschiedener paradoxer Konstellationen. Hier seien nur die wichtigsten genannt: 1) Damit das Theater die Illusion von Wirklichkeit erzielen kann, darf es diese nicht einfach imitieren, darf auf der Bühne nicht einfach Alltagshandeln stattfinden. 2) Der kalte, emotional unbeteiligte Schauspieler erregt und überzeugt den Zuschauer mehr als der selbst erregte und emotional beteiligte Schauspieler. 3) Der Schauspieler ist nur Schauspieler, weil und insofern es ein Publikum gibt; ebenso ist der Zuschauer nur Zuschauer, weil und insofern es Schauspieler und ein von ihnen gezeigtes Schauspiel gibt. Beide Tätigkeiten - Schauspielen wie Zuschauen - sind keine unvereinbaren Wesenheiten, sondern Funktionsdifferenzierungen, die dem Menschen je nach Situation offen stehen. So wie wir im Dialog - und nicht zufällig ist das Paradoxe sur le Comédien als Dialog verfasst - sowohl Sprecher als auch Zuhörer sind, argumentiert Diderots Text gewitzt und mit Verve dafür, dass der Mensch, und zwar im Theater ebenso wie in der Gesellschaft, niemals nur Schauspieler oder nur Zuschauer ist, sondern immer beides, mal Zuschauer, mal Schauspieler, häufig abwechselnd, bisweilen aber auch simultan. Entsprechend lese ich Diderots Paradoxe nicht nur als schauspieltheoreti- 12 Doris Kolesch schen Text, der er unzweifelhaft ist, sondern auch als anthropologisches und kulturtheoretisches Modell der Ausbildung einer modernen, aufgeklärten Subjektivität. Denn das Theater kommt im Paradoxe als ästhetische Praxis der Erzeugung und Selbsterfahrung des bürgerlichen Individuums in den Blick, für das Darstellen und Zuschauen keine sich ausschließenden Gegensätze bilden, sondern komplementäre, sich wechselseitig bedingende Momente der eigenen Identität. In der Kunst des Theaters wachsen der Schauspieler im Schauspiel und der Zuschauer beim Zuschauen über sich selbst als einzelnes Individuum hinaus, was Diderot als Wahrheit des Spiels bezeichnet. Für den Akteur bedeutet dies, dass ihm Handlungen und Verhaltensweisen möglich werden, die nichts mit seiner historischen Person und mit seinem jeweils individuellen Charakter zu tun haben müssen. Dem Zuschauer eröffnet dies die Chance, dass ihm etwas einsichtig gemacht wird, was er in bloßer Beobachtung oder Reflexion seiner selbst nicht - oder zumindest nicht so leicht - erkennen könnte. “Empfindsam sein ist etwas anderes als empfinden. Das eine ist eine Sache der Seele, das andere eine Sache der Urteilskraft”. 5 Um Empfindsamkeit als Form von Urteilskraft geht es Diderot, und er will dieses moralischpolitische Erziehungsprogramm des Bürgers mithilfe des Theaters verwirklichen. Denn die Konstitution von Subjektivität ebenso wie die Ausbildung von Empfindsamkeit werden im Theater durch eine ästhetische Praxis eingeübt, in der Darstellung, also Schauspiel, und Wahrnehmung, also Zuschauen und Zuhören, untrennbar aufeinander bezogen sind. Kühler Schauspieler und erregter Zuschauer kommen so als die beiden Seiten des bürgerlichen Subjekts in den Blick, die zusammengehören wie die zwei Seiten einer Medaille. Im Laufe des Textes dreht, wendet und spiegelt Diderot beständig die Beurteilung von kaltem Schauspiel und empfindsamer Wahrnehmung. Denn die Fähigkeit zur kühl-kalkulierenden Täuschung ebenso wie zum unreflektierten empfindsamen Überschwang wird von Diderot je nach Positionierung im Spielfeld von Individuum und Gesellschaft gegensätzlich bewertet. Was beim Schauspiel gesellschaftlicher Repräsentation moralisch zweifelhaft erscheint, nämlich das kalte Herz des Galanten, erweist sich beim Bühnenschauspiel als Geist und Genie; was beim Empfindsamen im Kreis der Gesellschaft geistige Schwäche signalisiert, macht ihn als Zuschauer im Theater zum kongenialen Prototyp des tugendhaften Menschen. 6 Denn so wie der erste Sprecher vom Schauspieler im Theater “sehr viel Urteilskraft”, kühle und ruhige Beobachtung, sowie “Scharfblick”, aber “[k]eine Empfindsamkeit” verlangt, 7 damit er das Publikum überzeuge, fordert er in einer alltäglichen Situation wie dem Gespräch unter Freunden spontane innere Bewegung, eine versagende Stimme, Weinen und tiefe innere Empfindung, um bei den Gesprächspartnern “Staunen und Rührung” zu wecken. 8 Diese Spiegelungen führt Diderot schließlich so weit, dass der empfindsame Zuschauer im Theater als reale Emotion erlebt, was der Schauspieler auf der Bühne als Illusion authentischen Empfindens kühl kalkulierend konstruiert. Die rationale Darstellung wird zur Voraussetzung dafür, dass der Zuschauer sich in seiner Empfindsamkeit selbst gewahr wird. Damit geht es Diderot gerade nicht um ein Auseinanderdividieren von Rationalität und Emotionalität, nicht um eine Trennung von Reflexion und Unmittelbarkeit, sondern um die Möglichkeit authentischer Erfahrung als Resultat der Beobachtung (des reflektierten Verhaltens) anderer, man könnte auch sagen: um Unmittelbarkeit als Effekt von Mittelbarkeit. 9 Emotionsszenarien Ich komme damit zum dritten und letzten Punkt meiner Ausführungen, der vom Nut- Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft 13 zen der Theaterwissenschaft für die Erforschung des fundamentalen kulturellen Phänomens der Emotionen handelt. Dabei verlasse ich das 18. Jahrhundert und nehme auf aktuelle Beispiele und Theorien Bezug. Zu den wesentlichen Klischees über Gefühle in unserer Kultur zählt, dass Gefühle spontan und unkontrollierbar seien, dass sie innere Zustände eines Subjekts und bloßes, oft störendes Ornament von Verhaltensweisen, Handlungen oder Situationen seien, dass sie ein evolutionär rudimentäres Moment menschlicher Vermögen darstellen und dass sie schließlich das Gegenteil von Verstand und Rationalität bilden, weshalb man sich nicht zu sehr und - wenn überhaupt - nur in bestimmten Situationen auf sein Gefühl verlassen soll. Eine solche, bis heute im Alltagsverständnis dominierende Auffassung kann als Kern der bürgerlichen Gefühlskultur präzisiert werden, wie sie sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in Europa herausgebildet hat, wenngleich, wie ich am Beispiel Diderots zu zeigen versuchte, schon am Beginn der bürgerlichen Gesellschaft ein anderes und weit komplexeres Verständnis des Gefühlsgeschehens und seiner Leistungen existierte. Die Schriften Jean-Jacques Rousseaus stehen exemplarisch für die Ablösung des bis dato gültigen Erfahrungswissens der Affektenlehre und einer rhetorisch disziplinierten eloquentia corporis, die allmählich durch ein psychologisch fundiertes Ausdrucks- und Aufrichtigkeitskonzept ersetzt wird, das eine quasi-natürliche, das vermeintliche Innere des Menschen offenbarende eloquentia cordis postuliert. Nicht erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts lassen sich jedoch vielfältige Ablösungs- und Transformationsprozesse beobachten, die dazu führen, dass etablierte Muster emotionalen Verhaltens brüchig werden und dass das gewohnte, über Generationen weitgehend konstante Gefühlsrepertoire mit seinen jeweiligen Formen des Handelns, Wahrnehmens und Interpretierens allmählich schwindet oder entwertet wird, ohne dass eine neue Ordnung (oder Unordnung) der Emotionen schon wirklich Kontur gewonnen hätte. Aufgeregte Diskussionen über emotionale Intelligenz, Ratgeberliteratur, die in der Manier eines Kochrezepts beschreibt, was zu tun und zu lassen sei, um romantische Liebe zu erleben, oder die exhibitionistische Ausstellung vermeintlich intimster Gefühle vor einem Massenpublikum im Fernsehen sind nur einige wenige Indizien für eine solche Veränderung. Auch die mediale Inszenierung großer Gefühle bei so unterschiedlichen Ereignissen wie Wahlkämpfen, Fußballweltmeisterschaften, Naturkatastrophen oder den Trauerfeierlichkeiten für Papst Johannes Paul II. ist kaum mehr mit den angestammten Begriffen und Modellen bürgerlicher Gefühlskultur angemessen zu beschreiben. Meine These ist nun, dass diese aktuellen Beispiele der Populärkultur durch einen theaterwissenschaftlich geschulten Blick erhellt werden können, insofern dieser die Gemachtheit, die Inszeniertheit, ja die Aufführung von Emotionen zu thematisieren erlaubt. Gefühle kommen somit nicht als innere Zustände eines Subjekts in den Blick, die ausgedrückt werden, so wie man den Saft einer Zitrone ausdrücken kann, sondern als Effekte komplexer Prozesse des - bewussten oder unbewussten - Wahrnehmens und Darstellens, des Zeigens, Beobachtens und Interpretierens, bei denen verschiedene Materialien, Medien und symbolische Systeme zusammenwirken. Entsprechend geht Ronald de Sousa in seiner einflussreichen philosophisch-kulturtheoretischen Studie zur Rationalität des Gefühls davon aus, “dass unsere Gefühle eher erlernt werden, etwa so wie eine Sprache, und dass sie eine wesentlich dramatische Struktur haben. […] Solche ursprünglich fixierenden Dramen nenne ich Schlüsselszenarien”. 10 Die Rede von der dramatischen Struktur ist dabei mehr als eine erhellende Metapher. 14 Doris Kolesch Ich interpretiere de Sousas Ausführungen so, dass er darunter eine intelligible Form, eine Verkettung von Handlungs-, Reaktions- und Bewertungsmustern versteht, die menschliches Verhalten bedingt und hervorbringt. Diese Form jedoch existiert paradoxerweise nur im Moment ihres jeweiligen Vollzugs und im Modus beständiger Veränderung und sozialer Aushandlung. Wir haben es mit einem Ineinander von materieller Verfestigung und gleichzeitiger Verflüssigung, mit so flüchtigen wie prägenden Gesten, Handlungen und Körperhaltungen zu tun. Schlüsselszenarien wären damit theatrale Szenen, die kurzzeitig eine bestimmte Konfiguration von Erfahrungen, Verhaltensweisen, Normen, Traditionen und Werten in einem anschaulichen Tableau vivant inkorporieren. In Schlüsselszenarien werden Emotionen exponiert; sie werden so einsehbar, wahrnehmbar und nachahmbar. Gleichzeitig aber können sie dadurch auch der Kritik oder gar Parodie ausgesetzt werden und möglichen Veränderungs- und Historisierungsprozessen unterliegen. Noch einmal de Sousa: Wir werden mit dem Gefühlsvokabular vertraut gemacht, indem wir es mit Schlüsselszenarien assoziieren lernen. Anfangs, solange wir klein sind, beziehen wir diese Szenen aus unserem alltäglichen Leben; später verstärkt aus Geschichten, Kunst und Kultur. Noch später werden sie, in Lesekulturen, ergänzt und verfeinert durch Literatur. 11 Die Szenen des alltäglichen Lebens, in denen das Kind durch Interaktion mit seinen Mitmenschen und seiner Umwelt die Wahrnehmung und Darstellung differenzierter Gefühle ebenso erlernt wie den normativen Umgang mit ihnen, sind theatral im Sinne einer konkreten raumzeitlichen Szene, in denen Personen leibhaftig und in Kopräsenz agieren. Sicherlich vermitteln in “Lesekulturen” Literatur und sprachliche Diskurse dem heranwachsenden wie auch dem erwachsenen Menschen ein äußerst vielfältiges und nuanciertes Gefühlsvokabular. Der französische Moralist La Rochefoucauld (1613-1680) betont bereits im späten 17. Jahrhundert in seinen Maximen: “Es gibt Leute, die nie verliebt gewesen wären, wenn sie nie von der Liebe hätten sprechen hören”. 12 Allerdings muss aus theater- und kulturwissenschaftlicher Perspektive betont werden, dass sich de Sousas oben zitierte Darstellung zu stark und vor allem zu einseitig am Modell der Schrift- und Textkultur orientiert. Wie nämlich Gefühle verkörpert werden, wie sie sich körperlich manifestieren, welche Mimik, welche Gesten und welche Körperhaltungen jeweils mit bestimmten Emotionen assoziiert werden, welche Haltung beispielsweise bei Freude erlaubt, ja geradezu angezeigt ist, bei Trauer hingegen tabuisiert wird, dafür ist nicht nur die Literatur zuständig. Hier spielen - neben biologischen Gegebenheiten - theatrale Konstellationen und performative Prozesse in allen gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen, im Alltag ebenso wie bei herausgehobenen Festlichkeiten, Zeremonien und Feiern, eine fundamentale Rolle. Denn in diesen Situationen des gleichzeitigen Zeigens und Beobachtens, des Vorführens, Inszenierens und Wahrnehmens von Stimmungen und Gefühlen werden Werte, Normen, Auffassungen und Vorstellungen in und durch Körperakte aktualisiert und inkorporiert. Der Körper kommt dabei in vielfältiger Weise ins Spiel: als leibliches Spüren auf der phänomenologischen Ebene; als Agens der Konstitution und als Medium der Symbolisierung und affektiven Besetzung sozialer Beziehungen, aber auch individueller wie kollektiver Identitäten; als Ort der Austragung, der Aushandlung und zugleich Wirkung gesellschaftlicher Machtverhältnisse; sowie schließlich als treibende Kraft und Träger von Emotionen. Bei politischen, religiösen oder kulturellen Festen und Zeremonien, bei der Zelebrierung von Messen, bei militärischen Paraden, bei schauspielerischen Darstellungen im Theater, beim Tanzen auf Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft 15 einem öffentlichen Ball, bei Prüfungssituationen in Schule und Universität, bei Sportveranstaltungen wie auch bei alltäglichen Gesten der Begrüßung, der höflichen Aufmerksamkeit oder des Abschieds - um nur einige wenige Beispiele zu nennen - werden in und mit jeweils spezifischen Körpervollzügen und Körperhandlungen auch jeweils spezifische Vorstellungen von Gemeinschaft, Geschlecht, Klassenzugehörigkeit, sozialem Status und normativen Gefühlsrepertoires performativ hervorgebracht und zugleich verkörpert. Derartige theatrale gesellschaftliche Prozesse vollziehen sich als Re-Produktion, als wiederholende Aktualisierung und als davon gleichzeitig differierende Neuformierung kultureller Werte und Normen. Damit eröffnet ein theatralitäts- und performativitätstheoretisch orientiertes Konzept von Emotionalität ein Verständnis von Kultur und gesellschaftlichem Zusammenleben, welches das Tun vor die Idee, die Handlung vor das Konzept setzt oder zumindest beide als gleichursprünglich und sich wechselseitig fundierend auffasst. Gerade die genuinen Perspektiven und Methoden der Theaterwissenschaft erweisen sich, so hoffe ich gezeigt zu haben, als viel versprechende Mittel, um einen entscheidenden Beitrag zu einer kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung zu leisten. Anmerkungen 1 Vgl. Max Herrmann, Forschungen zur Deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin 1914, S. 3-4. 2 Herrmann, Forschungen zur Deutschen Theatergeschichte, S. 118. 3 Franciscus Lang, Dissertatio de Actione Scenica cum Figuris eandem explicantibus, et Observationibus quibusdam de arte comica / Abhandlung über die Schauspielkunst, übers. und hrsg. von Alexander Rudin, Nachdruck der Ausgabe Ingolstadt 1727, Bern u.a. 1975, S. 163. 4 Sticottis Schrift ist eine Übersetzung von John Hills The Actor, die unter anderem die auch von Rémond de Sainte-Albine vertretene Ansicht propagierte, dass die Darstellung von Liebe am besten den Schauspielerinnen und Schauspielern gelänge, die selbst verliebt (ineinander) seien. 5 Denis Diderot, “Das Paradox über den Schauspieler”, in: Denis Diderot, Ästhetische Schriften. Bd. II, hrsg. von Friedrich Bassenge, Berlin 1984, S. 481-539, S. 530. 6 Vgl. Hermann Kappelhoff, Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004, S. 74. 7 Diderot, “Paradox über den Schauspieler”, S. 484. 8 Diderot, “Paradox über den Schauspieler”, S. 490. 9 Ohne dass dies hier weiter ausgeführt werden kann, sei zumindest angemerkt, dass ein wesentliches Dispositiv des Diderotschen Theaterverständnisses, die Vierte Wand, ebenfalls ein Mittel zur Herstellung von Unmittelbarkeit darstellt, insofern die künstliche Distanzierung der Schauspieler vom Publikum dazu führt, dass das Publikum intellektuell wie emotional desto stärker in das Bühnengeschehen hineingezogen wird. 10 Ronald de Sousa, Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt/ M. 1997, S. 12. 11 de Sousa, Rationalität des Gefühls, S. 298. 12 La Rochefoucauld, Maximen und Reflexionen, Stuttgart 1983, Maxime 136, S. 21. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Der erste Band der Reihe Theatralität, der hier in überarbeiteter und aktualisierter Auflage erscheint, fragt danach, inwieweit gerade das Authentische - das, was als ursprünglich oder gar selbstverständlich wahrgenommen wird - immer schon der Inszenierung bedarf. In der Einleitung entwirft Erika Fischer-Lichte ein Konzept von Theatralität, das die vier Dimensionen Inszenierung, Performance, Wahrnehmung und Korporalität expliziert und zueinander in Beziehung setzt. Beiträge aus verschiedenen Kunst- und Kulturwissenschaften demonstrieren die analytische Kraft des Konzepts an markanten Fallbeispielen. E. Fischer-Lichte/ C. Horn I. Pflug/ M. Warstat (Hg.) Inszenierung von Authentizität Theatralität 1 2., überarb. und akt. Auflage 2007 368 Seiten, €[D] 49,00/ SFr 77,50 ISBN 978-3-7720-8208-5 Ein richtiger Wald, ein wirklicher Traum. Max Reinhardts Sommernachtstraum 1905 Peter W. Marx (Mainz) Jedes Zeitalter hat ein bestimmtes nur ihm eigentümliches Bild von allen Vergangenheiten, die seinem Bewusstsein zugänglich sind. Die Legende ist nicht etwa eine der Formen, sondern die einzige Form, in der wir Geschichte überhaupt denken, vorstellen, nacherleben können. Egon Friedell 1 Der 31. Januar 1905, der Tag, an dem im Berliner Neuen Theater Shakespeares Sommernachtstraum in der Inszenierung von Max Reinhardt erstmals über die Bühne ging, gilt in der Geschichte des “modernen” deutschen Theaters als epochaler Wendepunkt: Legte die Inszenierung für Max Reinhardt in ästhetischer und ökonomischer Hinsicht den Grundstein für seinen kometenhaften Aufstieg, der ihn rund ein halbes Jahr später als Direktor wieder an das Deutsche Theater führen sollte, gilt sie dem grand récit der Theatergeschichte als der endgültige Schlussstein der jahrzehntelangen Experimente mit dem Naturalismus auf der Bühne. 2 Wohl kaum eine Inszenierung verkörpert im historischen Gedächtnis stärker Reinhardts Formel von dem “Theater, das den Menschen wieder Freude macht” 3 als sein Sommernachtstraum von 1905. Dem heutigen Betrachter bleibt dieser Zauber des Neubeginns verwehrt: Nicht nur, weil die Begeisterung vom Vortag emotional unerreichbar bleibt, auch weil die Magie der Aufführung sich nur sehr bruchstückhaft in den verbliebenen Zeugnissen sedimentiert; nur einige Kritiken und wenige Fotos lassen noch einen Blick auf dieses Bühnengeschehen zu. Insofern bleibt für eine heutige Annäherung nur eine “Arbeit am Mythos”, eine historisierende Perspektive, die aus der Zusammenschau des ästhetischen Ereignisses und seiner kulturellen und sozialen Bedingungen eine Annäherung zu gewinnen sucht. Fluchtpunkt der Überlegungen soll im Folgenden das sein, was Egon Friedell als die “unterirdischen Linien” der Geschichte bezeichnet hat. 4 So entwirft Egon Friedell in seiner monumentalen Kulturgeschichte der Neuzeit (1927- 1931), die er bezeichnender- und rätselhafterweise Max Reinhardt widmet, eine Historiographie, die sich nicht auf das Ereignis als manifeste Größe historischer Prozesse bezieht, sondern auf tieferliegende kulturelle - und das bedeutet für Friedell, in einem eher intuitiven als begrifflich scharf umrissenen Sinne, mentale - Vorgänge, die Gesellschaften und Zeiten prägen. So entwirft er Kulturgeschichte als eine fragmentarisch-anekdotische, deren Grundlage ein programmatischer Dilettantismus ist, weil nur dies die Skrupellosigkeit ermögliche, von disparaten Gegenständen zu sprechen, für die der Historiker unmöglich die gleiche Expertise aufbringen könne. 5 Friedells Geschichtsschreibung wird damit in seinem Verständnis zu einer “seelischen Kostümgeschichte”. 6 Sein Konzept, das den formulierten Anspruch des programmatischen Dilettantismus in bisweilen durchaus abenteuerlicher Weise umsetzt, kann gerade für die Theaterwissenschaft ein gutes Vademecum sein, um sich Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 17-31. Gunter Narr Verlag Tübingen 18 Peter W. Marx Abb. 1: Der Reinhardt’sche Wald mit den Elfen. gegen die Verlockungen der großen Entwicklungslinien zu wappnen. Dies umso mehr, als Friedell - in erstaunlicher Nähe zu aktuellen Diskussionen der Geschichtswissenschaft - den Historiker zum festen Bestandteil des historischen Beschreibungs- und Erkenntnisprozesses erklärt: “Alles, was wir von der Vergangenheit aussagen, sagen wir von uns selbst aus. Wir können nie von etwas anderem reden, etwas anderes erkennen als uns selbst”. 7 Von diesem Punkt aus ist es lohnend, sich nochmals dem Reinhardt’schen Sommernachtstraum zuzuwenden, um seine Legende im Geflecht genealogischer Linien und zeitgenössischer Bezüge neu zu lesen. Ziel ist dabei nicht die spektakuläre Enthüllung oder eine Fallstudie, die die Forschung um eine weitere Fußnote bereichert. Eine solche Re-Lektüre wird sich vielmehr zum Ziel setzen müssen, die Inszenierung, die durch ihren eigenen Mythos so überdeutlich erscheint, in die Vielstimmigkeiten ihrer historischen Bezüge zu setzen. Es kann nicht darum gehen, wenn wir Friedell in diesem Punkt folgen, die Legende abzuschaffen, sondern ihre Bedingungen und Wirkungen auf unser eigenes historisches Selbstverständnis zu diskutieren. Die Rezeption der Inszenierung Wirft man einen Blick auf die Kritiken jenes Theaterabends am 31. Januar 1905, so schlägt einem das Echo ästhetischer Überwältigung entgegen. Friedrich Düsel etwa resümiert: “Die Aufführung des ‘Sommernachtstraums’ gehört zu dem Schönsten, was die deutsche Bühne je gesehen hat”. 8 In ähnlichem Ton beschreibt Ernst Heilborn seine Erfahrung: Es war wirklich der Traum einer Sommernacht, in der der Wald seine neckischen, lieblichen Geheimnisse erschließt, ein Traum, den man gläubigen Auges mitansehen durfte, da Shakespeares “Sommernachtstraum” über die Bühne des Neuen Theaters ging. 9 Der “wirkliche Traum”, der von der Kritik immer wieder beschworen wird, fand seinen Ort - und gleichzeitig seinen ‘Auslöser’ - in dem “richtigen Wald”, den Reinhardt auf die Bühne des Neuen Theaters gezaubert hatte. Das Bühnenbild von Gustav Knina war keineswegs nur der szenische Rahmen für die Darbietung des Shakespeare’schen Textes, sondern war zumindest Mitspieler, wenn nicht sogar der heimliche ‘Star’ des Abends. Der Schauspieler Eduard von Winterstein, ein langjähriger Weggefährte Reinhardts, schreibt in seinen Memoiren über das Bühnenbild: Es war ein wirklicher, richtiger Wald, in den man beim Aufgehen des Vorhangs blickte. Ja, um die Täuschung vollkommen zu machen, wurde auf der Bühne mit großen Spritzen Tannenduft erzeugt, der sich bald im ganzen Zuschauerraum verbreitete. Wie nun beim Klange des Mendelssohn’schen Scherzo die Elfen - nicht mehr mit den obligaten Baströckchen angetan, sondern halbnackte, schlanke Mädchen, nur mit grünen Schleiern bedeckt - sich an den Händen haltend, hügelauf, hügelab um und durch die Bäume sich wanden - das war ein berauschender Anblick. An Zwirnsfäden hängende und hüpfende Lichtbirnen täuschten Glühwürmchen vor, und das Mondscheinwerfer-Licht warf berükkende Lichtreflexe durch das Laub der Bäume auf die Bühne. Im Hintergrunde war ein Teil des Bühnenbodens, vielleicht 4 qm umfassend, durch dicke Glasscheiben ersetzt, die Ein richtiger Wald, ein wirklicher Traum 19 von unten beleuchtet waren; das Licht traf in den ebenfalls künstlich erzeugten Wassernebeln die auf dem Spiegel dieses kleinen Sees tanzenden Elfen. 10 Reinhardt schuf einen dreidimensionalen Raum mit plastischen Bäumen und stellte sich damit nicht nur gegen die verbreitete Praxis eines Waldprospekts, der mehr oder weniger geschickt die Assoziation eines Waldes erweckte, er belebte diesen Raum durch allerlei Lichtund, wie wir der Schilderung Wintersteins entnehmen, Dufteffekte. Diese bewirkten zum einen eine sinnliche Grenzüberschreitung zwischen Bühne und Zuschauerraum, zum anderen verstärkten sie die plastische Wirkung des Bühnenraumes. Gerade die an Glühwürmchen erinnernden Lichterketten betonten die vertikale Dimension des Raumes, die auch durch Pucks Epilog, den Gertrud Eysoldt (1870-1955) an den sich senkenden Vorhang geklammert sprach, in den Blick des Publikums gerückt wurde. Die Ausstattung bestach aber nicht allein durch die Opulenz ihrer Mittel - bekanntermaßen führte Reinhardt in diesem Rahmen die Drehbühne in Berlin ein, die bislang nur als Apparatur für schnellere Umbauten eingesetzt wurde. Reinhardt gab ihr eine dramaturgische Funktion, wenn der Wald sich vor den Augen des Publikums zu drehen begann: Es mutet im ersten Augenblick wie ein übermütiges Husarenstücklein an, wenn dieser ganze praktikable Wald mitsamt Laub und Teich, mit Zettel, Titania und ihren Elfen mit Hilfe der geräuschlos funktionierenden Drehbühne plötzlich vor unseren Augen zu kreisen beginnt. Aber warum soll das Mühlrad, das in des guten Zettels dummem Kopfe herumgeht, und das Ende seines Traumes nicht durch so drastische Symbolik angedeutet werden? 11 Diese Beweglichkeit des Raumes zielte über eine technische Illusionssteigerung hinaus. Während Max Reinhardt in seiner Kaufmann von Venedig-Inszenierung 1905 im Deutschen Theater die Drehbühne einsetzte, um ein gedrängtes Panorama Venedigs vor die staunenden Augen des Publikums zu stellen, verwandelte er im Sommernachtstraum das Publikum selbst in Träumende, denen die Welt vor Augen tanzte. Die Wahrnehmung der Zuschauer wurde in die ‘Logik’ des Traumes einbezogen, so dass sie am Ende nicht weniger irritiert und verwundert waren als Shakespeares Figuren beim Erwachen. Genealogische Linien Der Reinhardt’sche Zauber ist indes nicht allein aus sich selbst erklärbar, sondern speist sich aus den Wurzeln einer komplexen und durchaus widersprüchlichen Bühnengenealogie, die in entscheidender Weise die Position der Inszenierung mitbestimmt. So stößt man bereits bei einem nur flüchtigen Blick auf die Bühnengeschichte auf den überraschenden Umstand, dass diese Komödie, die heute so unverbrüchlich zum Repertoire des deutschen Schauspieltheaters gehört, 12 1843 erstmals in Deutschland gespielt wurde. Es war Ludwig Tieck (1773-1853), der den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. für eine Inszenierung des Stückes gewinnen konnte, das bis dahin als unspielbar galt. Seine Inszenierung war ein so großer Erfolg, dass sie die weitere Bühnenpraxis prägte. Sie begründete die Konvention, die Elfen durch Kinder darstellen zu lassen und setzte auch für die weiteren Besetzungen Maßstäbe. Tieck etablierte etwa die Praxis, Puck mit einer Schauspielerin zu besetzen, obwohl er selbst grundsätzliche Vorbehalte gegen diese Lösung hatte: Diese Künstlerin [Charlotte von Hagn] war aber durchaus nicht muthwillig, schalkhaft und komisch, sondern sie suchte durch Empfindsamkeit die Gemüther der Zuschauer zu bewegen; auch hatte sie eine Tracht angelegt, welche die Anzüge des Königs und der Köni- 20 Peter W. Marx Abb. 2: Ein Ballerina-Puck (Paula Schlenther); Sammlung Manskopf der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt/ Main. gin überstrahlte, machte aber Aufsehen, und fand Beifall durch die halbe Entkleidung. 13 Charlotte von Hagn (1809-1891) steht am Beginn einer Bühnenkonvention, die Puck eher als eine elfenhafte Ballerina zeigt, 14 denn als einen anarchistischen Kobold. Obwohl von Hagn großen Erfolg beim Publikum hatte, beklagten einige Zeitgenossen die Unwahrscheinlichkeit bzw. das Unangemessene ihrer Darstellung. So hieß es in einer Kritik: Mit diesen Schmetterlingsflügeln sollte es Fräulein v. Hagn schwerlich gelingen, die Erde in 40 der Minuten zu umgurten. Würde nicht ein dunkles Gewand für einen Kobold passender gewesen sein, wo Alles sich in Gold und Silber hüllte? 15 Dieser Zweifel am Geschmack oder der Wahrscheinlichkeit der Interpretation konnte den Erfolg und die Nachwirkung nicht aufhalten. Zu sehr erlaubte dieser Stil es, bekannte und geschätzte Darstellungsmuster von Schauspielerinnen, die mit den Schlagworten von Toilettenluxus und sinnlicher Ausstrahlung verbunden waren, mit der Figur des Pucks zu verbinden. Gleichzeitig aber wurde dadurch der Sommernachtstraum in die Nähe der Feerie gerückt, die als opulentes Zauberstück in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überaus populär war. Die Feerie - für ihre Kritiker der Inbegriff eines unrealistischen, geistlosen Kommerztheaters - basierte auf einer einfachen Handlung und einer schlichten Dramaturgie, die, ähnlich wie das Melodrama, klar zwischen Gut und Böse unterschied und deren eigentlicher Kern eine Fülle spektakulärer szenischer Effekte war. Dass der Sommernachtstraum in einer gewissen Verwandtschaft zu diesem anrüchigen Genre stand, war auch den Zeitgenossen unbehaglich bewusst, wie man der Mahnung Wilhelm Oechelhäusers entnehmen kann, der im Shakespeare-Jahrbuch 1870 schrieb, es müsse bei Inszenierungen “auf die Lachmuskeln des gebildeten Publikums, nicht der Gallerie, speculirt werden”. 16 Und Theodor Fontane mahnte angesichts einer Berliner Inszenierung aus dem Jahr 1880, der Sommernachtstraum sei “mehr […] als ein heiteres, phantastisches Ballet mit einiger Opernzutat”, 17 er sei vor allem und zuvörderst Dichtung. Diese ängstlich bestrittene Nähe zum Spektakel und damit zu zwar populären, aber kulturell als minderwertig betrachteten Theaterformen, war gerade deshalb so prekär, weil diese Verwandtschaft eben nicht klar räumlich und kulturell geschieden war, sondern auch in die prestigeträchtigen Hoftheater Einzug hielt. So zeigte etwa das Königlich Preußische Theater in Wiesbaden 1897 anlässlich der Kaiserfestspiele den Sommernachtstraum in einer aufwendigen, Aufsehen erregenden Inszenierung. Ein richtiger Wald, ein wirklicher Traum 21 Abb. 3: Ein Zimmer im Palast des Theseus, Wiesbaden 1897. (Programmheft Wiesbaden 1897) Der Intendant des Wiesbadener Theaters, Georg von Hülsen (1858-1922), ohnehin nicht gerade für einen dezenten Inszenierungsstil bekannt, entwickelte im Rahmen der Kaiserfestspiele 18 eine Bühnenästhetik, die sich nicht nur um eine “Glättung” von “Shakespeare’s Direktheiten und Urwüchsigkeiten im Ausdruck” 19 bemühte, sondern die gezielt Möglichkeiten einer ausgeweiteten szenischen Prachtentfaltung suchte. Diese Praxis, die unter der Überschrift der Wiesbadener Bearbeitung programmatischen Rang erhielt, organisierte bekannte kanonische Werke unter dem Gesichtspunkt des Melodramatischen um. Gemeint war damit eine dramaturgische Bearbeitung, die gezielt stumme Szenen, Balletteinlagen und ähnliches einfügte, um den szenischen Apparat zu voller Geltung zu bringen. Als exemplarisch für diesen Inszenierungsstil, den Ernst Leopold Stahl als “Orgien der Prunksucht” 20 bezeichnete, kann nebenstehende Abbildung (Abb.3) von Theseus’ Palast angesehen werden, die sich in überladenen Details ergeht. Stahl formulierte denn auch rückblickend: “Der Photograph und der Vermessungsamtmann führten das große Wort. Phantasie und Geist waren kaum mehr bemüht”. 21 Für diese ästhetische Praxis schien der Sommernachtstraum mit seinem Nebeneinander von Menschen- und Feenwelt und seinen unterschiedlichen Spielorten wie geschaffen. Die Inszenierung schwelgte in üppigen Bildern, wie man den Kritiken entnehmen kann: Alles das war auf seine poetisch-phantastische Wirkung wundervoll berechnet, und immer wieder vertiefte man sich gefesselt in den decorativen Zauber und ward nicht müde des neckischen Spiels zwischen Elfen und den Menschen … 22 Nicht alle Rezensenten teilten diese Begeisterung - im Gegenteil, es finden sich auch ausgesprochen kritische Stimmen gegen diese “Melodramatisierung” des Shakespeare’schen Textes. Besonders deutlich wird Eugen Kilian, der in einer allgemeinen Betrachtung “Zur Aufführung des Sommernachtstraums” im Shakespeare-Jahrbuch von 1898 die Wiesbadener Inszenierung ausdrücklich als Negativbeispiel benennt. So schreibt er mit Bezug auf die neu geschaffene, einleitende stumme Szene: Wohl noch nie hat eine deutsche Bühne auf die Vorführung dieser Komödie eine solch unerhörte und augenblendende Pracht von Dekorationen und Kostümen verwendet. […] Schon als der Vorhang über dem ersten Akte sich hob, wurde das Auge überrascht durch den Anblick eines Bacchanals, das in einem Prunksaal zu Ehren des fürstlichen Paares gefeiert wird: […] das Ganze ein sinnberükkendes, in seiner Art bezaubernd schönes Bild raffiniertester moderner Ausstattungskunst. Was diese stumme Scene aber, die eine beträchtliche Weile das Auge des Zuschauers gefangen nimmt, ehe der Dialog beginnt, mit Shakespeare und dem Sommernachtstraum zu schaffen hat, bleibt unerfindlich. 23 Kilians Warnung, dass “die Ausstattung als solche […] nie zum Selbstzweck werden” dürfe, gipfelt in seiner Feststellung, dass das “Wichtigere und Werthvollere” die “schauspielerisch[e] Wiedergabe des Dichterwortes” sei. 24 Ungeachtet der ästhetischen Wertung, die als Geschmacksfrage nicht zu diskutieren ist, ist es vor allem die wohlbekannte Denk- 22 Peter W. Marx Abb. 4: Szenenbild des Waldes in Beerbohm Trees Inszenierung 1900. figur, dass der Dichter vor dem Theater bzw. dem Regisseur zu schützen sei, die hier - wie auch später gegen Reinhardt - ins Feld geführt wird. Auffällig ist aber auch, dass dieser Gegensatz durch die Gegenüberstellung von Auge und Ohr erfolgt - eine Hierarchie der Sinne, die sich im 18. Jahrhundert mit Blick auf das Theater des Dramas etabliert hatte. Um die genealogischen Linien, die zu Reinhardts Sommernachtstraum führen, zu vervollständigen, muss man auch einen Blick nach London werfen, wo am 10. Januar 1900 das Stück in einer Inszenierung von Herbert Beerbohm Tree (1853-1917) am Her Majesty’s Theatre Premiere feierte. Zum Zeitpunkt der Premiere war Beerbohm Tree, einer der erfolgreichsten Schauspieler und Theaterleiter (“actor-manager”) seiner Zeit, auf dem Höhepunkt seiner Karriere und hatte sich einen Namen als Shakespeare-Regisseur gemacht. In der Forschungsliteratur, die ihn heute eher am Rande zur Kenntnis nimmt, 25 gilt sein Sommernachtstraum als Höhepunkt eines überholten, an Peinlichkeit grenzenden Realismus, der sich in Details und szenischen Effekten erschöpft. Zum Inbegriff dieser ängstlichen Realitätssucht wurden die legendären Kaninchen, die sich in Beerbohm Trees Wald getummelt haben sollen. 26 Auf den zweiten Blick aber erscheint diese Etikettierung, die Beerbohm Tree in das ästhetisch ‘unzulängliche’ 19. Jahrhundert ordnet, zu eilfertig: Bei näherer Betrachtung der Ausstattung und der Reaktionen des Publikums stellt man nämlich fest, dass es sich keineswegs nur um einen perfektionistischen Realismus handelte, der wild ins Kraut schoss, sondern dass der Inszenierung vielmehr eine Ästhetik zugrunde lag, deren Leitbegriffe - Nutzung aller szenischen Mittel, Abkehr vom Primat des Wortes - durchaus als vorausweisend auf die Moderne des 20. Jahrhunderts betrachtet werden können. Auch Beerbohm Tree stellte den Wald in das Zentrum seiner Inszenierung, wie der Kritiker der Londoner Times betont: No scene has ever been put upon the stage more beautiful than the wood near Athens in which the fairies revel and the lovers play their game of hide-and-seek. With a carpet of thyme and wild flowers, brakes and thickets full of blossom, and a background seen through the tall trees, of the pearly dawn or the deep hues of the night sky - the picture is one of real charm and restfulness. The mind in recalling it seems to dwell upon some actual beauty of nature instead of a painted arrangement of canvas and pasteboard. 27 Die Inszenierung lebte von einer Fülle kleiner Effekte, wobei Beerbohm Tree technisch originelle Lösungen ersann, wie den erwähnten Waldteppich, den Reinhardt später für Berlin übernahm, 28 oder kleine Glühbirnchen, die in Oberons Kostüm eingenäht waren. Im Zusammenspiel mit der Mendelsohn’schen Musik, die entgegen der Konvention in voller Länge gespielt wurde, und einer opulenten Ausstattung, deren Ausmaße man bereits an der Zahl von 70 Kindern, die als Elfen mitwirkten, erkennen kann, entstand eine atmosphärische Dichte, die an Kinderphantasien gemahnte. Ein richtiger Wald, ein wirklicher Traum 23 Very charming, too, is Mrs. Tree’s Titania. Her every movement is light and dainty, and as she trips to and fro amid her attendant sprites she looks just such a fairy queen as we have all in childhood pictured ourselves. 29 Das Träumerische der Inszenierung verstärkte sich noch durch einen Regieeinfall, der in seiner Wirkung eine Nähe zu Reinhardts Einsatz der Drehbühne zeigt: The glow dies away, the stage is swallowed up in gloom, the lights in the house are suddenly turned up, and the play is over. It is as if the audience were rudely awakened from a pleasing vision. A moment before they have been in darkness, watching the lighted stage and its throng of gay figures. There is a quick shifting of lights and they find themselves blinking at the curtain, wondering whether it has not really all been a dream. 30 Diese atmosphärische Dichte, die die Handlung des Stückes ganz in den Bereich des Fabelhaften verlagert, konnte nur gelingen, weil die Inszenierung keine Bezüge zur Gegenwart und Lebenswelt seines Publikums herstellte. Nur an zwei kleinen Stellen schien das London des Jahres 1900 durch: So sprach Louie Freear (1871-1939) als Puck mit starkem Cockney-Akzent und Beerbohm Trees Darstellung des Bottom wurde verschiedentlich als selbstironische Referenz auf seine eigene künstlerische Praxis interpretiert. Obwohl (oder vielleicht weil) die Inszenierung seinerzeit ein großer Erfolg war, wird sie von der Forschung heute kaum noch erwähnt. Zu sehr erscheint sie ein Musterfall des kommerziellen Londoner Theaters und des überlebten Victorian stage pictorialism. So wird im Verschwinden der Beerbohm Tree’schen Inszenierung aus dem kollektiven Gedächtnis der Theatergeschichte deutlich, wie sich der grand récit der Moderne nicht an der Theaterpraxis in ihrer Breite orientiert, sondern sich vornehmlich auf die Reformbestrebungen seit den 1890er Jahren konzentriert, die ihre ästhetische Praxis der Reduktion und Abstraktion mit dem Hinweis auf die vermeintlich historisch-authentische Konvention des Elisabethanischen Theaters begründeten. 31 Vergleicht man die Reinhardt’sche Inszenierung mit der von Beerbohm Tree, so wird schnell erkennbar, dass beide Produktionen dieser Richtung, die auf eine historisch adäquate Inszenierung zielte, nicht zugerechnet werden können. Beide Regisseure bedienten vielmehr das zeitgenössische Bedürfnis nach Spektakel und Sinnlichkeit und setzten auf eine in sich stimmige Bühnenatmosphäre. So sehr sich die szenischen Mittel gleichen, so sehr wird aber auch eine Unterschiedlichkeit zwischen Reinhardt und Beerbohm Tree erkennbar: Ein Blick auf das Londoner Bühnenbild des Sommernachtstraums macht deutlich, dass die Bühne zwar vielfach gefüllt war und lebendig wirkte, dass sie in ihrer äußeren Gestalt aber immer noch durch die Beschränkung gemalter Kulissen geprägt war. Der Raum, in dem sich die Darsteller frei bewegen konnten, ohne dass die graphisch erzeugte Tiefenwirkung zerstört wurde, war vergleichsweise schmal. Im Gegensatz dazu schuf Knina eine Raumbühne, deren räumliche Tiefe durch die Drehbühne noch besonders betont wurde. Mit Blick auf den Reinhardt’schen Ursprungsmythos, der mit dem Sommernachtstraum von 1905 verwoben ist, erstaunt es, in welchem Maße die Zeitgenossen sich der englischen Bühnenpraxis und der Nähe von Reinhardt und Beerbohm Tree bewusst waren. So schrieb Heinrich Stümcke: Wer nach London kommt und Englands größten Dramatiker auf der Bühnen kennen lernen will, den weisen die Gastfreunde und die Hotelportiers einmütig in His Majesty’s Theatre, und als Max Reinhardt den ‘Sommernachtstraum’ und ‘Die lustigen Weiber von Windsor’ herausbrachte und durch nie geschaute szenische Effekte verblüffte, da versicherten kundige Thebaner, daß er von jenseits des Kanals nicht nur 24 Peter W. Marx Abb. 5: Standbild aus dem Film Insel der Seligen (1913) Abb. 6: Arnold Böcklin: Im Spiel der Wellen (1883) die Anregung, sondern auch die Muster sich geholt habe. Beerbohm Tree sei groß und Reinhardt sein Prophet! 