Forum Modernes Theater
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
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2008
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BalmeTheater zwischen Markt und Politik. Zur Spektakularisierung europäischer Kultur im 19. Jahrhundert Inhalt Kati Röttger (Amsterdam) Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Aufsätze: Kati Röttger (Amsterdam) Kritik des Spektakels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm (Amsterdam) Ein Markt nationaler Gefühle? Das niederländische Theater im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . 97 Frank Peeters (Antwerp) The Reception of Melodrama in Flanders 1800-1914. A Tentative Investigation of the Critical Discourse in Reviews, Literary Journals and a Manifesto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Meike Wagner (München) Am Puls der Zeit. Theater und Revolution im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Nic Leonhardt (Heidelberg) Metropole als Markt für Mokerie. Parodien auf urbane Unterhaltung als Unterhaltung über Urbanisierung im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Arno Paul (Berlin) Performing for the Proletariat in Imperial Berlin: Actors and Spectators in the Early Years of the Freie Volksbühne (1890-1895) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Rezensionen: Stefan Hulfeld: Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht (Meike Wagner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Peter W. Marx: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierung um 1900 (Petra Löffler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Bruce D. McClung: Lady in the Dark: Biography of a Musical (Pieter Verstraete) . . . . . . . . . . . 164 Fritz Lang Collection. Dr. Mabuse, der Spieler. Frau im Mond. Spione. DVD (Peter W. Marx) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Kristina Jensen: Formen des episierenden Metadramas. Ausgewählte Dramentexte José Sanchis Sinisterras und anderer spanischer Gegenwartsdramatiker (Martina Weis) . . . . . . 168 Meike Wagner, Wolf-Dieter Ernst (Hg.): Performing the Matrix: Mediating Cultural Performances (Robin Nelson) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Marijke Hogenboom, Alexander Karschnia (Edd.): Na(ar) het Theater - After Theatre? Supplements to the International Conference on Postdramatic Theatre (Sarah Israel) . . . . . . . . . 172 Umschlagabbildung: Szenenfoto aus ‘Platform’ 2005, NTGent Foto: Phile Deprez © Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · Tübingen Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, im Magnettonverfahren oder ähnlichem Wege bleiben vorbehalten. 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Massenkulturelle Theaterphänomene oder spektakuläre Praktiken blieben weitgehend außen vor, obwohl sie in besonderer Weise prägend für die Modernisierungsprozesse waren, die das 19. Jahrhundert in Europa ausmachten. Dank neuerer Ansätze kulturwissenschaftlicher Forschung und im Speziellen auch der Theatralitätsforschung wird die theatrale Populärkultur jedoch immer mehr in den Mittelpunkt gerückt. 1 Zumindest lassen sich jüngere Publikationen wie Leonhardts Piktoral- Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert 2 oder auch Ein theatralisches Zeitalter: bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900 von Peter Marx 3 als Hinweise darauf verstehen. Dennoch bleibt auffallend, dass diese Studien Perspektiven auf Einzelphänomene eröffnen. Eine umfassendere kulturanalytische Untersuchung nach dem Stellenwert vor allem von spektakulären Praktiken im Zuge der Modernisierung der europäischen Gesellschaften gibt es bisher nicht, obwohl das Münchner Forschungsprojekt “Kulturelle Inszenierungen von Fremdheit im 19. Jahrhundert” als ein Ansatz dazu gewertet werden kann, wie daraus hervorgegangene Publikationen, z.B. Bilder des Fremden: mediale Inszenierungen von Alterität im 19. Jahrhundert zeigen. 