32 Maximilian Harden verwahrte sich 1905 gegen solche Stimmen und hob stattdessen die Unterschiede hervor: Der Neid hat ihm nachgezischelt, diesen Sommernachtstraum habe schon ein britischer Thespis geträumt und im Neuen Theater sei nur plagiirt, nicht geschaffen worden. Eine wohlausgesonnene Verdächtigung, die aber herzlich dumm ist. Was Herr Reinhardt der Schaulust bot, schiene den von Irving und Beerbohm Tree Verwöhnten wohl dürftig; und der feinste Reiz dieser Aufführung, ihr Orgelpunkt, fände die Leute der londoner season taub. 33 So kam es, als Beerbohm Tree 1907 erstmals nach Berlin kam, zu einer eigentümlichen Verkehrung, denn die Kritiker reagierten vergleichsweise kühl und abweisend. 34 Hatte Beerbohm Tree den Sommernachtstraum - hierin der deutschen Bühnenkonvention nicht unähnlich - als unschuldige Kinderphantasie und Märchenwelt gezeigt, bevölkerten Reinhardts Wald nicht mehr Kinder, ‘unschuldige’, neckische Wesen, sondern “halbnackte schlanke Mädchen, nur mit grünen Schleiern bedeckt”. 35 Seine Kritiker registrierten diese Verschiebung sehr bewusst und hoben sie zumeist lobend hervor. Diese Neuinterpretation der Fabelwesen, die gezielt erotische Obertöne einband, verweist auf eine weitere genealogische Linie, nämlich den seinerzeit legendären Schweizer Maler Arnold Böcklin (1827-1901). Auch wenn es nie eine förmliche Zusammenarbeit zwischen Reinhardt und Böcklin gab, lassen sich doch einige Bezüge feststellen: So basierten etwa die Wandmasken, die Reinhardts erstes Theater Schall und Rauch zierten, auf Entwürfen Böcklins, und als Reinhardt 1913 seinen Film Insel der Seligen drehte, griff er deutlich auf Böcklin’sche Bildmotive zurück. Jenseits dieser mehr oder weniger anekdotischen Berührungspunkte lässt sich ein innerer Bezug zwischen Reinhardt und Böcklin feststellen, der in Böcklins Bildsprache gründet: Dieser nämlich nimmt innerhalb der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts eine Sonderrolle ein. Zwar wurde Böcklin, der zu Lebzeiten ausgesprochen populär war, wie sich an den zahlreichen Reproduktionen seiner Bilder ablesen lässt, immer wieder in die Nähe der großen Strömungen der Moderne gestellt, letztlich aber stehen seine Bilder und ihr Stil quer zu diesen Entwicklungen. Seine fast schon eigentümliche Vorliebe für Nymphen, Einhörner und Kentauren trug Ein richtiger Wald, ein wirklicher Traum 25 ihm denn auch den Vorwurf der “Kentauromanie” ein. Dabei sind Böcklins Fabelwesen keine ätherisch-abstrakten Wesen, sie symbolisieren das Kreatürliche, Sinnliche. Zwar finden sich auch ironische Bilder, wie jenes des Kentaur beim Hufschmied, in der Regel aber überwiegen sinnlich-elementare Figuren und Szenen. Böcklin verbindet hierbei einen realistisch-detailgetreuen Stil mit der Darstellung seiner Fantasiegeschöpfe. Die in den Titeln angegebenen mythologischen Bezüge können kaum darüber hinwegtäuschen, dass Böcklin sich der Figuren lediglich bediente, um sie in seinem Sinne zu interpretieren. Alfred Julius Meier-Graefe hat in seiner Streitschrift Der Fall Böcklin (1905) dies als einen theatralen Grundzug der Böcklin’schen Bilder gekennzeichnet. Meier-Graefe, dessen Abrechnung für die folgenden Jahre die Rezeption des Malers nachhaltig lenkte, bemängelt bei ihm das Abzielen auf den Effekt, die simple Eindeutigkeit der Pose. So kritisiert er an William Turner, was er auch Böcklin vorwirft: Dagegen zeigen seine phantastischen Grotten, seine mythologischen Szenen, seine Feerien, in denen das Gemalte wie flatternder Tüll wirkt, eine zum Theater verwandelte Bildfläche. Sind seine Beleuchtungen im Bilde ungereimt, auf der Bühne kann man sich solche Effekte sehr reizvoll denken; was ihm dort an Solidität abgeht, könnte hier gerade zum Vorzug werden. 36 Letztlich sei, so Meier-Graefe, für den das Theater a priori nur eine mindere Kunst darstellt, die Bildkomposition Böcklins nicht künstlerischen Ideen verpflichtet, sondern einer billigen Effekthascherei: Der Held auf der Bühne wird bei ihm zur ‘Figur’. Seine Landschaften bilden lediglich die Kulissen seiner Figuren. […] Die Hauptsache, das Wesentliche […] wird nun deutlich erkennbar. Es beruht auf der Neuheit der Szene. 37 Liest man diese Kritik jenseits ihrer ästhetischen Wertung als eine Beschreibung von Darstellungsformen, so lässt sich durchaus eine Parallele zu Reinhardts Sommernachtstraum erkennen. Auch dessen Darstellung der Fabelwesen verband das Fantastische mit einem realistischen Darstellungsstil und löste sich so von tradierten Konventionen, um die Fabelwesen als Chiffren des Sinnlich-Kreatürlichen - auch in Abgrenzung zu vorherrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen - nutzen zu können. Durch die Übersetzung Pucks “in einen Böcklin’schen Troll”, 38 wie ein Kritiker vermerkte, eröffnete sich der Inszenierung ein über die Theatertradition hinausreichender Resonanzraum. Die Inszenierung im Spannungsfeld der genealogischen Linien Ohne im Entferntesten einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, lassen die aufgezeigten genealogischen Linien doch einige markante Züge der Reinhardt’schen Inszenierung erkennen: Reinhardt scheute sich offensichtlich nicht, unterschiedliche kulturelle Einflussfaktoren zu einem konstitutiven Moment seiner Inszenierung zusammenzubinden. So verknüpfte ihre visuelle Sprache Elemente der Populärkultur, wie dem kommerziellen “Spektakeltheater” englischer Prägung, das nicht vor einer opulenten szenischen Darstellung zurückschreckte, 39 mit einer avancierten Bühnenästhetik. In diesem Wechselspiel wurde der szenische Raum zu einem aktiven Mitspieler: Erst durch die opulente, detailversessene Darstellung des Waldes erhielt das technisch innovative Instrument der Drehbühne eine neue, symbolische Bedeutung. Ebenso wie die Beleuchtung trug sie zu einer Atmosphäre bei, die sich nicht auf der Ebene des Dargestellten erschöpfte, sondern die Zuschauer in ihrer Wahrnehmung einband. Es ist nicht 26 Peter W. Marx Abb. 7: Gertrud Eysoldt als Puck. (Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Schloss Wahn) ohne Ironie, dass gerade diese Verbindung von populärkulturellen Elementen, innovativer Technik und einem bekannten kanonischen Text die Wahrnehmung Reinhardts als Überwinder des Brahm’schen Bühnennaturalismus stärkte. Entscheidend trug zu dieser Wirkung auch Reinhardts Neuinterpretation der mythischen Fabelwesen bei. Standen diese seit dem 19. Jahrhundert eher unter dem Vorzeichen unschuldiger Niedlichkeit - eine Linie, die sich von Tieck über Hülsen bis zu Beerbohm Tree nachzeichnen lässt - betonte Reinhardt das Kreatürliche dieser Figuren. Seine Abwendung von der Praxis, die Elfen durch Kinder darstellen zu lassen, öffnet die Figuren als Chiffren vorzivilisatorischer Sinnlichkeit, wie sie sich bei Böcklin vorgebildet finden. Damit war der Wald nicht mehr eine kindliche Gegenwelt, sondern wurde zum Ort der ansonsten gesellschaftlich disziplinierten Sinnlichkeit und Sexualität. Wie sehr dies programmatischen Charakter hatte, kann man auch dem Umstand entnehmen, dass Reinhardt Puck durch Gertrud Eysoldt spielen ließ. Kein schelmisches Elfchen tanzt da im Ballettkleidchen vor uns, sondern es tollte ein Fäunchen, grundhäßlich, boshaft und gutmütig, mit derber Freude an Schabernack und Verwirrung, gänzlich mitleidlos die grimmigsten Schmerzen der armen Irregeführten, wenn sie nur komisch waren, mit einem erfreuten ‘Hoho-ho-ho’ begleitend. 40 Hatte Tieck noch die Sinnlichkeit der Charlotte von Hagn als der Figur entgegenstehende Störung kritisiert, provozierte Reinhardt durch die Besetzung mit Gertrud Eysoldt gerade diese Irritation und machte sie zu einem zentralen Bestandteil seiner Interpretation. Hierbei wirkten sich frühere Rollen der Eysoldt, wie Elektra (Hofmannsthal), Lulu (Wedekind) oder Salome (Wilde), 41 auf den Puck aus, wenn etwa Paul Goldmann ächzte, dass die Eysoldt als “Spezialistin für Hofmannsthalsche und Wedekindsche Frauengestalten” aus dem “lieblichsten Elfen, der je über die Bühne gehuscht ist, einen perversen Gassenbuben machte”. 42 Auch andere Kritiker bemerkten den neuen Akzent, den diese Besetzung für die gesamte Lesart des Stückes setzte: Seltsamerweise ließ man ferner den Puck durch die Darstellerin perverser Frauenrollen Frau Eysoldt spielen, welche aus dem Elfen einen häßlichen Waldkobold machte, der zwar jeder Poesie entbehrte, dessen Clownspäße jedoch den Beifall des Publikums fanden. 43 Marvin Carlson hat dieses Phänomen so treffend als Heimsuchung (“haunting”) beschrieben, 44 und darauf aufmerksam gemacht, dass eine Schauspielerin/ ein Schauspieler, der mit Ein richtiger Wald, ein wirklicher Traum 27 bestimmten Rollen großen Erfolg hatte, auch in neuen Rollen, die diesem Schema nicht entsprechen, von ihren/ seinen bisherigen Bühnenfiguren heimgesucht werden kann. Das Publikum sieht, so Carlson, neben der tatsächlichen Bühnenfigur, den unsichtbaren Körper der alten Rolle. Dass Reinhardt mit dieser Besetzung, die ja im Einklang mit seiner Lesart der Elfenwelt stand, eine grundsätzliche Interpretation des Stückes verfolgte, die auf die conditio humana des Menschen als (auch) kreatürliches Wesen zielte, hat besonders Maximilian Harden betont. 45 Für ihn unterstreicht der Reinhardt’sche Wald bei Athen, wie dünn der scheinbar so erhabene kulturelle Firnis über der Triebnatur des Menschen ist: Lachend verstanden wir die ewig unwandelbare Philosophie der Erotik und waren lachend bereit, den täppischen Puck zu den Weltweisen zu zählen, weil er wiehernd den Hengst vor die Wahl zwischen Stute und Hafer stellt und am Thiergleichniß ahnen lehrt, was wir bald danach im höheren Bereich unseres Wollens schauen: wie grundthöricht es ist, in dieser Welt irrer Triebe hochmüthig auf das Bewußtsein des homo sapiens zu pochen. 46 Harden deutet den Sommernachtstraum, angeregt durch Puck-Eysoldt, nicht mehr im Sinne einer eskapistisch-unschuldigen Kinderphantasie, sondern der Traum wird ihm zum Ausdruck sublimierter Wirklichkeit. Man darf wohl - ohne eine unmittelbare Wechselwirkung behaupten zu wollen - darauf verweisen, dass Freuds Traumdeutung, 1899 bzw. 1900 erschienen, hier als Resonanzraum sicherlich Pate stand. Es wäre eine unzulässige Verkürzung, Reinhardts Inszenierung als eine unmittelbare Wirkung dieses neuen Traumverständnisses lesen zu wollen - gleichwohl wird aber deutlich, dass eine ‘Unschuldigkeit’, wie sie durch die Kostümierung und Ausstattung konventioneller Inszenierungen des 19. Jahrhunderts noch behauptet wurde, von Reinhardt programmatisch unterlaufen wurde. Das agile und raumgreifende Spiel der Eysoldt, die vor Hässlichkeiten nicht zurückscheute, stand symbolhaft für die Rückkehr des Verdrängten. Allerdings wurde dies nicht als Konflikt ausagiert, sondern fand letztlich in der Opulenz der Darstellung eine harmonisierende Versöhnung. Der Erfolg beim Publikum und bei Teilen der Kritik blieb nicht unwidersprochen. Gerade aber die heute oft vergessenen, ablehnenden Stimmen geben Aufschluss über die kulturelle Positionierung der Produktion. So lästert Theodor Müller-Fürer über die “Kataloginszenierung”: Seit sich die Fabrikation von Theaterdekorationen aller Hülfsmittel des Kapitals, der Technik und der Kunst bemächtigt hat und ein ansehnlicher Industriezweig geworden ist, kann man ihr zumuten, auf der Bühne einen Wald plastisch aufzubauen: viele Bäume mit wirklichen Zweigen und Blättern, Unterholz, moosigen Waldboden, kleine glänzende Waldseen, in denen sich der Mond spiegelt, Schilf an ihren Ufern, Glühwürmchen in den Bäumen und im Grase, das Laub der Bäume muß im Winde rauschen, der Ast, auf dem der Faun die Rohrflöte bläst, muß beim Abspringen knacken, und Waldduft muß sich - wenn auch gemischt mit dem Gummiduft der nebelspendenden Dampfschläuche - von der Bühne in den Zuschauerraum ergießen. Das alles liefern Hugo Baruch u. Co. auf Bestellung in angemessener Frist. 47 Paul Goldmann, einer der treuesten Reinhardt-Gegner, stellt dem Regisseur den Dichter gegenüber: Es war also in dieser “Sommernachtstraum”- Aufführung vielerlei zu sehen, nur nicht der “Sommernachtstraum”. An die Stelle der Shakespeareschen Poesie traten die echten Bäume, an die Stelle des Dichters drängte sich anmaßend der Regisseur, an Stelle des “Sommernachtstraum” von William Shakespeare wurde ein “Sommernachtstraum” von Max Reinhardt aufgeführt. 48 28 Peter W. Marx Damit bindet Goldmann ex negativo die Inszenierung in den für das traditionelle Moderne-Verständnis so typischen Diskurs über die Eigenständigkeit des theatralen Kunstwerks ein. Die Schlagworte von Entliterarisierung und Retheatralisierung bilden hier einen begrifflichen Horizont, der es erlaubte, solche Stimmen als Kronzeugen für die Modernität Reinhardts in Anspruch zu nehmen. Eine solche Lesart läuft Gefahr, zugunsten einer Eindeutigkeit der Einordnung die verbindenden Momente und Kontinuitäten der genealogischen Linien auszublenden. Obgleich sich Reinhardt in vielen Punkten gegen die Bühnenkonvention wendet, zeigt doch die Nähe zu Beerbohm Tree oder den Böcklin’schen Bildwelten, dass er keineswegs einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit anstrebte. Vielmehr stand seine Inszenierung in einem produktiven, wenn auch nicht widerspruchsfreien Spannungsverhältnis zur Bühnenkonvention, der Zuschauererwartung und dem Anspruch auf Neugestaltung. So gesehen, fordert der Mythos des Reinhardt’schen Sommernachtstraums einen zweiten Blick: Wenn sich Reinhardt nicht eindeutig in den Kanon der Avantgarde sortieren lässt, dann kann die gespaltene Aufnahme der Zeitgenossen einen Hinweis auf die spezifische Besonderheit und Leistung dieses theatralen Ereignisses geben. Einen bemerkenswerten Ansatz hierzu bietet Ernst Heilborn in seiner Rezension, der Reinhardts Bühne mit der Struktur des Elisabethanischen Theaters vergleicht. Deutlich - hier lassen sich Parallelen zu Goldmann und Müller-Fürer feststellen - beschreibt Heilborn die Abweichung, die er vor allem in einer überbordenden Ästhetik und Visualität erkennt. Heilborn lehnt die Inszenierung aus diesem Grund aber nicht ab, sondern versteht sie als Antwort auf die zeitgenössische Bedingtheit des Berliner Publikums 1905: Aber wir sind weit davon entfernt, ein ideales Publikum zu sein, wir sind phantasielose, überbürdete Großstadtmenschen, und unsere Schauspieler sprechen den Vers, als läsen sie Ansichtspostkarten vor. Shakespeares Bühnengedichte sind in den Jahrhunderten seit ihrem Entstehen dieselben geblieben, die Zuschauer aber sind andere, ganz andere geworden. So meine ich, ist es recht, wenn man uns die Brille aufsetzt, ohne die wir nun einmal nicht sehen können; wenn man unserm Farbensinn schmeichelt, um uns die Traumwelt zu eröffnen, in der Menschen des 16. Jahrhunderts ohnedies heimisch waren; wenn man unserer armen, mißhandelten Einbildungskraft bewußt zu Hilfe kommt. 49 Heilborns Deutung ist nicht nur von einer bemerkenswerten Gelassenheit und Einsicht in die eigenen historischen Fallstricke, sie entwickelt auch eine Idee zur Aneignung kanonischer Werke, die als ausgesprochen innovativ gelten kann. Folgt man Heilborn, so hat Reinhardts Inszenierung ihre szenischen Mittel selbstbewusst eingesetzt, um die Idee des Shakespeare’schen Textes in eine für die Zeitgenossen annehmbare Form zu bringen. Die Formel der “Brille, ohne die wir nun einmal nicht sehen können”, kann als erkenntnisleitendes Konzept für die Beschreibung der Reinhardt’schen Inszenierung angesehen werden. Hierbei bleibt für den heutigen Betrachter, der die Fäden des Gesamten nachträglich entwirrt, die Vielfalt, aber auch die Widersprüchlichkeit der unterschiedlichen Einflüsse und Quellen offen nebeneinander stehen. Heilborns Vorstellung, dies als Bedingung einer zeitgenössischen oder besser zeitgemäßen Rezeption Shakespeares zu deuten, lenkt den Blick auf einen bemerkenswerten Zusammenhang: Reinhardts Inszenierung harmonisiert nicht etwa das heterogene Material, das Shakespeare für sein Stück verarbeitet hat, sondern übersetzt diese Heterogenität in eine Vielfalt der Formen und Einflüsse. Hierdurch entsteht eine Dialektik, die für die Theatergeschichte insgesamt durchaus von zentraler Bedeutung ist: Dort, wo die Bühne Ein richtiger Wald, ein wirklicher Traum 29 sich den historischen Bezügen ihrer Zeit öffnet, die eigene Geschichtlichkeit programmatisch in ihre Kunst und Ausdrucksformen einbindet, gewinnt sie bisweilen eine Gestalt, die sie der Flüchtigkeit des eigenen Augenblicks enthebt - da wird die Bühne tatsächlich zum Wald und das, was sie zeigt, zum Traum als Moment kultureller Selbstreflexion. Anmerkungen 1 Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit. 2 Bde, 1927-1931, 16. Aufl., München 2005, S. 13. 2 Beispielhaft ist hier Günther Rühle in seiner jüngst erschienen Studie Theater in Deutschland, wenn er die Inszenierung als “Wiedergeburt des Theaters aus dem Traum” (S. 113) beschreibt; vgl. Günther Rühle, Theater in Deutschland, 1887-1945. Seine Ereignisse - seine Menschen, Frankfurt/ Main 2007. 3 Max Reinhardt, “Über ein Theater, wie es mir vorschwebt” [orig.: 1901], in: Hugo Fetting (Hrsg.), Max Reinhardt, Leben für das Theater. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus den Regiebüchern, Berlin 1989, S. 73-76, hier S. 73. 4 Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit., S. 11. 5 Friedell schreibt: “Was aber im Speziellen die Kulturgeschichte betrifft, so ist es schlechterdings unmöglich, sie anders als dilettantisch zu behandeln. Denn man hat als Historiker offenbar nur die Wahl, entweder über ein Gebiet seriös, maßgebend und authentisch zu schreiben […], oder mehrere, womöglich alle Gebiete vergleichend zusammenzufassen, aber auf einer sehr leichtfertige, ungenaue und dubiose Weise”; Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit., S. 49. 6 Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, S. 28. 7 Ebd., S. 17. 8 Friedrich Düsel, “Deutsche Zeitung v. 2.2.1905”, in: Norbert Jaron, Renate Möhrmann, Hedwig Müller (Hrsgg.): Berlin - Theater der Jahrhundertwende. Bühnengeschichte der Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik (1889- 1914), Tübingen 1986, S. 567f.; hier S. 567. 9 Ernst Heilborn: “Frankfurter Zeitung v. 4.2.1905”, in: Norbert Jaron, Renate Möhrmann, Hedwig Müller, (Hrsgg.): Berlin - Theater der Jahrhundertwende. Bühnengeschichte der Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik (1889-1914). Tübingen 1986, S. 569f.; hier S. 569. 10 Eduard von Winterstein, Mein Leben und meine Zeit. Ein halbes Jahrhundert deutscher Theatergeschichte, Berlin 1947, S. 172f. 11 Heinrich Stümcke, Bühne und Welt Jg. 7. H. 10. 1905, in: Norbert Jaron, Renate Möhrmann, Hedwig Müller, (Hrsgg.): Berlin - Theater der Jahrhundertwende. Bühnengeschichte der Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik (1889-1914). 1906, Tübingen 1986, S. 574f. 12 So weist der deutsche Bühnenverein in seiner Statistik für die zurückliegende Spielzeit 20 Inszenierungen mit 300 Aufführungen aus, die von insgesamt 111.316 Zuschauern besucht wurden. Damit liegt der Sommernachtstraum an sechster Stelle und war das meistgespielte Shakespeare-Stück der letzten Spielzeit. 13 Ludwig Tieck: “‘Der Sommernachtstraum’, von Shakespeare” [orig.: 1852], in: Ludwig Tieck (Hrsg.), Kritische Schriften. Zum ersten Mal gesammelt und mit einer Vorrede herausgegeben. Vierter Band. (Dramaturgische Blätter. 2. Teil.) Berlin/ New York 1974, S. 375-76; hier S. 376. 14 Wie sehr dies durch das Rollenfach von Hagns angelegt war, kann man der Beschreibung von Ludwig Eisenberg in seinem “Großen Biographischen Lexikon” (1903) entnehmen: “Von einer glänzenden Erscheinung voll der anmutigsten Formen unterstützt, legte sie auf diese [Konversationsstücke] den Schwerpunkt und die Darstellung heiterer und ausgelassener Weltkinder, sowie der koketten Salondamen fand an ihr eine außerordentlich glückliche und begabte Repräsentantin.” Ludwig Eisenberg, Das Große Biographische Lexikon der deutschen Bühne im 19. Jahrhundert, Leipzig 1903, S. 384. 15 Zit. nach Julius Petersen, “Ludwig Tiecks Sommernachtstraum-Inszenierung”, in: Neues Archiv für Theatergeschichte 2 (1930), S. 163-98; S. 194. 30 Peter W. Marx 16 Wilhelm Oechelhäuser, “Ueber die Darstellung des Sommernachtstraums auf der deutschen Bühne”, in: Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 5 (1870), S. 310-24; S. 321. 17 Theodor Fontane, Causerien über das Theater, 2. Aufl., Berlin 1905, S. 479. 18 Vgl. zu Hülsens Stil und seiner Direktion Maximilian Stetten, “Georg von Hülsen und das Königliche Theater zu Wiesbaden”, in: Bühne und Welt 1 (1898/ 99), S. 101-106, der allerdings (im Stil seiner Zeit) nicht zu einer wirklich kritischen Würdigung Hülsens gelangt. Vgl. auch Heinrich Stümcke, “Die Festspiele auf dem Wiesbadener Hoftheater. Ein kunstpolitischer Traktat”, in: Bühne und Welt 1 (1898/ 99), S. 769-84. 19 Gerda Haddenhorst, Die Wiesbadener Kaiserfestspiele 1896-1914. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau. XXXVI.) Wiesbaden 1985, S. 31. 20 Ernst Leopold Stahl, Shakespeare und das deutsche Theater. Wanderungen und Wandlungen seines Werkes in dreiundeinhalb Jahrhunderten, Stuttgart 1947, S. 472. 21 Stahl, Shakespeare, S. 472. 22 Haddenhorst, Die Wiesbadener Kaiserfestspiele, S. 31. 23 Eugen Kilian, “Zur Aufführung des Sommernachtstraums”, in: Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 34 (1898), S. 52-65; S. 55. 24 Kilian, “Zur Aufführung”, S. 55. 25 Symptomatisch hierfür ist etwa Jay Halios Studie A Midsummer Night’s Dream (1994), die die jüngere Bühnengeschichte des Stücks beschreibt und die Beerbohm Tree zwar in einer Kapitelüberschrift aufführt, seiner Inszenierung aber nur knappe zwei Seiten widmet. 26 Vgl. ausführlich zu der Inszenierung und auch zur Frage der Kaninchen B. A. Kachur, “Herbert Beerbohm Tree’s A Midsummers Night’s Dream: A Case in Point”, in: Theatre Studies 26/ 27 (1979/ 81), pp. 99-116. 27 Anonymus, “Her Majesty’s Theatre ‘A Midsummer Night’s Dream’”, in: The Times January, 11, 1900, S. 4. 28 Dies berichtet Winterstein, Mein Leben, S. 171. 29 Anonymus 1900, S. 4. 30 Anonymus 1900, S. 4. 31 Vgl. hierzu Wilhelm Hortmann, Shakespeare und das deutsche Theater des XX. Jahrhunderts, Berlin 2001, bes. S. 34-41. 32 Heinrich Stümcke, “Von den Berliner Theatern 1906/ 07. XIV”, in: Bühne und Welt 9 (1907), S. 121-27; S. 121f. 33 Maximilan Harden, “Theater”, in: Die Zukunft 52 (1905), S. 186-96; hier S. 196. 34 Alfred Klaar schrieb in der Vossischen Zeitung: “Die szenischen Bilder haben in geschwätzigen Reklamen einen so großen Schatten vorausgeworfen, daß das Licht, das sie nun ausstrahlten, auch nicht entfernt den Erwartungen entsprach. […] Wir hatten an diesem ersten Beerbohm-Abend nichts zu bestaunen, und es ist wenig und unwesentlich, was wir von ihm annehmen können. Gibt er uns über das ethnographische Interesse hinaus eine Lehre, so ist es nur die, unseren Shakespeare auf dem längst beschrittenen Wege nicht tiefer durchzubilden, aber auch höher einzuschätzen.” Alfred Klaar, “Neues Königliches Operntheater: Gastspiel Beerbohm Tree: ‘König Richard I’”, in: Vossische Zeitung 13. April 1907, o.S. 35 Winterstein, Mein Leben, S. 172. 36 Alfred Julius Meier-Graefe, Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten, Stuttgart 1905, S. 204. 37 Meier-Graefe, Der Fall Böcklin, S. 229f. 38 Meyerfeld 1905, S. 307; vgl. hierzu auch Rühle, Theater in Deutschland, S. 109. 39 Vgl. hierzu einführend Michael R. Booth, Victorian Spectacular Theatre 1850-1910, Boston [etc.] 1981, pp. 1-29. 40 Gertrud Prellwitz, “Theater-Korrespondenz”, in: Preu§ische Jahrbücher 120 (1905), S. 149- 55, hier S. 150. 41 Vgl. zur Spielweise der Eysoldt auch Erika Fischer-Lichtes Lesart ihrer Elektra 1903; Erika Fischer-Lichte, Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre. London/ New York 2005, bes. pp. 1-14. 42 Paul Goldmann, Vom Rückgang der deutschen Bühne. Polemische Aufsätze über Berliner Theater-Aufführungen, Frankfurt/ Main 1908, S. 232. 43 Anonymus, “Neue Freie Presse v. 3. 2. 1905”, in: Norbert Jaron, Renate Möhrmann, Renate, Hedwig Müller (Hrsgg.), Berlin - Theater der Ein richtiger Wald, ein wirklicher Traum 31 Jahrhundertwende. Bühnengeschichte der Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik (1889-1914), Tübingen, 1986, S. 570f. 44 Vgl. Marvin Carlson, The Haunted Stage. The Theatre as Memory Machine, [ 1 2001], Ann Arbor 2003, bes. pp. 52-95. 45 Harden setzt dies bewusst auch gegen die bisherige Darstellungstradition, wenn er schreibt: “Denn Puck ist weder eines weisen Prospero wohlerzogener Knecht noch ein Seidenpage, der, mit Essenzen besprengt, in Palastzimmern lungert, sondern ein stämmiger Bursch, den das feinere Elfenvolk einen täppischen Gesellen schilt, ist Robin good Fellow, der tausenderlei Schabernack im Schlingelhirn hat, mit heller Schadenfreude die schläferige Gevatterin aus der Dünnbierruhe zwickt, den müden Wanderer ins Dickicht foppt und sich vor Wonne auf seinem Moospolster kugelt, wenns ihm gelang, mit verheißendem Stutengewieher den Hengst von der vollen Haferkrippe zu geilen”; Harden, “Theater”, S. 194. 46 Harden, “Theater”, S. 195. 47 Theodor Müller-Fürer, “Neue Preussische Zeitung v. 1.2.1905”, in: Norbert Jaron, Renate Möhrmann, Renate, Hedwig Müller (Hrsgg.), Berlin - Theater der Jahrhundertwende. Bühnengeschichte der Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik (1889-1914), Tübingen 1986, S. 571f, hier S. 571. 48 Goldmann Vom Rückgang der deutschen Bühne, S. 232f. 49 Heilborn “Frankfurter Zeitung”, S. 569. Theaterwissenschaft Narr Francke Attempto Verlag Postfach 25 67 · D-72015 Tübingen www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Peter W. Marx Max Reinhardt Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur 2006, 250 Seiten, zahlr. Abb., € 29,90/ SFr 52,20 ISBN 978- 3-7720-8175- 0 “Wo der Begriff Theater gedacht wurde, war sein Name gleich mitgedacht.” So urteilt etwa der Zeitgenosse Bruno Frank über Max Reinhardt, und an weiteren überschwänglichen Würdigungen des genialen “Theatrarchen” ist bis heute wahrlich kein Mangel. Dieses Buch zieht nun zum ersten Mal eine umfassende Bilanz: Es stellt Reinhardts Theaterkonzept und seine ästhetischen Projekte ebenso vor wie die ganz eigene Struktur des Reinhardt’schen Theaterimperiums. Und es arbeitet die Stärken, aber auch die Schwächen seines Entwurfs klar heraus. Abschließende Bemerkungen gelten dem Schicksal des Juden Max Reinhardt sowie dem Aufstieg und Ende seines Theaters vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Reinhardts Leben und Wirken wird im Lichte dieser Betrachtungen zum Spiegel einer bewegten Zeit. Schauspiel durch Medien um 1900. Die verdeckte Funktion der Techne bei Konstantin Stanislawski und Alexander Moissi Wolf-Dieter Ernst (München) Schauspiel durch Medien: Ein Plädoyer, die theatrale Repräsentation als rhetorische Techne zu begreifen Schaut man sich die aktuelle Theaterlandschaft an, so scheint die ‘Medienfrage’ in den darstellenden Künsten ihren experimentellen Status verlassen zu haben. In aktuellen Inszenierungen der etablierten Theater jedenfalls wird der Schauspieler mehr denn je von Medienapparaten begleitet. Videokameras nehmen sein Spiel ab, wie in jüngeren Arbeiten von Frank Castorf und Stefan Pucher zu sehen. Großaufnahmen zitieren besonders eindrucksvolle Mimiken. Vorher gestaltetes Material bereichert als elektrische Teichoskopie den Ort des Geschehens um einen Ort der Erinnerung. Mikro-Ports und Sound-Editing sind ebenso Standard wie Drehbühne und Lichtdesign. So die häufigsten medialen Effekte, mit denen die Experimente der Performance Kunst, Video Art und Closed Circuit Installationen ins Erzähltheater Einzug halten. Dabei scheinen sich im aktuellen Theater zwei Verfahren des Medieneinsatzes heraus zu bilden. Zum einen der Einsatz als dramaturgisches Mittel, zum anderen der Einsatz als rhetorische Technik. Als dramaturgisches Mittel dienen mediale Effekte der Darstellung, helfen den Spannungsbogen zu etablieren. Als rhetorische Technik sind Medien selbst der Raum der schauspielerischen Darstellung. Sie sprengen die geschlossene Form auf und spielen sich selbst als Quasi-Akteur in den Vordergrund. Im Folgenden geht es nun nicht um die Wiederaufnahme möglicher normativer Bestimmungen oder gar um eine Wertung dieser Verfahren. Nicht also, ob der Medieneinsatz der einen oder anderen Art dem Schauspiel dienlich sei, soll hier zur Diskussion stehen. Vielmehr wird die Unterscheidung von dramaturgischen Mitteln und rhetorischen Techniken bemüht, um die Medienfrage nicht als aktuelles Phänomen, sondern eher als strukturelles Problem jeder szenischen Darstellung und ihrer Technik zu diskutieren. Technik meint hier freilich nicht einen Technizismus, der den jeweiligen Stand der Medientechnik zum Inbegriff der Erkenntnis erklärt. Differenzierter gedacht, wäre von Medientechnik als einer darstellungstheoretischen Größe auszugehen, insofern eine Darstellung immer bereits technisches Denken und Entwerfen erfordert und aktualisiert. Die jeweiligen apparativen Konfigurationen, die Leinwände, Bildschirme und Lautsprecher auf der Bühne sind dann lediglich als spezifische Ausformulierungen dieses Denkens anzusehen. Als rhetorische Technik verstanden ist Technik also nicht Mittel, dient nicht der Darstellung, sondern sie trägt selbst Züge einer Darstellung. Man findet sie immer dort, wo sich Produktionsweisen herausgebildet haben, die die Unabhängigkeit der Bühnenmittel propagieren. Anders formuliert: Es wird dann nicht mehr eine zuvor verfasste Geschichte dargestellt, sondern der Prozess des In-Szene-Setzens selbst als einem fragilen Zusammenspiel der Elemente des Theaters vollzieht sich. Ein Lichteinsatz, eine Kamera nehmen den gleichen Stellenwert ein, wie ein Schauspieler oder ein Regisseur. Solcher Art haben wir es mit einer Darstellung des Darstellens zu tun. Sie ist daran erkenntlich, dass keines der Elemente ersetzbar wäre durch ein Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 33-45. Gunter Narr Verlag Tübingen 34 Wolf-Dieter Ernst anderes Bühnenmittel, ohne die Darstellung grundlegend zu ändern und weiterhin daran, dass für die Darstellung und als Darstellung die Standards vorhandener Techniken aufgebrochen, unterlaufen oder weiter entwickelt werden. Diese Verfahren könnten als Schauspiel durch Medien bezeichnet werden, um klar zum Ausdruck zu bringen, dass die Technisierung und Medialisierung notwendige Bedingungen der Darstellung und des Nachdenkens über die Darstellung sind. Von Schauspiel durch Medien wäre die begriffliche Addition Schauspiel und Medien zu unterscheiden, in welchem Medien als optionale Mittel eines an sich unveränderlichen Darstellungsmodells genutzt werden. Die rhetorischen Mittel ließen sich niemals auf technische Effekte im Sinne der Industrie reduzieren, sondern waren immer auch Techne, d.h. Wissen, Listen und Verfahren im Sinne der Künste. 1 Wie Anselm Haverkamp erläutert, ist Technik keine Entwicklung des offenkundigen Funktionierens oder Nichtfunktionierens […], sondern - rhetorisch, wie sie ist - die Geschichte eines weitgehend verdeckten Funktionierens. […] Das rhetorische Axiom, das in der technischen Halbierung der Rhetorik [auf ‘persuasive Kommunikation’ und ‘Anwendung’, W.D.E.] verdeckt liegt, besteht in nichts anderem - nicht mehr und nicht weniger - denn der prinzipiellen Verdecktheit der Mittel aller Rhetorik oder, genauer, dem dialektischen Wechselspiel von Verdeckung und Aufdeckung in der Mittelbarkeit rhetorischer […] Mittel. 2 Haverkamp verdeutlicht diesen Befund am Beispiel der Pygmaliongeschichte, deren Pointe darin bestünde, den Effekt der Verlebendigung des Marmors in Form der Statue nicht nur vorzuführen, sondern ihn als Verfahren zu beschreiben, in Szene zu setzen. Dieser Prozess der In-Szene-Setzung kann jedoch nur als Latenz von Sein und Schein gelingen, in der “ästhetisch perfekten, untergründig unheimlichen Belebung der Phantasmen”. 3 Die Kunst bestehe also darin, ihre eigene Technik in die Latenz von Zeigen und Verbergen zu bringen, was so ziemlich das Gegenteil der aktuellen Debatte um “die Medien” und deren Präsentationsleistung darstellt. Die Frage wäre daher, ob in aktuellen Inszenierungen tatsächlich Experimente gewagt werden, die sich diesem verdeckten Funktionieren der Technik widmen, die Latenz erzeugen, oder ob lediglich der mediale Effekt vom Schauspieler verstärkt wird. Werden die Mittel ausgereizt, gar erweitert, oder helfen mediale Apparaturen dort aus, wo der dramaturgische Bogen des Literaturtheaters nach einer affektiven Intensität ruft, die sich mit der Deklamation der Verse nicht mehr einstellen will? Eine grundlegendere Problematisierung der Technik müsste also den Aspekt der Nicht-Verfügbarkeit von Technik als einem wesentlichen Charakteristikum künstlerischer Experimente stark machen. Im Moment der Nicht-Verfügbarkeit, dem verdeckten Funktionieren der Technik, sehe ich daher auch die Parallele von ‘neuerer’ Szenografie mit audiovisuellen Medien und ‘älterem’ Schauspieler-Theater, die im Folgenden mein Thema sein werden: Beide Darstellungsweisen können als rhetorische Technik auf die Momente ihrer verdeckten Funktion hin betrachtet werden. Die Rollenverkörperung als Technik Wie aber sieht diese verdeckte Funktion der Körpertechnik des Schauspielers aus? Diese Frage soll hier auf die visuelle Rhetorik des Schauspiels, die Arbeit mit den so genannten “Vorstellungsbildern” 4 , bzw. den Bildkonzepten der antiken Mnemotechnik eingegrenzt werden. Was wird im Akt der Rollenverkörperung übertragen? Die Norm des Literaturtheaters würde dies etwa wie folgt festschreiben: “Der Sprechende lässt die befreiende und formende Kraft des dichterischen Werkes auf sich einwirken und umgekehrt das Schauspiel durch Medien um 1900 35 Kunstwerk durch seine Persönlichkeit Gestalt werden”. 5 Aber dieser Mechanismus zwischen Dichterwerk und Bühnengestalt funktioniert so nicht. Die Figur ist ja kein “Container”, wie es Richard Foreman einmal ausdrückte, in welchem das Dichterwort zum Ohr des Zuschauers transportiert wird. Was jede Praxis anschaulich macht und jede Dialektik von Innen und Außen in der Schauspieltheorie schon formulierte, ist doch dies, dass es in der Arbeit an der Rolle immer um spezifische Über- und Unterbietungen eines idealen Modells gehen muss, mithin also um Experimente mit per se offenem Ausgang. Man schaut sich die x-te Wiedergabe einer bekannten Rollenfigur ja nur deshalb an, weil es immer auch um die spezifische Übertragung selbst geht. Man muss also im Sinne der rhetorischen Technik die Latenz der Übertragung selbst als eine Darstellung der Darstellung bedenken. Diese Latenz der Übertragung kann auf die Körpertechnik des Schauspielers bezogen unter dem bildrhetorischen Begriff der visuellen Energie diskutiert werden. Das mediale Szenario und die mediale Problematik bestehen dann genauer gesagt in dem Vorhaben, die visuelle Energie des Vorstellungsbildes als ein Mittel der Übertragung nutzen zu wollen und - so die Eigenlogik der Medien - nicht auf einen Nutzen reduzieren zu können. Diese mediale Problematik zeigt sich an der Oberfläche. Keineswegs nämlich haben wir es bei visueller Energie mit einer stummen oder untergründigen Kraft etwa der Psyche oder des Körpers zu tun, wie es in der Anwendungsliteratur gerne kolportiert wird. Energie selbst ist immer die Relation von Aufladung und Hemmung. Der Zusatz “visuell” macht uns daher darauf aufmerksam, dass die Mittel in der Lage sind, eigene, nicht geplante Sichtbarkeiten zu generieren, die dem Ideal des Rollenbildes zu wider laufen. Bevor dieses mediale Szenario der Aufladung und Enthemmung näher beleuchtet wird, scheinen einige Bemerkungen zur historischen Perspektive angebracht, auf die der Titelzusatz ‘um 1900’ anspielt und die uns die Bedeutung von Konstantin Stanislawski und Alexander Moissi als historische Figuren erhellen können. Für die methodische Entwicklung ist dieser Zeitraum von gewaltigen Reformbestrebungen und heftigen Debatten gekennzeichnet, mit denen versucht wird, die darstellungstheoretischen Ideen des bürgerlichen Literaturtheaters mit den neuen Erkenntnissen der Psychologie und Anthropologie zu versöhnen. Vielfach wurde auf die epistemische Wende im Zeichen technischer Medienentwicklung hingewiesen, von der die Reformen des Schauspiels beeinflusst sind. Gabriele Brandstetter hat in ihrer Studie zu den Körperkonzepten der frühen Avantgarden auf die grundlegende “Wahrnehmungskrise” 6 des Fin de Siècle aufmerksam gemacht. Im Bereich der darstellenden Künste tritt hier die Generation nach 1871 an den Start, um neue Theater zu gründen und neue Ästhetiken als Retheatralisierung des Theaters auszuprobieren. Je näher man sich freilich mit den technischen, ästhetischen und epistemischen Umbrüchen befasst, desto deutlicher wird, dass eine genaue Datierung dieser Umbruchsituation nicht möglich und sinnvoll ist. Die Jahreszahl also markiert eine problemgeschichtliche Setzung. ‘Um 1900’ ist zum einen die Zeit der Pädagogisierung der Schauspielausbildung, der Gründung wichtiger Schauspielschulen und der Erprobung von Schauspielmethoden. 1890 gründet Nemirowitsch-Dantschenko das Moskauer Künstlertheater, ab 1907 beginnt Stanislawski mit Skizzen für seine Schauspielmethodik. 1905 werden Schauspielschulen in Düsseldorf, Köln und Berlin gegründet, Jacques Dalcrozes Lehre der rhythmischen Gymnastik wird publik. Verkörperung als ein Theaterprinzip erlangt neue Aufmerksamkeit über die Re- 36 Wolf-Dieter Ernst formbewegung (und Reformpädagogik), die sich auch in Bewegungen wie dem freien Tanz niederschlagen. Zugleich stehen die Bestrebungen zur Methodisierung der Schauspiel- und Körperausbildung im Zeichen des Energiediskurses. Elektrische Energie als Phänomen war zwar durch Galvani und Volta bereits um 1800 beschrieben worden, das mathematische Verständnis dieser Effekte jedoch nahm erst durch die ab 1850 einsetzende Erweiterung der Newtonschen Mechanik durch die Thermodynamik eines Robert Mayers (1842) und Hermann von Helmholtz (1855) Konturen an. Ihren kulturellen Einfluss kann man etwa mit der Verbreitung elektrischer Beleuchtung der Großstädte und ihrer Verknüpfung durch diverse Tele-Techniken ab 1880 festmachen. Vereinfacht gesagt: ‘Energie’ hat um 1900 die Konjunktur wie heute vielleicht ‘Medien’ und führt gar wie bei Wilhelm Ostwald zur Spekulation über die “Energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft”. 7 Das hat Folgen für die zeitgleich entworfenen Methoden des Schauspiels wie es uns als so genannter “psychologischer Realismus” auch heute noch geläufig ist. In die energetische Vorstellung vom Schauspiel fließt nämlich nicht nur das Wissen der antiken Rhetorik ein, die Arbeit mit den visiones, 8 oder imagines agentes. 9 Die Vorstellung einer bewegenden Kraft der Bilder - das kann hier nur angerissen werden - speist sich in dieser Zeit ebenso aus der physiologischen Psychologie eines Theodule Ribot, 10 aus dem Behaviourismus eines Iwan Petrowitsch Pawlow, rekurriert auf die Humboldtsche Auffassung der Sprache als Tätigkeit (Enargeia), 11 und auf Spekulationen über die Wirkung der unsichtbaren elektrischen Energie, die bis in den Okkultismus einer Helena Petrovna Blavatsky reichen. 12 Alle diese Einflüsse lassen sich beispielsweise in den Schriften Stanislawskis nachweisen. Wenn Alexander Moissi anlässlich seines Moskauer Gastspiels 1928 den Theaterpädagogen als “geliebten - wie einen lieben Vater geliebten Stanislawski” 13 ehrt, Stanislawski umgekehrt die baldige Rückkehr des großen Sohnes an sein Haus wünscht, so ist damit nicht nur eine Generationenfolge in einer ‘Theaterfamilie’ bezeichnet. Es zeichnet sich zugleich ein Zusammenhalt der beiden Protagonisten des psychologischen Rollenspiels gegen die massiven politischen und medialen Umwälzungen ab, die die Kohärenz des von ihnen praktizierten und favorisierten Theatermodells bedrohen. Moissis vergebliche Versuche im Filmbusiness Fuß zu fassen, legen von diesem Kohärenzverlust des psychologischen Rollenmodells ebenso Zeugnis ab, wie Stanislawskis Abwehr des revolutionären “Theateroktobers” eines Meyerhold, Majakowski und Tretjakow - ehemalige Regiekollegen in seinem Haus. Die Versuche einer quasi-wissenschaftlichen Methodisierung des Schauspiels und der Institutionalisierung der Ausbildung finden also just in der historischen Epoche statt, in welcher die traditionelle Weitergabe des schauspielerischen Wissens und Könnens vom Vater auf den Sohn - von Kainz und Reinhardt auf Moissi etwa - nicht mehr garantiert werden kann. Damit wäre der historische Rahmen der folgenden Ausführungen zur Schauspieltechnik grob umrissen: Es geht um die visuelle Energie als eine rhetorische Technik und deren Aspekt der Unverfügbarkeit als sein Wirkungsmechanismus. Das Schauspiel um 1900 als Arbeit mit visueller Energie werde ich in drei Schritten entwickeln. 1. Erläuterung zur visuellen Energie als einer rhetorischen Technik 2. Die Funktion dieser Technik in der Darstellungstheorie am Beispiel Stanislawski 3. Die Wirkung dieser Technik in Franz Kafkas Beschreibung eines Auftritts von Alexander Moissi (1912). Schauspiel durch Medien um 1900 37 1. Visuelle Energie als rhetorische Technik Energie ist eine Relation. Dies zeigt die vielschichtige Entstehungsgeschichte der Mnemotechnik ebenso wie die semantische Überkreuzung von energeia und enargeia, bzw. deren durch Cicero erfolgten lateinischer Übersetzung als evidentia. 14 Immer geht es dabei um ein Wechselspiel an sichtbarer Form, bzw. sichtbarem Eindruck und basaler Kraft oder Grundlage der Sichtbarkeit. In der Ausbildung des Redners beschreibt Quintilian die Arbeit mit visueller Energie am Beispiel einer Rede vor Gericht in einem Bild: Ich habe Klage zu führen, ein Mann sei erschlagen. Kann ich da nicht all das, was dabei, als es wirklich geschah, vermutlich vorgefallen ist, vor Augen haben? Wird nicht plötzlich der Mörder hervorbrechen? Nicht das Opfer voll Angst aufschrecken? Wird es schreien, bitten oder fliehen? Werde ich nicht den Schlag fallen, das Opfer zusammenbrechen sehen? Wird sich nicht sein Blut, seine Blässe, sein Stöhnen und schließlich sein letzter Todesseufzer meinem Herzen tief einprägen? 15 Quintilian malt ein Schreckensbild aus, dramatisiert den Fall vor Gericht über tatsächliche oder eben vorgestellte visuelle Details. Angesprochen ist hier die Kraft der Vorstellungsbilder, eine eigene Realität zu suggerieren, einen anderen Aufmerksamkeitszustand zu generieren, den “Fall zu gebieten”, wie es im lateinischen Lehrsatz fortis imaginato generat causum heißt. 16 Diese Kraft der meist gewaltsame Szenen beinhaltenden Vorstellungsbilder macht man sich in der Schauspielausbildung zu nutze. Dabei geht es überhaupt noch nicht um Überredung oder Manipulation des Zuschauers, wie ein häufig geäußerter Verdacht der Rhetorik gegenüber lautet. Die Kraft, den Fall zu gebieten, wird tatsächlich als Prinzip der Aufladung gedacht, ist der Beginn eines Darstellungsprozesses, nicht die Darstellung selbst. Die bedarf, um zu gelingen, immer eines Maßes, einer Hemmung sowie des Abgleichs der Wirkung an den Reaktionen jener, die über den Fall zu Gericht sitzen. Das Verfahren Quintilians wird von Konstantin Stanislawski aufgenommen. In Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst lässt er einen fiktiven Schauspielschüler zum Zeugen eines Verkehrsunfalls werden, um zu zeigen, wie dieser schreckliche Anblick zur überzeugenden Darstellung einer pathetischen Szene zu nutzen wäre. So berichtet der Schüler: Vor mir lag in einer großen Blutlache ein alter Bettler mit zermalmtem Unterkiefer. Die Hände und ein halber Fuß waren abgetrennt worden. Das Gesicht des Toten sah furchtbar aus, der gebrochene Unterkiefer mit den alten, faulen Zähnen war ausgerenkt und hing vor dem blutigen Schnurrbart. Die Hände lagen getrennt vom Körper, und es sah aus, als hätten sich die Arme in die Länge gezogen und vorgestreckt, um Gnade zu erflehen. Der eine Finger stand empor, als drohe er irgendwem. Die Schuhspitze mit Knochen und Fleisch lag auch für sich. Der Straßenbahnwagen stand neben seinem Opfer und wirkte riesig und furchtbar. Wie ein Tier schien er die Zähne zu fletschen und den Toten anzufauchen. 17 Die Parallelen zur visuellen Detailtreue des von Quintilian beschriebenen Totschlags sind auffallend. Die Zergliederung des ganzen Körpers, die Farbsymbolik, die hier bemüht wird, ebenso wie die Geste der flehenden Hände wirkt geradezu malerisch komponiert und zielt auf maximale Schock-Wirkung. Das Auge soll überquellen wie eine Schale. Mit dem Perspektivenschwenk auf die Straßenbahn finden wir auch das Mittel der Verlebendigung. Die Maschine wird zum Raubtier, das nach erfolgreicher Hatz, bereits eingeleitet durch die doppelte Verlebendigung der Leichenteile (die flehenden Hände, der drohende Finger), sein Mahl einnimmt. Der Aufbau dieses Bildes folgt der Sinnfigur der Augenscheinlichkeit, der energeia: Eine Darstellungsweise, der es gelingt, das Dar- 38 Wolf-Dieter Ernst Abb. 1: Das Schema des Systems. Aus: Konstantin Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd. 2, Berlin 1981, S. 316, © Henschel-Verlag. gestellte detailliert und energetisch, d.h. in Wirksamkeit begriffen, vorzuführen. 18 2. Arbeit mit visueller Energie im System der Verkörperung nach Stanislawski Die Arbeit mit Vorstellungsbildern wird von Stanislawski unter dem Begriff des affektiven Gedächtnisses entwickelt. Es macht jedoch wenig Sinn, die visuelle Energie bei Stanislawski allein an diesem Element aufzeigen zu wollen. Denn diese Form des Gedächtnisses, welches in speziellen Erinnerungsaufgaben zu trainieren sei, kann leicht als Motivationsinstrument des Schauspielers missverstanden werden - und wurde in seiner Rezeption durch Lee Strasberg auch als ‘emotionales Gedächtnis’ verkürzt. Die visuelle Energie jedoch durchzieht alle Stufen des Systems und dies deshalb, weil sie sich jeweils an szenischen Details heraus kristallisiert. Die Fabulierlust Stanislawskis lässt sich gar nicht jenseits der visuellen Energie betrachten. Auch die Tatsache, dass das System niemals vollendet wurde, spricht dafür, dass wir es mit einem Überschuss an Motivation zu tun haben, welche das Schauspielen als Objekt der Systematisierung offensichtlich mit sich bringt. Das Funktionieren der visuellen Energie im System Stanislawskis ist also nicht ein Baustein des Systems. Aber es zeigt sich, verdeckt, beiläufig in einem aus didaktischen Gründen erstellten Schema des Systems. Das Diagramm nämlich, welches Stanislawski zur Verdeutlichung seiner Überlegungen zeichnet, ist zugleich ein Bild für visuelle Energie. Als Schema gelesen, verdeutlicht das Diagramm das Zusammenspiel jener psychischen und physischen Aspekte, die im Schauspiel zum Tragen kommen. 19 Als Bild betrachtet, wird hier der Fluss der Körpersäfte bemüht, um den schauspielerischen Vorgang zu verdeutlichen, oder wie Stanislawski schreibt, die “Funktionslinien der Antriebskräfte für das psychische Leben” 20 darzustellen. Der Fluss der Säfte jedoch widerspricht gerade dem logischen Aufbau des Schemas und macht aus ihm ein Bild (mit Unschärfe). Denn die Kanäle, in denen die Säfte aufsteigen, verästeln sich bis zu unbezeichneten Übergängen, an der lediglich die Nummer “11” zu sehen ist. Die Form der Darstellung legt nahe, dass man eigentlich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr verfolgen kann, was im Prozess der Verkörperung passiert. In der russischen Ausgabe sind die Kanäle in grün und schwarz gefärbt, um noch einmal die Kräfte des Schauspielerkörpers von denen der Rolle zu unterscheiden. 21 In der Legende findet sich unter der Nummer 11 eine Auflistung von “Eigenschaften, Fähigkeiten, Begabungen, natürlichen Talenten, schauspielerischen Fertigkeiten und psychotechnischen Methoden” und der Hinweis “Beachten Sie Schauspiel durch Medien um 1900 39 bitte, dass in der Zeichnung jedes Element seine besondere Farbe” 22 erhalten solle. Man muss sich also diesen Übergang bei 11, den Stanislawski auch mit dem Superlativ des “innere[n] Bereich[s] unserer Seele” 23 umschreibt, als bunt pointillierte Fläche vorstellen, die eine logische und methodische Verfolgung der Körperkräfte gerade nicht abbildet, sondern bildlich darstellt. Ich verzichte mit diesem Hinweis auf die Unschärfe im System selbst auf eine weitere systematische Betrachtung und möchte vielmehr die Arbeit mit Vorstellungsbildern an zwei konkreten Darstellungsaufgaben beschreiben, der Entwicklung szenischer Spielideen und der Gestaltung einer lebendigen Sprache auf der Bühne. Dabei beziehe ich mich auf Stanislawskis Lehr-Inszenierung von Molières Tartuffe, an der der Theaterpädagoge bis zu seinem Tode 1938 arbeitete und von denen wir umfangreiche Probenskizzen haben, die sein Lieblings-Schauspieler Wassili Ossipowitsch Toporkow verfasste. Die Entwicklung szenischer Spielideen muss man sich ganz konkret vorstellen. Im Tartuffe etwa wollen die Verwandten den verblendeten Orgon daran hindern, seine Tochter Marianne unglücklich zu verheiraten. Die Ereignisse überstürzen sich, als Orgon bereits mit dem fertigen Kontrakt durchs Haus stürmt und jeden Moment auf der Szene erscheinen wird. Wie aber stellt man Erregung, stürmische Beratung und Handlungsdruck einer Menschenmenge dar, ohne Chaos zu verursachen? Stanislawski wählt dafür das Bild des “Verrückten mit einem Messer”. “Er sucht seine Tochter, um sie zu erstechen”. Er dramatisiert also den Fall, um ihn sogleich an konkreten Details plastisch zu machen: “Durch welche Tür kann der Verrückte eindringen? Auf diese Tür konzentrieren Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit oder, noch besser, nicht auf die Tür, sondern auf ihre Messingklinke”. 24 Als diese Anweisung noch nicht die gewünschte szenische Dynamik zeitigt, löst sich Stanislawski von der Textvorlage und erfindet ein Spiel: “Niemand der im Zimmer Anwesenden hat das Recht, sich von der Stelle zu rühren, bevor sich die Türklinke bewegt. Verstecken Sie [das Mädchen], wohin sie wollen, aber machen Sie es so, daß sie verschwunden ist, wenn die Tür aufgeht”. 25 Das Schreckensbild der Verrückten mit dem Messer ist also in zwei Schritten in eine szenische Aktion übersetzt worden. Zunächst wird ein visuelles Detail (die Klinke) zum Träger des Affekts, sodann wird dieses Detail zum Auslöser und Zeit-Rahmen eines Spiels (Verstecken der Marianne). Die Pointe ist natürlich, dass das Spiel nicht gewonnen werden kann, dass wir es also mit einem Affekt und einer Aufladung der Bewegung zu tun haben, die sich gerade aus dem Nicht-Gelingen speist. Das steht im Widerspruch zu allen Überlegungen von der Maßhaltigkeit und der harmonischen Form, die Stanislawski an anderen Stellen propagiert und als “Überaufgabe” aus der literarischen Vorlage heraus präpariert. Wie das Beispiel zeigt, gibt es nur die Alternative zwischen affektiver Entladung im Spiel und der Deklamation des Textes. Die experimentelle Offenheit zeigt sich jedoch auch in der Arbeit am Vers selbst, also an jener Vorschrift, die eigentlich die Systematik und Hierarchie der Theatermittel garantieren soll. Auch für das Sprechen empfiehlt Stanislawski den Einsatz der dramatisierenden Vorstellungsbilder als Subtext der gesprochenen Verse. Die Kontrahenten Cleant und Orgon mögen sich so verhalten, als säßen sie “auf der heißen Herdplatte”. 26 In der daraus resultierenden Hitze sollen auch die Verse vorgebracht werden und wieder geht es bis ins Detail einzelner Kommata. Sie machen in dem Satz ‘Ja, würden Sie den Mann nicht lieben, Schwager’ hinter ‘Ja’ eine Pause. […] Welchen Gedanken will Orgon denn hier ausdrücken? ‘Ja, würden Sie den Mann nicht lieben, Schwager, den Sie getroffen hätten wie ich ihn? ’ Sie liebten ihn, statt ihn zu hassen, das will Orgon hier sagen. 40 Wolf-Dieter Ernst Warum sollte er also eine sinnlose Pause hinter ‘Ja’ machen? Das haben Sie sich zur Ausschmückung der Phrase ausgedacht. 27 So Stanislawski kolportiert durch Toporkow. Die Situation auf der Herdplatte verträgt sich klar nicht mit der Ausschmückung, welche Stanislawski an anderer Stelle auch als die “rhetorischen Ergüsse Cleants” erkennt und welche überwunden werden müssten. Die Ironie des Systems freilich liegt nun darin begründet, dass Stanislawskis Idee einer lebendigen Sprache wiederum der antiken rhetorischen Konzeption der energeia entspricht, also der Rede, die die Dinge scheinbar vor Augen stellt. In eben jener Weise der Quasi-Übertragung der Dinge im Bild gestaltet Stanislawski das Deklamieren der Repliken, wenn er den Schauspielern rät, “sich gegenseitig mit Vorstellungsbildern” 28 zu überschütten. Sehen Sie den Augenausdruck mit denen [ihr Partner] sie anschaut. Sie müssen erreichen, daß dieser Ausdruck anders wird, daß sein Blick sich aufhellt. Sie müssen ihm Ihre Vorstellungen vermitteln. Er muß alles mit Ihren Augen sehen. 29 Stanislawski denkt die Repliken tatsächlich als eine Art Containerverkehr, mit dem sich visuelle Energie übertragen lässt und die das “lebendige Wort” entstehen lässt. Aber wiederum geht seine Beschreibung des Darstellungsvorgangs über das intendierte Ziel hinaus. In metaphorischer Beschreibung sagt er an anderer Stelle: “Das lebendige Wort besitzt einen inneren Gehalt, es hat ein bestimmtes Gesicht”. 30 Was Stanislawski hier als Gesicht bezeichnet, ist freilich nichts anderes als die Medialität des gesprochenen Wortes selbst, wie sie nach der sprechtechnischen Analyse erscheint. Vergessen wir nicht, dass Stanislawski auch Gesangsunterricht nahm, sich in Operettenrollen versuchte und entsprechend einen musikalisch-analytisch Zugriff auf Lautbildung und Stimmsitz kannte. 31 In den entsprechenden Passagen zur Artikulation spricht er auch davon “den Ton so weit wie möglich in die Maske zu verlegen” 32 , also dem gedachten Resonanzraum des Schauspielers, aus dem der Ton verstärkt hervor tritt. Aber das Wort selbst wird nicht nur im Gesicht geformt und vom Dialogpartner aufgenommen, es tritt - und darauf kommt es an - gleichsam als ein Drittes zwischen die Dialogpartner. Um dieses Dritte, dieses dazwischen zu beschreiben, braucht man Medientheorie. Denn es geht um eine Übertragung, die es schafft, als Übertragung selbst sinnstiftend zu sein, eigene “Gesichter-Worte” zu kreieren. Diese Worte, die uns mit einem “bestimmten Gesicht” anblicken, sind jedoch nichts anderes als Sprach-Bilder, also wiederum energetische Überschüsse einer rhetorischen Technik, die den literalen Wortgehalt überborden. 4. Moissi rezitiert: Ein Szenario der Übertragung Eben diesem energetischen Überschuss der Übertragung sieht sich am 28. Februar 1912 Franz Kafka ausgesetzt, als er einen Vortragsabend des Reinhardt-Schauspielers Alexander Moissi besucht. Drei Tage später notiert er in seinem Tagebuch Er [Moissi] sitzt scheinbar ruhig, hat womöglich die gefalteten Hände zwischen den Knien, die Augen in dem frei vor ihm liegenden Buch und lässt seine Stimme über uns kommen mit dem Athem eines Laufenden. 33 Dem Eindruck folgt eine Gedankenstrich und sodann eine nüchterne Analyse des Stimmeffekts. Gute Akustik des Saales. Kein Wort verliert sich oder kommt auch nur im Hauch zurück, sondern alles vergrößert sich allmählich als wirke unmittelbar die längst anders beschäftigte Stimme noch nach, es verstärkt sich nach der ihm mitgegebenen Anlage und schließt uns ein. 34 Schauspiel durch Medien um 1900 41 Was Kafka im zweiten Teil beschreibt, ist der Saal als eine Verstärkeranlage der menschlichen Stimme des Schauspielers. Kafka denkt also die energetische Übertragung relational und man kann seine Beschreibung durchaus als Einspruch gegen die uni-direktionale Gerichtetheit der Ansprache Moissis lesen, wenn er ihn als “[w]idernatürlicher Anblick” beschreibt, den er hin und her gerissen verfolgt. Unverschämte Kunstgriffe und Überraschungen, bei denen man auf den Boden schauen muß und die man selbst niemals machen würde: Singen einzelner Verse gleich im Beginn z.B. Schlaf Mirjam mein Kind, ein Herumirren der Stimme in der Melodie; rasches Ausstoßen des Mailiedes, scheinbar wird nur die Zungenspitze zwischen die Worte gesteckt; Teilung des Wortes November-Wind, um den ‘Wind’ hinunter stoßen und aufwärts pfeifen lassen zu können. Schaut man zur Saaldecke, wird man von den Versen hochgezogen. 35 Kafka beschreibt rückblickend das, was man medientheoretisch als Immersion bezeichnet, Eintritt in den Datenraum und zum Teil eines medialen Dispositivs werden. Die Klangbilder, die Moissi produziert, gebieten den Fall und Kafka windet sich aus dem “uns” des Publikums, dessen Teil er doch ist. Zugleich sind seine Beobachtungen der Machart dieser Darstellung bereits distanziert und analytisch, zuweilen auch ironisch. Wenn er etwa von der Zungenspitze spricht, die zwischen die Worte gesteckt wird, so hat das Ähnlichkeit mit jener analytischen Sprachbehandlung, wie man sie in sprecherzieherischen Übungsbüchern für Schauspieler findet: “W Stimmhafter Engellaut. Unterlippe gegen Oberzahnreihe […]; geringe Kieferöffnung; Zunge liegt flach, Zungenspitzenkontakt mit den unteren Schneidezähnen”. 36 Das ist natürlich eine unerhörte Reduktion der Sprachmusik. Moissi arbeitet nach allen Regeln der Kunst, und Kafka, der werdende Künstler der Moderne, schaut bereits von einer Meta-Ebene auf diese Regeln der Darbietung Moissis, gleichsam noch berührt, jedoch bereits medial aufgeklärt, antiillusionär. Der entscheidende Punkt jedoch ist, dass Kafka in der nach geordneten Reflexion des Vortrags auf jenes mediale Szenario des vor Augen-Führens einer Dritten Gestalt stößt. Er schreibt: Der Künstler, scheinbar unbeteiligt, sitzt so wie wir, kaum dass wir in seinem gesenkten Gesicht die Mundbewegung hie und da sehn und lässt statt seiner über seinem Kopf die Verse reden. - Trotzdem so viele Melodien zu hören waren, die Stimme gelenkt schien wie ein leichtes Boot im Wasser, war die Melodie der Verse eigentlich nicht zu hören. 37 Damit ist der qualitative Umschwung des Verses bezeichnet, der uns hier in Gestalt eines “leichten Bootes im Wasser” erscheint und dies ist nichts anderes als ein energetischer Überschuss, der durch die Unverfügbarkeit der Technik evoziert wird. Kafka lässt - freilich mit unüberhörbarer Skepsis - die Entstehung eines neuen Bildes, einer eigenen Vision zu, welche dem nicht mehr glaubhaften Bild des rezitierenden Moissis an die Seite gestellt wird: Die Stimme schien gelenkt “wie ein leichtes Boot im Wasser”. Ich möchte rhetorisch (an)schließen: Gibt es ein schöneres Bild für visuelle Energie als das einer Stimme über dem orakelndem Körper, die leicht gelenkt wie ein Boot den Raum erfüllt? Fazit Verlassen wir Kafka und Stanislawski für einen Moment und besinnen uns auf einige grundsätzliche Bemerkungen zur Arbeit mit visueller Energie im Schauspiel. Wie gezeigt wurde, lassen sich die Spuren dieser Arbeit sowohl in der Produktion des Schauspielers - aufgezeigt an der wohl umfänglichsten und einflussreichsten methodischen Schrift der Jahrhundertwende - als auch in der Rezeption zumindest eines Moissi durch Franz 42 Wolf-Dieter Ernst Kafka nachweisen. Mit der visuellen Energie wurde hier eine Suchformel vorgestellt, die die Debatten um die Erweckung und Kontrolle von Affekten durch den Schauspieler neu positioniert. Diese kreisten seit je um eine Verortung des Affekts, wahlweise in der Physis oder der Psyche des Schauspielers, ohne freilich den energetischen Aspekt derart erklären zu können - geschweige denn ihn methodisch zu erfassen. Die Re-Lektüre von Stanislawski und durch sie der antiken Rhetorik nimmt gerade diesen Aspekt von Unverfügbarkeit als Indiz für die Sache selbst. Es bietet sich folglich an, visuelle Energie als negative Bestimmung, als Überschreitung und zugleich Unterbietung von Begrifflichkeit und Regelhaftigkeit im Schauspiel zu lesen, um das Phänomen Schauspiel neu zu beleuchten. Anders gesagt: Die historischen Debatten, Paradoxien und Widersprüche sind selbst bereits von der Rhetorik - und damit von einer Bildlichkeit - gekennzeichnet, die sie zu erklären vorgeben. In Hinblick auf aktuelle Tendenzen eines Theaters durch neuere Medientechnik - und hier schließt sich der Bogen - lassen sich hoffentlich Konstanten erkennen. Wie die Diskursgeschichte des Begriffs der Energie zeigt, entspricht dem ‘Mysterium der Energie’ um 1900 in groben Zügen das ‘Mysterium der Medien’ heute. In beiden Fällen haben wir es mit ästhetischen und epistemischen Wandlungsprozessen zu tun, die gerade eines nicht bieten: eine objektive Bestimmung und Beschreibung von außen. Diese Unübersichtlichkeit trifft wohl auch einen Kern der Praxis und Reflexion aktuellen Theaters durch Medien: Wer sich heute aufmacht, um mit Handkamera und Videoschirm eine Inszenierung zu gestalten, wird das Wechselspiel von versprochener Verfügbarkeit und erfahrener Un-Verfügbarkeit, ja Unkontrollierbarkeit technischer Mittel kennen, wenn nicht gar sich darin verlieren. Nichts anderes finden wir in Stanislawskis Suche nach dem System des Schauspiels, wenn er sich bei Kommata und Tonhöhe der Deklamation aufhält und schließlich im ‘pointillierten’ Übergang zwischen Körper des Schauspielers und Gesicht der Rollenfigur sein System aus den Augen verliert. Hier ist die rhetorische Technik am Werk, die gleichsam parasitär an jeweils spezifischem Erfahrungswissen und dem allgemeinen (theoretischen) Wissen partizipiert, selbst aber nicht eigentlich zu bestimmen ist. Technik das meint eben immer künstlerische, technologische und listige Handgriffe, eine Praxis des Werdens, 38 die sich gerade nicht in der Anwendung und Reproduktion vorhandener Mittel erschöpfen darf. Im Sinne der Technik als einer Latenz und Unverfügbarkeit des Technischen und ‘der Medien’ ginge es darum, theatrale Repräsentation - und das meint auch das hier verhandelte Schauspiel durch Medien - als immer schon medialisiert und technisiert, als Theater durch Medien zu begreifen. Anmerkungen 1 Techne bezeichnet “jede Art von Können, Geschicklichkeit, Kunst(fertigkeit) und […] Wissen” (Der kleine Pauly. Lexikon der Antike, München 1975, S. 552); Technitai wurden im frühen Hellenismus die so genannten “Festkünstler” genannt, zu denen “Schauspieler von Tragödien, Komödien, Satyrspiel, Choreuten, Chorlehrer, Tänzer, Sänger und Instrumentalmusiker aller Art, Herolde, Dichter Kostümverleiher und Bühnenrequisiteure” gehörten (ebd). Vgl. auch zum Verhältnis von Technik und Künsten: Hannes Börringer, “Das hölzerne Pferd”, in: Ars Electronica (Hg.), Philosophien der neuen Technologie, Berlin 1989, S. 7-26, S. 10. 2 Anselm Haverkamp, “Repräsentation und Rhetorik. Wider das Apriori der neuen Medialität”, in: Georg Stanitzek, Wilhelm Vosskamp (Hg.), Schnittstelle. Medien und kulturelle Kommunikation, Köln 2001, S. 77-84, S. 77. 3 Haverkamp, “Repräsentation und Rhetorik”, S. 77. Schauspiel durch Medien um 1900 43 4 Konkret zu finden bei Konstantin Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd. 1, Berlin 1986, S. 85, auch Anm. 20, worin der Begriff der ‘inneren Vorstellungsbilder’ auch auf akustische Eindrücke ausgedehnt wird und mit dem Konzept des emotionalen Gedächtnisses in Beziehung gebracht wird. Stanislawskis Rekurs auf Bilder ist zudem durch die Medientechnik seiner Zeit beeinflusst, etwa wenn er die Reihe von Vorstellungsbildern als “Film” umschreibt. 5 Wolf Aderhold, Sprecherzieherisches Übungsbuch, Berlin 1989, S. 22 “Atmung und Dichtung”. 6 Gabriele Brandstetter, Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt am Main 1995, S. 18; S. 51-52. 7 Wilhelm Ostwald, Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft, Leipzig 1909. Vgl. hierzu Wolf-Dieter Ernst, “Animalische Animation. Der Diskurs der Energie und die mimische Ausdrucksbewegung bei Warburg und Stanislawski”, in: Kati Röttger (Hg.), Theaterwissenschaft zwischen Visual Culture und Iconic Turn, Bielefeld 2007 (im Erscheinen). 8 Mit Visionen übersetzt Quintilian den Aristotelischen Begriff der Phantasie. “Jeder, der das, was die Griechen nennen - wir könnten ‘visiones’ (Phantasiebilder) dafür sagen -, wodurch die Bilder abwesender Dinge so im Geist vergegenwärtigt werden, dass wir sie scheinbar vor Augen sehen und sie wie leibhaftig vor uns haben: jeder also, der diese Erscheinungen gut erfasst hat, wird in den Gefühlswirkungen am stärksten sein.” Marcus Fabius Quintilian, Ausbildung des Redners, Bd. 2, hg. v. Helmut Rahn (= Buch I-VI), Darmstadt 1972, S. 709 (= I V , 2, S. 29). 9 Vgl. Marcus Tullius Cicero, De Oratore. Über den Redner, übers. u. hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 1991, S. 437, sowie Anonymus, Rhetorica ad Herennium, hg. u. übers. v. Theodor Nüsslein, München, Zürich 1994, S. 177. 10 Théodule Ribot, Der Wille. Pathologisch-psychologische Studien, Berlin 1893. 11 Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaus, Wiesbaden 2003 (1836). 12 Die aus der Ukraine stammende Blavatsky gründete zusammen mit Henry Steel Olcott 1875 in New York die Theosophical Society. Sie gilt als Vermittlerin fernöstlicher Körperpraxen wie dem Yoga. Bekannt geworden ist sie vor allem als Medium und Figur der okkultistischen Bewegung. Vgl. hierzu: Wilhelm Bruhn, Theosophie und Anthroposophie, Leipzig 1921; vgl. medienhistorisch auch Wolfgang Hagen, “Der Okkultismus der Avantgarden um 1900”, in: Siegrid Schade et al. (Hg.), Konfigurationen zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 338-357; zur Rezeption fernöstlicher Körperpraxen um 1900 auch Brandstetter, Tanz-Lektüren, S. 246ff. (= Bewegungsrausch und Trance-Tanz). Zu den Verknüpfungen der theosophischen Bewegung mit Franz Kafka, dessen Mitgliedschaft im Kreis von Berta Fanta und Ida Freund sowie der dort gemachten Bekanntschaft mit okkultistischen Seancen, vgl. Ernst Pawel, Das Leben Franz Kafkas, München 1986, S. 169. 13 Konstantin Stanislawski, Aufsätze, Regie, Äußerungen, Notizen, Erinnerungen 1917-1938, Moskau 1959, S. 193. Die Ironie dieser Bemerkung liegt auch darin begründet, dass Moissi sich seit Mitte der 20er Jahre fast ausnahmslos dem Tournee-Geschäft widmete und mit einigen wenigen Paraderollen reüssierte. Diese marktkonforme Variante des Schauspielers als internationaler Star freilich widerspricht der Idee einer durchgehenden dramatischen Rolle, welche Stanislawski nicht müde wird zur eigentlichen Kunst des Schauspielers zu stilisieren. Vgl. zu Moissis Biografie Rüdiger Schaper, Moissi. Triest, Berlin, New York. Eine Schauspielerlegende, Berlin 2000. 14 Rüdiger Campe weist darauf hin, dass die Aristotelische energeia einem ontologischdynamischen Sprachkonzept entstammt und zunächst einmal eine Bewegung meint. Die enargeia hingegen ist immer schon visuell gedacht. Das Konzept geht auf die Stoiker zurück und beschreibt im Sinne eines repräsentationslogisch-statischen Sprachkonzepts die Deutlichkeit, Klarheit einer Sache: Eine Sache, die deutlich und klar ist, habe einen bleibenden, materiellen Abdruck auf die Seele, gleich einem Siegelstempel. Vgl. dazu Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der Literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, S. 230. 44 Wolf-Dieter Ernst 15 Quintilian, Ausbildung des Redners, S. 711 (= VI, 2, S. 31). 16 Sie geht zurück auf die von Aristoteles in De Anima entwickelte Idee der Vorstellungsbilder, die das Denken notwendig begleiten und es vermögen, die Seele in der gleichen Weise zu bewegen, als stünden die wirklichen Dinge vor Augen. “Der denkenden Seele sind die Vorstellungsbilder wie Wahrnehmungseindrücke gegeben. Wenn sie sie als gut oder schlecht bejaht oder verneint, so flieht oder erstrebt sie sie. Darum denkt die Seele niemals ohne ein Vorstellungsbild.” Aristoteles, Von der Seele (= De Anima), Zürich 1950, S. 336 (= 431 A 13). 17 Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd. 1, S. 196. 18 Aristoteles zeigt dies bei Homer auf, wenn jener Unbeseeltes als Beseeltes darstellt, etwa vom “stürmenden Erz” spricht, der “die Brust durchbohrt”. Homer, Ilias, XV 542 und Aristoteles, Rhetorik. III Buch, München 1980, 1411 b S. 24ff. (= Gestaltung und Gliederung der Rede). 19 Die Darstellung folgt einem logischen Aufbau, welcher sich aus den Schritten der Rollenerarbeitung ergibt. Sie beginnt unten mit der Rolle als notierter Vorschrift und endet oben mit der Überaufgabe der Rollendarbietung durch den Schauspieler als dem Ziel der Übung. Zwei Wege der Bearbeitung dieser Aufgabe werden ersichtlich, links der emotionale Weg, als “Erleben” und “inneres Befinden” markiert, rechts der motorisch-sensuelle Weg als “Verkörpern” und “äusseres Befinden” bezeichnet. Mehre Instanzen der Filterung des Dargestellten - “Gefühl”, “Wille” und “Verstand”, schließlich eine Definition Puschkins zum Realismus und das Primat der physischen Handlung/ Aktion sollen bewirken, dass die Darstellung aus der affektiven Impulshaftigkeit in bewusstes Handeln überführt wird. 20 Konstantin Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd. 2, Berlin 1986, S. 317. 21 Vgl. Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Moskau 1955, S. 361. 22 Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd.2, S. 317. 23 Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd.2, S. 317. 24 Wassili Toporkow, “K.S. Stanislawski bei der Probe. Erinnerungen”, in: Konstantin Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle, Berlin 1981, S. 279-541, S. 480. 25 Toporkow, “Stanislawski bei der Probe”, S. 480. 26 Toporkow, “Stanislawski bei der Probe”, S. 500. 27 Toporkow, “Stanislawski bei der Probe”, S. 503. 28 Toporkow, “Stanislawski bei der Probe”, S. 506. 29 Toporkow, “Stanislawski bei der Probe”, S. 502. 30 Stanislawski Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd.2, S. 49. 31 Vgl. Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd.2, Abschnitt Stimme und Sprechen, S. 39-107, und Anm. 5; ferner S. 281ff. (= Über die Musikalität des Sprechens). 32 Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd.2, S. 45. 33 Franz Kafka, Tagebücher 1912-1914, Frankfurt am Main 1994, S. 48, vgl. zu diesem Auftritt Moissis Schaper, Moissi. Triest, Berlin, New York, S. 91ff. 34 Kafka, Tagebücher 1912-1914, S. 48. Die angegebenen Stücke, soweit überliefert, sind: Schlaflied für Mirjam von Richard Beer-Hofmann, Novemberwind von Emile Verhaerens, vgl. Schaper, Moissi. Triest, Berlin, New York, S. 94. 35 Über Kafkas Suche nach der “litterarischen Bestimmung” (Kafka, Tagebücher 1912-1914, S. 47, = Eintrag vom 2.3.1912) als sein Thema in dieser Zeit ist viel geschrieben worden, ebenso wie auch bekannt ist, dass Kafka sich selbst mit dem Rezitieren und dessen Scheitern befasste. Vgl. Kafka, Tagebücher 1912- 1914, S. 11 (= Tagebucheintrag vom 4.1.1912 über das Vorlesen vor seinen Schwestern, Kafka, Tagebücher 1912-1914, S. 35 (= Eintrag vom 25.2.1912) zu Kafkas Vortrag über jüdischen Jargon am 18.2.1912. 36 Aderhold, Sprecherzieherisches Übungsbuch, S. 36. Die Beschreibung der Konsonantenbildung erfolgt nach der “physiologischen Bildungsnorm” (S. 10), welche auf dem Atlas deutscher Sprachlaute von H.-H. Wängler aus dem Jahre 1958 basiert. 37 Kafka, Tagebücher 1912-1914, S. 49. Was Kafka hier beschreibt, ist die rhetorische Figur der Schauspiel durch Medien um 1900 45 Prosopopoiia, d.h. einen Text als Stimme und Person lesen, die von einem Abwesenden, Toten herrührt. Und das ist das Gegenteil zur alten Vorstellung von der Verwandlung, bei der der Schauspieler als ‘Gestalt der Dichtung’ spricht. Persona ist hier nicht die Maske “wohindurch es hallt” (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt am Main 1991, S. 347), sondern eine rhetorische Figur, die etwas bewirkt, die also vor dem Ertönen angeordnet ist. Vgl. hierzu Bettine Menke, Prosopopoiia, München 2000, S. 140. Die Differenz von Textstimme und Theatermaske wird von Menke richtig gesehen, lässt sich aber auch vom Theater des Lesens auf das Schauspiel ausweiten. Allerdings bezöge sichdie Exegese dann nicht auf den dramatischen Text allein, sondern immer auch auf die gültigen Regel- und Methodentexte des Schauspiels, die ebenfalls eine Stimme und Person bewirken. In diesem Sinne wäre die Theatermaske nicht akustisch, sondern rhetorisch zu verstehen. 38 So unterscheidet Klaus Bartels einen statischen und dynamischen Begriff der antiken Techne bei Aristoteles. “Die Bewegung der Werkzeuge enthält den Begriff der Techne und in ihm den der Form des Hergestellten […]. Die Bewegung der Werkzeuge ist die Tätigkeit (Energeia: das ‘Am-Werk-Sein’) der Techne, die Techne die Form des Herstellens.” Klaus Bartels, “Der Begriff der Techne bei Aristoteles”, in: Hellmut Flashar, Konrad Gaiser (Hg.), Synusia. Festgabe für Wolfgang Schadewaldt zum 15. März 1965, Pfullingen 1965, S. 275-287, S. 282. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Das Theater erscheint wie Roland Barthes festgestellt hat, als ein besonders »privilegiertes semiologisches Objekt«. Denn es arbeitet nicht nur wie andere Kunstgattungen z.B. Literatur und Malerei mit einem einzigen Zeichensystem, sondern vereinigt in sich eine Vielzahl heterogener Zeichensysteme (wie Sprache und Gestik, Kostüm und Dekoration, Musik und Beleuchtung), deren jedes nach anderen Prinzipien Bedeutung hervorbringt. Soll das Theater seinerseits als ein spezifisches bedeutungserzeugendes System begriffen und erforscht werden, müssen daher die einzelnen beteiligten Zeichensysteme einerseits in ihrer jeweiligen Eigenar t, andrerseits in ihren Beziehungen zueinander untersucht werden. Der von Coseriu in der Linguistik getroffenen Unterscheidung zwischen den Ebenen des Systems, der Norm und der Rede entsprechend wird diese Untersuchung unter systematischem, historischem und analytischem Aspekt durchgeführt. Semiotik des Theaters In drei Teilbänden Band 1 Das System der theatralischen Zeichen Band 2 Vom „künstlichen“ zum „natürlichen“ Zeichen - Theater des Barock und der Aufklärung Band 3 Die Aufführung als Text Erika Fischer-Lichte Semiotik des Theaters Band 1: Das System der theatralischen Zeichen 5., unveränderte Auflage 2007 268 Seiten, €[D] 14,90/ SFr 26,00 ISBN 978-3-8233-6321-7 Wem gehören die Bilder? Bildpolitik und Medienkritik im Theater: eine Frage der Gewalten-Teilung Kati Röttger (Amsterdam) und Alexander Jackob (München) 1. Bilder im Theater? Die Frage, wem die “Bilder gehören”, stellt sich nicht von ungefähr. Denn wenn wir Bilder immer weniger als Gegenstände, sondern zunehmend als unberührbare Bestandteile von elektronischen Bildersphären wahrnehmen, dann lassen sich Überlegungen über das Sein der Bilder, über ihre Herkunft, ihre potentiellen Besitzer und ihre Selbständigkeit nicht ausschließen. Insofern gilt es nicht nur danach zu fragen, wo und wie Bilder verbreitet werden. Zugleich ist darauf zu achten, in welchen Zusammenhängen sie wem zugänglich sind. Damit kommen zwangsläufig die Medien ins Spiel, in denen Bilder in Erscheinung treten. Im Folgenden wollen wir nicht nur über die technischen oder elektronischen Medien sprechen, die für die stetige Steigerung der weltweiten Bildzirkulation verantwortlich gemacht werden. Vielmehr wollen wir das Theater als Ort und Medium einer möglichen Neuverteilung der Bilder in ein spezifisches Verhältnis zu diesen ‘neueren’ Medien setzen. Fragen wir dem entsprechend nach Bildern im Theater, dann bewegen wir uns auf einem Forschungsfeld, das im Zuge der so genannten Bildwissenschaft zunehmend an Komplexität und Vielschichtigkeit gewinnt. 1 Deshalb halten wir es für notwendig, im Vorfeld einige Einschränkungen vorzunehmen, die gleichzeitig als struktureller Leitfaden für unsere Überlegungen und als eine Zuspitzung der formulierten Eingangsfrage zu verstehen sind. Wie wir unsere Ausführungen eingrenzen, geht aus insgesamt sieben Schritten hervor: Wird im zweiten Schritt der Zusammenhang zwischen elektronischen Bildersphären und Informationspolitik als konstitutiver Bestandteil dessen, was wir im Allgemeinen Globalisierung nennen, beschrieben, fokussiert der dritte Schritt die spezifischen Bedingungen des Sehens und Gesehenwerdens in und durch technische Medien. Wir werden an dieser Stelle auch fragen, inwieweit gerade das Theater besonderen Aufschluss über die Wechselbeziehung von Sehen und Gesehenwerden geben kann. Sofern sich das Theater in der Lage zeigt, diesen Zusammengang schlüssig darzustellen, wird darüber hinaus darauf einzugehen sein, dass diesem Problem nicht ohne die Auseinandersetzung mit der Macht der Medien und der Gewalt in den Medien zu begegnen ist. Deshalb werden wir im vierten Schritt eine Unterscheidung zwischen den Begriffen Macht und Gewalt treffen, um dann zum Herzstück unseres Beitrages zu gelangen, das sich gewissermaßen in zwei ‘Kammern’ aufteilt. Zunächst, in Schritt fünf, geht es um Bilder der Gewalt und um die Frage, inwieweit deshalb auch von einer Gewalt der Bilder gesprochen werden kann. Im sechsten Schritt wird diese Frage auf das Theater gelenkt. Sofern das Medium Theater als besonderer Ort der Bilder verstanden werden kann, wird zu zeigen sein, inwieweit es dem Zuschauer nicht nur sichtbar vor Augen zu führen vermag, dass die Gewalt der Bilder letztlich auf eine physische Dimension verweist, die den Medien, und nicht den Bildern inhärent ist. Von entscheidender Bedeutung ist die besondere Kapazität des Theaters, die physische, also körperliche Ko-Präsenz zwischen Akteuren und Zuschauern in ein Spiel zu verwickeln, in dem die mediale Gewalt in Bildern reflektiert und damit sichtbar und (ver-)teilbar gemacht Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 47-60. Gunter Narr Verlag Tübingen 48 Kati Röttger und Alexander Jackob werden kann. Zur Erläuterung werden wir eine Sequenz aus Peter Sellars Inszenierung The Persians aus dem Jahr 1993 heranziehen. Zum Schluss wird im siebten Schritt am Beispiel von Armin Petras Inszenierung Mach die Augen zu und fliege oder Krieg böse 5 aus dem Jahr 2004 zusammenfassend die politische Dimension des Theaters in den Blick genommen. Es wird zu zeigen sein, dass politisches Theater heute ohne eine explizite Kritik an den Bildern und ihren Medien kaum noch zu denken ist. 2. Elektronische Bildersphären und die Politik der Globalisierung Im Zuge von Globalisierung und Weltvernetzung sind Bilder als Garanten weltweiter kultureller Kommunikation nicht mehr wegzudenken. Medien wie Fernsehen und Internet versorgen uns stetig mit einem transnational rezipierbaren Bildprogramm. Damit aber öffnet sich gleichzeitig ein Feld globaler Bildpolitik, deren Ausmaße und Auswirkungen bisher kaum zu überschauen ist. Denn der beschleunigte Prozess der Weltvernetzung geht nicht zuletzt auch mit dem der kontinuierlichen Welterschaffung einher. 