4 Nun können die Beiträge im vorliegenden Band sicherlich nicht den Anspruch erfüllen, die immer noch große Lücke zu schließen. Ganz in Gegenteil, sie reißen lediglich Perspektiven auf, die nach den Zusammenhängen zwischen den neuen, theatralen und spektakulären Praktiken und den Mobilisierungen von Aufmerksamkeit, 5 von Bewegung und von Massen durch neue Technologien, Verkehrsmittel und Produktionsweisen fragen. Dabei ist die Grenze zwischen marktwirtschaftlichen Interessen einerseits und politischem Engagement andererseits, zwischen Unterhaltung und Kritik oft gar nicht eindeutig zu ziehen. Massenspektakel, Attraktionen, revolutionäre Ausbrüche, nationales Engagement und internationaler Austausch der neuen ‘Ware’ Theater liegen dicht beieinander, wie gezeigt wird. Schließlich machten auch nicht zuletzt die erhöhten, durch die neuen visuellen Technologien ermöglichten, intermedialen Bild-Produktionen und grenzüberschreitenden Bild-Wanderungen aus dem Theater ein Massenmedium mit internationaler Reichweite. Um diese Interaktionen kulturgeschichtlich einordnen zu können, wird im ersten Beitrag (Röttger) vorgeschlagen, den Begriff des Spektakels, der von Guy Debord 1967 als Konzept für die Beschreibung und Analyse der modernen Gesellschaft eingeführt wurde, für die Untersuchung des Problemzusammenhangs zwischen Wahrnehmungskrise, Moderne und Theater, der sich seit dem frühen 19. Jahrhundert z.B. anlässlich des Melodramas beobachten lässt, fruchtbar zu machen. Aus dieser Perspektive gerät auch das niederländische Theater jener Zeit in den Blick, das bisher von der europäischen Theatergeschichtsschreibung nicht wahrgenommen wurde, 6 wie Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm im vorliegenden Band ausführen. Ähnliches gilt für das flämische Theater, das in hohem Maße von der Kultur des Melodramas geprägt war (Beitrag Frank Peeters). Dass aber durchaus entscheidende Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 81-82. Gunter Narr Verlag Tübingen 82 Kati Röttger (post)revolutionäre Interaktionen zwischen den melodramatisch geprägten Opernbühnen von Paris, Brüssel und Wien stattgefunden haben, die nicht zuletzt auch entscheidend für die Musiktheaterkonzeption Richard Wagners waren, zeigt Meike Wagner in ihrem Aufsatz auf. Nic Leonhardt und Arno Paul schließlich konzentrieren sich auf das Berlin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während Leonhardt zeigt, wie Parodien als Umschlagplatz für Unterhaltung über soziale, politische und kulturelle Angelegenheiten des urbanen Lebens in Berlin fungierten und damit selbst die Urbanisierung der Metropole mit in Gang setzen, beschließt Arno Paul den Band mit einem Beitrag zur Freien Volksbühne, die am Ende des Jahrhunderts versucht, dem Spektakel, ‘Tingel-Tangel’ und Virtuosentum eine neue Form der Schauspielkunst für ein neues Publikum entgegenzusetzen. Anmerkungen 1 Christopher Balme, “Modernität und Theatralität: Zur Theaterkultur in München um 1900”, in: Gilbert Merlio, Nicole Pelletier (Edd.), site de la modernité. München 1900 als Ort der Moderne, Bern et al.1998, pp. 99-115. 2 Nic Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1900), Bielefeld 2007. 3 Peter Marx, Ein theatralisches Zeitalter: bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900, Tübingen, Basel 2008. 4 Hans-Peter Bayerdörfer, Bettina Dietz, Frank Heidemann, Paul Hempel (Edd.), Bilder des Fremden. Mediale Inszenierung von Alterität im 19. Jahrhundert, Berlin 2007. 5 Jonathan Crary, Suspensions of Perception. Attention, Spectacle and Modern Culture, Cambridge, London 1999. 6 Stephen E. Wilmer, National theatres in a changing Europe, Basingstoke 2008. Kati Röttger Kritik des Spektakels Kati Röttger (Amsterdam) Wenn im Folgenden vom Spektakel die Rede ist, dann ist zweierlei damit gemeint: zum einen das Spektakel als Genre in der Erscheinungsform des Spektakelstücks oder Melodramas, zum anderen das Spektakel als epistemologische Größe oder Theorem für eine besondere Form der Kulturanalyse. Einer der ersten Kulturkritiker, der das Spektakel als Konzept für die Beschreibung und Analyse der modernen Gesellschaft einführte, war Guy Debord. In seinem 1967 publizierten Buch Die Gesellschaft des Spektakels diagnostizierte er eine tiefe Krise der Gesellschaft seiner Zeit. Diese Krise, die er gleichzeitig allgemein als Krise der Moderne beschreibt, ist ihm zufolge das Resultat einer dem Spektakel inhärenten Logik. Diese Logik besteht a priori in der Trennung der Menschen voneinander. 