2 Dabei sind wir zunehmend mit den Auseinandersetzungen um ein kulturelles, politisches oder religiöses Interesse an Bildern konfrontiert, das sich zugleich in einer besonderen Sprache der Bilder formuliert. Wie sich innerhalb dieses Prozesses die Medien und die Bilder zueinander verhalten, darüber gibt es gegenwärtig noch wenig Aufschluss. Für die einen verspricht insbesondere das Internet die Funktion einer neuen ‘agora’ für eine demokratische Weltpolitik zu erfüllen. 3 Für andere bestätigt dieses neue Medium allerdings nichts anderes die Krise der Demokratie. 4 Otto Karl Werckmeister hat sich in seinem Text “Die zeitgeschichtliche Bilderfrage” 5 den Problemen gewidmet, die sich aus den neuen Medien für die zivilen Gesellschaften im 21. Jahrhundert ergeben. Dabei konzentriert er sich insbesondere auf die ‘neuen’, in elektronischen Netzwerken erzeugten photographischen Bilder. Werckmeister diagnostiziert eine zunehmende Polarisierung zwischen zwei Bildersphären: einer operativen Bildersphäre und einer informativen Bildersphäre. Die operative Bildersphäre ist jener durch die neuen computergestützten Medien geschaffene virtuelle Raum, in dem Bilder als Datensätze produziert, verarbeitet, gespeichert und übermittelt werden. Er ist dadurch charakterisiert, dass er nicht öffentlich und unseren Blicken nicht zugänglich ist. In diese weit reichende Sphäre ist die informative Bildersphäre eingelassen: gleichsam als Sphäre in der Sphäre. Diese ist scheinbar öffentlich und gewährt unseren Blicken Zugang zu ausgewählten und sich häufig wiederholenden Bildern. Sie zeigt allerdings nur einen kleinen Ausschnitt dessen, was die operative Bildersphäre aufzeichnet, produziert und bereithält. Das Verhältnis zwischen den beiden Sphären ist konfliktbehaftet. Denn einerseits ist die operative Sphäre für die breite Öffentlichkeit nicht zugänglich, andererseits aber ist sie mit den technischen Möglichkeiten ausgestattet, Bilder von der Öffentlichkeit zu produzieren und diese damit zu kontrollieren (Videoüberwachung, Iriserkennung etc.). Nicht zuletzt deshalb wird der Wirklichkeitsbezug der Bilder häufig bezweifelt. Was heute fehlt, so Werckmeister, ist eine demokratisch legitimierte Politik, die den freien Zugang zu der operativen Bildersphäre gewährleistet und den Austausch zwischen ihr und der informativen Bildersphäre garantiert. Dies sei die nötige Voraussetzung für eine offene Bildkritik. Als besonders prägnantes Beispiel für die Spannungen zwischen den beiden Bildersphären nennt Werckmeister die Bild-Berichterstattung aus dem zweiten US-amerikanischen Golf-Krieg. Wurde der erste Golfkrieg 1990/ 91 noch nahezu bilderlos übertragen, entschied man sich nun im Rahmen Wem gehören die Bilder? 49 Abb. 1: Aus der Dokumentation “Image-Wars”: Ein Militärsprecher erläutert unter ungläubigem Gelächter der Journalisten den Abwurf einer mit einer Kamera ausgestatteten Bombe über dem Irakischen Hauptquartier. eines embedded journalism, ausgewählte Bilder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Diese Bilder allerdings gaben keinerlei Aufschluss über die zerstörerischen Auswirkungen der digitalen Planung und Übertragung des Krieges und seiner nahezu unsichtbaren Waffen. Die zweiteilige Fernsehdokumentation “War of Images” 6 über den Wandel der US-amerikanischen Kriegsberichterstattung seit dem Vietnamkrieg bestätigt diese Diagnose: Aus Interviews mit verschiedenen Kriegsberichterstattern aus dem ersten und dem zweiten US-amerikanischen Golfkrieg geht hervor, dass sich die gezeigten Fernseh- Bilder mit jedem Krieg weiter von dessen Wirklichkeit entfernten. Obwohl der letzte Irak-Krieg faktisch einen Monat dauerte, brachte er Bilder für drei Jahre hervor. Diese allerdings bekamen die amerikanischen Fernsehzuschauer nicht zu sehen. Statt dessen präsentierten Militärsprecher ‘saubere’ Bilder, die von den Waffen selber aufgenommen wurden. Im Abspann der Dokumentation wird die aufgezeigte Entwicklung folgendermaßen zusammengefasst: Die Kriegsbilder kommen von den Militärs und ihren Vernichtungswaffen. Wer soll uns in Zukunft noch das wahre Gesicht des Krieges im Fernsehen zeigen? Vor 31 Jahren hat das Pentagon geschworen, dass die Kriegsbilder sich nie wieder seiner Kontrolle entziehen sollten; dass das Fernsehen nie wieder politische oder moralische Fragen stellen sollte, wie es das im Vietnamkrieg getan hatte. Wenn es nach dem Pentagon geht, wird das Fernsehen selbst zur Kriegswaffe - und sie ist auf uns gerichtet. 7 Werckmeister zufolge sind wir hier mit dem von ihm so genannten “Medusa-Effekt” konfrontiert, der die Wechselwirkung zwischen operativer und informativer Bildersphäre bezeichnet: Der Medusa-Effekt steht für die mediale Produktion von Sichtbarkeit, die Blindheit bis hin zum Tötungsakt produziert und damit auch die materielle Seite der Wirklichkeit zerstört: Auf der einen Seite steht geheim, dem Blick entzogen, die videoelektronische Bildtechnologie gesellschaftlicher Manipulation und Kriegführung, deren subjektlose Sehvorgänge [digitale Kontrollinstanzen, kameragesteuerte Waffen] die Wirklichkeit bestimmen, verändern und zerstören. Auf der anderen Seite steht eine Bildkultur, die in zunehmendem Maße zu dem Zweck erzeugt wird, den Blick auf die schreckliche Wirklichkeit zu bannen, indem sie symbolische Fiktionen oder Reflexionen des Zweifels an die Stelle ihrer Abbildung setzt. 8 Nicht die Bilder als solche verstellen also die Wirklichkeit, sondern die (unsichtbaren) Mechanismen ihrer medialen Vermittlung. Die Stärke des ‘mythischen Bildes der Medusa’ besteht für Werckmeister darin, dass es diese politische Dimension eindringlich und bündig zusammenfasst: Es drückt aus, dass wir heute in den Medien nur selten etwas von dem zu sehen bekommen, was sich weltweit tatsächlich in Bildern zeigt und ereignet. Auf der anderen Seite verbirgt sich hier in unseren Augen eine Schwäche oder besser ein Desiderat. Denn das erklärte Ziel Werckmeisters lautet, den politischen (Handlungs-)Zusammenhang, den das mythische Bild vorstellt, vor allem durch die Tätigkeit 50 Kati Röttger und Alexander Jackob des rationalen Denkens aufzulösen. Das bedeutet aber auch: Statt durch aktive Arbeit am Bild des Medusa-Effekts für einen geisteswissenschaftlichen Beitrag zur Bildkritik und Bildpolitik zu plädieren, zieht sich Werckmeister in einen Rationalismus zurück, der einem universalen Begriffs-Schematismus und dadurch indirekt einem alten, durch Normen gestützten Kontrollmechanismus Rechnung trägt. Im Folgenden werden wir deshalb den Ansatz Werckmeisters erweitern. Doch statt das mehrdeutige Bild des Medusa- Effekts auf bereits vorhandene Erklärungsmuster oder Lehrsätze (im Sinne einer bereits geleisteten Arbeit am Mythos) zurückzuführen, werden wir versuchen, das kritische Potential des Bildes durch einen Blickwinkel zu stärken, der den Effekt des Mediums - den tödlichen Blick - nicht aus dem Auge verliert. 3. Medien und Blickordnungen: Der Visier-Effekt In seiner viel diskutierten Schrift Marx’ Gespenster setzte sich Jacques Derrida 1993 bereits zehn Jahre vor Werckmeister ebenfalls mit einem asymmetrischen Blickverhältnis auseinander. In diesem Fall handelte es sich um die Begegnung zwischen Hamlet und dem Gespenst oder Geist seines Vaters. “I am thy father’s spirit” lauten die Worte, denen Hamlet Glauben schenken muss, denn die Rüstung, die das Gespenst umhüllt, lässt nichts weiter sehen als eben diese. Dieses Gesehenwerden von etwas, das wir selbst nicht erkennen können, nennt Derrida den Visier-Effekt. “Wir sehen nicht, wer uns erblickt. […] Seine Erscheinung läßt ihn noch unter der Rüstung unsichtbar erscheinen”. 9 Der Blick des Gespenstes ist zwar nicht gewalttätig und tödlich - wie jener der Medusa - aber ebenso mächtig, denn auch hier wird der Erblickte einem unsichtbaren Gesetz, einer Verfügung, 10 unterworfen. Bei Derrida wird dieses mehrdeutige Bild ins Spiel gebracht, um zum schwierigen Umgang mit dem immer wiederkehrenden Gespenst des Kommunismus aufzufordern und anzuregen. Uns hingegen interessiert an dieser Stelle mehr der Vergleich der besonderen medialen Qualitäten der beiden Effekte im Hinblick auf die besondere Wahrnehmungskonfiguration, die das Theater eröffnet. Der Visier-Effekt erlaubt zwei wesentliche Erweiterungen des Medusa-Effekts. Erstens transformiert er die harte und tödliche Grenze, die der Blick der Medusa für ihr Gegenüber darstellt, zu einer Schwelle. Denn zwischen Begegnung und Blick öffnet das Visier einen Grenz-Erfahrungsraum, einen Zwischenraum für Reflexionen und Handlungen. Diese Eigenschaft führt zwangsläufig zu einer zweiten, medial bestimmten Erweiterung: Während die Medusa uns als mythische Gestalt entgegen tritt, ist Hamlets väterliches Gespenst als Bühnengestalt ausgewiesen, genauer gesagt: als coup de théâtre. Sie ist dazu bestimmt, in dem Zwischenraum der Reflektion zu erscheinen, den die Bühne darstellt, und damit direkt vor Zuschauern. Daraus folgt, dass der Blick-zerstörende Medusa-Effekt, auf die Bühne gebracht, im Bild des Visier-Effekts vor den Augen der Zuschauer sichtbar und erkennbar wird. Auch wenn diese Übertragung den tödlichen Blick-Effekt neuester Waffentechnologien nicht aufhält, erlaubt der Visier-Effekt zumindest Einblick in dessen medialen Status Quo. Denn die verborgenen Mechanismen der operationalen Bildersphäre werden somit “ins Visier” genommen. In dieser auch semantisch sich anbietenden Übertragung kann die Medien- Gewalt im Bild des Visier-Effekts (auch als Teil der “Rüstung”/ Industrie) sichtbar zutage treten. Gehen wir davon aus, dass das Wechselspiel von Medusa-Effekt und Visier-Effekt nicht nur ein Bild, sondern auch das Medium des Bildes sichtbar macht, dann stellt sich die Frage, ob wir es dann nicht auf der Theaterbühne tatsächlich mit jener ikonischen Kollision 11 zu tun haben, die das provoziert, was Wem gehören die Bilder? 51 Latour “a revision of the critical spirit, a pause in the critique” nennt: “a […] common stage which allows the spectator to perceive an image and understand its politicity”. 12 Wie sich hier im Vergleich von Medusa-Effekt (als Gewalt) und Visier-Effekt (als Macht) andeutete, muss eine weitere Auslegung auch die Frage nach dem politischen Impetus des Theaters stellen. Schon um Unklarheiten zu vermeiden, sollen dabei Macht und Gewalt nun als politische Begriffe differenziert und dann kritisch aufeinander bezogen werden. 4. Macht und Gewalt 1970 legte Hannah Arendt während des Vietnamkrieges und der weltweiten Studentenrevolution ihre Untersuchung On Violence vor. 13 Dabei zeigte sie nicht nur auf überzeugende Weise, dass sich das Verhältnis von Macht und Gewalt (im Sinne von Staatsmacht und Staatsgewalt) im Zuge der Industriellen Revolution und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend geändert hatte. Zugleich wies sie nach, dass diese Veränderung von den meisten Theoretikern bis dahin nahezu unbemerkt vonstatten gegangen war. Im Kontext unserer Frage interessieren uns vor allem drei Aspekte ihrer Analyse. a) Historischer Ansatz Arendt stellt fest, dass die Staatsgewalt oder auch die Gewalt revolutionärer Kräfte weit bis in 20. Jahrhundert hinein lediglich als ein Mittel zum Zweck betrachtet wurde, das sich auf höhere Prinzipien berufen konnte. Insofern wurde Gewalt als ein übles, aber notwendiges Instrument der Macht verstanden. Diese Perspektive lässt sich nicht mehr aufrecht erhalten, so Arendt, wenn die Gewaltmittel oder -instrumente aufgrund ihrer technologischen Entwicklung nicht mehr kontrollierbar sind. Spätestens dann muss das Wesen der Gewalt als eigenständiges Phänomen und als eigenständige Kraft verstanden werden. Diese Schlussfolgerung führt Arendt zu einer systematischen Auseinandersetzung mit der Gewalt. b) Politische Theorie: Interesse an der Gegenwart Für die Gegenwart ihrer Zeit (es sei hier daran erinnert, dass die USA bereits 1972 Bomben auf Vietnam abwarfen, die mit Fernsehkameras ausgestattet waren) stellt Arendt fest: Gewalt kann nicht mehr als eine einfache Erweiterung von Macht und Machtstrukturen verstanden werden. Mehr noch: Obgleich Macht und Gewalt häufig gemeinsam auftreten, 14 so sind sie als klare Gegensätze zu verstehen. 15 Macht zeigt sich in Arendts Analyse als ein Phänomen, das stets von der Mehrheit einer Gruppe auf sehr unterschiedliche Weise ‘getragen’ wird. Insofern wird sie von vielen auf sehr unterschiedliche Art und Weise akzeptiert und unterstützt. Gewalt hingegen wird von wenigen einer Gruppe gegen viele ausgeübt und bedarf Instrumente der Gewalt: sei es die Technik der Polizei oder die Armee. Im extremsten Fall ist Macht gegeben, wenn alle gegen einen sind, Gewalt hingegen dann, wenn einer gegen alle ist. Letztes ist nur durch den Einsatz von Gewaltmitteln möglich. c) Zukunft oder Gegenwart Nach der digitalen Revolution müssen Arendts Ausführungen um einige wesentliche Aspekte ergänzt werden. Zunächst stellt sich die Frage, wie Mehrheiten eigentlich zustande kommen, welche die Macht legitimieren. Oder noch genauer: Wer stellt heute die Mehrheiten her? Wer bestimmt, wie und womit gezählt wird? Welche Stimmen zählen und welche werden zum Schweigen gebracht? Heute mehr noch als zu Arendts Zeiten muss hierbei insbesondere die Funktion der Massenmedien, Fernsehen und zunehmend auch das Internet, in Betracht gezogen werden. Mit Werckmeister haben wir bereits erläutert, 52 Kati Röttger und Alexander Jackob dass die elektronischen Medien eine wichtige, aber verborgene Rolle bei der Schaffung der operationalen Bildersphäre spielen. Wenn wir diese Medien nun als Mittel auch zur Herstellung von Macht verstehen, dann müssen wir sie aus Arendts Perspektive nicht als bloße Bestandteile der Macht, sondern vielmehr als potentielle Gewaltinstrumente sehen. Interessanterweise ist aber im öffentlichen Diskurs, der ja erst durch die Medien hergestellt wird, selten von der Gewalt der Medien, dafür aber um so häufiger von Bildern der Gewalt in den Medien oder - noch einen Schritt weiter - von der generellen Gewalt der Bilder die Rede. Dieser Sachverhalt wiederum legt die Vermutung nahe, dass die Medien - und insbesondere das Fernsehen - sich in der Öffentlichkeit stets als Macht simulieren, indem sie ihr Gewaltpotential verbergen. Als These formuliert heißt dies: Anstelle ihre eigene Gewalt sichtbar zu machen, lenken insbesondere die elektronischen Medien den Blick auf eine scheinbare Gewalt der Bilder, die den Zusammenhang zwischen Medium, materieller Wirklichkeit und Gewalt verbirgt. Konsequenterweise wird genau deshalb - wie wir mit Werckmeister bereits ausgeführt haben - die Wahrheit der Bilder in Zweifel gezogen und nicht die Wahrheit der Medien. Das Theater kann dieses Paradox sichtbar machen, indem es eine Bühne für die Inszenierung von Bildern und Medien in der Zusammenführung von Medusa-Effekt und Visier-Effekt bereitstellt. Erst auf diese Weise, so unsere Überlegung, können die Zuschauer in die Entscheidungsprozesse über die spezifische Gewalt/ Macht der Medien und der Bilder aktiv mit einbezogen werden. Damit stellt sich auch die Frage: “Wem gehören die Bilder? ” 5. Macht oder Gewalt der Bilder? Wie wir gesehen haben, muss die Gewalt der Bilder immer auch als ein deutlicher Hinweis auf die verborgene und unsichtbare Gewalt der Medien verstanden werden, in denen die Bilder erscheinen. Sofern man also die simulierte und nur scheinbar auf Einvernehmen beruhende Macht der Medien als tatsächliche Gewalt erkennt, dann kommt man nicht umhin, nach der Macht der Bilder zu fragen. Dadurch erlangen wir nicht nur Aufschluss darüber, wie wir die den Medien eigene Gewalt erkennen, und damit auch gezielter auf sie reagieren können. Zugleich kommen wir auch der eigentlichen Frage unsers Vortrages näher: Wem gehören die Bilder? Denn Macht beruht, wie wir bereits bei Arendt gesehen haben, auf Verteilung (Zahlen) und Teilnahme (Partizipation). Dabei gibt es viele verschiedene Weisen der Teilnahme und Verteilung. Entscheidend ist, dass sich erst über den Weg der von vielen geteilten Macht ein “Spielraum” der (politischen) Teilnahme bildet. Dehnen wir diese Definition auf das Theater aus, dann ist dieser “Spielraum” hier wortwörtlich gegeben, wenn eine freie Kritik an den Bildern und an den Medien (im Sinne einer ‘offenen Bildkritik’ nach Werckmeister) nicht nur denkbar, sondern auch machbar wird: Hier liegt auch eine Quelle des Handelns, des “Dramas”, wie es im alten Athen begründet wurde. Auf der Basis dieser Überlegungen möchten wir nun folgende Hypothese formulieren. Die Frage, wem die Bilder gehören, ist in wesentlichen Punkten dadurch zu beantworten, welche Macht die Bilder haben und auf welche Weise diese Macht verteilt wird. Natürlich wirken in diesen Suchbewegungen immer auch andere, spezifische Fragen im Hintergrund mit, von denen hier einige genannt werden sollen: Was ist die Medialität der Bilder? In welchen Medien wurden sie ursprünglich generiert? Was teilen sie mit? Für wen oder was stehen sie oder zeigen sie sich? Die Liste dieser Fragen ist schon deshalb nicht vollständig, weil die Art der Frage immer vom Bild und der Situation des Bildersehens, also den Wahrnehmungsbedingungen abhängt. Eine festgelegte, vollständige Wem gehören die Bilder? 53 Liste von Fragen im Sinne eines abgeschlossenen und reinen Schemas im Sinne Kants (KdrV), das zwischen Bild und Betrachter tritt, wäre in diesem Fall also selbst eine Form der Gewalt. Die hier geübte Schematismus-Kritik geht auf Jean-Luc Nancys Text über “Bild und Gewalt” 16 zurück. Auf dieser Basis möchten wir unsere Frage nach der Macht der Bilder an die Frage nach der Medialität der Bilder koppeln. Dazu müssen wir noch einmal auf den Allgemeinplatz zurückgreifen, dass Bilder, zumal in den Massenmedien, in der Regel direkt mit Gewalt identifiziert werden. Jean Baudrillard etwa bezeichnete sie gar als “Mörder des Realen”. Eine eindeutigere Anklage ist nicht denkbar: Gewalt geht direkt vom Bild aus. Allerdings, so muss man hinzufügen, lässt Baudrillard die spezifische Medialität der Bilder gänzlich außer Acht. Nancy spricht in diesem Fall von geläufigen Behauptungen: “Erstens, dass es eine Gewalt des Bildes gibt […] zweitens, dass Bilder der Gewalt […] allgegenwärtig und - zugleich oder abwechselnd - anstößig, schockierend, notwendig, zerreißend sind”. 17 Für das Vorkommen und die Verbreitung dieser Behauptungen nennt er verschiedene Ursachen, von denen zwei für unsere Frage besonders relevant sind: Erstens werden in der landläufigen Auffassung Bilder allgemein als Nachahmung oder Kopie von realen Dingen verstanden. Dieser Auffassung widerspricht Nancy in aller Deutlichkeit. Bilder, so Nancy, ahmen Dinge nicht nach, sie wetteifern mit ihnen, rivalisieren. Und Rivalität impliziert weniger Nachahmung als Wettstreit, bzw. agon. Es handelt sich genau gesagt um einen Wettstreit um die Präsenz: “Das Bild macht dem Ding dessen Präsenz streitig. Statt eines Dings, das bloß ist, zeigt das Bild, dass und wie das Bild ist”. 18 Mit dieser besonderen Fähigkeit zieht das Bild das Ding aus dessen bloßem Anwesendsein in die Präsenz, in die Gegenwärtigkeit: “Im Bild oder als Bild, und nur so, wird das Ding - ob unbeweglicher Gegenstand oder Person - zum Subjekt erhoben. Es stellt sich vor [se présente] “. 19 Hier haben wir es erneut mit einer ikonischen Kollision zu tun (iconoclash), denn an ihrem Grunde ist der Wettstreit um Subjektwerdung in der Bildwerdung wirksam. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Monstrosität des Bildes, die sich zunächst in seiner Eigenschaft des Zeigens (Demonstrierens), als “Ins-Licht-Bringen und Hervorheben”, 20 also in seiner Medialität, niederschlägt. Und genau in dieser Eigenschaft der Medialität scheint die Gewalt auf: “Fraglos herrscht hier Gewalt; oder zumindest die immer verhaltene Möglichkeit einer kommenden Gewalt”. 21 Aber was ist Gewalt nach Nancy? Hier sind wir bei der zweiten Ursache für die geläufigen Behauptungen, die für unsere Argumentation relevant ist. Dazu ein weiteres Zitat von Nancy: […] Gewalt [ist] grundlegend dumm, dumm im stärksten, dichtesten und unverbesserlichen Sinne. Nicht als fehlende Intelligenz, sondern, mehr noch, als Hirnrissigkeit des abwesenden Denkens, mit dem Kalkül einer verkrampften Intelligenz. […] Gewalt spielt kein Kräftespiel. Sie spielt überhaupt nicht, sie hasst das Spiel, alle Spiele, Intervalle, Artikulierungen, Pulsierungen, Regeln, die nichts anderes regeln als ihr reines Verhältnis. […] Gewalt ist diesseits der Macht und jenseits des Aktes. 22 Genau diese Unmittelbarkeit der Gewalt wird gerne mit der Unmittelbarkeit der Wirkung von Bildern gleichsetzt. Wenn wir allerdings von diesen Überlegungen aus noch einmal genauer nach der Gewalt oder Macht der Bilder fragen, dann ist es zweifelsohne notwendig, auch auf ihre Medialität zu verweisen. Denn Gewalt zeichnet sich auf den ersten Blick durch zweierlei aus: Sie lässt nicht mit sich spielen und delegiert ihre Wirkung an die Bilder. Sie zeigt sich nicht in ihrer medialen Monstrosität, sie zeigt sich nur im Bild. Soll die Gewalt der Medialität gezeigt werden, muss sie konsequenterweise im Bild sichtbar gemacht werden. Wenn wir behaup- 54 Kati Röttger und Alexander Jackob ten, dass der Visier-Effekt in dem Zwischenraum der Reflektion erscheint, den die Bühne darstellt, dann wird damit gleichzeitig ausgesagt, dass das Theater den Medusa-Effekt (und damit die Gewalt der Medien) im Bild des Visier-Effekts visualisieren kann. Damit überführt der Visier-Effekt den Medusa-Effekt in den Bereich der Gewalten-Teilenden Macht. Denn das Visier öffnet einen Grenz- Erfahrungsraum, einen Zwischenraum für Reflexionen und Handlungen im Zeitraum des Theaters. Indem das Theater auf diese Weise Intervalle zulässt, öffnet es den notwendigen Spielraum, in dem die Macht der Bilder verhandelbar und teilbar wird. Denn die Macht spielt sich im Umgang mit den Bildern ab, zeigt sich aber nicht im Bild. Gleichzeitig werden die Bilder und ihre Medien, sobald sie mittels des Visier-Effekts aufgeteilt und in den Theater-Spielraum der Reflektion und der Kritik transferiert werden, einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das hat zwei Effekte: Erstens wird das Bild zu einem Politikum, indem die Politizität des Bildes erkennbar wird. 23 Denn die Gewalt nistet sich nicht notwendig in das Bild ein, sondern ist letztlich als ein Verweis auf das Medium des Bildes zu verstehen. Hierin liegt auch seine verkörpernde Dimension. Zweitens besteht die Chance, dass sich die Öffentlichkeit - über den Blickwinkel des Theaters - selbst als Medium (bzw. Instrument) einer Kultur der Bilder (Sphäre der Bilder) und damit als Gewalt erkennt. Das Gegenmodell zu dieser Überlegung läge in der Immanenz der römischen Arena. 24 In ihrer lückenlosen Horizontlosigkeit vermag das Publikum sich selbst nicht als Ort der Gewalt zu erkennen: Es wird statt dessen in eine endlose Schleife von visuellen Gewaltakten eingebunden. Hier entzieht sich das Medium dem Blick. Mit anderen Worten vollzieht sich hier dann statt der Macht die Ohnmacht der Bilder. Medusa verweigert den Auftritt und zieht sich in ihr Medium zurück. Wo diese Ohnmacht ist, herrscht Gewalt. 6. Theater als Ort der Bilder und der Gewalt: Die Perser von Peter Sellars Wir fassen zusammen: Theater kann einen Spielraum der Intervalle eröffnen, in denen die scheinbare Gewalt des Bildes in seiner Medialität sichtbar wird. Auf diese Weise wird die Möglichkeit eines Umgangs mit den Bildern geschaffen. Sie werden verhandelbar und teilbar. Durch die Möglichkeit der Verteilung von Bildern wird die Teilnahme an Macht geschaffen. Dies ist wiederum ein politischer Akt. 25 Denn Macht kann geteilt werden, Gewalt jedoch nicht. Das wiederum macht die besondere Fähigkeit des Theaters aus, einen Spielraum der Bildpolitik zu eröffnen. Hierzu ein Beispiel: Im Jahr 1993, drei Jahre nach dem zweiten US-amerikanischen Golfkrieg, inszenierte der amerikanische Theaterregisseur Peter Sellars Die Perser, das Stück des attischen Tragödiendichters Aischylos, in Los Angeles. Schon durch die Wahl dieses ersten Kriegsstücks der Theatergeschichte wurde Sellars’ Intention offensichtlich, zum damaligen Golfkrieg und dem Krieg in den Medien Stellung zu beziehen. Denn das Stück war schon zu seiner Zeit bereits ein Bestandteil der medialen Propaganda Athens gegen den damaligen Erzfeind Persien und den König Xerxes. Damit gelang es Sellars zugleich, den Zuschauern eine neue Sicht auf die attische Tragödie und deren Funktion innerhalb der Polis oder der Politik zu ermöglichen. Um dies einsichtiger zu machen, seien einige Fakten vorausgeschickt: 472 v. Chr. wurden Die Perser während des zu Ende gehenden Krieges gegen das persische Großreich mit den Griechen in Athen uraufgeführt. Es handelt sich um die erste vollständig überlieferte Tragöde, in der zwei Schauspieler gleichzeitig auf der Bühne agierten: Damit nimmt nicht nur der Dialog auf der Bühne, sondern auch das vor den Augen der Zuschauer stattfindende Spiel von Sehen und Gesehenwerden auf der Bühne des Abendlandes seinen An- Wem gehören die Bilder? 55 Abb. 2: Aus Peter Sellars: Die Perser (1993): Der Geist von Daraios beklagt die Gewalt des Golfkrieges. fang. Gezeigt wird (von Athenern für Athener gespielt) der weit entfernte persische Königshof in Susa im Jahre 480 v. Chr., also 8 Jahre vor der Aufführung. Atossa, die Mutter des Königs, wartet auf Nachrichten von ihrem Sohn Xerxes, der gegen die Griechen in der See-Schlacht vor der Insel Salamis zum Kampf angetreten ist. Als sie von einem Boten einen ausführlichen Bericht von Xerxes’ verheerender Niederlage erhält, 26 beschwört sie zusammen mit dem Chor den Schatten ihres Mannes herauf. Schließlich erscheint ihr der Geist des toten Königs Daraios. Er war selbst bereits 490 v. Chr., zehn Jahre zuvor, bei Marathon von den Griechen geschlagen worden. Nun rät Daraios aus dem Totenreich heraus zur Zurückhaltung gegenüber den Griechen: Und das aus gutem Grund, denn er sieht bereits die weiteren Niederlagen des Xerxes voraus. Diese erste überlieferte Geister-Beschwörung und -Erscheinung auf der abendländischen Bühne ist in vielerlei Hinsichten bemerkenswert. Erstens haben wir es erneut mit einem Geist oder Gespenst als Medium der Botschaft des Schreckens zu tun. Daraios sieht bereits voraus, was die Perser noch nicht in der Lage sind zu sehen: die Zerstörung des persischen Großreiches. Zweitens kann Athen im Medium der Bühne ‘Susa’ und ‘Daraios’ erblicken, Susa jedoch nicht Athen. Dabei werden nicht nur die lebenden, weit entfernten Perser, sondern auch ihre Toten von den Griechen selbst auf der Bühne präsentiert und ins Bild gesetzt. Damit offenbart sich eine medientechnologische Revolution: Das Theater behauptet sich als ein Ort, der es ermöglicht, Toten-Bilder anderer Völker zu transformieren und als fremde Bilder anzueignen. Für Athen hat Medusa damit ihren Schrecken verloren. Dennoch bleibt diese Handlung selbst auch ein Akt des Krieges oder der Gewalt. Sellars nun transferiert diese von den Griechen als machtlose gezeigte Medusa in das Jahr 1993 und gibt ihr ein neues, ein anderes Gesicht. Der Geist von Daraios erscheint gut 2400 Jahre später auf einer Bühne in Los Angeles, um Krieg und die Fremdherrschaft zu beklagen. In einer Radikalisierung der Idee von Vorbild und Neugestaltung, 27 wird das alte Bild des Daraios in einer neuen Sprache in Gebrauch genommen: This little boy over here with his legs blown off. He looks like me at his age. His eyes - maybe it is me, the child Daraios, with his legs blown off. The children will be shown no mercy, 500 children a day marked for death […] They have to know what they’re attacking, don’t they? Their planes and satellites constantly taking pictures, They had to know that was a shelter for the human beings For they see, but they do not think about what they are seeing. They know but they do not want to comprehend what they know, Because there are more important things in their minds, the winning of the war. 28 Die Forderung nach dem Umschlag von Gewalt in Macht und deren Verteilung steht deutlich sichtbar und hörbar im Raum. Das wird nicht zuletzt deshalb deutlich, weil die Ohnmacht des Daraios explizit in einem ein- 56 Kati Röttger und Alexander Jackob dringlichen Körperbild präsentiert und damit auch die Gewalt sichtbar und hörbar wird: Denn der Darsteller des Geistes von Daraios ist taubstumm und agiert ausschließlich mit den Händen und seinem Körper. Seine körpersprachlichen Zeichen werden für das Publikum von einem Sprecher in Worte, in amerikanisches Englisch übersetzt. Durch diesen Transfer des Körper-Mediums der Botschaft in das Medium einer fremden Stimme öffnet sich zwischen Bild und Medium ein Spalt (Schwelle), und die Gewalt zeigt sich in ihrer Medialität selbst. 7. Orte der Bildpolitik: Theater, Körper und die globale Bild-Sphäre. Mach die Augen zu und fliege oder Krieg böse 5 Wie das letzte Beispiel gezeigt hat, kann Theater sich als Ort kenntlich machen, an dem die Politik der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit durchgespielt werden kann. Von entscheidender Bedeutung ist hier jedoch nicht zuletzt auch das Spiel des Körpers. Warum? Wenn wir davon ausgehen, dass die Gewalt und die Macht der Bilder eng mit ihrer Medialität verbunden sind, dann müssen wir - sobald wir vom Theater als Ort der Bilder sprechen - auch den Körper als Ort und Medium der Bilder mit in Betracht ziehen. In diesem Punkt folgen wir Hans Belting, der den menschlichen Körper mit seiner Fähigkeit, innere und äußere Bilder zu rezipieren und zu produzieren, als Medium des Bildes definiert. 29 Mit dieser Voraussetzung kann die Antwort auf die Frage, wem die Bilder gehören, noch weiter präzisiert werden. Dies gilt insbesondere, wenn wir uns der mittlerweile allgemein anerkannten Auffassung anschließen, dass die spezifische Medialität des Theaters erstens von der Ko-Präsenz von Darstellern und Zuschauern, zweitens von der konkreten Lokalität des Geschehens, der szenischen Handlung, bestimmt ist. Dass das Theater schließlich drittens unter diesen Voraussetzungen die besondere Fähigkeit besitzt, Bilder aus der globalen Bildersphäre nicht nur zirkulieren zu lassen, sondern auch einer offenen Bildkritik zugänglich zu machen, haben wir bereits gezeigt. Der entscheidende Schnittpunkt, an dem sich diese Öffnung des Bildes im Theater ereignet, ist die reale und mediale Präsenz der Körper. Wenn wir nun den Körper (der Darsteller und der Zuschauer) als Medium des Bildes auffassen, so lässt sich daraus folgern, dass er heute (im Theater) einerseits einen Teil der Macht der global multitude formt. 30 Andrerseits aber vollzieht sich gerade am Körper auch Differenz und Heterogenität. Vor dem Hintergrund unserer bisher erfolgten Argumentation möchte wir deshalb an dieser Stelle vor allem hervorheben, dass die Dialektik der Produktion von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Macht und Gewalt sich nicht zuletzt (am wahrnehmenden und wahrnehmbaren) Körper des einzelnen und der Menge vollzieht. Wie sich das Theater dazu verhält bzw. wie sich diese Dialektik im Theater ausnimmt, soll an einem zweiten Beispiel ausgeführt werden. Es handelt sich um eine Produktion des Autors und Regisseurs Armin Petras alias Fritz Kater, die er im Jahr 2004 zusammen mit der blinden Tänzerin Pernille Sonne zur Aufführung brachte. Der Titel dieser Produktion ist geradezu programmatisch für unsere Argumentation: Mach die Augen zu und fliege oder Krieg böse 5. Die Idee zu diesem Projekt entstand in S-o Paulo, Brasilien, wo Petras auf die besonderen Lebensumstände von Blinden in der Metropole aufmerksam wurde. Sie erzeugten in ihm das Bild eines permanenten Kriegszustands. Als literarisches Äquivalent für dieses Bild der Blindheit und Orientierungslosigkeit angesichts permanenter Gewaltandrohung fand er Jakob von Grimmelshausens Text Der abenteuerliche Simplicissimus, der 1668, nach dem Dreißigjährigen Krieg, erschien und die Erlebnisse eines einfältigen Viehhirten, des Simplicissi- Wem gehören die Bilder? 57 Abb. 3: Aus Armin Petras Mach die Augen zu und flieg. Krieg böse 5 (2004): Die Anfangssequenz mit Pernille Sonne. mus, in jener Zeit schildert. Zusammen mit autobiografischen Passagen aus Pernille Sonnes persönlichen Erfahrungen mit ihrer zunehmenden Blindheit, sowie Textfragmenten aus Werken von unter anderem Marx, Kant, Maus II von Art Spiegelman und Die Trachinerinnen von Sophokles schuf Petras eine Kollage, die die Zeit von der Antike bis heute und den geografischen Raum zwischen dem Deutschland des dreißigjährigen Krieges und dem heutigen Brasilien und Papua-Neuguinea umfasst. Es ist unmöglich, der Vielschichtigkeit der Produktion an dieser Stelle gerecht zu werden. Wir möchten die Aufmerksamkeit hier lediglich auf die politische Dimension der Aufführung lenken, welche in der besonderen Konfiguration von Körper, Bild, Gewalt und Medialität aufscheint. Um hiervon einen ersten Eindruck zu vermitteln, sei zunächst ein Ausschnitt aus der Textcollage zitiert, der als verborgene, thematische Klammer fungiert: Im regionalen krieg wie im privaten existenzkampf ist es möglich durch eine anhäufung an sinnlichen wahrnehmungstechniken und verstandserweiterungen die chancen auf das überleben nach den jeweiligen kämpfen in veränderten formen zu ermöglichen/ In den immer globaler werdenden und immer mehr bereiche einbeziehenden kriegen des 20. und 21. jahrhunderts ist alle technik des sinnlichen und des verstandesmäßigen trainings zur überwindung dieser krisen zunehmend weniger erfolgversprechend / weil diese kriege nicht nur auf die vernichtung des einzelnen zielen und dadurch die steigernde profitmaximierung für den jeweils anderen sondern immer unvermeidlicher das globale kulturelle klimatische und soziale gleichgewicht auf irreversible weise zerstören und damit sowohl die lebensgrundlagen des angegriffenen als auch des angreifers vernichten oder doch wesentlich untergraben […] unter krieg verstehen wir dabei alle massnahmen, die zur beschneidung oder zerstörung von leben und lebensformen führen auch wenn sie nicht ursächlich oder ausschließlich als solche vom verursacher gedacht sind / 31 Die Zerstörung mit den Mitteln des Krieges und der Gewalt, die hier im doppelten Sinne einer militärischen Kriegsführung und des privaten Existenzkampfes thematisiert wird, findet in erster Linie am Schauplatz des Körpers statt, so zumindest will Petras die zentrale Aussage der Inszenierung verstanden wissen. Im Bild der blinden Tänzerin (Pernille Sonne), die im Verlauf des Bühnengeschehens immer wieder auf ‘Orientierungshilfe’ angewiesen ist, zeigt sich die permanente physische Unsicherheit, die durch den Krieg bzw. das Nicht-Sehen (Blindheit) verursacht wird. Dieser Krieg, der sich über die Medien vermittelt, geht - so zeigt es die Vorstellung - direkt durch den Körper. Der Medusa-Effekt, die mediale Produktion von Sichtbarkeit, die Blindheit voraussetzt und die Wirklichkeit zerstört, wird in diesem Bild geradezu vorbildhaft demonstriert. Dies wird bereits zu Beginn der Vorstellung deutlich. Im dunklen Bühnenraum wird zunächst das gefilmte Bild der blinden Tänzerin, die Augen von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt, projiziert, die an einer Bushaltestelle in S-o Paolo mitten im Verkehrschaos steht. 58 Kati Röttger und Alexander Jackob Indem die Zuschauer auf diese Weise direkt mit dem sichtbaren Bild von Blindheit und mit dem Wissen konfrontiert werden, dass sie sehen, was ihr Gegenüber nicht sehen kann, werden sie direkt auf die (verborgene) Gewalt der Medialität aufmerksam gemacht. Denn der Blick der Zuschauer, geführt von der Kamera, stößt auf den (aus)geblendeten Blick der Tänzerin: ein sichtbares Bild der ‘Medusa’. Diesem Bild folgt die Projektion eines bekannten Filmbilds aus Apocalypse Now, dem Vietnamkriegsfilm schlechthin: ein im Abwurf von Napalmbomben verbrennender Dschungel, untermalt von der Musik von “The Doors”, This is the end. Diese beiden Projektionen bilden den sichtbaren Rahmen der Allegorien von privatem Existenzkampf und militärischer Kriegsführung, welche in der Vorstellung verhandelt werden. Es ist der Rahmen für den Auftritt der Darsteller. Im Laufe der Vorstellung werden wir, die Zuschauer, direkt dazu eingeladen oder auch aufgefordert, 32 am Spiel von Orientierung und Desorientierung und damit auch an der Erfahrung der verhaltenen Möglichkeit von Gewalt im permanenten Kriegszustand teilzuhaben. Entscheidend dabei sind die Intervalle der Reflexion, welche die Inszenierung zwischen die gezeigten Bilder, Körper und Medien schiebt. Dies geschieht durch die Aufspaltung des zuschauenden Blicks; und zwar am Schauplatz der Körper der Darsteller und Darstellerinnen selbst, indem die sinnlichen Funktionen der Bewegung (tastende Orientierung im Raum), des Sehens, des Sprechens und der Bildwerdung der Körper vor den Augen der Zuschauer ‘geteilt’ werden. Die blinde Tänzerin etwa wird von der Choreografin und Tänzerin Lara Kaufmann geführt, um sich tanzend im Raum orientieren zu können, während der Schauspieler Milan Peschel parallel dazu seine Stimme erhebt, um Grausamkeiten zu erzählen, die Simplicissimus im Krieg erlebt. An anderer Stelle bindet sich Lara Kaufmann ein schwarzes Tuch vor die Augen und vollführt Tanzbewegungen, während auf einer großen Leinwand im Bühnenhintergrund ein Film läuft, der - wie von einer webcam aufgenommen - einen in ein Cowboyhemd gekleideten, etwas schwerfälligen (leicht gehandicapten) Mann zeigt, der - in seinen privaten Räumen - ebenfalls Tanzbewegungen zu Tangoklängen ausführt. Pernille Sonne wird gleichzeitig von den Armen Milan Peschels getragen, der wiederum Simplicissimus-Zitate spricht. Anschließend formiert sich die Darstellergruppe vor dem immer noch laufenden Film zu einem Chor, der (mit geschlossenen) Augen die Worte spricht: kein wunder dass musik und tanz so bedeutsam sind es sind die mittel derer wir uns bedienen wenn worte versagen zu privat - das ist die verdrängungsformel mit der nichtverwertbares leben an einem gesellschaftlichen ausdruck gehindert und gerade dadurch privatisiert und erstickt wird 33 Was also hier vor den Augen der Zuschauer im Spielraum der Bühne geschieht, ist die Vorführung der Schwelle zwischen dem Erblinden und dem Sichtbarmachen selbst, die in der Medialität des sehenden und sichtbaren Körpers liegt. Die Bildwerdung ist dabei ein Teil des Prozesses der Subjektwerdung, der sich in der ikonischen Kollision, im sichtbaren agon zwischen Ding und Bild, Bild und Medium auf der Bühne vollzieht. Zusammenfassend lässt sich schlussfolgern, dass die Vorstellung das Bild der Medusa gewissermaßen wie eine Passage durch die Angst vor ihrem tödlichen (medialen) Blick durchspielt, als Arbeit am Medusa-Effekt. Damit stellt sie das Bild (den Zuschauern) zur Disposition. Dazu noch ein letztes Zitat aus dem Stück: Je mehr sinnliche Vorstellungen wir uns aneignen um so weniger können wir überrascht werden umso mehr werden wir die veränderungen in unserem leben als mögliche erfah- Wem gehören die Bilder? 59 ren können umso eher werden wir in der lage sein mit den unweigerlich über uns hereinbrechenden katastrophen umgehen zu lernen / das heißt sie mit hilfe von vorhandenen sinnlichen vorstellungen als eine möglichkeit von welt zu erkennen und dem unweigerlichen schock der uns auf diese krise ereilt und der ein schwarzes loch aus angst in unsere körper rammt eine folie anderer bilder entgegenzusetzen auf deren hintergrund dieses schwarze loch doch ein neues bild erzeugt das uns ein überleben wenn nicht wirklich ermöglicht aber doch eben nicht notwendig verhindert/ 34 Indem im Spielraum der Bühne also der zerstörerische Blick des subjektlosen Sehens (Medium) als Bild vorgeführt wird, wird dem Zuschauer die Macht zur Reflexion und Partizipation im Angesicht der notwendigen (Neu)Verteilung der Bilder erteilt. Anmerkungen 1 Vgl. dazu etwa Martin Schulz, Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissenschaft, München 2005. 2 Vgl. Jean-Luc Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Zürich 2003. 3 Al Gore etwa verkündete 1993 die neue Demokratie der Agora im Internet. Dass diese Utopie im selben Jahr verkündet wurde, in dem es zum ersten Mal möglich wurde, Bilder über das Internet zu versenden, beschreibt Hans Bredekamp, “Drehmomente - Merkmale und Ansprüche des Iconic Turn”, in: Christa Maar, Hubert Burda (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 15-26, S. 21. 4 Richard Rogers belegt in seinem preisgekrönten Buch On Information Politics of the Web (Cambridge 2004), dass die vom Internet erwarteten Herausforderungen sowohl an die “classic politics” (Staatspolitik) als auch an die Informationspolitik (mediatisierte Versionen der Wirklichkeit in den Nachrichten) sich nicht erfüllt haben: “We witness the re-authoring of the crisis of democracy in the new medium” (p. 164). 5 Otto Karl Werckmeister, Der Medusa Effekt. Politische Bildstrategien seit dem 11. September, Berlin 2005. 6 Eine Produktion von France Television, am 1.7. und 8.7.2006 vom Belgischen Fernsehsender Canvas ausgestrahlt. Der Name des Regisseurs wird weder im Abspann vermeldet, noch ist im Internet ein Hinweis zu finden. 7 Übersetzung aus dem Niederländischen K.R. 8 Werckmeister, Der Medusa Effekt, S. 23. 9 Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a. M. 2004, S. 21. 10 Derrida, Marx’ Gespenster, S. 22 11 Siehe dazu das Konzept des iconoclash nach Bruno Latour, “What is iconoclash? Or is there a world beyond the image wars? ”, in: Bruno Latour, Peter Weibel (Hg.), Iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion, and Art. Katalog des Center for Art and Media, Karlsruhe 2002, S. 14-37. 12 Ebd., S. 25. 13 Hannah Arendt, On Violence, London 1970. 14 Dass in der Geschichte der politischen Theorie Gewalt und Macht lange Zeit als dasselbe galten bzw. Macht mit organisierter Staatsgewalt gleichsetzt wurde, davon legt nicht nur der Begriff der Gewaltenteilung Zeugnis ab; Arendt zitiert als Beleg Max Weber, der den Staat als “ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen Gewaltsamkeit) gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen” definierte. Hannah Arendt, “Macht und Gewalt”, in: Dies., In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, München 2000, S. 145-208, S. 167. 15 Arendt, In der Gegenwart, S. 184. 16 Jean-Luc Nancy, “Bild und Gewalt”, in: Ders., Am Grund der Bilder, Zürich-Berlin 2006, S. 31-50. 17 Ebd., S. 31. 18 Ebd., S. 41. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 42. 21 Ebd., S. 43. 22 Ebd., S. 33. 23 Wir erinnern hier an Latour: “a (…) common stage which allows the spectator to perceive an image and understand its politicity”. 60 Kati Röttger und Alexander Jackob 24 Vgl. Peter Sloterdijk, “Exkurs 1: Später sterben im Amphitheater. Über den Aufschub, römisch”, in: Ders., Sphären II. Globen (Bd. 2), Frankfurt a. M. 1999, S. 326-339. 25 Zu einer Definition des Politischen im gegenwärtigen Theater vgl. Kati Röttger, “Media/ Politics in Performance: am Beispiel von Bambiland”, erscheint 2007 in: Wolf-Dieter Ernst, Meike Wagner (Hg.), Performing the Matrix. Mediality in Cultural Performances. Reihe Intervisionen. 26 Aischylos kämpfte selbst auch bei Salamis. 27 Vgl. Wolf Hartmut Friedrich, Vorbild und Neugestaltung. Sechs Kapitel zur Geschichte der Tragödie, Göttingen 1967. 28 Dieses Zitat basiert auf einer Mitschrift der Videoaufzeichnung. 29 Vgl. hierzu ausführlich: Alexander Jackob und Kati Röttger, “Ab der Schwelle zum Sichtbaren. Zu einer neuen Theorie des Bildes im Medium Theater”, in Christoph Ernst, Petra Gropp, Karl Anton Sprengard (Hg.), Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie, Bielefeld 2003, S. 234-257. 30 Hier beziehen wir uns direkt auf Michael Hardts und Antonio Negris Konzept der “Macht der globalen Menge” im Angesicht einer “falschen Dichotomie zwischen global und lokal”. Vgl. dies., Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M. 2003, S. 58, S. 59. Vgl. dazu auch das spätere Werk Multitude. War and Democracy in the age of Empire, New York 2004, S. XV: “Insofar as the multitude is neither an identity (like the people) nor uniform (like the masses), the internal differences of the multitude must discover the common that allows them to communicate and act together.” (letzte Hervorhebung unsere). Besonders zu beachten ist die mögliche Übersetzung des englischen Begriffs multitude mit ‘Zahl’ und ‘Vielheit’. 31 Vgl. Arbeitsfassung des Textes vom September 2004. Veröffentlicht vom schauspielfrankfurt, S. 5. Wir möchten darauf hinweisen, dass die hier zitierte Passage in der Arbeitsfassung durchgestrichen ist. 32 Zu einem späteren Zeitpunkt in der Vorstellung wird ein (beliebiger) Zuschauer aufgefordert, auf die Bühne zu kommen und sich - unter Anleitung von Pernille - eine Folge von Tanzbewegungen anzueignen, um sie schließlich mit den anderen Darstellern zusammen auszuführen. 33 Textbuch, S. 8. 34 Textbuch, S. 6. Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung. Zur Dekonstruktion in Martin Kušejs Stuttgarter Fidelio Jürgen Schläder (München) Wenn Florestan, der Tenorheld in Beethovens Oper Fidelio, das Ende der Aufführung nicht lebend erreicht, sondern im Kerker von Pizarro mit raschem Schnitt durch die Kehle getötet wird, scheint die Nachsicht der Zuschauer mit den provozierenden Deutungen des zeitgenössischen Regietheaters über Gebühr strapaziert zu sein. Dass Florestan darüber hinaus als wandelnde, blutverschmierte “Leiche” seine Partie auf der Bühne zu Ende singt, grenzt an Skandal. Vor knapp zehn Jahren jedenfalls schockierte Regisseur Martin Kušej das Publikum in der Stuttgarter Staatsoper mit dieser Lesart von Beethovens musikalischem Drama 1 und handelte sich von einem Teil der Fachkritik unverblümte Rügen ein. Bernd Feuchtner, als einer unter zahlreichen Verächtern dieser Interpretationsstrategie, titelte in der Opernwelt: “Wiegenlied für eine Leiche” und attestierte dem Regisseur mit feinsinnigem Wortspiel ein genialisches, aber nicht geniales Regiekonzept, in dem der Coup der Aufführung, das Kerkerquartett im zweiten Akt, “szenisch nur halb gelungen” sei. 2 Von der Beliebigkeit der Bilder bis zur mangelnden Genauigkeit der Bühnenaktionen paradierten in Feuchtners Rezension die bewährten Sottisen, die sich in ähnlich drastischer Weise auch in zahlreichen anderen Premierenberichten fanden. Dass der Regisseur mit seiner Deutung möglicherweise den Einstieg in ein neues Interpretationszeitalter auf der Opernbühne geöffnet hatte, war den meisten Rezensenten und dem größten Teil des Publikums verborgen geblieben. Denn gerade der “Höhepunkt des Abends”, Florestans Ermordung durch Pizarro und Leonores Todesschuss, mit dem sie auch den verbrecherischen Gefängnis-Gouverneur zur Strecke bringt, offenbart den dekonstruktivistischen Ansatz der Partitur- Lektüre, die zwar noch nicht Beethovens Notentext, wohl aber die dramaturgische Zielspannung dieser Schlüsselszene veränderte und auf diese Weise eine neue Realitätserfahrung in der szenischen Interpretation der durch allzu bewährte Deutungsklischees belasteten Fidelio-Handlung etablierte. 3 Das Kerkerquartett in Beethovens Fidelio zählt zu jenen bewundernswerten Theaterszenen, die am Wendepunkt der Handlung die aufgebaute Konfliktspannung lange in der Balance halten und sie durch vielfach ineinander greifende Teilhandlungen noch beständig steigern. Das Potential der widerstreitenden Interessen und Kräfte ist so sorgsam austariert, dass jede der denkbaren Lösungen für eine oder mehrere Figuren den Sturz in die individuelle Katastrophe bedeutete. Ein Ausgleich ist nicht möglich. Die Konfiguration der Szene bildet zum ersten und einzigen Mal in der Handlung den Konflikt figürlich ab. Pizarro, der bislang durch seinen Handlanger Rocco im Staatsgefängnis tätig wurde, will den Mord an Florestan nun selber besorgen und sinnt darüber hinaus auf die Beseitigung Roccos und Fidelios, um sein Verbrechen zu vertuschen. 4 Er ist mit einem Messer bewaffnet, mit dem er im Laufe der Auseinandersetzung das Leben von Florestan wie von Leonore bedroht. Florestan besetzt zwar analog zur klassischen Figurendisposition der frühen romantischen Oper als Tenor die Rolle des Helden, doch vermag er diese Charakteristik lediglich in seiner idealistischen Leidensfähigkeit zu beglaubigen. Sie ist Thema seiner großen Kerkerarie am Beginn des zweiten Aktes. Als Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 61-73. Gunter Narr Verlag Tübingen 62 Jürgen Schläder ernst zu nehmender Widersacher Pizarros kommt Florestan jedoch nicht in Betracht. Die Freiheit des Handelns ist ihm als Gefangenem seit langem genommen; er ist auf die Hilfe seiner Ehefrau Leonore angewiesen, die alleim ihm Rettung zu bringen vermag. Das traditionelle Handlungspotential des Helden ist mit Leonores Geschlechtertausch folglich irreversibel verschoben und auf die weibliche Titelfigur der Oper konzentriert. Florestans Ehefrau ihrerseits ist in jeder Hinsicht am Ziel ihrer Suche. Sie hat den Gemahl gefunden und steht zugleich seinem Peiniger in unmittelbarer Konfrontation gegenüber, so dass sie nicht nur die Befreiung des Gefangenen besorgen, sondern auch Rache für erlittenes seelisches Leid nehmen kann. Sie besitzt mit der Pistole eine überlegene Waffe, die die körperliche Unterlegenheit der Frau im Kampf gegen Pizarro ausgleichen mag. Vor Einsatz der Handfeuerwaffe bedient sich Leonore freilich anderer “Waffen”, die ihre physiognomische Charakteristik mit einem erheblichen Überraschungsmoment verknüpft: Bei Pizarros erstem Mordversuch an Florestan wirft sie ihren Körper deckend vor den Gefangenen, beim zweiten gibt sie diesen Körper als weiblichen und sich selber als Florestans Ehefrau zu erkennen. Im ersten Fall reagiert Pizarro spontan mit handgreiflicher Gewalt, indem er den vermeintlichen Gefängnisgehilfen Fidelio beiseite schleudert, im zweiten verharrt er konsterniert ob der scheinbar ungleichen Konfrontation mit einer Frau, ehe er sich zum Doppelmord entschließt. 5 Beide logisch-rationalen Lösungen dieser aus drastischen Konfrontationen gefügten Konfiguration bereiteten der Handlung ein unbefriedigendes Ende, das im künstlerisch-gesellschaftlichen Diskurs des frühen 19. Jahrhunderts kaum denkbar war: Gelänge es Pizarro, Leonore und Florestan zu töten, hätte die Unmoral obsiegt; das Recht, worin auch immer begründet, 6 auf Seiten Florestans würde mit Füßen getreten; Leonores beispielhafter Mut fände keine Erfüllung, ihre Ideale würden gründlich zerstört - eine Lösung, die die emotionale Lenkung der Handlung und die Zeichnung der Figurencharaktere in allen voraufgehenden Szenen nun ins glatte Gegenteil verkehrte. Wäre Leonore hingegen zum Äußersten gezwungen und erschösse Pizarro, wie sie ihm androht, wäre zwar der Bösewicht der Handlung bestraft und der unschuldige Florestan gerettet, doch entstünde für Leonore das ethische Problem, gezwungenermaßen Böses getan zu haben, um Gutes zu bewirken. Nur der Totschlag an Pizarro, und sei es in Notwehr, hätte ihr und ihrem Ehemann das Leben und die Freiheit gesichert - ein Makel von nicht geringem Gewicht, der einer idealistischen Heldin nicht gut anstünde. Der finale emphatische Jubel über “ein solches Weib”, das Florestan errungen, stünde quer zur Figurencharakteristik und ihrer idealistischen Botschaft oder müsste entschieden gedämpfter ausfallen. Die Logik der Handlung setzt jedoch an die Stelle der situationsgerechten Lösungen die metaphysische Variante, das Walten der Vorsehung, also jener die Welt beherrschenden Macht, die in nicht beeinflussbarer und nicht zu berechnender Weise das Leben der Menschen bestimmt und lenkt. Dieses Wesen der Vorsehung bezeichnet das Vertrauen der Menschen in eine umfassende Weltordnung, die Recht und Moral als Maßstäbe des Handelns propagiert, den Lauf der Welt nach böse und gut scheidet und trotz dauerhafter Irritation der Betroffenen schließlich unbeirrt die unumstößlich richtige Entscheidung trifft. Der Mensch selber mag in der Krise getrost die Autonomie des Handelns aus der Hand geben, weil die irrationale Instanz der Vorsehung im Sinne einer humanen Ordnung die für ihn zuträglichen Lösungen bereit hält. Nicht das wankelmütige Schicksal regiert in der nachrevolutionären Phase des frühen 19. Jahrhunderts, in der napoleonischen Zeit das menschliche Leben, sondern Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung 63 die weise und gütige Vorsehung. Der utopische Charakter einer solchen Weltordnung ist unverkennbar; ebenso ihre reaktionär-idealistische Struktur, die dem Leben nach den Wirren der Revolution verlässliche Koordinaten einzieht. Leonore weist dem um sein Leben bangenden Florestan unmittelbar vor Pizarros Auftritt eigens und mit Nachdruck den Weg der Hoffnung im Vertrauen auf die Existenz und die Wirksamkeit dieser Vorsehung. 7 Das unmittelbar folgende Kerkerquartett bestätigt Leonores blindes Vertrauen in die metaphysische Instanz und formuliert die Gültigkeit, ja die Existenz dieser utopischen Weltordnung als Realität. Das probate dramaturgische Kunstmittel einer effektvollen fiktionalen Gestaltung von dramatischen Augenblicken, in denen die Vorsehung waltet, ist die unerwartet eintretende glückliche Lösung in schier auswegloser Situation, mithin die überraschende räumliche und zeitliche Koinzidenz disparater Ereignisse. Auf diesem Handlungsmuster fußen die beiden prominentesten Theaterformen in den nachrevolutionären Jahrzehnten und im Vormärz: auf der typischen Dramaturgie der Rettungsoper und des Rührstücks. 8 Im Kerkerquartett des Fidelio erlangt die Vorsehung gar einen charakteristischen Klang und eine konkrete Gestalt: die Trompetenfanfare und die Figur des Ministers, des höchsten republikanischen Staatsvertreters, der sich denken lässt. Die Staatsgewalt trifft zwar nicht überraschend und gänzlich unerwartet zur Inspektion des Staatsgefängnisses ein. Pizarro war gewarnt und traf die nötigen Vorkehrungen. 9 Dennoch rückt durch die steigende Spannung des Kerkerquartetts und durch die Akzentuierung der Zeitproblematik das Erklingen des Trompetensignals in den dramaturgischen Rang einer Deus-exmachina-Lösung. Pizarros und Leonores Wettlauf gegen die Zeit wird durch die rechtzeitige Ankunft des Ministers zugunsten der heldenmütigen Ehefrau entschieden, ohne dass sie nach den Buchstaben der Opernhandlung diese Wendung beeinflussen könnte oder müsste. Dramaturgie der Handlung und Figurencharakteristik durchkreuzen jedoch einander in dieser Kerkerszene, weil das konventionelle Handlungsmuster, eben die unantastbare Herrschaft einer numinosen Vorsehung, unvermittelt auf eine moderne Figurengestaltung trifft, in der sich, zumindest für das Bühnengenre Oper am Beginn des 19. Jahrhunderts, innovative Identitätsstrukturen offenbaren. Vor allem die Antagonisten Pizarro und Leonore akzentuieren in diesem Quartett mit Nachdruck ihre Identität, aus der sie jeweils autonomes - und in der Logik der Handlung selbstverständlich antagonistisches - Handeln ableiten: Pizarro als personifizierter Wüterich, der Genugtuung und sadistischen Genuss aus der Selbstpräsentation vor seinem wehrlosen Opfer Florestan findet; Leonore als heldenhaft mutige Frau, die den notwendigen Rollentausch und die daraus resultierende Verkleidungskomödie 10 just in diesem Augenblick erst beendet und in Verkehrung der eigentlichen Rollenfunktionen zum gleichwertigen Gegenspieler des mächtigen Pizarro avanciert. Unter Identitätsaspekten sind die dramatischen Ereignisse der gesamten Kerkerszene (von Florestans Arie Nr. 11 zu Beginn des zweiten Aktes über Nr. 12 Melodram und Duett sowie das Terzett Nr. 13 bis zum Ende des Kerkerquartetts Nr. 14) redundant. Die Präsentation der nunmehr gültigen und korrekten Figurenidentitäten ist kaum als spielinterne Information für die handelnden Figuren vonnöten, geschweige denn als externe Aufklärung der verschlungenen Ereignisse für den Zuschauer. Leonore hat Florestans Feind längst identifiziert, ehe sie in den Kerker hinabsteigt (vor Rezitativ und Arie “Abscheulicher, wo eilst du hin” im ersten Akt), und Florestan wird von Rocco noch vor Pizarros Auftritt im Kerker (im Sprechdialog vor dem Terzett) von der Identität seines Peinigers unterrichtet. Insofern rekapituliert die Quartett- 64 Jürgen Schläder Handlung im Wesentlichen bekannte Fakten. Einzig Leonores Selbstidentifikation als Florestans Ehefrau markiert für die drei beteiligten Männerfiguren den Augenblick höchster Überraschung, ja Bestürzung. Dieser coup de théâtre avanciert freilich zum bedeutsamsten Augenblick der gesamten Opernhandlung, weil die harmlos-oberflächliche Beendigung einer Verkleidung koinzidiert mit dem gewichtigen Kern des heroischen Dramas. Leonores Rollentausch markiert einen dramaturgischen Paradigmenwechsel, weil die tradierten Heldenattribute der charakterlichen Lauterkeit, der Idealität von Handlungsgründen und vor allem der Autonomie des Handelns auf eine Frauenfigur konzentriert werden. Leonore ist nicht nur Pizarros dramatische Gegenspielerin auf Augenhöhe, sie ist zugleich die positive Oppositionsfigur zum Bösewicht und nimmt in der Antinomie von Gut und Böse die überlegene Position ein. Darin offenbart sich in diesem Augenblick das Thema der Opernhandlung. Die Komposition des Quartetts bildet diesen dramaturgischen Coup ab und stellt deshalb der ausführlichen Identifikation des weiblichen Helden, die notwendig ist, noch einmal den bösen Antagonisten in einer ebenso ausführlichen Selbstrepräsentation am Beginn der Szene gegenüber. Die musikalische Dramaturgie des Quartetts partizipiert an den innovativen Gliederungsmustern der italienischen Oper um 1800, die in Beethovens musikalischer Sprache unterschiedliche Modelle der Ensembletechnik und der Affektdarstellung mit avancierten sinfonischen Verfahren verknüpfen. Der Grad an musikalischer Individuation entspricht der Bedeutung des dramatischen Augenblicks, dessen Attraktionspunkte durch formale Besonderheiten und harmonische Eigenwilligkeiten akzentuiert werden. Die Szene lässt sich insgesamt, auch wenn sie von Beethoven nicht so benannt wurde, als Rezitativ mit nachfolgendem Quartett begreifen, deren innerer Zusammenhalt von einer zu Beginn ausführlich exponierten und im weiteren Szenenverlauf stets an herausgehobenen Formgrenzen rekapitulierten sinfonisch-musikalischen Figur garantiert wird. 11 Die drei harmonisch geschlossenen Sätze, der Pezzo agitato als Entwicklung der dramatischen Konfliktspannung, der Pezzo concertato als Ort der allgemeinen Kontemplation und die abschließende Stretta als Ausdruck der Spannungslösung und Konfliktbewältigung, stehen in der Haupttonart D-Dur. 12 Das einleitende Accompagnato-Rezitativ und die Tempi di mezzo, in denen die Affekte der geschlossenen Sätze vorbereitet und begründet werden, gewinnen freilich über diese Gelenkfunktion hinaus wegen ihrer extremen harmonischen Spannungen und ihrer quantitativen Ausdehnung erhebliche strukturelle Bedeutung. 13 Beethovens Komposition konzentriert sich nicht, im Unterschied zur italienischen Usance, auf die Präsentation der geschlossenen Sätze, deren Affektdarstellung in den Vorbildern bisweilen notdürftig und oberflächlich motiviert wird, sondern auf die Darstellung einer sehr komplexen Steigerungsform aus dialogisch-aktionalen und reflexiven Abschnitten mit sorgsam vorbereiteter Zielspannung auf die Stretta (s. S. 65 oben). 14 Vier Aspekte sind für die individuelle Dramaturgie dieses Opernensembles signifikant. Zum einen der doppelte Diskurs des eröffnenden Pezzo agitato, in dem der Antagonismus von skrupellosem Bösewicht und idealistischer Heroine, von Pizarro und Leonore, nicht gesetzt, sondern als musikdramatische Entwicklung formuliert wird. Die sinfonische Musik präsentiert eine in ihrer Spannungskurve sich steigernde musikalische Handlung, also ein Aktionsstück im eigentlichen Sinn. Dem in Accompagnato und Pezzo agitato I vorgetragenen Selbstporträt Pizarros (T. 1-60) folgt als korrespondierendes Ereignis Leonores Identifikation im zweiteiligen Tempo di mezzo und im Pezzo agita- Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung 65 to II (T. 60-127). Architektonisch strukturell sind die Korrespondenzen unverkennbar; im Detail unterscheiden sich die analogen Passagen erheblich. Die beiden Pezzi agitati manifestieren mit musikalisch-satztechnischen Mitteln die tatsächliche Figurenkonstellation, eben den Antagonismus von Pizarro und Leonore. Dem solistischen ersten Pezzo agitato des Gouverneurs (T. 38-60) folgt der duettierende zweite (T. 106-127), der nur von Pizarro und Leonore bestritten wird. Im Dialog tritt die Konfrontation offen zu Tage; 15 der Duettsatz unterscheidet die Stimmen motivisch, ist jedoch keineswegs kantabel gearbeitet, sondern bewahrt einen streng rhythmisch gegliederten heroischen Deklamationston für beide Rollen. Die emotionale Anspannung, ja Konfusion der Figuren teilt sich in den Pezzi agitati vornehmlich durch defekte Formen mit, deren kadenzieller Schluss durch Trugschlüsse aufgebrochen wird. Harmonische Spannungen als klangliche Chiffre der seelischen Verwirrung und unkontrollierten Rage wird in den syntaktisch offenen Passagen des Accompagnatos und der beiden Tempi di mezzo durch wüste, unlogische Modulationen gespiegelt, die weit entfernte Tonarten miteinander verknüpfen und in Sequenzen verminderter Septakkorde dem musikalischen Satz eine polyvalente, schwankende Basis verleihen. Der nach traditioneller Figurendisposition als (Tenor-)Held besetzte Florestan ist als pantomimisch und dialogisch Handelnder in diesem ersten Teil des Quartetts suspendiert. In Pizarros Solo ist sein Part auf einen knappen Einwurf reduziert (“Ein Mörder steht vor mir” - T. 50-53), dessen kurze Phrase an der Öffnung des geschlossenen Satzes zur Dominante eher funktionale als inhaltliche Bedeutung gewinnt und in Pizarros Rede keinerlei Reflex provoziert. Beethovens Komposition ist beredter Ausdruck von Florestans Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht, denn auch in den Tempi di mezzo bleibt ihm lediglich ein iteratives Stammeln (“O Gott, mein Gott! ” - T. 61, 71 und 75-78) und eine banale Erkennungsfloskel (“Mein Weib? Leonore! ” - T. 82 und 86). Erst in der Vorbereitung der Duettpassage partizipiert Florestan, ähnlich wie Rocco, wieder am musikalischen Dialog (“Vor Freude starrt mein Blut! ” - T. 99-106). Bis zum Eintreffen des Ministers beschreibt das Ensemble mithin eine sich zuspitzende Konfrontation der Antagonisten, die notgedrungen einer Lösung zutreibt. Takt Tempo Satz Tonart 1-38 Allegro Accompagnato D A 7 38-60 Pezzo agitato I D A [E] 60-80 Tempo di mezzo I Cis / G Es 81-106 Tempo di mezzo II Es 7 D 106-127 Più moto Pezzo agitato II D 127-132 Un poco sostenuto Trompetensignal I B 133-141 Pezzo concertato B F 7 141-146 Trompetensignal II B [Sprechdialog] 147-197 a tempo Stretta D (Allegro più moto) 197-213 Presto 66 Jürgen Schläder Signifikant für die Handlung des gesamten Pezzo agitato - dies ist der zweite individualisierende Aspekt - sind die drei Wendepunkte, die als eklatante Überraschungsmomente fungieren. Sie markieren jedoch keine Volten in der Ereignisfolge, sondern verschärfen Mal um Mal die aus den unerwarteten Ereignissen resultierende Spannung der Figurenkonstellation. Die Musik bildet diese dramaturgischen Eklats nach dem gleichen Muster ab: durch Zerbrechen der Form, das durch den hörbaren Defekt das dramatische Ereignis akzentuiert. In zwei Fällen koinzidiert diese Formgrenze - ungewöhnlich genug - mit einem Trugschluss in die Mediante, also mit einer besonders drastischen Klangwirkung: Leonores Schutz für Florestan, noch in der Maske Fidelios, mit der Wendung nach Cis-Dur in schwebender Sextakkordstellung anstelle des erwarteten E-Dur (T. 60); das erste Trompetensignal in B-Dur anstelle des eigentlich logischen D-Dur (T. 127). Anders die klangliche Akzentuierung der Selbstidentifikation: Die Sopranstimme wird in gleichsam auskomponierter Fermate unbegleitet und als forcierter Spitzenton auf der offenen, unaufgelösten Dominante der neuen Tonart Es-Dur exponiert (T. 79-81), die selber mediantisch zum G-Dur des ersten Tempo di mezzo steht. Alle drei Tonarten, Cis-, Es- und B-Dur, chiffrieren klanglich die Ungeheuerlichkeit der Ereignisse und den krassen Bruch mit der Konvention, mit dem Erwarteten, durch denkbar weite Entfernung von der Tonika des Quartetts. Gleichwohl eröffnen die beiden ersten Eklats die Rückkehr zur dramatischen Basis der Szene. Cis wie Es dienen als Ausgangspunkt einer harmonischen Normalisierung und Rückführung über die Subdominante G-Dur zurück zur Tonika. Einzig der dritte Eklat, das Trompetensignal, exponiert eine neue harmonische Welt, aus der der musikalische Satz nicht mehr zurückfindet. Der langsame Satz des Quartetts, der Pezzo concertato, eröffnet also - zum dritten - jene dramatische Utopie, von der die Oper handelt und die wenig später, in der Stretta des Quartetts und im Finale des zweiten Aktes, in einer dem Quartett strukturell ähnlichen mehrsätzigen Anlage aus Pezzo agitato, Pezzo concertato und Stretta klanglich zum allgemeinen heroischen Jubel gesteigert wird. Gerahmt von den beiden identischen Trompetenfanfaren, entfaltet sich in den neun Takten des kontemplativen Ensembles (T. 133-141) jene Vision von Rettung durch Gerechtigkeit und Walten einer gütigen Vorsehung, die vor dieser Entscheidungsszene von Leonore beschworen wurde, aber bange Momente hindurch nicht realisierbar schien. Beethovens Musik verleiht dem Augenblick seinen untrüglichen Sinn: So drastisch das erste Trompetensignal auf dem mediantischen Trugschluss nach B-Dur in das musikalische Geschehen des Pezzo agitato II einbricht, so selbstverständlich eröffnet es den harmonischen Klangraum eines nahezu homophonen Quartettsatzes, dessen Stimmverteilung die Figurenkonstellation exakt spiegelt: Leonore und Florestan, Sopran und Tenor sind im homophonen Duettsatz geführt, während die beiden tiefen Männerstimmen, Pizarro und Rocco, mit eigener rhythmischer Faktur ausgestattet sind, die bei Pizarro eigenständiges, vom Oberstimmenduett abweichendes Profil gewinnt - ein satztechnisch realisiertes Stimmenverhältnis von 2: 1: 1, das sich in der abschließenden Stretta in analoger Funktion wiederholt. In vergleichbarer Affektspannung ist die Äußerungsweise der Figuren individuell profiliert. Entscheidend ist jedoch der Wiedereintritt des Trompetensignals in B-Dur, das nun nicht mehr als (mediantischer) Eklat erklingt, sondern als logische harmonische Konsequenz von der Dominante F-Dur zur neuen Tonika B-Dur (T. 140f.). Der Sinn der traditionellen Kadenz ist unverkennbar: Das Überraschungsmoment ist nun Gewissheit, ja Selbstverständlichkeit. In der Logik der Rettungsdramaturgie löst sich die intensive emotionale Spannung des Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung 67 Concertatos, das gleichsam atemlose Innehalten des Erstaunens und Erschauerns über das Walten der Vorsehung, im finalen Jubel, der der Gewissheit der Rettung beredten Ausdruck verleiht. 16 Die dramaturgische Disposition des gesamten Kerkerquartetts - dies ist der vierte Aspekt der musikdramatischen Individualisierung - kehrt in der abschließenden Stretta die fulminante Zielspannung der gesamten Szene mit musikalischen Mitteln hervor. Der 51taktige Vokalsatz (T. 147- 197) gewinnt, nach probatem italienischen Vorbild, seine formale Signatur durch Wiederholungen und thematische Analogien in simplen harmonischen Zusammenhängen: T. 159-169 T. 169-176 in der Tonika D-Dur T. 176-180 T. 181-184 auf dem verminderten Septakkord über ais T. 185-188 T. 189-193 in der Dominante A- Dur Der Rest ist Modulation in die Tonika (T. 147-158) und deren schematische kadenzielle Bestätigung (T. 193-197). Diese Stretta stellt weniger den Aufruhr der Seelen dar; sie vermittelt vielmehr in aufdringlicher Weise die Möglichkeit, ein Ende zu machen, die Ungewissheit der zuvor erlebten Ereignisse eindrucksvoll zu lösen und das glückliche Ende der Handlung zu präfigurieren. Nichts trübt, so scheint es, das Hohelied der Vorsehung, das hier gesungen wird, obgleich Pizarro und selbst Rocco durch die Ankunft des Ministers in emotionale, ja existenzielle Zweifel gestürzt werden. 17 Deren Artikulation wird im lärmenden Stretta-Getöse allerdings erstickt. Die subtile musikdramatische Individualisierung des Agitato- und Concertato- Satzes setzt sich in der Stretta nicht fort - im Gegenteil: Die mäßig profilierte, nahezu homophone Stimmführung des Vokalsatzes und die Dominanz der Kadenzschritte suggerieren eine Totalisierung des Affekts auf alle Individualfiguren, die im Finale der Oper in die kollektive Affirmation gesteigert wird. Der krasse stilistische Niveauunterschied zwischen Concertato und Stretta weckt freilich Zweifel an der Plausibilität dieser Lesart. Die strukturellen Widersprüche in Beethovens Komposition lassen sich nicht mit dem Hinweis auf eine Kolportagehandlung und auf die Funktionsfähigkeit einer Rettungsdramaturgie erklären, in deren Zentrum die metaphysische Instanz der Vorsehung die Akzeptanz der erzählten Ereignisse gewährleistet. Auch gattungs- und genrespezifische Aspekte vermögen die ästhetischen Brüche des Partiturtextes nur partiell zu begründen. Da sie gleichwohl virtuelle Bestandteile des Textes sind, verlohnt die Suche nach ihrem Sinn, nicht zuletzt in dem Bestreben, Martin Kušejs szenische Interpretation zu würdigen, die gerade an den ästhetischen Brüchen dieses Quartetttextes ansetzt und seinen vermeintlichen Defekt für die Entfaltung einer modifizierten Deutung nutzt. Die Inszenierung betreibt mithin eine exemplarische Dekonstruktion der Partitur, die das Verhältnis von Pezzo concertato zu Stretta neu definiert und aus dem gewandelten Verständnis ein verändertes Thema der Opernhandlung folgert. Dekonstruktion meint hier im umfassenden, textkritischen Sinn das Verfahren, in einem Diskurs “auf[zu]zeigen, wie er selber die Philosophie, die er vertritt, bzw. die hierarchischen Gegensätze, auf denen er ruht, unterminiert, indem man die rhetorischen Verfahren nachweist, die die angenommene Basis der Beweisführung, den Schlüsselbegriff oder die Voraussetzung erst schaffen.” 18 Demzufolge werden die in Texten aller Art angelegten Widersprüche und Ambiguitäten nicht mehr, wie im traditionellen historiographischen Verständnis üblich, zugunsten einer mutmaßlichen Autorintention in der Rezeption übergangen oder durch das Wirken gesetzmäßiger Strukturen, etwa diejenige einer Gattung, eines Genres oder einer Funktion, erklärt, sondern “als Problem und Chance der Lektüre ins Zentrum der Aufmerksam- 68 Jürgen Schläder keit” gerückt. Darin liegt das “provokative Potential” der Dekonstruktion, die “den Prozess der Lektüre nicht mehr nur als Entschlüsselung von Bedeutung [begreift], sondern als virtuellen Bestandteil der Texte, in ihnen angelegt als Mangel und Anspruch, durch jeweils neue Deutungen anders entfaltet zu werden.” 19 Damit avanciert das veränderte Funktionsverständnis von Textlektüre zum Interpretationsverfahren. Die textimmanenten Brüche im Kerkerquartett des “Fidelio” lassen sich in dramaturgische und kompositorisch-tektonische Aspekte zusammenfassen. Die Kürze des Concertatos, das mit 20 Takten nicht einmal den zehnten Teil des gesamten Quartetts einnimmt und auch durch das langsamere Tempo (Un poco sostenuto) kaum an quantitativem Gewicht gewinnt, verhindert die strukturelle Balance der drei Quartett-Sätze. Unter dem affirmativen Brio der Stretta wird die Wirkung der Kontemplation verschüttet. Auch der innere Zusammenhang der beiden Sätze und somit die sinnstiftende inhaltliche Verknüpfung der dramatischen Augenblicke ist in Beethovens Musik, im Unterschied zum äußerlichen Gang der Handlung, nicht formuliert. Keine harmonische Logik, keine sinfonische Überleitung, kein klanglicher Anschluss leitet vom kontemplativen Erschauern in den finalen Jubel. Vom Pezzo concertato zur Stretta führt kein Weg. Der Schlusssatz setzt ein (T. 147) mit abrupter Rückung um einen Halbton aufwärts und auf einem verminderten Septakkord, der zu Beethovens Zeiten die schrillste Dissonanz und die ambivalenteste harmonische Figur bedeutete. Trennend zwischengeschaltet ist die Identifikation des Trompetensignals durch Jacquino, der den Minister im Sprechdialog ankündigt. Die Komposition hebt die äußerliche Lösung des dramatischen Konflikts, die Ankunft des Ministers, nicht auf das ästhetische Niveau der voraufgegangenen musikdramatischen Darstellung, sondern ruft vor Einsatz der Stretta die hybride Form der Gattung, das Singspiel, wieder auf. So lapidar die Begründung für die Stretta im Sprechdialog, so konventionell ihr Stil und ihre musikalische Aussage. Die in der äußerlichen Handlung einsichtige Conclusio der dramatischen Ereignisse, die Gewissheit der Befreiung, die den Affektwechsel vom Concertato zur Stretta handlungslogisch motiviert, findet in Beethovens Komposition jedoch keine Entsprechung. Anstelle eines B-Dur-Finales, das sich unzweifelhaft auf das Concertato bezöge und den utopischen Raum der Kontemplation auch zum inneren, klingenden Handlungsort des finalen Jubels werden ließe, folgt die Tonika des Quartetts, D-Dur. Das Argument, Beethoven habe aus historischen und ästhetischen Gründen kaum anders komponieren können, weil italienische Stretten traditionell von schier endlosen Motivwiederholungen lebten, von der oft unlogischen Nivellierung der Individualcharaktere zugunsten eines totalen Brio-Effekts und einer konkreten harmonischen Rückbindung an die Ausgangstonart der Nummer, verfängt nicht. Eine Komposition, die zwei Sätze lang die Individualisierung des musikalischen Ausdrucks, die eigentümliche Formbehandlung und die singuläre dramaturgische Gliederung zum künstlerischen Prinzip erhebt, hätte vor der Stretta-Konvention nicht kapituliert, wenn Innovation und Individualität auch hier notwendig erschienen wären. Offensichtlich aber stiftet gerade der Bruch der Stilmittel und die Vereinzelung der musikalischen Darstellungsebenen den Sinn der Szene, ja der gesamten Handlung. Vor diesem faktischen Hintergrund irritiert die Deutungstradition der letzten hundert Jahre, die mit Blick auf die leitende Kategorie der Vorsehung die Stretta des Kerkerquartetts als Bestätigung der metaphysischen Ordnungskraft interpretiert und den musikalisch-heroischen Gestus ihrer Musik umstandslos auf das Finale der Oper bezieht, in Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung 69 dem sich dieser Gestus in entschieden größeren Formen und nun tatsächlich vom Individualistenquartett in die kollektive Totale gesteigert wiederholt. Überdeckt werden in dieser Lektüre jene Widerstände und Ungereimtheiten des Sujets, auf die Beethovens Komposition mit Nachdruck hinzuweisen scheint: Eine Vorsehung bedarf zu ihrer Wirkung kaum der realistischen Beglaubigung, wenn man ihr nicht die Aura des Außergewöhnlichen und Überirdischen nehmen will; und die idealistische Handlungsautonomie von Heldenfiguren, die im Finale der Oper lautstark affirmiert wird, verliert ihrerseits den Anspruch der Außergewöhnlichkeit, wenn sich die Gloriole der heldenhaften Tat nicht auf die Handlungsautonomie der Figuren, sondern lediglich auf das Walten der Vorsehung stützt. Insofern steht die Stretta des Kerkerquartetts ebenso quer zum voraufgegangenen Concertato wie das Finale der Oper zu eben dieser Kerkerszene. Es bleibt in Beethovens Komposition offen, ob die Vorsehung in zwei Perspektiven erscheint, in einer metaphysischen (des B-Dur-Concertatos) und einer realistischen (der D-Dur-Stretta) oder ob das vermeintliche Wirken einer gütigen Vorsehung im Verlauf einer glücklichen Rettungsgeschichte nur ein visionärer, wenngleich beglückender Moment der Realitätsüberwindung bleibt, dessen utopischer Charakter in der Stretta herabgestimmt wird auf die lärmende Affirmation einer realistischen Heldenverehrung. In diesem Fall dürfte man der Sinnstiftung der Komposition gar noch extremere strukturelle Bedeutung beimessen: Das Kerkerquartett findet im B-Dur-Concertato sein Ende, das nicht über sich hinausweist, sondern offen und unvollendet bleibt. Nach dem Sprechdialog setzt mit dem wieder aufgenommenen Quartettsatz eine neue Geschichte ein, die die kollektive Heldenverehrung des Aktfinales präfiguriert. An dieser Lektüre des Partiturtextes orientiert sich Kušejs Inszenierung, in der zum Ende des Pezzo agitato II jene verhängnisvolle Konfiguration aufgebaut wird, die während des Concertatos unverändert erhalten bleibt und nach dem zweiten Trompetensignal in die Katastrophe führt: Pizarro hat sein Messer an Florestans Hals gesetzt, und Leonores Pistolenmündung weist aus kürzester Entfernung auf Pizarros Kopf. Die szenische Interpretation stellt einen lückenlosen Zusammenhang der Pezzi agitati mit dem kontemplativen Ensemble her. Der Gefangene selber gibt das Stichwort zu seiner Ermordung, indem er in die Stille nach dem letzten Trompetenton hinein, als Wiederholung seines Gesangstextes, Leonores Namen flüstert und damit ein letztes Mal seine Chance zur Rettung benennt. Während Pizarro als Reaktion auf diesen Hoffnungsschimmer dem wehrlosen Florestan die Kehle durchschneidet, wird er von Leonores Pistolenschuss in den Kopf getroffen. Beide sind sofort tot - eine Lösung der antagonistischen Konfiguration, die ebenso plausibel erscheint wie die Unterlassung jeglicher Totschlags- oder Mordaktion. Im Anschluss wird Jacquinos und der Soldaten Auftritt im Kerker ersetzt durch eine Pantomime der Ratlosigkeit und des Entsetzens. Leonore betrauert den toten Florestan und schließt ihm die Augen, Rocco deckt Pizarros Leichnam nachlässig mit einem Mantel und anderen Kleidungsstücken aus Florestans Gefängniszimmer zu. Beide reagieren also mit ritualisierten Handlungen, die ihnen die Bewältigung des schrecklichen Augenblicks nicht erleichtern, denn Rocco schaut verständnislos auf die Leiche des Gefangenen, während Leonore sich gegen die rechte Zimmerwand wendet und mit apathischer Verzweiflung beide Hände auf eine Stuhllehne stützt. Schwarzblende. Noch während des Blackouts setzt die Orchestermusik der Stretta ein, deren Vokalsatz die vier Figuren stehend bestreiten, ehe auch diese starre Konfiguration zum Presto- Nachspiel aufgelöst wird: Pizarro kriecht in die hinterste Ecke des Zimmers und elimi- 70 Jürgen Schläder niert sich aus der Konfiguration, Rocco läuft verzweifelt von einer Wand zur anderen, Florestan verfällt erneut in jene autistischen Gänge quer durchs Zimmer, die seine Aktionen seit Beginn der Kerkerszene, also schon während seiner Arie bestimmen, und Leonore ergreift vom Bett eines ihrer Kleidungsstücke, die dem gefangenen Ehemann zuvor als Erinnerungspotential an glücklichere Zeiten in Freiheit und Gemeinsamkeit mit der Ehefrau dienten, und “rettet” es gleichsam hinüber in das neue Bewusstsein. Leonore und Florestan verlassen nämlich das als Kasten im schwarzen Bühnenraum aufgebaute Gefängniszimmer und stellen sich auf dem originalen Bühnenboden vor dieser Dekoration zum Duett “O namenlose Freude” auf. Die Inszenierung übernimmt den stilistischen und ästhetischen Bruch zwischen Pezzo concertato und Stretta in ihre Bildersprache. Der Augenblick der Erlösung und Befreiung wird in sein Gegenteil verkehrt, in die realistische Katastrophe von zwei Opfern. Leonore nimmt, gleichsam in Notwehr, Rache an Pizarro, vermag jedoch ihren Ehemann nicht zu retten. Die Behauptung von Beethovens Musik und Sonnleithners Text in der Stretta, die Stunde der Rache sei gekommen und man müsse sie als Sieg affirmieren, nimmt die Inszenierung wörtlich und zeigt die verheerenden Folgen dieser ethisch unhaltbaren Tat: Entsetzen, Ratlosigkeit und fürchterliche Leere der Empfindung. Mit Einsetzen der Stretta beginnt tatsächlich eine neue Handlung oder doch ein neuer Abschnitt der soeben in der Katastrophe gescheiterten Handlung. Die szenischen Zeichen sind unmissverständlich: Die Schwarzblende vor Einsatz der Stretta, die “Auferstehung” der Ermordeten und das Heraustreten der beiden Hauptfiguren aus dem bisherigen szenischen Ambiente in eine neue theatrale Erzählebene lösen das Folgende vom Vorhergehenden ab, indem nicht mehr die konkrete Befreiungsgeschichte zu Ende erzählt, sondern die Rezeption des bislang Erlebten und die Deutung des Geschehens durch die Nachwelt als neue Dimension der theatralen Handlung eröffnet wird. Auch dies formuliert die Inszenierung in ihrer Bildersprache unmissverständlich: Die in das Gefängniszimmer einströmende moderne Gesellschaft, in der Männer durch ihren Brustpanzer über der klischeehaft schwarzen Gesellschaftskleidung nach bewährtem Rollenmuster Männer sind und Frauen in ihren weißen Ballkleidern Frauen, bestaunt Florestan und Leonore während des Duetts wie Fossilien einer versunkenen Welt. Das gesellschaftliche Kollektiv begreift das Geschaute und formuliert sich sein eigenes Verständnis und seine eigene Identität, freilich konzentriert auf Leonore allein. Sie sinkt am Ende des Duetts an der Rampe ohnmächtig zusammen, um im Kontext des Gesellschaftsbildes nach einer weiteren Schwarzblende neu zu erwachen, während Florestan zurücktaumelt in sein Gefängniszimmer und hinter dem sich schließenden Zwischenvorhang mitsamt seiner konkreten Geschichte von der weiteren Handlung suspendiert, ja eigentlich entsorgt wird. Zum großen dreisätzigen Finale erwacht Leonore aus ihrer Ohnmacht, zunächst orientierungs- und verständnislos, zu einer neuen Existenz, die ihr durch die Bildersprache vom Kollektiv diktiert wird. Zurückverwandelt in die Frau, die zum Mann mutierte und auszog, eine mutige Tat zu begehen, wird sie nun aus dem Kollektiv heraus als moderne Heldin geboren und in einem Popanz in der Tiefe der Bühne gefeiert, während sie allein auf der Bühne zurück bleibt. Kušejs Inszenierung dekonstruiert die musikdramatische Handlung von Beethovens Oper in zwei Schritten. Das Misstrauen gegen die metaphysische Instanz der Vorsehung, deren Akzeptanz einem postmodernen Verständnis kontingenter Realitätserfahrung zuwider läuft, suspendiert die Koinzidenz von Rettungschance und Gewissheit der Befreiung. Der Utopie-Diskurs der nachrevolu- Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung 71 tionären Geschichte im frühen 19. Jahrhundert, in den sich die Fidelio-Handlung nahtlos einfügt, ist für den Zeitgenossen der Postmoderne obsolet geworden, weil sich die rhetorischen Verfahren von Beethovens Komposition heute als wenig plausibel erweisen. Vorsehung repräsentiert kein brauchbares Konzept der Weltdeutung und Realitätserfahrung mehr. Der dramaturgische Kunstgriff, in der fiktionalen Handlung der Oper die glückliche Auflösung einer schier ausweglosen Gefahr als wahrhaftig zu beglaubigen, hat seine Überzeugungskraft eingebüßt. An seine Stelle tritt die Drastik der Realität, die dem Katastrophenerlebnis zuneigt und nicht der metaphysischen Beglückung und Tröstung. Der Partiturtext selber liefert mithin den Schlüsselbegriff für die Integration des historischen Textes aus dem 19. Jahrhundert in einen modernen Diskurs über Freiheit, Helden, Gewalttaten und Affirmation von Idealismus. Darüber hinaus aktualisiert die moderne Lektüre des Partiturtextes die ästhetischen Brüche der Kernszene, des Kerkerquartetts, zur Absicherung des veränderten Diskurses. Die Inszenierung begreift die Stretta des Kerkerquartetts nicht als Conclusio der Heldentat, sondern als Begründung eines neuen Diskurses über kollektive Erfahrung von Katastrophenbewältigung. 