1 Sie ist eine Folge der kapitalistischen Produktionsweise und des Konsums, und zwar nicht nur von Waren, sondern auch von Bildern. Der reine Konsum von Waren und Bildern führt zu Passivität und Agonie und somit zur Separation und Isolation des Individuums. Die umfassende Totalität des Spektakels manifestiert sich letztlich in einem vollständigen Verlust des Zeitempfindens, denn Zeit wird nur noch mit einem Gefühl von Ohnmacht erlebt, als eingefrorene Zeit oder als Stillstand. Debords Diagnose der modernen Gesellschaft ist nicht zuletzt auf das damalige Aufkommen des Fernsehens als das erste Massenmedium zurückzuführen, das sein Publikum nahezu jederzeit mit Bildern versorgen konnte. 2 Laut Debord hatte das Fernsehen ebenso wie das Auto einen entscheidenden Anteil an dem technischen Prozess, der zur “zirkulären Produktion der Vereinzelung” 3 beitrug und fungierte damit gleichzeitig als “Waffe, um beständig die Vereinzelungsbedingungen der ‘einsamen Menschen’ zu verstärken”. 4 Da sich im Spektakelbegriff wirtschaftliche Produktionstechniken einerseits und massenmediale Informationstechniken andererseits mit den Technologien des Individuums verbinden, dient der Begriff des Spektakels bis heute als einflussreiches Erklärungsmodell für die ‘Krankheiten’ der Moderne und die Krise des Subjekts im 20. Jahrhundert, die nicht zuletzt durch die dem Spektakel impliziten, umfassenden Theatralisierungstendenzen bestimmt werden. 5 Der vorliegende Artikel konzentriert sich in erster Linie auf den Problemzusammenhang von Wahrnehmungskrise und Theater, der sich aus dem Spektakel als kulturellem Erklärungsmodell ergibt. Wenn man nämlich tatsächlich davon ausgehen darf, dass die spektakuläre Macht, wie Jonathan Crary behauptet, “untrennbar an eine umfassende […] Organisation des Wahrnehmungskonsums geknüpft ist” 6 , welcher zugleich eine ständige Erneuerung und damit auch ständige Krisen von Wahrnehmungskompetenzen auslöst, die das Individuum im Kreislauf des totalen Spektakels gefangen halten, dann stellt sich zunächst die Frage, welche Antwort das Theater heute auf dieses Krisenmoment geben kann. Oder ist das Theater als genuine Form der Simulation von Realität nicht vielmehr ein Komplize, der dem Spektakel schon immer zugespielt hat, 7 und nunmehr seine Daseinsberechtigung verliert? Daraus ergibt sich eine zweite Frage - und hier liegt das Hauptaugenmerk der Forschungsrichtung, die mit vorliegendem Artikel eingeschlagen werden soll -, nämlich die nach der historischen Dimension dieses Problemzusammenhangs. Wenn man das Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 83-96. Gunter Narr Verlag Tübingen 84 Kati Röttger Abb. 1: Szenenfoto aus ‘Platform’ 2005, NTGent, Regie: Johan Simons; Foto: Phile Deprez Aufkommen des Spektakelbegriffs mit seiner semantischen Ladung der Überreizung und Wahrnehmungsüberforderung etymologisch zurückverfolgt, dann erweist sich das Ende des 18. Jahrhunderts als auffällige historische Markierung. 8 Für den gleichen Zeitraum wird allgemein die Entstehung des sogenannten Spektakelstücks oder Melodramas in den westlichen sich industrialisierenden Ländern angesetzt. Welche Rückschlüsse lassen sich aus diesem Zusammentreffen für meine eingangs gestellte Frage nach dem Problemzusammenhang zwischen der modernen Wahrnehmungskrise und der besonderen Funktion des Theaters in dieser Zeit ziehen? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich im Folgenden mit Reinhard Koselleck 9 das Begriffspaar Kritik und Krise als historisches Analyseinstrumentarium einführen. Über die Koppelung des Begriffs der Kritik an den Begriff der Krise werde ich nachgehen, inwieweit ‘das Theater’ - und damit meine ich Theater als visuelle Apparatur und visuelle Praxis, die sich historisch gesehen immer wieder im Streit mit Visualität befindet - 10 nicht nur als Produkt oder Synonym visueller Kultur und insbesondere des Spektakels gesehen kann, sondern auch eine kritische Funktion innerhalb der visuellen Kultur und insbesondere des Spektakels