20 Nicht wegen Leonores mutiger Opposition gegen Pizarro, sondern trotz des Widerstandes wird sie zur Heldin stilisiert. An die Stelle der Vorsehung, die im frühen 19. Jahrhundert einem mutigen, ja heldenhaften Rettungskonzept zum Erfolg verhalf, tritt in der postmodernen Gesellschaft die Kreation neuer Heldenmythen und der Glaube an ihre Gültigkeit und Wirksamkeit zur Bewältigung von Katastrophenerfahrungen. Sehr konkret dekonstruiert die Inszenierung den musikalischen Text des Kerkerquartetts, indem sie keine Note der Komposition ändert, wohl aber den textimmanenten ästhetischen Bruch zwischen Concertato und Stretta pointiert und nicht als verklärende Deutung überdeckt. Damit öffnet sie vom Beginn der Stretta an nicht nur eine modifizierte Perspektive der brisanten Konfliktlösung, sondern trifft den Sinn der Fidelio-Handlung in ihrer bis zum Chorfinale fortschreitenden musikalischen Abstraktion aus modernem Verständnis heraus genauer als die bislang in der Deutungsgeschichte als rührseliges Klischee tradierte Akzentuierung der Kolportage-Handlung. Anmerkungen 1 Premiere am 15. März 1998. Musikalische Leitung: Michael Gielen; Inszenierung: Martin Kušej; Bühnenbild: Martin Zehetgruber; Kostüme: Gerda Storch; Licht: Reinhard Traub. Gespielt wurde die dritte Fassung der Oper von 1814, freilich entgegen den historischen Fakten mit der zweiten Leonoren- Ouvertüre als Eröffnungsmusik. Alle analytischen Bemerkungen zu Libretto und Partitur beziehen sich deshalb auf die Fassung von 1814. 2 Bernd Feuchtner, “Wiegendlied für eine Leiche. In Stuttgart gewinnt ‘Fidelio’ mit Michael Gielen politische Wut, aber Leonore verliert Florestan”, in: Opernwelt, Mai 1998, S. 6. Worin die andere Hälfte im Gelingen hätte bestehen können oder sollen, verriet Feuchtner leider nicht. 3 Bis in die späten 1990er Jahre betrachteten selbst die avanciertesten Vertreter des Regietheaters die überlieferten Partituren vor allem aus dem späten 18., dem 19. und 20. Jahrhundert als sakrosankt. Eingriffe in die musikalische Substanz des überlieferten Textes lagen noch außerhalb des Vorstellungsvermögens, wodurch der Partitur, anders als den übrigen Textschichten einer Oper oder Operette, auf diese Weise ein eigentümlicher Werkcharakter zudiktiert wurde. Freilich setzten um die Jahrtausendwende vermehrt die kritischen Lesarten auch der Partituren ein, so dass heute, knapp zehn Jahre später, auch musikalische Dekonstruktionsverfahren keine Überraschung mehr darstellen. Als offenbar willkommene Wegweiser dieser philoso- 72 Jürgen Schläder phisch-künstlerischen Verfahren fungierten zunächst vornehmlich Operetten-Inszenierungen, weil die locker gefügte musikalische Struktur der Komposition und die oftmals ambivalente dramaturgische Gliederung der Operettenhandlung den Eingriff in den musikalischen Text begünstigten. Prominente Beispiele der Dekonstruktion von Partituren sind, neben zahlreichen anderen, etwa Christoph Marthalers La Vie Parisienne nach Jacques Offenbach 1998 an der Berliner Volksbühne, Hans Neuenfels’ Fledermaus von Johann Strauß Sohn bei den Salzburger Festspielen 2001 oder, im Repertoire der Oper, Peter Konwitschnys Don Giovanni- Inszenierung 2003 an der Komischen Oper Berlin. 4 Vgl. den Sprechdialog vor dem Kerkerquartett im Textbuch von 1814, in: Ludwig van Beethoven, Fidelio. Texte, Materialien, Kommentare, hrsg. von Attila Csampai und Dietmar Holland, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 69: “PIZARRO: Die muß ich mir noch heute beide vom Halse schaffen, damit alles verborgen bleibt.” 5 Das Textbuch sieht für Pizarro in dieser Passage der Handlung nur zwei Sätze vor, die nahezu unmittelbar aufeinander folgen und den Umschwung seiner Emotionen drastisch formulieren: “Soll ich vor einem Weibe beben? […] So opfr’ ich beide meinem Grimm” (ebd., S. 70). Das Libretto fasst die Opposition der Reflexe so knapp wie möglich. Beethovens Komposition freilich verleiht dem Augenblick eine eigene, spannungsvolle Dramaturgie, weil sie die Zeit zwischen Leonores Lüftung ihres Inkognitos (“Töt erst sein Weib! ”) und dem ersten Trompetensignal auf 47 Takte dehnt, die mit Textwiederholungen aller Figuren gefüllt und in nahezu gleich lange Abschnitte geteilt sind: 25 Takte für Pizarros Überraschung, die er mit Rocco und Florestan teilt; 22 Takte für Pizarros neuerlichen mörderischen Aktionismus (vgl. Beethoven, Fidelio. Große Oper in zwei Aufzügen, Klavierauszug hrsg. von Kurt Soldan, Frankfurt am Main [o.J.], S. 145-147). Bei annähernd gleichem Tempo (Allegro und ab T. 106 Più moto) nimmt dieser Augenblick mehr als ein Drittel des Quartetts bis zu diesem Zeitpunkt ein; allein quantitativ wird die Bedeutung dieser Reflexionspassage somit erheblich akzentuiert. 6 In allen drei Fassungen der Oper wird nicht präzisiert, welcher Verbrechen sich Pizarro schuldig gemacht hat und welche Sanktionen Florestan vorschwebten. Zur abstrakten Struktur der dramatischen Handlung vor allem in der dritten Fassung von 1814 gehört auch die lediglich strukturelle und nicht individuell präzisierte juristisch-politische Konfrontation von Pizarro und Florestan. 7 Vgl. Textbuch, S. 68, Ende von Szene II, 2. 8 Vgl. zum ambivalenten Begriff der Rettungsoper und einschlägigen historischen Beispielen: Sieghart Döhring, “Die Rettungsoper. Musiktheater im Wechselspiel politischer und ästhetischer Prozesse”, in: Beethoven. Zwischen Revolution und Restauration, hrsg. von Helga Lühning und Sieghart Brandenburg, Bonn (Beethoven-Haus) 1989, S. 109-136; dort auch der knappe Hinweis auf die französischen Rührstück-Analogien Fait historique und Mélodrame, deren Schauspieldramaturgie die Rettungsoper zahlreiche Anregungen verdankt (S. 110). 9 Vgl. Pizarros Sprechmonolog vor und nach der Arie “Ha, welch ein Augenblick! ” (Szene I, 5), Textbuch, S. 50f. 10 Die Debatte um den stilistischen Bruch vom Singspiel bzw. der musikalischen Komödie zur heroischen Oper noch in der Expositionsphase des ersten Aktes ist vielfältig und scheint längst nicht abgeschlossen. Den traditionellen, wenngleich angreifbaren Positionen der Forschung neigt Wolfgang Osthoff zu in seinem Fidelio-Artikel in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Band 1, München 1986, S. 217. 11 Der Versuch, das einleitende Orchestermotiv, das in drei aufeinanderfolgenden auskomponierten Doppelschlägen den D-Dur-Tonraum vom Grundton zur Septime abwärts durchläuft und somit modulierend einsetzt (D e, e H), als Pizarros Personalmotiv oder als musikalische Chiffre für die Macht und den Triumph des Bösen zu begreifen, ist vielfach unternommen worden, am eindringlichsten von Willy Hess, Das Fidelio-Buch. Beethovens Oper Fidelio, ihre Geschichte und ihre drei Fassungen, Winterthur/ Schweiz 1986, S. 191-194 (Paraphrase des Quartetts). Die vielfache, Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung 73 inhaltlich nicht homonyme Rekapitulation dieses Motivs, insbesondere seine Verwendung als Orchesternachspiel, in dem wohl nicht Pizarros Personalkonstante dominieren dürfte, wecken Zweifel an seiner dramatischsemantischen Bedeutung. Näher liegt das Verständnis seines strukturellen oder dramaturgischen Sinns als musikalisch einheitsstiftendes Element der komplexen zerklüfteten Szene, das wichtige interne Formgrenzen markiert: die Öffnung des Pezzo agitato I zum Mittelteil (T. 53f.), die Gliederung des Tempo di mezzo I (T. 69f.), den gesamten Pezzo agitato II (T. 106-127) und schließlich das Orchesternachspiel (T. 197-213). Taktzahlen nach der Klavierauszugausgabe von Soldan (vgl. Anm. 5), S. 140-153. 12 Vgl. zur Terminologie der Nummerndramaturgie in der italienischen Oper, auch mit konkreter Bezugnahme auf das zweite Finale des Fidelio: Sieghart Döhring / Sabine Henze- Döhring, Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert, Laaber 1997, S. 95; dort weitere Literatur. 13 Die rezitativischen Passagen bis zum Beginn der Stretta umfassen mit 83 Takten fast 60 Prozent des Agitatos und des Concertatos, was die traditionellen Verhältnisse eines italienischen Opernensembles ins Gegenteil verkehrt, und selbst auf das gesamte Quartett einschließlich der syntaktisch geschlossenen Stretta berechnet, nimmt die rezitativische Darstellung fast 40 Prozent ein. 14 Takt- und Tempoangaben der nachfolgenden Synopse nach dem Klavierauszug von Soldan (vgl. Anm. 5), S. 140-153. 15 “PIZARRO: Soll ich vor einem Weibe beben? So opfr’ ich beide meinem Grimm. Geteilt hast du mit ihm das Leben, so teile nun den Tod mit ihm” - “LEONORE: Der Tod sei dir geschworen. Durchbohren musst du erst diese Brust! Noch einen Laut - und du bist tot! ” (Textbuch, S. 70) 16 Die zweifelsfreie Erlösung Florestans von seinen Qualen und der Sieg der Gattenliebe schon in der Kerkerszene finden sich nur in der zur sinfonischen Abstraktion tendierenden dritten Fassung der Oper von 1814. Die beiden früheren Fassungen von 1805 und 1806 beließen durch den überstürzten Abgang aller Figuren außer Leonore und Florestan sowie der Sicherstellung von Leonores Handfeuerwaffe durch Rocco für die Dauer des nachfolgenden Duetts die Ungewissheit des möglichen Scheiterns. Vgl. den Libretto-Vergleich etwa bei Hess, Das Fidelio-Buch, S. 318. 17 “PIZARRO: Verflucht sei diese Stunde! O Gott, was wartet mein? Verzweiflung wird im Bunde mit meiner Rache sein” - “ROCCO: O fürchterliche Stunde! O Gott, was wartet mein? Ich will nicht mehr im Bunde mit diesem Wütrich sein” (Textbuch, S. 71). 18 Jonathan Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, aus dem Amerikanischen von Manfred Momberger, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 96. 19 Vgl. Patrick Primavesis Artikel “Dekonstruktion” in: Metzler Lexikon Theatertheorie, hrsg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat, Stuttgart 2005, S. 63-67, hier S. 64. 20 Das dekonstruktive Verfahren dieser szenischen Interpretation verfolgt den avancierten Ansatz einer politischen und zugleich intellektuellen Strategie, Realitätserfahrungen und ihre Diskursivität aus der frühen Romantik in die Gegenwart zu transformieren. Vgl. zu diesem Verfahren Jonathan Culler, Dekonstruktion, Kapitel “Dekonstruktion” (S. 95- 256). Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Das Theater erscheint, wie Roland Barthes festgestellt hat, als ein besonders »privilegiertes semiologisches Objekt«. Denn es arbeitet nicht nur wie andere Kunstgattungen - z.B. Literatur und Malerei - mit einem einzigen Zeichensystem, sondern vereinigt in sich eine Vielzahl heterogener Zeichensysteme (wie Sprache und Gestik, Kostüm und Dekoration, Musik und Beleuchtung), deren jedes nach anderen Prinzipien Bedeutung hervorbringt. Soll das Theater seinerseits als ein spezifisches bedeutungserzeugendes System begriffen und erforscht werden, müssen daher die einzelnen beteiligten Zeichensysteme einerseits in ihrer jeweiligen Eigenar t, andererseits in ihren Beziehungen zueinander untersucht werden. Der von Coseriu in der Linguistik getroffenen Unterscheidung zwischen den Ebenen des Systems, der Norm und der Rede entsprechend wird diese Untersuchung unter systematischem, historischem und analytischem Aspekt durchgeführt. Semiotik des Theaters in drei Teilbänden Band 1 Das System der theatralischen Zeichen Band 2 Vom „künstlichen“ zum „natürlichen“ Zeichen - Theater des Barock und der Aufklärung Band 3 Die Aufführung als Text Erika Fischer-Lichte Semiotik des Theaters Band 2 5., unveränderte Auflage 2007 212 Seiten, €[D] 14,90/ SFr 26,00 ISBN 978-3-8233-6322-4 Abb. 1: Von der Schwierigkeit, den Menschenrechten zur Geltung zu verhelfen. Fotograf: Dominik Mentzos Recht als Dis-Tanz: Choreographie und Gesetz in William Forsythes Human Writes Gerald Siegmund (Bern) 1. Jeder für sich und alle für eines Es klopft und hämmert, knarrt und knallt, scharrt und schleift. Ein Brausen erfüllt den Raum, der sich dem Besucher zunächst auf ungewohnt akustische Art und Weise eröffnet. Angelockt und gefangen genommen durch die insistierenden Geräusche, streift unser Blick über ein Meer von identischen Metalltischen, deren Oberflächen mit weißem Papier bespannt sind. In Reih’ und Glied sind sie angeordnet; sechzig waren es in der Zürcher Schiffbauhalle bei der Premiere im Oktober 2005, vierzig sind es ein Jahr später im Frankfurter Bockenheimer Depot. 1 Vorsichtig nähern wir uns den Tischen, an denen je ein Tänzer oder eine Tänzerin merkwürdig wirkende Bewegungen ausführen. Einer liegt auf dem Rücken auf der Tischplatte, die Arme eng an den Körper gepresst. In den Händen hält er zwei Kohlestifte, die durch die angespannt ruckelnden Auf- und Abbewegungen des Körpers dicke schwarze Linien auf dem weißen Papier hinterlassen. Nicht die Hände werden, wie in unserer Kultur üblich, zum Schreiben bewegt. Gerade sie verharren hier regungslos, während der übrige Körper durch Reibung an der Tischplatte in Bewegung versetzt wird. Eine Tänzerin steht vor ihrem Tisch und bewirft ihn mit einem Kohlestift, der kleine spitze Punkte auf dem Papier hinterlässt und beim Abprallen in kleine Stücke zerspringt. Beim näheren Hinsehen fällt auf, dass die Tische beschriftet sind. Mit dünnen, kaum sichtbaren Bleistiftlinien sind Worte, Phrasen, Sätze darauf geschrieben - in verschiedenen Sprachen, wie sich beim Inspizieren anderer Tische herausstellt. Die Kohlestriche oder -punkte zielen auf die Worte. Sie übermalen, verfehlen oder umschreiben sie jedoch mehr, als dass sie sie wirklich sichtbar machten. Die Formulierungen entstammen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die die Vereinten Nationen nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs 1948 in Genf verabschiedet haben. Dem Choreographen William Forsythe und dem New Yorker Rechtswissenschaftler Kendall Thomas dienen sie im wahrsten Sinn des Wortes als Grundlage für ihre Performance-Installation Human Writes, deren Titel mit dem Gleichlaut im Englischen von “Right”, dem Recht, und “Write”, Schreiben, spielt. Die Buchstaben des Gesetzes sollen von den Performern geschrieben werden. Das Recht bricht und spiegelt sich hier in der Schrift, das Wort am Fleisch, am Schreiben mit dem Körper und seinen Bewegungen. Das Recht bricht sich mithin an der Choreographie, mit der es, wie zu zeigen sein wird, eine enge Verbindung eingeht. Neugierig gehen wir durch die langen Gänge zwischen den Tischreihen hindurch. Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 75-93. Gunter Narr Verlag Tübingen 76 Gerald Siegmund Abb. 2: Die Befolgung einer allgemeinen Regel produziert tanzende Körper. Fotograf: Dominik Mentzos Abb. 3: Schrift und Körper beziehen sich aufeinander, ohne zu verschmelzen. Fotograf: Dominik Mentzos Kleine Grüppchen bilden sich und lösen sich dann nach geraumer Zeit wieder auf, die Blicke müde geworden von der Sisyphos- Arbeit der Tänzer, die sich bei der Ausführung ihrer Tätigkeit immer selbst im Weg zu stehen scheinen, und formieren sich in anderer Konstellation an anderen Tischen neu. Mittendrin haben wir den Überblick verloren. Der Raum teilt sich in vierzig kleine Performance-Räume, die alle unsere Aufmerksamkeit herausfordern. Es sind lauter kleine Territorien, Inseln im offenen Meer, die von einem Individuum bewohnt und bearbeitet werden. Nachdem wir eine Weile zwischen den Tischen auf und ab gelaufen sind, ändert sich die Szene. Die Dynamik der Aktivitäten steigert sich. Die Zuschauer werden von den Tänzern und Tänzerinnen aufgefordert, ihnen bei der Realisierung der Schrift zu helfen. Gemeinsam soll die Erklärung der Menschenrechte umgesetzt und ihr zur Geltung verholfen werden. Durch gemeinsames Arbeiten sollen die dünnen Bleistiftspuren der Menschenrechte dem Verschwinden und Vergessen entrissen und geborgen werden. An einem Tisch hat sich eine Kette von drei hintereinander stehenden Frauen gebildet, von denen nur die hintere die Augen geöffnet hat, die beiden anderen jedoch mit geschlossenen Augen vor dem Tisch stehen. Die Sehende schreibt die Buchstaben und Worte mit dem Finger auf den Rücken der vor ihr stehenden Frau, während diese den Bewegungen nachspürt und das, was sie erkannt zu haben glaubt, nun ihrerseits auf den Rücken der vor ihr stehenden Frau überträgt, die wiederum blind das Erspürte mit einem Stift zu Papier bringt. Dabei ruft ihr eine Tänzerin Anweisungen zu, links, rechts, hoch, runter, um den Strichen zur Form eines Buchstabens zu verhelfen. In diesem komplexen Spiel der Übertragungen und Übersetzungen vom Sehen zur Bewegung, vom Fühlen und Tasten zum Hören und Schreiben wird ein Kreislauf in Gang gesetzt, der von der Schrift ausgeht, durch die Körper der Teilnehmerinnen läuft, durch verschiedene Sinne kanalisiert wird, bis er im erneuten Schreiben der Buchstaben wieder zum Tisch zurückkehrt. Es ist eine Art Stille Post-Spiel, bei dem das, was vorne eingeben wurde, durch die Übertragung verändert und anders wieder zum Vorschein kommt. Ein junger Tänzer fordert mich auf, ihm zu helfen. Während ich versuchen soll, die Worte nachzuschreiben, wird er mich davon abhalten. Ich schreibe, er schlägt mir den Arm zur Seite. Später tauschen wir die Rollen. Jeder Performer legt sich seine eigenen Spiele zurecht. Er oder sie kann die Spiele nach Belieben ändern. Umstehende greifen ein, bis wir eine ganze Gruppe sind, die gleichzeitig schreibt und das Geschriebene wieder auslöscht. Recht als Dis-Tanz 77 Abb. 4: Die Geste des Körpers eröffnet Handlungsspielräume. Fotograf: Dominik Mentzos Abb. 5: Die Spuren der Bewegung auf den Tischen übermalen die Buchstaben. Fotograf: Dominik Mentzos “fear and want has been proclaimed the highest aspiration of the common people” steht auf unserem Tisch - gerade das Gegenteil von dem, was die Erklärung intendiert. Die beiden Worte “freedom from”, also die Freiheit von Furcht und Not, denen das höchste Streben der Menschen gilt, sind der Begrenzung des Tisches zum Opfer gefallen und abgeschnitten worden. Nach drei oder vier Stunden ist das anfangs so ordentlich gegliederte Feld komplett umgepflügt worden. Tische sind verrückt, hochkant und gegeneinander gestellt worden. Die Hände und Gesichter nicht nur der Tänzer haben sich schwarz eingefärbt, gerade so, als seien sie nach einem anstrengenden Arbeitstag aus der Kohlegrube gestiegen. Verbindungen zwischen den Tänzern und Zuschauern sowie zwischen den vormals isolierten Inseln sind entstanden; Situationen sind durch gemeinsames Handeln hervorgebracht worden und haben ihrerseits das Gesicht des Ganzen geprägt. Human Writes soll, so Forsythe und Thomas im Programmblatt zur Performance, dazu beitragen, über die “Rolle der Kunst in der Erstellung einer ‘Kultur der Menschenrechte’ nachzudenken”. 2 Worin könnte die Rolle der Kunst in der Sphäre des Politischen liegen? Sie liegt zum einen sicher in der Feststellung der Schwierigkeiten, vielleicht sogar der Unmöglichkeit einer vollständigen Umsetzung der Menschenrechte. Davon zeugen schließlich alle Aktionen an den Tischen, die die Buchstaben des Gesetzes bis zur Unkenntlichkeit verstellen. Sich mit dieser Beobachtung zu begnügen, hieße jedoch, die Situationen, die sich während der Zeitdauer der Performance ereignen, von vornherein mit dem Unterton der Resignation zu schließen. Am Ende der drei oder vier Stunden hat man aber durchaus nicht das Gefühl des Scheiterns. Im Gegenteil. Je länger man im Raum verweilt und je öfter man mitarbeitet, desto stärker hat man in der Tat das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Human Writes ist auch eine Ausgrabung dessen, was den Menschenrechten zugrunde liegt: der Körper des Menschen nämlich, der durch die Erklärung in seiner Unantastbarkeit geschützt werden soll. Die Frage, die die folgenden Überlegungen begleitet, zeichnet sich hier ab. Wie lässt sich dieser Körper als individueller Körper mit all seinen kulturell unterschiedlich geprägten, radikal subjektiven Erfahrungen und Empfindungen in die Allgemeinheit und Universalität einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufheben? Wie die Differenz erhalten, ohne den Anspruch des Allgemeinen aufzugeben? Diese Frage prägt heute nicht nur den Umgang der Kulturen und Religionen mit ihren unterschiedlichen Wertesystemen miteinander. Sie prägt auch 78 Gerald Siegmund William Forsythe, Human Writes, Fotograf: Dominik Mentzos. Gesellschaften in ihrem je spezifischen Spannungsfeld von individuellem Glücksstreben und dem Geltungsanspruch allgemeiner und damit symbolischer Regeln. Vor diesem Hintergrund möchte ich Human Writes als Denkmodell verstehen, das in der Sphäre der Kunst ein Nachdenken über den Zusammenhang von Individuellem und Allgemeinem in Gang setzt. Die Aufhebung des einen im anderen kann, so die Erfahrungen während der Vorstellungen, nie total sein. Dies als Scheitern zu begreifen, hieße allerdings, die Chance einer Politisierung der Körper in der Kunst zu verkennen. Denn der Ausnahmezustand, in dem wir uns während der drei oder vier Stunden Dauer der Performance befinden (für eine bestimmte Zeitdauer befinden wir uns an einem anderen, abgrenzten Ort, an dem wir Dinge sehen und tun, die wir normalerweise nicht auf diese Weise sehen und tun), macht den Spalt, den Abstand zwischen mir, meinem Körper und den Gesetzestafeln erfahrbar. Zugleich wird darin die Geltung des Gesetzes unterstrichen, ohne das es ‘mich’ und ‘meine’ besonderen Arten mich zu verhalten und zu bewegen gar nicht gäbe. Um diesen kritischen Abstand zwischen Körper und Gesetz, der das Besondere an Forsythes Human Writes ist, soll es im folgenden Text gehen. Dazu werde ich zunächst auf die körperliche Grundlage der Menschenrechtserklärungen eingehen, bevor ich in einem zweiten Schritt mit dem Begriff der Choreographie die Vorstellung eines Gesetzes auf den Bereich des Tanzes übertragen werde. Hier zeichnen sich zwei Wege ab, sich tanzend zum Gesetz zu verhalten: die (Über-)Erfüllung einer Einschreibung des Körpers ins Gesetz und das Herausfallen des Körpers aus dem Gesetz. Über die Distanz, die beide Formen kennzeichnet, komme ich zum Schluss zurück zu Human Writes, das ich als Formulierung einer choreographischen Grundsituation verstehen möchte. Recht als Dis-Tanz 79 2. Der Korpus der Menschenrechtserklärungen Gabriele Brandstetter hat in einem Vortrag über Forsythes Human Writes auf die Medialität des Körpers und dessen Unverrechenbarkeit im Hinblick auf das Gesetz hingewiesen. 3 Forsythe klagt den Körper vor dem Gesetz ein. Seit dem Habeas Corpus-Act aus dem Jahr 1679 gilt der Besitz des Körpers, seines eigenen Körpers, als unhintergehbarer Grund der Politik. Einen Körper zu haben, ist Voraussetzung personaler Autonomie. Im Besitz seines Körpers zu sein, der dem Gesetz gegenüber tritt, ist Voraussetzung dafür, Rechtsperson zu sein. Unverrechenbar ist dieser Körper, weil er der Souverän ist, dessen Unversehrtheit das Gesetz garantieren und schützen soll, der aber auch von diesem Gesetz, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, eingeschlossen und ausgeschlossen wird. Giorgio Agamben hat den Habeas Corpus- Act, der bereits seit Jahrhunderten gängige Rechtspraktiken in England nur mehr verschärft hat, als “Geburt der modernen Demokratie” bezeichnet. Das “Subjekt der Politik” ist der “corpus”, der Körper, der sich aus Anordnung vor Gericht zeigen muss. 4 Der Habeas Corpus-Act, “du mögest den Körper haben”, war ein vom englischen Parlament dem König Charles II abgetrotzte Verfügung, die dessen Willkür im Umgang mit Parlamentsbeschlüssen eindämmen sollte. Ein Untertan der englischen Krone durfte folglich ohne gerichtliche Verhandlung und ohne Nennung der Gründe nicht mehr in Haft gehalten werden. Zentral für Agambens Argument ist hierbei, dass der “Act” sich auf jeden Körper bezieht, “wie immer sein Name darin [im Gerichtsgebäude, Westminster, G.S] lauten mag”, 5 d.h. er bezieht sich auf Körper unabhängig vom “qualifizierten Leben des Bürgers”, 6 unabhängig von Stand oder Status, Rang und Namen der Person. Jeder muss gleichsam als “nackter”, insignienloser Körper vor Gericht erscheinen. Damit ist nicht nur ein Schutz der individuellen Rechte vor (souveräner) Willkür impliziert, sondern auch eine Übereignung des Körpers an das Recht, das ihn “haben möge”. Es gibt einen Körper “vor” dem Gesetz im doppelten Wortsinn: Bevor der Körper zum politischen Körper wird, und räumlich vor dem Richter, der sich des Körpers bemächtigt. Wenn es stimmt, dass das Gesetz für seine Geltung eines Körpers bedarf, wenn man in diesem Sinn von einem “Verlangen des Gesetzes nach dem Körper” sprechen kann, dann antwortet die Demokratie auf dieses Verlangen damit, daß sie das Gesetz verpflichtet, sich dieses Körpers anzunehmen. […] Corpus ist ein doppelgesichtiges Wesen, das sowohl Träger der Unterwerfung unter die souveräne Macht als auch der individuellen Freiheit ist. 7 Diese sich im und am Körper ereignende Spaltung, die für seinen Status in unseren modernen Demokratien grundlegend ist, 8 wiederholt sich in Bezug auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Déclaration des droits de l’homme et du citoyen), die der Marquis de Lafayette 1789 in der französischen Nationalversammlung einbrachte. Auch hier wird von einer reinen Existenz des Menschen ausgegangen, die nicht identisch ist mit derjenigen des Bürgers. Das Faktum der Menschlichkeit, das durch die Geburt hervorgebracht wird, (darauf bezieht sich der Begriff “l’homme”) steht dem Bürger (“citoyen”) als Prinzip der Souveränität des Staates gegenüber. Agamben verzahnt das Aufkommen der Idee der Menschenrechte mit der Entstehung der neuen, bürgerlichen Nationalstaaten. Das Prinzip der Geburt fällt mit dem der Souveränität in der Nation, im Volk zusammen. Die implizite Fiktion besteht darin, dass die Nativität unmittelbar Nation wird, sodass es zwischen den beiden Begriffen keinen Abstand geben kann. Die Menschenrechte werden dem 80 Gerald Siegmund Menschen zugeschrieben (oder entspringen ihm) nur in dem Maß, als er das unmittelbar wieder verschwindende (oder vielmehr gar nie als solches ans Licht tretende) Fundament des Bürgers abgibt. 9 Durch die kriegerischen Erschütterungen des 20. Jahrhunderts beginnt sich diese Fiktion aufzulösen. Der Flüchtling ist für Agamben die Figur, die die Fiktion der Identität von Geburt und Nation zerschlägt. In ihm klaffen das natürliche Leben und der Status als Bürger auseinander. “Der Flüchtling, der den Abstand zwischen Geburt und Nation zur Schau stellt, bringt auf die politische Bühne für einen Augenblick jenes nackte Leben zum Vorschein, das deren geheime Voraussetzung ist.” 10 In der Figur des Flüchtlings wird das normale Funktionieren der Rechtsordnung außer Kraft gesetzt. Er befindet sich außerhalb des Rechts, obwohl doch sein nacktes Leben dessen Grundlage bildet. Als Ausschluss ist er in es eingeschlossen. Das nackte Leben bildet eine weg- und verschlossene Kammer, eine Stanze, 11 innerhalb des Gesetzes, eine Kammer, deren Wände und Grenzen immer wieder neu gezogen werden müssen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, auf die sich William Forsythe und Kendall Thomas in Human Writes beziehen, steht demnach in einer langen Tradition dieses eingeschlossenen Ausschlusses. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verabschiedet. Obwohl sie als Erklärung keinen völkerrechtlichen Charakter besitzt, betrachtet man sie in der Regel doch als Bestandteil des Rechts der Vereinten Nationen und als Völkergewohnheitsrecht. Der universale transnationale Anspruch, das nackte Leben zu schützen, wird rückgebunden an das Recht auf Staatsangehörigkeit - wobei das übernationale, nackte Leben der Verwaltung durch humanitäre Organisationen zukommt, während das politische, das von ihm abgelöst scheint, nach wie vor in der Souveränität der Nation verweilt. 12 Agambens politische und rechtsphilosophische Argumentation nimmt ästhetische Phänomene nicht in den Blick. Eine Übertragung seines Nachdenkens über den Status des Körpers auf das Feld der Kunst scheint von daher nicht ohne weiteres möglich. Mein Text strebt daher auch keineswegs eine Gleichsetzung zwischen den Erfahrungen eines Flüchtlings in einem Lager und den Teilnehmern an einer Performance in einem Theaterraum an. Obwohl man sowohl die Kunst als auch das Lager mit gewissem Recht als Ausnahmezustände beschreiben kann, bleibt jener der Kunst doch immer noch ein symbolischer Akt. Agamben selbst hat in seinem Text Hinweise darauf gegeben, dass die Unhintergehbarkeit des Körpers im Habeas Corpus-Act sich in der Bedeutung des Körpers für die Philosophie des späten 17. Jahrhunderts spiegelt. 13 Eine Übertragung seines Körperdenkens scheint demnach insofern gerechtfertigt, als man die beschriebene Struktur als grundlegenden Rahmen begreift, innerhalb dessen wir Körperkonzepte entwerfen können. Die Struktur des eingeschlossenen Ausschlusses prägt sowohl unser Denken vom Körper als auch unser Verhältnis zu uns selbst und zu den Institutionen, in die wir eingebunden sind. Insofern der Souverän, der einst die Spaltung als homo sacer in sich austrug, heute das Volk und damit jeder von uns ist, “verstreut” sich das heilige Leben “in jedem einzelnen Körper”. 14 Diese Körper bilden das vorgeprägte Material von Tanz und Theater, deren Einsatz sie sind. In der Übertragung auf den Tanz, dessen Instrument der Köper ist, bildet dabei ein Begriff die entscheidende Schnittstelle zwischen Körper und Gesetz: der der Choreographie. Um ihn soll es im Folgenden daher gehen. Recht als Dis-Tanz 81 3. Choreographie als Gesetz des tanzenden Körpers Die Bedeutung des Wortes “Choreographie”, das Schreiben (gr. graphein) des Tanzes oder Reigens (gr. choros), wird heute in der Regel mit “künstlerische Gestaltung und Festlegung der Bewegungen und Schritte eines Balletts” wiedergegeben. Es ist aber die, laut Duden, frühere Bedeutung des Wortes, nämlich “graphische Darstellung von Tanzbewegungen- und haltungen”, 15 die im Zusammenhang des Gesetzes eine deutlichere Sprache spricht. Choreographie stellt dem älteren Gebrauch gemäß ein Verfahren der Verschriftlichung, des Aufschreibens von Tanzbewegung dar. 16 Die “graphische Darstellung” bindet den tanzenden Körper an die (Schrift-) Zeichen, die ihm regulierend vorschreiben, was er tun muss, um ein “guter” Tänzer zu sein. In dieser Formulierung wird die Verbindung zum Gesetz bereits mehr als deutlich. Choreographie ist mithin das Gesetz des sich bewegenden Körpers. Eine direkte Verknüpfung dieser Verbindung hat André Lepecki in seinem Buch Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement hergestellt. 17 Lepecki geht in einer brillanten Analyse zurück zur frühneuzeitlichen Urszene der Choreographie, zu Thoinot Arbeaus 1588 erschienenes Buch Orchésographie. 18 Die Begründung der Choreographie erfolgt darin in einem Dialog zwischen einem Mathematiker, Tanzmeister und Priester, Arbeau, und seinem Schüler, dem Juristen Capriol, der nach Jahren der Abwesenheit nach Lengres zurückkehrt, um von Arbeau die Kunst des Tanzes zu erlernen. 19 Nach einer Erörterung antiker Autoren und deren Verhältnis zum Tanz stellt Arbeau fest, dass man über die Tänze der Alten nichts wisse und dass auch die neuen Tänze der Nachwelt nicht erhalten bleiben werden, woraufhin Capriol vorschlägt, sie doch aufzuschreiben. Gegen Arbeaus “Il le faut ainsi coniecturer”, man müsse sie erahnen oder gar erraten, setzt Capriol die Schrift: “mettez en quelque chose par escript”. 20 Der Zweck der Niederschrift der Tänze ist ein zweifacher. Auf der einen Seite ermöglicht sie dem Schüler auch in Abwesenheit des Lehrers allein in seinem Zimmer zu üben und die Tänze einzustudieren. “Vray est que vostre methode d’escripre est telle, qu’en votre absence, sur vos theoriques & perceptes, vn disciple pourra seul en sa chambre apprendre vos enseignements”. 21 Auf der anderen Seite erlaubt sie es dem Lehrer beim Aufschreiben, sich wieder in der Gesellschaft seiner Jugend zu wähnen: “en escriuant, il vous semblera raieunir & auoir les mesmes compagnies qu’auiez en vostre jeunesse”. 22 Lehrer und Schüler treten gleichsam über die Abwesenheit des körperlichen (tänzerischen) Aktes, dessen Lücke die Tanzschrift ausfüllt, in Kontakt zueinander. 23 Choreographie entsteht demnach in der Verbindung zweier gesetzgebender Instanzen, dem Priester und dem Rechtsanwalt. Lepecki definiert Choreographie daher auch “as an answer to a call from and for the law”. 24 At the critical point where dance finds its new destiny as choreography, we find the joint labours of a lawyer and a priest. Here is a powerful foundational duo to consider choreography’s ontohistorical relationship to the force of law. […] The young lawyer’s desire for a dance as a mode of socialisation initiates a project that is as much kinetic as it is textual, as much social as it is subjective, as much corporeal as it is a writing project: orchesography. 25 Lepeckis Argumentation deckt wichtige historische Voraussetzungen des Choreographiebegriffs auf, indem sie Choreographie als männliche Machtstruktur und Struktur der Ersetzung des Körpers durch Zeichen und deren Erinnerungsfunktion rekonstruiert. Dabei läuft er aber letztendlich Gefahr, Choreographie auf das ihr inhärente Moment der Unterdrückung von Körperlichkeit zu reduzieren, die Machtfrage also einer dem Tanz und 82 Gerald Siegmund dem tanzenden Körper externen Instanz zuzuschreiben (dem Priester und dem Rechtsanwalt). Politisch sind für Lepecki in Folge dann jene Tanzstücke und Performances, die mit nicht-kodifizierbaren, nicht regulierbaren Bewegungen arbeiten, Bewegungen also, die sich der Choreographie als Vor-Schrift widersetzen. Stillstand und Stolpern, Kriechen und Verlangsamung, das Kippen der vertikalen Ausrichtung der Körper auf der Bühne und der Zuschauerblicke in die Horizontale des Bodens sind Verfahren, die in der Choreographie eingeschriebene normative Repräsentation von Körpern zu umgehen. Doch auch der Rechtsanwalt, der allein in seiner Kammer das Tanzen nach Vorschrift übt, tut dies mit seinem Körper. Auch der alte Tanzmeister und Priester, der die Tänze notiert, erinnert sich zumindest an seine körperliche Praxis des Tanzens. Mit Agamben kann man daher sagen, dass auch das choreographische Gesetz einen Körper voraussetzt, den es, habeas corpus, zugleich ein- und ausschließt. Das Gesetz kümmert sich um diesen Körper, weshalb er auch nicht in einer einfachen Geste der Umkehr als widerständig aus ihm ausgeschlossen werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung kann man die Anrufung des Körpers durch das Gesetz und nach den Erfordernissen des Gesetzes im Tanz noch weiter denken. Hierzu gilt es das Ziel der Choreographie noch einmal in den Blick zu nehmen. Capriol möchte in der Kunst des Tanzens unterrichtet werden, um “cette ciuilité” 26 zu erlernen, den perfekten gesellschaftlichen Umgang, der es ihm ermöglicht, sich vor allen den jungen Frauen zum Zwecke der Heirat zuzuwenden. “[P]our complaire aux damoiselles” 27 ist es unabdingbar, Tanzen zu lernen, weil, so Arbeau in einer Replik auf Capriols Wunsch, die Tänze deshalb praktiziert würden, um sicherzustellen, dass die Verliebten auch gesund seien und über ihre Körper verfügten (“dispos de leurs membres”). Beim Tanzen könne man feststellen, ob man sich gegenseitig riechen könne, ob der andere einen faulen Atem habe oder gar stinke, was Arbeau mit dem Ausdruck “l’espaule de mouton”, Hammelschulter, belegt. Auch Capriol hat seinerseits Sorge, ohne den Tanz nur Tier zu bleiben. Keiner solle ihm vorwerfen können “que j’aye vn coeur de porc & une teste d’asne” 28 , dass er eine feiges Schweineherz und den Kopf eines Esels habe. Der Tanz sei demnach absolut notwendig, “pour bien ordonner vne societé”. 29 Damit der Rechtsanwalt, der vor dem Priester die Choreographie erfindet, das Gesetz, das als Forderung an den Körper schon vor der Choreographie existieren muss (schließlich hat man auch vor der Etablierung der Choreographie als Schrift auf dem gesellschaftlichen Parkett getanzt), einhalten kann, wird es an die Schrift rückgebunden. Das Geschriebene “sera cause que j’apprendray ceste ciuilité”. 30 Nur weil es die Choreographie gibt, kann ich den richtigen gesellschaftlichen Umgang lernen. Sie ist der Grund für mein richtiges Verhalten, weil sie mir einen Körper gibt, in dem mein nicht gesellschaftsfähiger, tierischer Körper aufgehen kann. Dieser neue Körper ist ein allgemeiner, gesellschaftlicher Körper, der jedem offen steht, der kein Schweineherz und keinen Eselskopf haben will. Er setzt Männer in einem ersten Schritt mit sich und dem Gespenst des anderen Mannes, des Lehrers, und in einem zweiten Schritt auch mit Frauen in Beziehung und schafft so gesellschaftliche Verbindungen, die das zukünftige Leben der Gesellschaft garantieren. Das Gesetz der Choreographie produziert und perpetuiert diese Allgemeinheit aufgrund der Schriftzeichen, die ihren Wert rein konventionell und relational erhalten. In deren Netz verfängt sich der Körper und wird dadurch, das legen Arbeaus Tiervergleiche nahe, erst zum Menschen, der ohne den signifikanten Einschnitt des symbolischen Gesetzes auch körperlich nicht existiert. Die Choreographie ist das allgemeine (kodifizierte) Recht auf einen gesellschaftlich anerkannten Körper. Recht als Dis-Tanz 83 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Choreographie als Gesetz zwar den tanzenden, sich bewegenden Körper reguliert, doch sie bringt ihn auch als solchen hervor, indem sie ihn stützt und dadurch zum menschlichen Körper macht. Sie ist nicht nur ein Mittel zur Kontrolle und Unterdrückung von niederen Gerüchen, Affekten und nicht verwertbaren Bewegungen, die das phantasmatische Bild des Körpers ausschließen muss, sondern eröffnet erst den Raum für deren Produktion und Übertragung. 4. Kurbel, Knochen und Muskel, oder: Die Verkörperung des Allgemeinen Zieht man in Betracht, dass Ludwig XIV spätestens seit der Gründung der Académie Royale de danse 1661 mit dem Körper Politik gemacht hat, gewinnt die Verbindung zwischen Choreographie und Gesetz mehr als nur metaphorischen Charakter. Aufgabe der Akademie war es, den französischen Tanz zu kodifizieren und ihn als Teil der Zentralisierungsbestrebungen der Macht der königlichen Kontrolle zu unterstellen. Das Mittel, diese Kontrolle zu garantieren, war ein choreographisches Notationssystem, das Beauchamps von 1674 an auf königliches Geheiß entwickeln sollte. Resultat war das 1699 von Raoul-Auger Feuillet veröffentlichte Buch Chorégraphie ou l’art de décrire la danse, par caractères, figures et signes démonstratifs, in dem Feuillet Arbeaus Pionierleistung in Sachen Choreographie explizit anerkennt. Das universelle Notationssystem hatte den Vorteil, dass autorisierte Tanzmeister in Paris und in der Provinz mit seiner Hilfe kommunizieren konnten. Tänze anderer Länder und Höfe konnten mit seiner Hilfe aufgeschrieben, publiziert und bekannt gemacht werden. Umgekehrt konnten sie auch “französisiert” werden, indem man sie adaptierte. Wie Jean-Noel Laurenti festgestellt hat, mündete die Verschriftlichung der Tänze in eine Praxis, die die Choreographie völlig unabhängig von der körperlichen Praxis des Tanzes machte. [T]he city’s dancing masters are shut up in a room with paper, writing desk, ‘mathematics case etc.’, as if for a written examination; they compose choreographies for balls or ballets, which are then sent to Paris to be judged and classified by the Academy; only afterwards comes the practical test, or ‘execution’. 31 In der Ausführung antworten die Tänzer dem Gesetz, indem sie es in ihren “natürlichen” Körpern materialisieren. Sie üben einen vom König autorisierten Körper ein, um mehr zu werden als “nacktes” (unbedeutendes) Leben, nämlich Gesellschaftskörper. Zumindest im Hinblick auf den Tanz ist Agamben und Foucault zu widersprechen, wenn sie das “nackte Leben” im ancien régime als “politisch belanglos” einstufen. 32 Der kreatürliche Körper, wenn auch nicht der breiter Schichten des Volkes wie seit der Französischen Revolution, so doch zumindest der des Adels (oder des Rechtsanwalts Capriol), ist schon insofern wichtig, als dass gerade er es ist, der überführt werden soll in einen hierarchisch gegliederten Gesellschaftskörper, dem der König als Kopf vorsteht. Es ist eine Ordnung, die sich gleichzeitig tanzend hervorbringt und repräsentiert. Die Verkörperung des Gesetzes, der Choreographie, im Tanz leistet mithin dem Vorschub, was Agamben als Fiktion bezeichnet hat, nämlich der Fiktion, dass die Geburt den Körper unmittelbar der Nation unterwirft. Die beiden Körper sollen zu einem phantasmatischen Körper zusammengeschlossen werden, in dem das symbolische Gesetz und die es vorstellig machenden Körperbilder unmittelbar Körper werden und den realen Körper mit seinen üblen Gerüchen, Hammelschultern und Eselsköpfen für immer verdeckt. Die folgenden Überlegungen sind lediglich grobe Skizzen, denen viele einzelne Untersuchungen und Analysen folgen müssen. Sie eröffnen jedoch, auch über die Grenzen 84 Gerald Siegmund einer Tanzwissenschaft im engeren Sinn hinaus, Möglichkeiten für die Theaterwissenschaft, über die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Sprache auf der Bühne nachzudenken. Dass sich im zeitgenössischen Sprechtheater die Register des Körperlichen, Stimmlichen und Sprachlichen (im Sinne des gesprochenen Textes) zunehmend auseinander dividieren, lässt sich nicht nur in Aufführungen von René Pollesch bis hin zu Michael Thalheimer beobachten. Derartige Dissoziationen von Rollenfiguren und Handlungsstrukturen sind in den vergangenen zehn Jahren seit dem performative turn in der Theaterwissenschaft als Produktion phänomenologischer Effekte von Körperlichkeit, Stimmlichkeit oder als Herstellen von Atmosphären beschrieben worden - Effekte, die auf die Materialität der Aufführung und ihre spezifische Raum-Zeitstruktur verweisen und die Theater jenseits von festgefügten Bedeutungszuschreibungen für den Rezipienten zu einem Feld möglicher Erfahrung machen. 33 Vielleicht lassen sich durch die hier vorgeschlagene Fragerichtung an den performative turn anknüpfend weitergehende Erkenntnisse zum Verhältnis von Körper und Sprache im Theater gewinnen? Wenn die Integration von Körper, Sprache und Bild zu dem, was Günther Heeg das “Phantasma der natürlichen Gestalt” genannt hat, 34 immer häufiger unterlaufen wird, wenn also aus der Vorstellung einer Verkörperung von Sinn eine Ent-Körperung der Elemente wird, wie ist der Körper dann rückgebunden an die Sprache? Welche je spezifischen Ent- Körperungen entstehen zu welchem Zweck, wenn die Körper der Darsteller immer öfter aus ihrer Verankerung in der Sprache herausfallen? Greift man die Spuren, die Human Writes legt, hier auf, kann man die Ent-Körperung auch als Re-Politisierung des ansonsten bloß verwalteten Rests ‘Körper’ begreifen, als Notwendigkeit und Aufforderung, ihn als individuellen Körper in ein neues Verhältnis zum sprachlichen Gesetz zu bringen. Letzteres entbindet ihn von seinem Status als bloß faktischem Ding und eröffnet ihm aus der Distanz heraus Vorstellungsräume, in denen das Allgemeine in Bezug auf das Individuelle erscheinen kann. Statt sprachlich vermittelte Inhalte gegen den Theaterraum als körperlich-sinnlichen Erfahrungsraum auszuspielen, gilt es hier gerade an der Sprache als Instanz des Körpers festzuhalten. Bevor ich zu William Forsythes Human Writes als einer bestimmten Form der Ent- Körperung zurückkomme, möchte ich zwei prinzipielle Richtungen umreißen, über Tanz und Choreographie in Bezug auf das Subjekt, das sich seinem Gesetz unterwirft, nachzudenken. Auf der einen Seite steht seit Einsetzung der Choreographie als Schrift das Ideal einer perfekten Verkörperung des Gesetzes, mithin ein Aufgehen des kreatürlichen Körpers im Gesetz. Die Register des Symbolischen, Imaginären und Realen fallen in einer Art Realpräsenz der Ordnung im Moment des Tanzens zusammen. So ist die Unsicherheit beim Tanzen Ludwigs XIV bei einer Ballettaufführung im Garten von Versailles, die Gérard Corbiau in seinem Film aus dem Jahr 2001, Der König tanzt, inszeniert, nicht bloß ein Zeichen für die Krise der Ordnung, sondern diese Krise selbst. Die Figur, die geduldig am Horizont dieses Wegs wartet, um den tanzenden Körper zu empfangen, ist die der Marionette oder des Automaten. Auf der anderen Seite steht die Möglichkeit einer Distanz des Körpers zum Gesetz, mithin ein Herausfallen des tanzenden Körpers aus der Choreographie, was in der Agambenschen Begrifflichkeit die Dissoziation von natürlichem Leben und politischem Körper zur Folge hätte. Dies führte in Teilen der Tanzmoderne seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer Fülle veränderter imaginärer Körperbilder, die sich auf die vermeintliche Natürlichkeit der Bewegung in dem Sinne beziehen, dass sie den Sitz der Bewegung im biologischen Körper (und nicht Recht als Dis-Tanz 85 mehr in der Geometrie des symbolischen Raums) und seinen physiologischen Voraussetzungen suchen. 35 Am Ende dieses Weges, der noch nicht zu Ende beschritten ist und der sich aufgrund der aller Orten beklagten Krise des Symbolischen (der Ordnung, der Werte, der Moral, der Politik, an die niemand mehr so recht glauben will) zusehends radikalisiert, wartet die Figur des Monsters. Die Choreographie verhindert, dass Capriols Körper zu einem hybriden, monströsen Körper, halb Mensch, halb Tier wird. Heinrich von Kleist beschreibt in seinem rätselhaften Essay “Über das Marionettentheater” die letzte Konsequenz der Identität von Gesetz und tanzendem Körper als die Realität der Marionette. Herr C., erster Tänzer an der Oper, versucht darin bekanntermaßen im ersten Argument den Ich-Erzähler davon zu überzeugen, dass die Marionette der perfekteste Tänzer sei, “daß in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut erhalten sein könne, als im Bau des menschlichen Körpers”. 36 Das Ideal des Tanzes, das er dabei formuliert, ist das des romantischen Balletts, das ab 1831 an der Pariser Oper Erfolge feiern sollte. Doch das Antigrave, die Bewegung, die die Schwerkraft aufhebt, die den Boden nur streift, um sich über die träge Materie zu erheben, findet überraschenderweise genau in dem Moment ihr Korrelat in einem leblosen Ding, das nur allzu materiell ist, in dem sie ganz bei sich ist. Die geschwungene Linie, die im Text als “Weg der Seele des Tänzers” beschrieben wird und an deren Ende “ein Gott” steht, wird dadurch zur Ideallinie, wenn sich der Maschinist in den Schwerpunkt hineinversetzt, wenn also Schwerpunkt der Bewegung, die Seele (vis motrix) und Maschinist eins sind. Geschieht das, werden nicht nur alle Glieder der Puppe “tot, reine Pendel”, sondern der Maschinist selbst kann durch ein Ding, eine Kurbel, ersetzt werden, bis der ganzen Konstellation aus Körpern, Linien und Kräften jeglicher Geist ausgetrieben worden ist. Inzwischen glaubte er, daß auch der letzte Bruch von Geist, von dem er gesprochen, aus den Marionetten entfernt werden, daß der Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte hinüberspielt, und vermittelst einer Kurbel, so wie ich es mir gedacht, hervorgebracht werden könne. 37 Ziel des Ideals der Schwerelosigkeit ist die vollkommene Beseelung oder Vergeistigung der Materie, deren äußere Zeichen Grazie und Anmut des tanzenden Körpers sind. Just in dem Moment aber, in dem der Körper mit diesem Ideal, das ein göttliches, mithin ein symbolisches ist, verschmilzt, sich selbst transparent wird als Geist, der den Körper abgestreift hat, wird er zurückverwiesen auf das, was die Erscheinung der symbolischen Ordnung stützt: ein Ding, das im romantischen Ballett in der Tat ein harter Gegenstand ist, der Holzkeil des Spitzenschuhs nämlich. Ist bei Kleist die Seele letztlich eine Kurbel und der Tänzer eine Marionette, so findet sich bei Hegel die Formulierung “daß das Sein des Geistes ein Knochen ist”. 38 Slavoj Žižek liest diese Stelle aus der Phänomenologie des Geistes als Positivierung der Unmöglichkeit des Subjekts, sich selbst als Substanz gegeben zu sein. [D]as Gefühl der absoluten Unangemessenheit, des Widerspruchs, welches das Urteil ‘der Geist ist ein Knochen’ in uns hervorruft, ist paradoxerweise die einzige ‘adäquate’ Vorstellung des Subjekts als der reinen Kraft der Negativität. Das Objekt - der Knochen - funktioniert in dieser Gleichung nur als positivierter Mangel: Es füllt das Leere, die Unmöglichkeit, die das Subjekt selbst ist. Das Äquivalent des Subjekts im Anderen ist das Objekt, das leblose Moment, welches das Loch im Anderen ausfüllt. 39 Gerade weil der Körper des Gesetzes lediglich eine (gesellschaftlich notwendige) Fiktion ohne Ontologie ist, kann auch eine Kurbel für ihn einstehen. “Das Subjekt, welches sich vollkommen im sprachlichen Medium verliert (die Sprache der Gesten und Grimassen, 86 Gerald Siegmund die Sprache der Schmeichelei), findet sein gegenständliches Korrelat in der Leblosigkeit eines nicht-sprachlichen Objekts (Schädel, Geld)”. 40 Das tanzende Subjekt, das sich in seinen Figuren ganz dem Gesetz der Choreographie unterwirft, findet sein gegenständliches Korrelat in einem nicht-bewegten, leblosen Ding, der Marionette, oder, um es zu pointieren: der Elongation des Spitzenschuhs. 5. Verhandlungen vor dem Gesetz Der zweite Weg der Distanznahme, den ich oben kurz umrissen habe, folgt unmittelbar aus dem eben skizzierten. Denn das, was als letztes Hindernis auf dem Weg zur völligen idealen Transparenz des Ballettkörpers steht, seiner Durchlässigkeit von innen und außen, von Geist, Seele, Gefühl auf der einen und dessen Darstellungsmodi für andere im Aufführungszusammenhang auf der anderen Seite, ist genau jenes Ding, das die Möglichkeitsbedingung des Subjekts präsentiert. Nur weil es dieses Ding als harten Kern gibt, kann ich mich auf das Gesetz beziehen, ohne mit ihm identisch zu werden, ohne ins Objekt zu fallen und bewusstlose Marionette zu werden. Ohne diesen Spalt, diese Lücke, diesen Abstand, der es ‘mir’ ermöglicht, ‘mich’ im Hinblick auf den Anderen zu imaginieren, um ein Bild von mir zu erhalten, um Handeln und Scheitern zu können, gäbe es kein Subjekt. Vor diesem Hintergrund nimmt die Funktion von Choreographie als syntagmatische Struktur, der die tanzenden Körper folgen müssen, eine andere Bedeutung an. Sie ist nicht, wie bei Lepecki, einseitig zu verstehen als Unterdrückung des “Körpers”, sondern auch als Ermöglichung von Subjektivität. Sie bringt hervor und produziert, gerade weil sie uneinholbarer Widerstand und Reibungspunkt ist. Dadurch ermöglicht sie es dem Subjekt, sich aus seinem Solipsismus zu lösen und sich als gesellschaftliches Subjekt in ihrem Signifikantennetz zu verhaken. Die politische Dimension von Bewegung tritt also nicht dann zutage, wenn Choreographie aufgehoben wird, sondern in einem radikalen Zuende-Gehen des Wegs, bis die Körper jenseits der marionettenhaften Verschmelzung mit der Ordnung auf der anderen Seite wieder in Distanz zur Struktur geraten. Dieser Weg steht natürlich auch dem (neo-)klassischen Ballett offen, in dem trotz der gepflegten Idealvorstellung von der perfekten Ausführung von Choreographie prinzipiell ein Freiraum zwischen mechanischer Exekution und Interpretation durch die Tänzerin oder den Tänzer besteht. Schließt sich der Abstand, wird die Aufführung meistens als schlecht, d.h. als eben zu mechanisch empfunden. Auf der anderen Seite entsteht diesseits der Choreographie ein Raum, in dem Beziehungen zur Choreographie körperlich, im Tanzen oder im Bewegen ausgehandelt werden. Roger Copeland hat schon 1981 in einem wenig beachteten Essay auf die Verwandtschaft zwischen Performance-Strategien der (Neo-)Avantgarden und neo-klassischen Strömungen der Tanz- und Theatergeschichte hingewiesen. 41 Die Choreographin und Filmemacherin Yvonne Rainer, die Anfang der 1960er Jahre im Umfeld der New Yorker Judson Church Gruppe zu arbeiten begann, hat diese Strategie in einem Text, der die geistige Tätigkeit zwar nicht als Knochen oder Kurbel, so doch dem Tanz angemessener als Muskel begreift (“The Mind is a Muscle”), wie folgt beschrieben: The artifice of performance has been reevaluated in that action, or what one does is more interesting and important than the exhibition of character and attitude, and that action can best be focused on through the submerging of personality; so ideally one is not even oneself, one is a neutral ‘doer’. 42 Das Zurücktreten der eigenen Person wird dadurch erreicht, dass die Tänzerinnen und Tänzer bestimmte Aufgaben erfüllen müssen, Recht als Dis-Tanz 87 die ihre Wahlmöglichkeit in der Gestaltung und Ausführung einschränken. Die Parallele des möglichst neutralen Vollziehens von Handlungen (nach bestimmten Vorgaben über die Bühne gehen etc.) zum neo-klassischen Ballett liegt offensichtlich nicht in den produzierten Körperbildern oder in den Bewegungsansätzen. Sie liegt vielmehr genau in der Beziehung dieser beiden auf den ersten Blick ganz unterschiedlich anmutenden Tanzformen auf ein Gesetz, auf ein objektives Korrelat, eine Struktur, der sich die Tänzerinnen und Tänzer unterwerfen, um zu handelnden Subjekten zu werden. William Forsythe und Kendall Thomas formulieren diese Regeln für Human Writes wie folgt: Das Niederschreiben der Erklärung der Human Writes unterliegt jedoch einer übergeordneten Regel: Das Schreiben muss mit einer gleichzeitigen Behinderung dessen einhergehen. Kein Strich oder Buchstabe darf direkt entstehen. Die Performer sind somit gezwungen, indirekte Strategien zu benutzen. Jedwede Markierung, die zu einer Entstehung des Buchstabens beiträgt, muss aus einer physischen Einschränkung, einer Belastung oder einem Widerstand entstehen. 43 Die Regel der indirekten Bezugnahme auf die Schrift erzählt auf der einen Seite, wie es Forsythe und Thomas selbst formulieren, von den “Schwierigkeiten vom humanitären ‘Verfassen’ in einer Welt der ‘unfassbaren Inhumanität’”. Auf der anderen Seite produziert sie aber unaufhörlich Bezugnahmen auf das Gesetz. Sie produziert gemeinsam handelnde Subjekte, deren Handeln gerade durch die Tatsache, dass ihre Individualität an allgemein sprachliche Grenzen stößt, möglich wird. Der choreographische Text, der dabei entsteht, liegt nun nicht mehr notwendigerweise in Form einer detaillierten Bewegungsvorschrift vor, wie sie Thoinot Arbeau im Sinn hatte. Doch auch bei einer Choreographie, die sich im Moment der Aufführung selbst entwickelt und verändert, ist das Entscheidende, dass diese Choreographie aufgrund von Verabredungen, von Vorgaben und Einschränkungen entsteht, die ein allgemeines Miteinander möglich machen. Es sind letztlich Verabredungen, wie die Tänzer miteinander und mit anderen, wie etwa den Zuschauern, in Beziehung treten. Die Beziehungen werden also aufgrund einer gleichsam gesetzlichen Vereinbarung getroffen, die für die Dauer der Aufführung allgemeine Gültigkeit besitzt und in die, wie in Yvonne Rainers Choreographie Trio A aus dem Jahr 1966, jeder, auch nicht ausgebildete Tänzer, eintreten kann - vorausgesetzt, er oder sie hält sich an die Spielregeln. 6. Human Writes als choreographisches Grund-Gesetz William Forsythe hat im Laufe seiner mittlerweile dreißigjährigen Tätigkeit als Choreograph alle hier beschriebenen Möglichkeiten der Verhandlung mit dem choreographischen Gesetz erprobt. Stand in den achtziger Jahren in vielen seiner Arbeiten für das Ballett Frankfurt (Artifact, 1984), für das Pariser Opernballett (In the Middle, Somewhat Elevated, 1987) oder für das New York City Ballet (Behind the China Dogs, 1988) der Code des neo-klassischen Balletts im Vordergrund, so wurde diese Sprache nie einfach nur nachbuchstabiert. So waren etwa die Gliedmaßen der Tänzer und Tänzerinnen in den beiden Pas de deux aus dem zweiten Akt von Artifact derart von der Körpermitte an die Peripherie dirigiert, dass in der Überdehnung der Gelenke plötzlich andere Übergänge zwischen den Figuren möglich wurden, bis sich die gehaltenen Posen selbst im Fluss der Bewegung aufzulösen begannen. Festgefügte Verknüpfungen zwischen den Schritten wurden umgestellt oder gar weggelassen, was zu anderen, bislang unbeachteten Möglichkeiten der Bewegung führte. 44 Bereits hier kann man von einer Distanz zum Gesetz sprechen, die dadurch hergestellt wird, dass die Tänzer 88 Gerald Siegmund es aufnehmen, um durch es hindurch zu gehen. Der Abstand zwischen der Choreographie als Vorschrift und der individuellen Ausführung durch die Tänzer vergrößerte sich in den neunziger Jahren in Stücken wie AlieN/ A(c)Tion (1992/ 93), Self Meant to Govern (1994) und Eidos: Telos (1995). Durch choreographische Verfahren und Methoden, die anderen Orts schon ausführlich beschrieben worden sind, 45 entstanden für die jeweiligen Stücke Grundstrukturen, die als Gerüste funktionierten, innerhalb derer die Tänzer und Tänzerinnen eigenständig entscheiden konnten, wie und mit welchem Bewegungsmaterial sie eine bestimmte Wegstrecke oder Zeitklammer füllten. Dadurch entsteht ein Zusammenspiel, das idealerweise bei jeder Aufführung anders aussieht, weil andere Entscheidungen getroffen worden sind. Die Entscheidungen der Tänzer in bestimmten Situationen für oder gegen bestimmte Ausführungsmodi verändern rückwirkend wiederum das Gesamtgefüge der Choreographie. In all diesen Arbeiten aber ist der Bezug zur Choreographie, an der jeder Tänzer aktiv mit gestaltet, Voraussetzung und Fluchtpunkt für das performative Handeln der Einzelnen. Forsythes Choreographien werden so, wie er selbst einmal in einem Interview sagte, zu “channels for the desire to dance”. 46 Damit ist das Grundproblem im Hinblick auf die Fragestellung nach Gesetz, Recht und Choreographie schon formuliert. Denn wie kann ein allgemeines Gesetz, ohne selbst zur diktatorischen Vorschrift zu werden, auf der einen Seite auf den Einzelfall angewendet werden, ohne etwa kulturelle Unterschiede zu nivellieren, und ohne sich auf der anderen Seite im Unverbindlichen aufzulösen, weil es jeden Einzelfall individuell regeln muss? Wie kann das Einzelne, Individuelle im Allgemeinen ‘sein’ Recht finden, ohne ‘sich’ als solches zu verlieren? Wie kann der unverrechenbare einzelne Körper, von dem Gabriele Brandstetter spricht, im Gesellschaftskörper aufgehen, ohne unterzugehen? Wie kann das “nackte Leben” Agambens als eingeschlossener Ausschluss seinen Abstand zum gesellschaftlichen Körper wiedergewinnen? Wie kann es seine Verhakung im Symbolischen, das letztlich der umfassenden real gewordenen Biopolitik zum Opfer fallen muss, wieder erlangen, ohne die es mit dem Objekt zusammen fiele, das prinzipiell auslöschbar ist? Forsythes Human Writes ist in gewisser Hinsicht eine Fortsetzung des Verhältnisses des einzelnen Tänzers zur Choreographie als Vorschrift, die er in allen seinen Stücken bearbeitet hat. Radikalisiert wird dieses Verhältnis durch Zweierlei. Zum einen geht es hier nicht mehr nur um Choreographie als strukturelles Korrelat zum juristischen Gesetz. Vielmehr wird die Sphäre des Rechts direkt in Form der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als sprachlicher formulierter und niedergeschriebener Grundlagentext für eine Choreographie in das Projekt und die Performancesituation einbezogen. Zum anderen müssen sich hier nicht mehr nur die Tänzer und Tanzstudierenden mit dieser Vorschrift auseinandersetzen, sondern auch das Publikum, das nach Ansage von klaren Vorgaben zusammen mit den Tänzern an der Bergung des Gesetzes arbeiten kann. Dass man dabei noch viel weniger von einer Verkörperung des Gesetzes als bei anderen Arbeiten Forsythes sprechen kann, ist aus meinen Ausführungen zu Beginn dieses Textes mehr als deutlich geworden. Die Ent-Setzung des Körpers, das Ent-Körpern der Choreographie, die als abstrakte Schrift auf den Tischen erscheint, auf die hin sich die körperlichen Aktivitäten der Tänzer und der Teilnehmer jedoch stets richten, eröffnet einen Zwischenraum, der die Fiktion der Einheit von Körper und Gesetz durchstreicht. Man könnte Human Writes daher auch als choreographische und tänzerische Grundsituation beschreiben, die die Anrufung des Körpers durch das Gesetz performativ in Szene setzt. In der Zürcher Schiffbauhalle, im Festspiel- Recht als Dis-Tanz 89 haus Dresden-Hellerau und im Bockenheimer Depot in Frankfurt/ Main werden wir vor die Buchstaben des Gesetzes zitiert, eines Gesetzes, das den Körper braucht und voraussetzt, weil es zu einem Schutz ausgerufen wurde, und ihn gleichzeitig aber, kommt man ihm zu nahe, in eine leblose Marionette zu verwandeln droht. Wir erhalten Achtung vor dem Gesetz im doppelten Sinn des Wortes als Warnung und als Verehrung. In den zahlreichen kleinen Aktionen, die sich auf, unter, neben oder zwischen den Tischen entspinnen, wird das Gesetz geborgen. Alle Versuche zielen letztlich darauf, die Erklärung der Menschenrechte zur Erscheinung zu bringen, ihnen buchstäblich wieder zu einer Vorstellung zu verhelfen und nicht zu einem substantiellen (biopolitischen) Sein, ihrer Idee wieder einen Bezug zum Körper und damit Wirkkraft zu geben, ohne die Lükke zwischen Buchstabe und Körper zu schließen. Vielleicht erscheinen die Wörter und Formulierungen des Gesetzestextes auf den Tischen deshalb immer nur bruchstückhaft. Selbst ganze Sätze aus der Erklärung sind oft um einzelne Wörter gekürzt. Das Ganze, um das es doch schließlich geht, gerät so nie wirklich in den Blick, hebt sich nie als Geschlossenes ins Bild. Selbst der Performanceraum als solcher, den man mit einem Daraufblick (der aber nicht möglich ist, sind wir doch immer irgendwie mitten darin) immerhin als Bild der Situation der Menschenrechte beschreiben könnte, bearbeitet an keinem der drei Aufführungsorte den gesamten Text der Erklärung, der lediglich als winziger Fluchtpunkt dem Geschehen entrückt am Eingang aufgehängt wird. Er bleibt Vorstellung. Durch die Lückenhaftigkeit ausgelöst, eröffnen sich den einzelnen Teilnehmern oder Gruppen an den Tischen aber Möglichkeiten des Verhaltens dem Text und anderen Menschen gegenüber. Haltungen werden gesucht und eingenommen, verworfen und verändert. Positionen werden definiert, die sich als nicht haltbar erweisen, die physisch unrealisierbar sind, die erschöpfen und zu anderen Strategien führen. Es sind in der Tat buchstäbliche Haltungen, die die Körper einnehmen: von den Buchstaben des Gesetzes infizierte Haltungen, die unsere Körper mit dem Gesetz verhaken, ohne dass wir in ihm aufgingen. Die Rückbindung des Körpers an die Schrift macht auch die mehr oder weniger spontanen Bewegungen der Teilnehmer zu einer Choreographie. Sie stellt sich her im Umgang mit der Schrift und kümmert sich weder um Aussehen und Perfektion der Agierenden noch um Gelingen oder Scheitern ihrer Strategien. Wenn ich von Haltungen gesprochen habe, die eingeübt werden, betont das den Unterschied zum Bild. Es geht nicht darum, sich ein Bild von einer wie auch immer gearteten Realität der Menschenrechte zu machen, es von der Erfahrung der eigenen oft schwierigen Haltung abzuziehen und gerahmt zu verschließen. Human Writes ist in diesem Sinn vollkommen unästhetisch. Solche Bilder behaupteten nur wiederum eine Realität, die, wenn denn in der komplexen aktuellen gesellschaftlichen Gemengelage genau das Realwerden von Bildern zum Problem wird, unseren individuellen Zugang zur Realität gerade verstellen, anstatt ihn zu öffnen. Solche Bilder kommen in Human Writes nicht vor. Dafür gibt es andere Bilder, Bilder, die die Spuren unserer Auseinandersetzung mit und vor dem Gesetz tragen - und nichts als die Spuren unserer sich widersprechenden Haltungen. Auf den Tischen entstehen durch die Aktionen mit den Kohlestiften palimpsestartige Übermalungen des Gesetzestextes, der mitunter ganz unter den Spuren vergangener kollektiver Aktionen verschwindet und unleserlich wird. Es sind gestische Einschreibungen in das Gesetz, Spuren unserer Körpers (und nicht sein Abbild), der sich in Bewegung auf das Gesetzt hinspannt, aber nicht mit ihm zusammenfällt. 90 Gerald Siegmund 7. Die Tragkraft der Geste Der Begriff der Geste, der hier auftaucht, erfreut sich im kritischen Diskurs seit geraumer Zeit größter Beliebtheit und ist bereits verschiedentlich auf zeitgenössische Choreographien und auch auf Forsythes Human Writes angewandt worden. 47 So kann man bei der Performance-Installation zunächst von einer Choreographie der Gesten sprechen, die dann einsetzt, wenn die Choreographie als Vorschrift entartikuliert, dekomponiert oder defiguriert wird. Es ist erneut Giorgio Agamben, dessen Definition der Geste als “Mittel ohne Zweck” im Diskurs vorherrschend geworden ist, der für diese Theorie der Geste Pate stand. Die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit [medialità], das Sichtbarmachen eines Mittels [mezzo] als solchem. Sie lässt das In-einem- Medium-Sein [l’essere-in-un-medio] des Menschen erscheinen und öffnet ihm auf diese Weise die ethische Dimension. 48 Agamben meint damit im Kontext seines Essays zunächst keineswegs die künstlerische Geste, sondern die gesellschaftliche Geste des Bürgers, der im ausgehenden 19. Jahrhundert seine Gesten verliert, was sich an zahlreichen Krankheitsbildern wie dem Tourette-Syndrom ablesen lässt. Die Gesten können nicht mehr zur Handlung oder zum Akt übergehen; sie teilen sich vielmehr als ihrem Zweck enthobene, mithin als zwecklose, selbstreferentielle Gesten mit. Agamben überträgt diese Feststellung in einem zweiten Schritt auf die Kunst, wo die Geste zunächst nichts anderes bedeutet als die Selbstreferentialität der Mittel. Die durch Dekontextualisierung entstehende Freisetzung der Mittel, der Bewegungen, der Körper, der Stimmen und der Zeichen sind in der modernen Kunst (denn darum geht es Agamben letztlich) Voraussetzung dafür, dass wir sie in ihrer Potenzialität anders und anderes an ihnen und durch sie wahrnehmen können. Kunst ist im Sinne einer Konsequenzverminderung ihrer Akte seit Kant, einer der Gewährsmänner Agambens, stets zweckfrei. Seine Beschreibung der Geste im Hinblick auf den Tanz erinnert dann auch stark an Mallarmé, Agambens zweiten Bezugspunkt für die Geste im Text, und dessen modernistische Bestimmung des Tanzes als reiner körperloser Bewegung. Die Geste im Tanz ist die “Austragung und Darbietung des medialen Charakters der Körperbewegungen” als solcher. 49 Banal genug, denn das gilt spätestens seit Mallarmés Begeisterung für Loïe Fuller für ausnahmslos jede Form des modernen Kunsttanzes. Das Erstaunliche dabei ist, dass von Seiten der Kritik gerne auf Agambens Gestenbegriff, der in dieser Lesart letztlich ein alter Gemeinplatz ist, zurückgegriffen wird, um ausgerechnet jene zeitgenössischen Phänomene zu beschreiben, die gerade nicht länger im selbstreferentiellen Modus der modernen autonomen Kunst verharren wollen, sondern die qua performativer Kraft handeln, herstellen und in gesellschaftliche Diskurse eingreifen wollen. Ihre Gesten sollen Handlungsspielräume eröffnen. Die Frage nach der Geste muss also mit Agamben anders gestellt werden. Die Choreographie von Human Writes ist nicht etwa deshalb ‘gestisch’, weil darin die Handlung suspendiert und der Sinn in der Schwebe gehalten wird, um in der permanenten Unterbrechung der Gesten der Teilnehmer die Gewalt und die “Unmenschlichkeit der Unterwerfung des Körpers unter den Signifikanten” zu artikulieren. 50 Im Gegenteil. Ohne Unterwerfung unter den Signifikanten gäbe es keinen Körper. In Human Writes mache ich nichts anderes, als im Hinblick auf das Gesetz zu handeln, und erhalte dadurch einen, meinen signifikanten Körper. Wenn Agambens Begriff der Geste hier einen Sinn haben soll, so deshalb, weil die Geste “das Inder-Sprache-Sein des Menschen als reine Mitteilbarkeit” 51 zum Vorschein bringt. Das “In-einem-Medium-Sein” 52 des Menschen Recht als Dis-Tanz 91 heißt nichts anderes, als dass wir immer schon Dazwischen sind. Als Menschen sind wir intermediale Wesen, deren Menschsein sich zwischen sprachlichem Gesetz, Körper und Bild ereignet. 53 Die Ethik der Geste rührt also daher, dass wir immer auf ein Anderes, Allgemeines (die Sprache) bezogen sind, dessen Korrelat in Human Writes die Choreographie als Schrift ist, innerhalb deren Ordnung wir die Spur unserer Verortung aufnehmen müssen. Auf der Suche nach Positionen, die man hier im tänzerisch-choreographischen Sinn durchaus wörtlich verstehen kann, im Rahmen des Gesetzes öffnet und trägt die Geste unseren Körper auf den Anderen zu. Human Writes stellt ein Modell bereit, mit unseren hilflosen und inadäquaten Gesten die Spur des Anderen aufzunehmen, und dies immer wieder zu tun zu müssen, um die totalitäre Erfüllung und Verkörperung des Gesetzes, die sein und unser Ende wäre, zu verhindern. Hier erhält Forsythes Vorgabe der “Unmöglichkeit”, die Aufgabe, die alle erfüllen müssen, um an der Arbeit am Gesetz teilnehmen zu können, noch einmal eine andere Bedeutung. Nicht um ein Scheitern der Menschrechte geht es hier. 54 Denn gerade der indirekte Bezug zum Gesetz, die Unmöglichkeit es direkt auszuführen und zu seiner Marionette zu werden, ist die Möglichkeitsbedingung unseres Handelns und damit unseres Zugangs zu ihm und der Welt. Human Writes fordert unseren kreativen und produktiven Umgang mit dem Gesetz, wobei Umgang hier immer auch wörtlich als Umgehen, als Vermeiden und als Einkreisen zu verstehen ist. Wir gehen um die Tische herum, schauen neugierig oder abwartend zu, weichen vielleicht einzelnen Aufforderung der Tänzer aus und nähern uns doch stets anderen Aspekten des Gesetzes am nächsten Tisch. In dieser Zone des Unbestimmten, die doch den Anspruch des Gesetzes an uns aufrecht erhält, entstehen Situationen, in denen der Bezug des Individuellen, Besonderen zum Allgemeinen möglich, vorstellbar und gemeinsam praktiziert wird. Der Erfahrungsraum, in dem der individuelle Körper involviert ist, und der Vorstellungsraum, der auf ein Abstraktes, Allgemeines zielt, das uns alle einschließt, überlagern sich. In dieser bestimmten Unbestimmtheit ereignen sich die ethische Dimension unseres Menschseins und das Gesetz gleichermaßen. Radikal subjektiviert wenden wir uns von den Gesetzestafeln auf den Tischen ab. Mit dem Rücken zum Gesetz zielen wir mit unseren Kohlestiften oft vorbei und treffen doch ins Schwarze. Anmerkungen 1 Die erste Aufführungsserie von Human Writes fand vom 23. bis 27. Oktober 2005 in der Zürcher Schiffbauhalle 1 statt. Die Performance- Installation wurde dann zur Eröffnung des Festspielhauses Hellerau vom 8. bis 10. und vom 13. bis 25. September 2006 in Dresden wiederaufgenommen. Eine weitere Aufführungsserie fand vom 14. bis 18. November 2006 im Bockenheimer Depot in Frankfurt am Main statt. Ich habe je eine Vorstellung in Zürich und Frankfurt besucht. 2 William Forsythe, Kendall Thomas, Programmblatt zur Performance-Installation Human Writes. 3 Gabriele Brandstetter, “Un/ Sichtbarkeit. Medialität und Medien-Performanz im zeitgenössischen Theater und Tanz”, Eröffnungsvortrag gehalten am 12. Oktober 2006 auf dem 8. Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, Theater & Medien, an der Universität Erlangen. 4 Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt/ M. 2002, S. 132. 5 Agamben, Homo Sacer, S. 132, Fußnote 1. 6 Agamben, Homo Sacer, S. 132. 7 Agamben, Homo Sacer, S. 133. 8 Agamben sieht sie in Ausweitung von Foucaults Konzept der Gouvernementalität als Grundlage der Biopolitik moderner Staaten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das “nackte” Leben zu verwalten. 92 Gerald Siegmund 9 Agamben, Homo Sacer, S. 137. 10 Agamben, Homo Sacer, S. 140. 11 Agambens Homo Sacer liegt die gleiche Denkfigur zugrunde, die der Autor 1977 in seiner literaturwissenschaftlichen Studie über das Phantasma des Wortes in der abendländischen Kultur ausgebreitet hat. Das Wort in seiner doppelten Funktion als Repräsentant des abwesenden, in einer Kammer weggeschlossenen Objekts und als phantasmatischer Genuss dieses Objekts übernimmt darin die gleiche Funktion wie das gespaltene Gesetz; vgl. Giorgio Agamben, Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur, Freiburg, Berlin 2005. 12 Was Agamben mit dem permanent gewordenen Ausnahmezustand beschreibt, kann in der Begrifflichkeit Lacans auch als das Verschwinden der symbolischen Instanz gelesen werden, die als Anderes, als allgemeines und daher ethisches Korrektiv der Biopolitik moderner Staaten fungieren könnte. Die geschlossene, weil absolut gesetzte und deshalb imaginäre Vorstellung der Erhaltung des Lebens, die das Leben verwaltet, wird direkt mit dem Realen (dem nackten Leben) kurzgeschlossen und gewinnt dadurch totalitären Charakter. Was Agamben auf der gesellschaftspolitischen Ebene beschreibt, findet daher sein Korrelat in den Medieninszenierungen und anderen gesellschaftlichen Praktiken, die das Register des Imaginären mit dem des Realen kurzschließen. Das Ergebnis, das wir alle tagtäglich beobachten können, sind unter anderem die Verkörperungen eines phantasmatischen Schönheitsideals. 13 Agamben, Homo Sacer, S. 133. 14 Agamben, Homo Sacer, S. 132. 15 Duden. Das Fremdwörterbuch, Mannheim, Wien, Zürich 5 1990, S. 146. 16 Vgl. dazu auch Gabriele Brandstetter, “Still/ Motion - Zur Postmoderne im Tanztheater”, in: Gabriele Brandstetter, Bild- Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin 2005, S. 55-72, hier S. 64. 17 André Lepecki, Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement, New York, London 2006, S. 25-29. 