einnehmen kann. 11 Dazu werde ich im folgenden zwei Beispiele bemühen: zum einen die Inszenierung Platform von NTGent aus dem Jahr 2005, zum anderen die Aufführung des Melodramas De schipbreuk der Medusa 1840 in der Königlichen Schouwburg von Den Haag. Platform von NT Gent Der Dramaturg Tom Blokdijk und der Regisseur Johan Simons wagten sich mit Platform an die Bühnenbearbeitung des 2001 erschienenen, gleichnamigen Romans von Michel Houellebeq. Die Inszenierung betreibt Zeitgeistanalyse mit dem Effekt einer Zeitbombe. Die Vorstellung beginnt unvermittelt mit einem ohrenbetäubenden Knall: Das gesamte Dekor fällt mit einem Schlag vom Schnürboden auf den Bühnenboden und verursacht eine Art Schockeffekt beim Publikum, das gerade noch in Erwartung des Vorstellungsbeginns in leise Gespräche verwickelt war. Allmählich erheben sich aus dem Katastrophenszenario, das aus einer chaotischen Ansammlung von Plastikstühlen, Kleidungsstücken, Matratzen und anderen Dingen, die auf der Bühne verstreut liegen, besteht, die Schauspielerkörper, um die Geschichte von Michel und Valerie darzustellen: (Abb. 1) eine Geschichte, welche die Konsequenzen der Globalisierungskultur in ihrer zynischsten Form zeigt. Im Programmheft der Inszenierung findet man dazu folgenden Kommentar: Als wolle er beweisen, dass er letztendlich doch an die Liebe glaubt, entwirft Houellebeq in Platform eine heftige Liebesgeschichte. Damit aber […] zeigt er gleichzeitig die Zuckungen unserer westeuropäischen Konsumkultur […]. Die Illusion, dass Selbstbefriedigung zu Selbstfindung führen könnte, hat dazu geführt, dass sich der westliche Mensch einem System unterworfen hat, welches immer wieder neue Bedürfnisse schafft. Dies sind nicht nur die idealen Bedingungen für eine florierende Konsumkultur, sondern auch für die Industrie des Massentourismus. Kritik des Spektakels 85 Abb. 2: Szenenfoto aus ‘Platform’ 2005, NTGent, Regie: Johan Simons; Foto: Phile Deprez Abb. 4: The Bali-Bombing, siehe: http: / / images. google.de/ images? hl=de&q=Bali-Bombing&btnG= Bilder-Suche&gbv=2 (zuletzt gesichtet am 1.12. 2008) Abb. 3: The Bali-Bombing, siehe: http: / / images. google.de/ images? hl=de&q=Bali-Bombing&btnG= Bilder-Suche&gbv=2 (zuletzt gesichtet am 1.12.2008) Die inhaltlichen Begebenheiten, welche NTGent auf die Bühne bringt, sind schnell erzählt: Michel und Valerie lernen sich auf einer Gruppenreise in Thailand kennen. Michel arbeitet im Kultusministerium und ist für die Bezuschussung von Kunstausstellungen und Theaterproduktionen zuständig. Er ist Mitte vierzig und hat bisher nur käuflichen Sex gehabt. Valerie arbeitet in der Tourismusbranche. Die beiden verlieben sich in einander und hecken einen ‘grandiosen’ Plan aus: Sie wollen mit Sextourismus reich werden, indem sie einsamen Europäern in Thailändischen Clubs mit dem viel versprechenden Namen “Eldorado Aphrodite” das verschaffen, was sie zu Hause nicht bekommen: menschliche Wärme und Sex. Die einheimischen Prostituierten würden auf der anderen Seite ebenfalls das bekommen, was sie bis dahin missen mussten: Arbeit und Geld. Das Konzept erweist sich als Riesenerfolg, die erwarteten moralischen Beschwerden bleiben aus, stattdessen rollt das Geld. Bis zu dem Moment, in dem ein islamischer Attentäter eine Bombe in dem Club zündet, der unter anderem Valerie zum Opfer fällt. Michel bleibt allein in den Ruinen seiner Sexindustrie zurück (Abb. 2). Mehr noch als eine rein inhaltliche Kritik an den Extremformen des Globalkapitalismus leistet NTGent auch eine Kritik an den Katastrophenbildern, die unablässig von den Massenmedien in die Wohnzimmer geschickt werden. Ganz konkret geht es um das so genannte Bali-Bombing, ein Bombenattentat, das am 12. Oktober 2002 in mehreren Clubs auf Bali zum Tod von 202 Menschen, hauptsächlich westlichen Touristen, führte. 