18 Thoinot Arbeau, Orchésographie, Réimpression précédée d’une Notice sure les Danses du XVIe siècle par Laure Fonta, Bibliotheca Musica Bononiensis, Nachdruck der Ausgabe Paris 1888, Bologna 1981. 19 Thoinot Arbeau (geb. 1519), ein Anagram für Jehan Tabourot, war Domherr in Lengres. 20 Arbeau, Orchésographie, S. 5 linke Seite. 21 Arbeau, Orchésographie, S. 5 rechte Seite. 22 Arbeau, Orchésographie, S. 5 linke Seite. 23 Lepecki betont hier das homosoziale Band zwischen den Männern, die sich gleichsam solipsistisch in ihren Zimmern einschließen, um mit einem melancholischen Gestus das Abwesende gespenstisch wieder aufleben zu lassen. 24 Lepecki, Exhausting Dance, S. 26. 25 Lepecki, Exhausting Dance, S. 26. 26 Arbeau, Orchésographie, S. 5 linke Seite. 27 Arbeau, Orchésographie, S. 3 linke Seite. 28 Arbeau, Orchésographie, S. 6 rechte Seite. 29 Arbeau, Orchésographie, S. 3 linke Seite. 30 Arbeau, Orchésographie, S. 5 linke Seite (meine Hervorhebung). 31 Jean-Noel Laurenti, “Feuillet’s Thinking”, in: Laurence Louppe (Ed.), Traces of Dance, Paris 1994, S. 81-108, hier S. 86. 32 Agamben, Homo sacer, S. 136. 33 Vgl. dazu exemplarisch Erika Fischer- Lichte, “Einleitende Thesen zum Aufführungsbegriff”, in: Erika Fischer-Lichte / Clemens Risi / Jens Roselt (Hg.), Kunst der Aufführung - Aufführung der Kunst, Berlin 2004, S. 11-26. 34 Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt, Frankfurt/ M. 2000. 35 Die anfängliche Affinität zahlreicher deutscher Ausdruckstänzer und -tänzerinnen zum Nationalsozialismus läge, will man Agambens Argumentation an diesem Punkt aufgreifen, in der gemeinsamen Biopolitik einer “Verwaltung des Lebens”. 36 Heinrich von Kleist, “Über das Marionettentheater”, in: Heinrich von Kleist, Werke und Briefe in vier Bänden. Band III: Erzählungen. Gedicht, Anekdoten, Schriften, Frankfurt/ M. 1986, S. 473-480, hier S. 477. 37 Kleist, “Marionettentheater”, S. 475. 38 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/ M. 1986, S. 260; das Zitat entspringt Hegels Diskussion der Physiognomik und der Schädellehre. Recht als Dis-Tanz 93 39 Slavoj Žižek, Die Nacht der Welt. Psychoanalyse und deutscher Idealismus, Frankfurt/ M. 1998, S. 103. 40 Žižek, Die Nacht der Welt, S. 114. 41 Yvonne Rainer, “The Mind is a Muscle”, in: Yvonne Rainer, A Woman Who …, Baltimore 1999, S. 32-33. 42 Roger Copeland, “The Neo-Classical Task”, in: New Performance, Hg. Michael O’Connor, 2 (1981), S. 50-58. 43 William Forsythe, Kendall Thomas, Programmblatt zur Performance-Installation Human Writes. 44 Gabriele Brandstetter hat dafür den Begriff “Defigurative Choreographie” geprägt; Gabriele Brandstetter, “Defigurative Choreographie. Von Duchamps zu William Forsythe”, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 1997, S. 598-623. 45 Gerald Siegmund (Hg.), William Forsythe - Denken in Bewegung, Berlin 2004. 46 Roslyn Sulcas, “William Forsythe: Channels for the Desire to Dance”, in: Dance Magazine 69 (1995), S. 52-59. 47 Vgl. dazu Patrick Primavesi, “Was schreibt die Geste? ”, in: Ballettanz 1 (2007), S. 54-57. 48 Giorgio Agamben, “Noten zur Geste”, in: Giorgio Agamben, Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg, Berlin 2001, S. 53-62, hier S. 60. 49 Agamben, “Noten zur Geste”, S. 60. 50 Ich nehme hier die Gegenposition zu Patrick Primavesi ein, der die Unterbrechung der Handlung als gestisches Moment in Human Writes stark macht, Primavesi, “Geste”, S. 54. 51 Agamben, “Noten zur Geste”, S. 61. 52 Agamben, “Noten zur Geste”, S. 60. 53 Diese Feststellung hat auch Auswirkungen auf die Vorstellung von Theater als Medium oder vom Theater als intermedialer Kunstform. 54 Vgl. Primavesi, Human Writes mache das “alltägliche Scheitern der Menschrechte körperlich erfahrbar”, “Geste”, S. 57. D E G R U Y T E R *for orders placed in North America Preisänderung vorbehalten. Preise inkl. MwSt. zzgl. Versandkosten. Die sFr-Preise verstehen sich als unverbindliche Preisempfehlungen. Transformationen des Religiösen Performativität und Textualität im geistlichen Spiel Herausgegeben von Ingrid Kasten und Erika Fischer-Lichte 2007. XXII, 287 Seiten. 24 Abb. Gebunden. € 98,- [D] / sFr 157,- / *US$ 132.30 ISBN 978-3-11-019340-4 (Trends in Medieval Philology 11) Die geistlichen Spiele, die in vielen europäischen Kulturen des Mittelalters bis in die Moderne nachweisbar sind, stehen in engem Zusammenhang mit Frömmigkeitspraktiken und beziehen ihre Sujets aus dem Kult, aus der Bibel und Legenden. Die Beiträge dieses interdisziplinären Sammelbandes nehmen geistliche Spiele als „cultural performances“ und Teil einer multimedialen Frömmigkeitspraxis in den Blick. Sie fragen nach ihrer Stellung in der mittelalterlichen Alltags- und Festkultur, nach der Relation von Geistlichem und Weltlichem und nach der Inszenierung von kulturellen Ordnungsmodellen in den Spielen. Spektakuläre Experimente Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert Herausgegeben von Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig 2006. XXXVIII, 567 Seiten. 30 Abb. Gebunden. € 128,- [D] / sFr 205,- / *US$ 172.80 ISBN 978-3-11-019300-8 (Theatrum Scientiarum 3) Dieser Band ist der dritte der auf insgesamt acht Bände angelegten Reihe Theatrum Scientiarum, die die Konstituierungsphase neuzeitlicher Kunst und Wissenschaft aus einem neuen Blickwinkel untersucht. Im Mittelpunkt steht die Frage, auf welche Weise Experimente und ihre Durchführung dazu beigetragen haben, die kulturelle Landschaft seit der Frühen Neuzeit grundlegend zu verändern. Die Beiträge zeigen auf, dass dem poetologischen Diskurs und der barocken Inszenierungspraxis für die Hervorbringung und soziale Durchsetzung von experimentellem Wissen im 17. Jahrhundert entscheidende Bedeutung zukommt. Walter de Gruyter Rezensionen M.A. Katritzky: The Art of Commedia: A Study in the Commedia dell’Arte 1560-1620 with Special Reference to the Visual Records. Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. Amsterdam: Rodopi, 2006. 626 Seiten Aus der frühen Phase der Commedia dell’Arte (CdA) von 1560-1620 - als sich die professionellen Organisationsformen konsolidierten und die Masken und Typen sich auf der Bühne etablierten und allmählich internationale Beachtung fanden - wurden inzwischen zahlreiche bildliche Zeugnisse aus den Bereichen Druckgrafik, Stiche, Gemälde, Plastik, groteske Ornamentik, Schmuck und Glasmalerei bekannt. Mit The Art of Commedia führt die Autorin die Resultate ihrer 20jährigen Forschungsarbeit auf dem Gebiet zusammen und liefert - unter Berücksichtigung der einschlägigen internationalen Publikationen bis ins Jahr 2005 - eine Übersicht über Material, das in Museen und privaten Sammlungen in ganz Europa verteilt ist. Ihr theaterikonographischer Zugang bewegt sich in einem relativ neuen Teilgebiet der Theaterwissenschaft, der sich mit der Identifikation, Auswertung und Interpretation von theaterhistorischem Bildmaterial an der Grenze zur Kunstgeschichte bewegt. Das Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil widmet sich einer historischen Übersicht, der zweite Teil klassifiziert eine Reihe von repräsentativen Darstellungen nach kunsthistorischer Methode und der dritte Teil untersucht die besprochenen Darstellungen nach theaterrelevantem Inhalt. Die Edition ergänzt dabei Angelika Leiks Frühe Darstellungen der Commedia dell’Arte. Eine Theaterform als Bildmotiv (1996) mit weiterem, auch neu entdecktem, Material. Wo Leiks kunsthistorischer Zugang in gewissen Sujets jeweils eher eine künstlerische Übernahme von Motiven sah, versucht Katritzky einen Bezug zur Bühnenpraxis herzustellen. Das Werk wird von zwei Grundthesen durchzogen: - Einsichtig dokumentiert wird die Koexistenz und Wechselbeziehung von ciarlatani, buffoni, professionellen comici und eruditi im weiten Spektrum der italienischen Renaissancekultur des 16. Jahrhunderts. Besondere Beachtung findet das Spannungsfeld zwischen den volkstümlichen Karnevalsfeiern, den höfisch-akademischen Amüsements und den Aktivitäten professioneller comici im Spagat zwischen internationalem Erfolg und lokalem Verbot. In diesem Dreieck wird die Verwendung der Zanni- und Magnifico-Masken untersucht. - Katritzky - man kennt die vielen Stammbuch- Darstellungen von comici und ciarlatani, die sie der Forschung zugänglich gemacht hat - stellt fest, dass Darstellungen und Beschreibungen aus der frühen Phase der Commedia die typischen Masken nicht auf festen Bühnenkonstruktionen, sondern viel mehr im Zusammenhang mit Karnevalsfeiern, höfischen Festen und eben in der Zusammenarbeit mit ciarlatani dokumentieren. Das Zanni-Pantalone Paar nennt sie die älteste Einheit der CdA-Dramaturgie. Der Fokussierung älterer Publikationen auf das Zanni-Pantalone-Paar setzt Katritzky aber das Trio Zanni-Pantalone-Innamorata entgegen - wobei ab den 1560er die weiblichen Rollen tatsächlich auch von Frauen übernommen wurden. Diese Tatsache, die zu einem regelrechten Starkult um die Darstellerinnen der CdA führte, soll einen wesentlichen Beitrag zum Ruhm und der Verbreitung der professionellen Truppen in Europa beigetragen haben. Im besagten Trio sieht Katritzky den wesentlichen Kern der CdA-Dramaturgie. Zum 1. Teil des Buches: Um einerseits den Karneval als Motor für die Verbreitung der Magnifico und Zanni-Masken in Italien und über die Alpen hinweg nach Norden zu dokumentieren und andererseits die Koexistenz der Masken in der Volkskultur und bei professionellen Unterhaltern zu belegen, werden das Tagebuch (1499-1533) des Venezianers Marin Sanudo, Tomaso Garzonis Werk La piazza universale di tutte le professioni del mondo und das Reisetagebuch von Prinz Ferdinand von Bayern nach theaterrelevanten Reflexen Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 95-96. Gunter Narr Verlag Tübingen 96 Rezensionen unter die Lupe genommen. Ferdinand ist der jüngere Bruder von jenem Wilhelm von Bayern, der die CdA-Darstellungen von Schloss Trausnitz in Auftrag gab und er bereiste in den 1560er Jahren die Höfe Norditaliens. In seinen Berichten findet die Autorin theaterhistoriografische Zeugnisse für die Theatralität dieser Zeit und macht Vorbildmomente für die Münchner Hochzeitfeier von 1568 aus, in deren Umfeld die erste dokumentierte improvisierte Aufführung der CdA entstand. Im 2. Teil des Buches werden u.a. neue Funde in die bestehende Bilderlandschaft eingebettet, Motivketten und Vorläufer aufgespürt, sowie Ausbreitung und Wirkung von Sujets untersucht. Katritzky kontextualisiert nach kunsthistorischer Manier die besprochenen Werke und nimmt eine Reihe von Neudatierungen und -zuschreibungen vor. Dabei bewegt sie sich wie viele vor ihr - es liegt in der Natur der Sache - zuweilen auf hypothetischem Terrain. Da detaillierte Beschreibungen von der Aufführungspraxis professioneller italienischer Truppen vor 1600 fehlen, ist man für Informationen zu Bühne und Bühnenbild weitgehend auf die bildnerischen Darstellungen angewiesen. So bespricht Katritzky im 3. Teil ihrer Arbeit anhand von Darstellungen verschiedene Kategorien von Bühnenformen. Weiter wird den zentralen Bühnen-Figuren ein kurzes Kapitel gewidmet, das präzise Informationen zu Kostüm, erster Nennung des Bühnennamens und den dahinter stehenden comici liefert. Eine Übersicht über die wichtigsten Bilderfolgen, die Vorlagen für viele der später auftauchenden Varianten dienten, rundet das Werk ab. Mit der Fülle an Informationen, den 340 s/ w Abbildungen, der 40-seitigen Bibliografie und dem 47-seitigen Index bietet die Edition wie kein anderes Buch eine Übersicht über das wesentliche ikonographische Material der CdA. Der Laie auf dem Gebiet erhält einen soliden Einstieg in die historischen Quellen und in die Ikonographie dieser Theaterform, der Forschende ein wertvolles Nachschlagewerk. Die Autorin bespricht die Quellenlage und die Zusammenhänge von Werken von Ambrogio Brambilla, Sebastian Vrancx, Jan Bruegel, Louis de Caulery, Marten de Vos, Mitglieder der Valckenborch und Francken Familien. Stiche von Jaques Callot und Werke aus dem Stockholmer Recueil Fossard werden genauso herangezogen wie eine Menge wenig bekannter oder bis dahin unbekannter Darstellungen aus dem weiten Spektrum der bildgewordenen Reflexion zur Commedia dell’Arte. Zürich S TEFANO M ENGARELLI Peter W. Marx: Max Reinhardt. Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur. Tübingen: A. Francke Verlag, 2006, 244 Seiten. Kaum eine andere Größe der europäischen Regie der ersten Dekaden des ausgehenden 20. Jahrhunderts ist so oft zum Gegenstand theaterwissenschaftlicher Auseinandersetzungen geworden wie Max Reinhardt. Die beeindruckende Fülle der Publikationen, die zu Lebzeiten Reinhardts entstanden ist, wurde befördert durch die enorme gesellschaftliche Ausstrahlung dieses einzigartigen Künstlers, dem es binnen weniger Jahren gelungen war, zu einem in ganz Europa gefeierten Theatermacher und Leiter eines Theaterimperiums zu avancieren, und sie stand ganz im Zeichen der Suche nach seinem Erfolgsgeheimnis. Der erst einige Jahre nach dem Tod Reinhardts gewonnene Abstand zu seinem Schaffen ermöglichte eine differenzierte Einschätzung seines Theaters und dessen Einordnung sowohl in den theatralen als auch in den gesellschaftlichen Kontext seiner Zeit. Nach knapp sechzig Jahren der ziemlich intensiven Beschäftigung mit dem Mythos Reinhardt scheinen heute sowohl seine Theaterunternehmen und alle seine Inszenierungen mehrfach und aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht als auch sein Privatleben in einzelnen Aspekten rekonstruiert zu sein. So wird jeder neue Versuch, einen analytischen Blick auf Reinhardts Leben zu werfen, schon allein deswegen zu einem spannenden Unterfangen, weil es immer komplizierter wird, neue Gesichtspunkte zu finden, unter denen Reinhardts Theaterarbeit analysiert werden könnte. Peter Marx, dem Autor der jüngsten Max- Reinhardt-Monographie, ist es gelungen, einen neuen Zugang zum Phänomen Reinhardt zu fin- Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 96-98. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 97 den, indem er seine Betrachtungen methodisch an die Definition der Theatergeschichte als “Analyse des Verhältnisses von Inszenierung und dem Theater als Produktions- und Rezeptionsort” (19) anknüpfte und Reinhardts Theater als “Reflex der es umgebenden Zeit und Gesellschaft” (12) zur Diskussion stellte. Die zentrale Blickrichtung der Studie, wie sie bereits in ihrem Untertitel thematisiert erscheint, bewegt sich vom “bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur”. Reinhardts Theaterkonzept wird dabei als Ausdruck der infolge der sozialen Veränderungen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen Bürgerlichkeit begriffen. “Das Theater Max Reinhardts kann als ein typisches Beispiel dieser Bürgerlichkeit angesehen werden”, lautet die Leitthese des Verfassers, “an die es sich gezielt anlehnte und für die es ausdrücklich Angebote und Räume eröffnen wollte. Es entfaltet sich vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von Bürgerlichkeit, es entwächst diesem aber gleichzeitig und wird Bestandteil einer internationalen, metropolitanen Kultur” (26). Im ersten Teil der Studie, “Theaterräume - Theaterentwürfe - Theaterformate”, wird der programmatische Pluralismus Reinhards Theaterkonzeptes am Beispiel dreier Theaterprojekte vor Augen geführt. Zuerst beschäftigt sich der Verfasser mit dem Kabarett Schall und Rauch (1901), an dessen Programm, Innenausstattung und äußerer Gestaltung sich künstlerische Bestrebungen und wirtschaftliche Ambitionen Reinhardts zu Beginn des 20. Jahrhunderts ablesen lassen. Ein Einblick in die Spielplangestaltung dieser Kleinkunstbühne und die darauffolgende Beschreibung ihrer räumlichen Verhältnisse und Atmosphäre macht ersichtlich, dass Schall und Rauch Reinhardt einen weiten Spielraum für Experimente mit verschiedenen ästhetischen Mitteln und Theaterformen eröffnete, deren Nebeneinander seinen späteren Inszenierungsstil auszeichnete. Zugleich orientierte sie sich in ihrer grundlegenden Intention, die u.a. im exquisiten Interieur und in der zentralen Lage zum Tragen kam, auf die “großbürgerliche Salonkultur” und ihre “Repräsentationsformen” (51f.) und war dadurch auch imstande, “einen Prozess der ‘Besiedelung’ der Stadt unter neuen Vorzeichen” (52) zu reflektieren. Die Kammerspiele des Deutschen Theaters, auf die Marx im nächsten Schritt eingeht, zeigten sich ebenfalls einerseits der “Idee eines Salontheaters um die Jahrhundertwende” [77] verhaftet. Reinhardt verstand es, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Exklusivität dieser Bühne zu betonen. Durch die hohen Eintrittspreise, Frackzwang und die entsprechende Innenausstattung der Räume machte er die Kammerspiele zu einer “Bühne für die bürgerliche Selbst- Darstellung, deren Habitus gezielt Eleganz und Stil großbürgerlicher Lebensführung evozierte” (75). Andererseits betrachtete er dieses Theater, wie Marx am Beispiel von zwei zukunftsweisenden Produktionen Reinhardts - Ein Sommernachtstraum (1905) und Gespenster (1906) - ausführt, als ein Experimentierort, an dem er, wie es bereits die Gespenster-Inszenierung beweist, “mit der herkömmlichen Inszenierungstradition” zu brechen suchte, indem er “sich nicht länger am Ideal einer möglichst getreuen, realistischen Darstellung” orientierte, sondern diese mit Hilfe der Bühnenbildentwürfe von Edvard Munch “vielmehr dem Konzept eines visuellen Gesamteindrucks unter[ordnete] “ (67). Das den ersten Teil abschließende Kapitel beschäftigt sich mit Reinhardts Arena-Aufführungen, in denen sich partiell Reinhardts Vision vom Theater der Fünftausend materialisiert findet und die eine weitere Entwicklungsphase des Theaterkonzeptes von Reinhardt markieren. Eine detaillierte Beschreibung der berühmten König Oedipus- Inszenierung im Zirkus Schumann macht deutlich, dass die Großrauminszenierungen, die “auf eine mehrtausendköpfige Zuschauerschar angelegt” (83) wurden, als ein “spiegelbildlicher Gegenentwurf” (90) zu den an die bürgerlichen Salons referierenden Konzepte des Kabaretts und der Kammerspiele gedacht waren. Sie wurden zu “ein[em] Reflex auf die Erfahrung der modernisierten Großstadt” (102) und sie sollten die Aufgabe erfüllen, der “das bürgerliche Theater […] nicht mehr gewachsen war”: die Masse “in eine Gestalt zu füllen” (117). Beschäftigen sich die Kapitel des ersten Teils der Studie mit Reinhardts ästhetischem Programm, so stehen im Blickfeld des zweiten Teils “der organisatorische Aufbau des ‘Theaterimperiums’ Reinhardt sowie seine Arbeitsweise” 98 Rezensionen (119). Im einleitenden Kapitel, “,Reinhardt goes global! ’ Tourneen, Gastspiele, Expansionen”, skizziert der Verfasser anhand einer detaillierten Beschreibung der 1911 in der Londoner Olympia Hall herausgebrachten Großrauminszenierung von The Miracle, mit der Reinhardt “aus dem deutschen Sprachraum auf das internationale Parkett” (135) trat, wie Reinhardts Theater sich “zu einer Kunstform entwickelte, die konsequent den Horizont nationaler, bürgerlicher Kunst überschritt” (119). Bemerkenswert ist das Kapitel, in dem Marx sich mit den wenigen Arbeiten Reinhardts für die Filmindustrie beschäftigt. In Anbetracht der weiten Bandbreite ästhetischer und technischer Mittel, zu denen Reinhardt in seinen Inszenierungen griff, kann man allerdings eine intensive Wendung des Regisseurs zum aufgehenden Medium Film vermuten. In der Tat aber ist es Reinhardt trotz einigen Versuchen nicht gelungen, im Kino an seine Theatererfolge anzuknüpfen. Von Reinhardts ‘Rendezvous’ mit dem Film ‘profitierte’ hauptsächlich der Film, der aus seinen Arbeiten starke Impulse bezogen hat. Der enorme Erfolg Reinhardts, auf den im Buch immer wieder hingewiesen wird, wirft die Frage nach den wirtschaftlichen Grundlagen seiner Unternehmungen sowie nach Strategien, deren Einsatz die Nivellierung der für die bürgerliche Gesellschaft charakteristischen Gegenüberstellung von Kunst und Ökonomie ermöglichte, auf, der im Band ebenfalls nachgespürt wird. Anschließend müssen auch die Schlusskapitel des Bandes, die das Theater von Max Reinhardt im Kontext und als Teil der deutsch-jüdischen Geschichte und “als historisches Lehrstück, das zentrale Züge der historischen Entwicklung offenbart” (211) diskutieren und die das Bild des Reinhardtschen Schaffens plastisch vollenden, erwähnt werden. Der Gesamteindruck, der nach der Lektüre entsteht: eine präzise, kenntnisreiche, klar strukturierte, elegant geschriebene und gut zu lesende Arbeit. Berlin S VETLANA J UKANITSCHEWA Martin Baumeister: Kriegstheater. Groß stadt, Front und Massenkultur 1914-1918. Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. Neue Folge. 18. Essen: Klartext Verlag, 2005; 320 Seiten. Die Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts ist in den letzten Jahren ein wenig stiefmütterlich behandelt worden. Zwar sind eine Reihe von wichtigen Einzelmonographien erschienen bzw. fanden einzelne Aspekte eine Würdigung, Arbeiten aber, die in größerem Maßstab darauf zielen, Theater (mit all seinen Formen und Schattierungen) in seiner Wirkung auf den kulturellen und sozialen Kontext zu beschreiben, haben nur wenige sich zur Aufgabe gemacht. Martin Baumeister wendet sich in seiner Studie Kriegstheater diesem Zusammenhang zu, wenn er das Verhältnis von Theater und theatralen Formen und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bzw. der ‘mentalen Aufrüstung’ im Vorfeld untersucht. Es ist nicht ohne Ironie, oder wenn man es ernster formulieren will, symbolische Bedeutung, dass ein solch wichtiger Anstoß, eine solche kreative Weiterung des historiographischen Blicks nicht von einem Theaterwissenschaftler, sondern von einem Historiker kommt. Verzichtet man allerdings auf disziplinären Lokalpatriotismus, kann man sich vor allem daran freuen, dass hier der so oft beschworene interdisziplinäre Blickwinkel eindrucksvoll sein Potenzial unter Beweis stellt. Theater, so der Ausgangspunkt von Baumeister, hatte entscheidenden Anteil an der Mobilisierung der Bevölkerung, die für einen Massenkrieg wie den Ersten Weltkrieg unverzichtbar war. So einleuchtend dies auf den ersten Blick sein mag, methodisch erfordert ein solcher Fokus einen beständigen Grenzwechsel zwischen der sog. Hoch- und Populärkultur. Dies aber ist nur möglich, wenn man seine Begriffe grundsätzlich hinterfragt: Populäre Kultur lässt sich dementsprechend weniger durch ästhetisch-moralische Kategorien bestimmen, wie sie ihre zeitgenössischen Gegner ins Feld führten und die noch bei wissenschaftlichen Diskussionen um die ‘Trivialliteratur’ und das ‘Trivialtheater’ im Vordergrund standen, sondern mehr durch ihren über den Markt vermittelten demokratischen Charakter. (16) Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 98-100. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 99 Baumeister entwirft eine kulturwissenschaftliche Historiographie, wie sie bislang in der deutschsprachigen Theater- und Literaturwissenschaft leider nur sehr selten zu finden ist, denn er definiert Theater nicht mehr über seinen Kunstcharakter, sondern als “Form von Öffentlichkeit, als Forum, in dem gesellschaftliches Engagement und Partizipation an den Kriegsanstrengungen zum Ausdruck kommt.” (19) Dieser weite Blickwinkel lässt das Kunsttheater als exklusiven Bezugspunkt hinter sich und so kann das konkrete Interesse am Ersten Weltkrieg zum Musterfall einer sich modernisierenden Gesellschaft werden. Die Mobilisierung der Bevölkerung für den Krieg stellt sich in diesem Blick als ein Extremfall einer grundsätzlichen kulturellen Verschiebung dar. Es ist vor dem Hintergrund dieser Anlage nur logisch, dass sich Baumeister in seiner Arbeit Künstlern, Ensembles und Phänomenen zuwendet, die in der traditionellen Geschichtsschreibung nur eine nachgeordnete Rolle spielen und allenfalls enzyklopädisch (oft als Beispiele schlechten Geschmacks) aufgeführt werden. Hierzu gehören etwa die zu Unrecht vergessenen Theaterleiter Meinhard & Bernauer oder der Couplet-Sänger Otto Reutter. Schließlich wertet Baumeister auch das sich in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität Köln (Schloss Wahn) befindliche Kriegstheaterarchiv aus, wobei es ihm gelingt, die Funktionsweisen und die innere Bedeutung von Theaterspielen für das Leben der Soldaten aufzuschlüsseln. Dass dies durchaus nicht nur von anekdotischer Bedeutung für die Theatergeschichte ist, kann man etwa am Engagement Erwin Piscators erkennen, der als Soldat während des Ersten Weltkriegs als Schauspieler tätig war. Man erahnt, wie sehr diese Erfahrungen sein Verständnis politischen Theaters in der Weimarer Republik prägten. Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil widmet sich dem Theater in Berlin von 1914 bis 1918. Hier stehen die Entwicklung des Spielplans sowie die Versuche, den Krieg im populären Unterhaltungstheater zu thematisieren im Vordergrund. Während der offizielle Diskurs sich darüber entzündete, ob und in welcher Form es angemessen sei, den Krieg auf dem Unterhaltungstheater zu präsentieren, erprobten die Akteure unterschiedliche Formen, wobei vor allem die Persistenz erfolgreicher Muster des Unterhaltungstheaters in Auge sticht. So organisierten sich viele der eilig geschriebenen Stücke um tableauartige Genrebilder, die das Geschehen zu einem verdichteten, symbolischen Ausdruck führten. Baumeister kann anhand dieser vermeintlich so traditionellen Muster auch zeigen, wie sich durch die Tableaux der Rahmen der Handlung für Zeitsprünge aufschloss, um zum einen den siegreichen Ausgang des Krieges zu imaginieren, zum anderen aber auch um historische Kontinuität zum Krieg 1870/ 71 herzustellen. So öffnete sich das populäre Theater dem Tagesgeschehen, um es in einem historischen Horizont einer übergreifenden Deutung zuzuführen: Der Krieg ist nicht das Neue, Unbekannte, Unerhörte, sondern Teil der nationalen Geschichte, bis in Geste und Pose wiederzuerkennendes Handlungsmuster, verbunden mit sofort abrufbaren Erwartungen und Bedeutungen, die ihn in ein festes Kontinuum zwischen Vergangenheit und Zukunft stellen. (120) Mit dem Fortdauern des Krieges und dem Verfliegen blinder Kriegseuphorie musste auch das Unterhaltungstheater seine Thematisierung des Krieges verändern. Baumeister diskutiert dies exemplarisch an Otto Reutters Heimatfronttheater und den Kriegspantomimen im Zirkus. Während Reutter als Couplet-Sänger sich bis heute einer gewissen Bekanntheit erfreut, sind seine Versuche als Theaterleiter fast unbekannt. Reutter, der 1914/ 15 das Palast-Theater am Zoo mit immerhin 2.400 Plätzen übernahm, verband Muster seiner Soloauftritte und Chansons mit einer eher locker gefügten Dramenhandlung. Durchgängig ist sein konservativer Deutungszugriff, der die Nöte der Zeit, die vor allem sein Zielpublikum, die Mittelschichten, subjektiv besonders hart trafen, als einigendes Band der nationalen Gemeinschaft verstand. Im Gegensatz zu diesen Formen der Thematisierung, die letztlich auf einer Fortführung oder Transformation bekannter Muster und Motive beruhte, bildeten die Zirkuspantomimen und Technik-Spektakel eine gänzlich eigenständige Form der Auseinandersetzung. Das verbindende Moment der Fabel oder die Identifikation mit einzelnen Figuren/ Schauspielern trat zugunsten der überwältigenden Wirkung szenischer Effekte 100 Rezensionen in den Hintergrund. Die Theaterbühne weitete sich für allerlei technische Hilfsmittel, wie Projektionen, verschiedenerlei Apparate und Massenszenen. Der Krieg wurde zum “farbenprächtigen Spektakel mit abenteuerlichen, ‘didaktischen’ und offen politischen Inhalten […], für welches das umfangreiche Bühnenpersonal, die gesamte verfügbare Menagerie und aufwendige Bühneneffekte eingesetzt wurden.” (180) Die Faszination der Technik bzw. eine Ästhetik der Zerstörung, die in keinem Verhältnis zu den Erlebnissen der Kriegsteilnehmer stand, verweisen auf eine innere Verwandtschaft zwischen dem Unterhaltungstheater und der Historischen Avantgarde - man denke nur an den italienischen Futurismus -, die man bislang vornehmlich metaphorisch gedeutet hatte. Mit seinen Ausführungen zeigt Baumeisters Studie einen Weg, der die weitere Forschung zur Avantgarde sehr bereichern könnte. Der zweite große Block der Arbeit fokussiert das Theater der Soldaten. Hier stellt Baumeister neben diversen Formen der “Truppenunterhaltung”, die durch Gastspiele professioneller Bühnenkünstler angeboten wurden, Theaterformen, die von den Soldaten selbst entwickelt wurden. Zu dieser Gruppe gehören verschiedene Komiker, wie Weiß Ferdl oder Willy Riedel, die mit deutlichem Lokalkolorit sich profilierten. Daneben treten Formen des Transvestismus, die erstaunlicherweise kaum Anstoß oder auch nur Aufmerksamkeit erregten. Baumeister deutet dies in dem Sinne, dass diese Darstellungen weniger als erotische Momente verstanden wurden, als dass sie vielmehr “eine ‘andere’ Welt ins Kriegsgebiet, d.h. auch ‘Normalität’, Heimat und Frieden”, (268) brachten. Dass Medien und Formen symbolischer Öffentlichkeit in Zeiten von Krieg und Bedrohung ihre Multiplikatorenfunktion in affirmativer Weise wahrnehmen und eine konstitutive Funktion der Stabilisierung erfüllen, ist aus der jüngsten Gegenwart mehr als präsent. Es gelingt Martin Baumeister aber in seiner materialreichen Studie die unterschiedlichen Ausprägungen und das Mäandern populärer Formen am historischen Beispiel aufschlussreich nachzuzeichnen. Dabei erhellt er, ohne den Blick auf seinen Gegenstand zu verlieren, auch Forschungsdesiderate der Theatergeschichtsschreibung, die doch in den letzten Jahren nur sehr wenig zur Kenntnis der Unterhaltungstheater beigetragen hat. So wird die Fallstudie der historischen Krisensituation auch zu einem wichtigen Werk zur Populärkultur, denn was Baumeister über den Zirkus, Künstler wie Otto Reutter, oder Intendanten wie Meinhard & Bernauer zu sagen hat, ist bislang tatsächlich unbekannt. So belegt Baumeister aber auch, dass es an einer Grundlage für einen wechselseitig befruchtenden Dialog zwischen Theater- und Geschichtswissenschaft nicht fehlt und dass er ausgesprochen viel versprechend ist. Man muss ihn nur führen wollen. Mainz P ETER W. M ARX Henrik Jungaberle, Jan Weinhold (Hgg.): Rituale in Bewegung. Rahmungs- und Reflexionsprozesse in Kulturen der Gegenwart. Performanzen: Interkulturelle Studien zu Ritual, Spiel und Theater - Performances: Intercultural Studies on Ritual, Play and Theatre, Bd 11. Berlin: LIT, 2006, 262 Seiten. Seit den Forschungen Gregory Batesons und Erving Goffmans kann menschliches Verhalten als eine Aufführung verstanden werden, welche innerhalb bestimmter Rahmen (frames) vorgeführt wird und zu beobachten ist. Die Frametheorie - so unterschiedlich ihre Entwicklungsgeschichte auch sein mag - führt seit Anbeginn also eine Theatermetapher mit sich, ganz explizit bei Goffman als Modulation von Modulationen beschrieben. In der Verwendung des Framekonzepts, besonders in der Untersuchung von rituellem Verhalten und ritueller Aufführungen, überlagern sich also soziologische und kulturpsychologische Ansätze mit theater- und performanceanalytischen Forschungen, so auch in dem von Henrik Jungaberle und Jan Weinhold herausgegebene Band Rituale in Bewegung. Der Band versammelt eine Reihe theoretischer und begrifflicher Überlegungen zum Frameansatz, Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 100-102. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 101 verknüpft mit Fallstudien aus heterogenen Bereichen, die einen “empirischen Bogen von Ritualen des Drogengebrauchs bis zur Veränderung dörflicher Ritualstrukturen im urbanen Migrationskontext von Aleviten, von der Frage, ob Technopartys als Rituale gefasst werden können bis zu feinen Details im Prozess freimaurerischer Ritualdurchführung” (9) reichen. Ansatzpunkt der Überlegung ist die Frametheorie, mit welcher der historische Wandel und die Dynamik von Ritualen theoretisch erfasst werden soll. Dynamik ist dabei sowohl als Veränderung von Traditionen gemeint. Mit Dynamik wird zugleich auch ein theoretischer Befund bezeichnet, welcher auf ein erweitertes Verständnis der Funktion und Wirksamkeit von Ritualen abzielt. In dem Maße nämlich, wie die Bedingungen und Grenzen der ‘rituellen Überzeugungskraft’ gerade in der westlichen Welt hinterfragt werden, wie “‘fremdkulturelle’ Rituale migrieren”, so Jungaberle und Weinhold in der Einführung, hängt die “Wirkung und Wirksamkeit von Ritualen von einer ‘Resonanz’ zwischen gelungenem performativem Geschehen mit den unbewussten und bewussten Dispositionen der Akteure ab”. (10) Anstelle einer Würdigung der einzelnen materialreichen und durchweg lesenswerten Beiträge, möchte ich zwei Fragestellungen erörtern, die charakteristisch für die Lektüre des Bandes sind. Sie betreffen zum einen den methodischen Ansatz der Beobachtung von Ritualen und Ritualerfahrung und damit verknüpft das theoretische Konzept der Performanz. In der Einleitung wird die Erforschung von Ritualen auf das Spannungsverhältnis von Kultur und Einzelnem hin perspektiviert: “Im Mittelpunkt der Beschreibung und des Verstehens ritueller Prozesse steht hier nicht mehr nur die den Einzelnen formende ‘Kultur’ (das Überindividuelle), sondern der kulturformende Einzelne” (8) Die Rückwirkung von einzelnen Akteuren auf Rituale sei dabei bei zu recht nicht mit dem “‘Individuum’ westlich-eurozentrischer Provenienz” (ebenda) zu verwechseln, nichts desto trotz müsse es gerade aus der Interessenlage der Kulturpsychologie um Begriffe des Erlebens und der Erfahrung von Ritualen gehen, die - so der Vorschlag - in Begriffen der “Personhood” (8) untersucht werden können. So spannend, wie dieser Hinweis auf die rituelle Erfahrung in methodischer Hinsicht ist, so widersprüchlich wird er in den folgenden Beiträgen aufgegriffen. Denn hier stehen unvereinbar Konzepte der empirischen Beobachtung (vgl. der Beitrag von Henrik Jungaberle) neben Ansätzen, die Rituale grundsätzlich als kulturellen Text auffassen, der auf Momente der Übertragung (etwa in der Metapher des Rahmens, vgl. der Beitrag von Burckhard Dücker, S. 116f.) gelesen werden kann und jenen Ansätzen zu einer Phänomenologie des Rituals, die Beobachtung, Erfahrung und Reflexion miteinander verschränken und letztlich damit Erkenntnis durch die Erhebung empirischer Daten in Frage stellen (vgl. der Beitrag von Rudolph, 155f.). Es wäre für die Lektüre sicher hilfreich, dieses Nebeneinander methodischen Vorgehens, welches am Erfahrungsbegriff sich heraus schält, expliziter als bestehende Kontroverse zu markieren, zumal damit auch wichtige Hinweise zur Wissenschaftsgeschichte der ‘Krise des Beobachters’ stärker eingebettet wären, etwa der Beitrag von Oliver Krüger zu Gregory Batesons Verbindung zur Kybernetik 2. Ordnung und zum Einfluss der Phänomenologie Alfred Schütz’ auf Erving Goffman. Damit ist ein theoretischer Hinweis verknüpft, welcher die Performanz von rituellen Prozessen betrifft. Auf das Konzept der Performanz in seiner unterschiedlichen Provenienz zwischen Spechakttheorie, Ritualtheorie und Theatertheorie wird in diesem Band immer wieder Bezug genommen allerdings wird sein epistemischer Wert immer dort reduziert, wo eine statische Bestimmung von Performanz versucht wird, ganz explizit etwa wenn Jungaberle von “‘Performanztheorie’/ n [als] “monoperspektivische Theorie” spricht (61). ‘Performanz’ als notwendig umstrittenes Konzept verstanden zielt jedoch auf Momente des Gelingens und Scheiterns, der Wirksamkeit und zugleich Widerständigkeit gesellschaftlichen Wandels und schließt damit eine begriffliche Fixierung eigentlich aus. Statt also die “Fragmentarisierung” und “Zersplitterung” des Rahmenbegriffs zu diagnostizieren, zielt das Denken der Performanz gerade auf “Wahrnehmung durch Ambivalenzen” (Köpping/ Rao, zitiert in Rudolph, 146) und auf Prozesse des “Reframing” (149) als notwendige Unschärfe in der wissenschaftlichen Beobachtung 102 Rezensionen und Beschreibung der Dynamik von Ritualen. Besonders augenscheinlich werden diese Prozesse der kontroversen Neubestimmung von Ritualen am Beispiel des Scheiterns. Der Beitrag von Oliver Krüger zum World Harmony Konzert des indischen Gurus Sri Chinmoy sei hier hervorgehoben. Chinmoy “beherrscht ganz offensichtlich keines der von ihm in den folgenden 80 Minuten ‘bespielten’ Saiten- oder Flöteninstrumente und Keyboards, zeigte auch kein erkennbares Verständnis für Tonarten oder Harmonien.” (54) Im Rahmen des von Chinmoy behaupteten Rituals jedoch stehen die Anhänger des Guru normalen Zuschauern kontrovers gegenüber, gibt es unversöhnliche Interpretationen dessen ‘was eigentlich vor sich geht’ und diese innere Spannung erst macht es notwendig, von Dynamik und Performanz zu sprechen. Ebenso einsichtig sind in dieser Hinsicht die Analysen Michael Rudolphs zur “mehrfachen Auslegbarkeit […] und absichtvollen Manipulation” (145) der “Erntefeste” von Taiwans Ami. Der Autor beschreibt das Reframing eines Rituals als eine mediale Inszenierung durch eine intellektuelle Elite, die zugleich den Wissenschaftler selbst, also Rudolph als ‘Verbreitungsmedium spiritueller Medien’ in ihr Kalkül einbezieht (vgl. 149, Fn. 12) - eine eindrucksvolle Erfahrung der Performanz von Ritualen, die sich auch in die Strategien ihrer Beobachtung und Beschreibung einschreibt. Der Band “Rituale in Dynamik” lohnt sich gerade für jene, die die immer wieder kehrende Frage nach der rituellen Erfahrung (in Kult, Ekstase, Drogengebrauch, Tanz) und der Stellung des Einzelnen in Ritualen aufnehmen möchten. In den hier skizzierten Problemlagen der Performanz und Beobachtung wie auch in einigen Hinweisen zur Wissenschaftsgeschichte des Framekonzepts stellt er zugleich einen wichtigen Beitrag zur interdisziplinären Ritualforschung dar. München W OLF -D IETER E RNST Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Wie schreibt man heute Theatergeschichte? Welche Vielfalt unterschiedlichster Theaterformen entfaltet sich, blickt man über die am Höhenkamm orientierte Theatergeschichtsschreibung früherer Forschergenerationen hinaus? Welche innovativen Ergebnisse bieten neu erschlossene Quellen, hinterfragt man mit ihnen bereits etablierte Forschungsmeinungen? Diese und weitere Fragen haben sich die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes gestellt. Die Ergebnisse bieten einen neuen Blick auf ein Thema, das es immer wieder zu diskutieren gilt: die Theaterhistoriographie. Mit Beiträgen von: Joachim Fiebach · Heidy Greco-Kaufmann · Stefan Hulfeld · Corinna Kirschstein · Anja Klöck · Andreas Kotte · Friedemann Kreuder · Peter W. Marx · Uta Schorlemmer · Constanze Schuler · Sabine Sörgel · Stefanie Watzka · Birgit Wiens Friedemann Kreuder / Stefan Hulfeld / Andreas Kotte (Hrsg.) Theaterhistoriographie Kontinuitäten und Brüche in Diskurs und Praxis Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Band 36 2007, 328 Seiten, 25 Abbildungen, €[D] 59,00/ SFr 93,00 ISBN 978-3-7720-8212-2 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Theaterkritik ist nicht nur eine Form der Sekundärliteratur, sie ist vielmehr ein wesentlicher Bestandteil der kulturellen Reproduktion. In 16 Einzelstudien, die dieses Buch versammelt, wird ihre historische Entwicklung erstmals im europäischen Kontext in den Blick genommen. Gunther Nickel (Hrsg.) Beiträge zur Geschichte der Theaterkritik Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Band 35 2007, 439 Seiten, €[D] 78,00/ SFr 123,00 ISBN 978-3-7720-8207-8