12 Die Bilder, die damals von diesem Anschlag in den Medien verbreitet wurden (Abb. 3 und 4), sind für den heutigen Betrachter in ihrer Spezifizität nicht mehr erkennbar und damit auch nicht mehr erinnerbar. Vielmehr ähneln sie jener unendlichen Reihe von Katastrophenbildern, die Schutthaufen, Einschlaglöcher, Leichenteile und Verwüstung zeigen. Während die einzelnen Ereignisse vor allem auch in ihren Folgen für die jeweils 86 Kati Röttger Beteiligten jedes Mal einzigartig sind, ist das Bildrepertoire, mit dem sie dargestellt werden, sehr klein und eingeschränkt. Losgelöst von den jeweiligen Fakten sind Terror, Krieg, Katastrophen und Gewalt Bestandteile eines Visualisierungsexzesses, für den die Medien immer wieder dieselben ästhetischen Gesetze anwenden. Es sind genau jene Gestaltungsmittel, die das Publikum einstmals mit dem Aufkommen von Performance-Kunst, Body- Art und Videoinstallationen noch aufschrecken und provozieren sollten, 13 und die sich heute, wollte man mit Debord argumentieren, die Spektakelkultur einverleibt hat. Die Frage ist daher, welche Art von Kritik (Theater)Kunst heute noch am politischen Sublimen, das mit dem Visualisierungsexzess intendiert wird, leisten kann? NTGent gibt auf diese Frage eine doppelte Antwort. Zum einen nutzt die Gruppe die unheimliche Überschneidung von Realität und Fiktion, die sich daraus ergibt, dass das ‘Bali-Bombing’ genau ein Jahr nach dem Erscheinen von Houllebeqs Roman stattgefunden hat, die Ereignisse also in gewisser Weise vorweggenommen hat. Im Jahr 2005, drei Jahre nach dem Attentat, vier Jahre nach 9/ 11, referiert die Gruppe direkt an das mediale Bildrepertoire, das in solchen Katastrophenfällen in den Massenmedien zirkuliert und Wiedererkennbarkeit erzeugt. Anders als im Roman, dessen Erzählung im Bombenanschlag kulminiert, lässt die Gruppe die Vorstellung mit dem Attentat beginnen. Damit gelingt es ihr nicht nur, die Realität des Anschlags in die Fiktion der Bühnenhandlung genauso zu transportieren wie die Fiktion des Romans die Realität des Bombing vorweggenommen zu haben scheint. Gleichzeitig gibt sie mit diesem Beginn ein deutliches Statement hinsichtlich der ästhetischen Gesetze der Medienbilder ab. Denn indem NTGent das Bühnenbild ihrer vorhergegangenen Inszenierung, Die Asylsucher, mit ‘Knall und Fall’ in Schutt verwandelt, betreibt sie vor den Augen der Zuschauer die direkte Zerstörung der ästhetischen Gesetze ihrer eigenen künstlerischen Arbeit. Mit dieser Destruktion geht die Dekonstruktion der immer gleichen Katastrophenbilder der Massenmedien einher. Und hier nun gerieren sich beide genannten Aspekte zu einem Doppelschlag, denn dadurch versetzen die Theatermacher die eingefrorenen, scheinbar zeitlosen Katastrophenbilder in Bewegung, in einen zeitlichen Ablauf. Sie werden gewissermaßen lebendig in dem Moment, in dem sich die Schauspieler aus dem Schutt erheben und die Figuren zum Leben bringen. Damit insistiert die Inszenierung auf der Eröffnung eines Zwischenraums: zwischen Tod und Leben, zwischen Körper und Bild, zwischen Virtualität und Materialität. Denn das ‘Leben’ wird immer wieder in die Fiktionalität zurückgeführt, indem die Schauspielerkörper regelmäßig in das Katastrophenbild zurückfallen und als ‘tote’ Materie in die Konsumgüterruine eintauchen, aus der das Bühnenbild besteht. Es ist der Raum des Lebens und der globalisierten Cyberwelt, die im Zeichen grenzenloser Ökonomie steht, deren Ware der Mensch selbst ist. Platform, so sagt Johan Simons, will das Publikum mit einem doppelten Bild konfrontieren: nicht nur mit dem der Zerstörungskraft des Menschen, sondern auch mit dem der Energie, aus der Liebe entsteht. Damit bleibt aber immer noch meine eingangs gestellte Frage unbeantwortet: Inwiefern kann die Inszenierung Platform in ihrer Eigenschaft als Theaterereignis als Kritik am Spektakel verstanden werden? Kritik und Theater Um diese Frage zu beantworten, möchte ich kurz zurückgehen in die Zeit, in der die gesellschaftliche Funktion des Theaters als kritische zum ersten Mal programmatisch formuliert wurde. Es war Friedrich Schiller, der sich im Jahr 1784 in seiner bekannten Kritik des Spektakels 87 Rede über die Frage “Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? ” zum ersten Mal ausführlich zur gesellschaftlichen Wirkung des Theater äußerte. Die Antwort auf diese Frage enthielt zwei besonders interessante Aspekte: Zum einen beharrte Schiller auf einer strikten Trennung zwischen den Aufgaben des Theaters und denen der gesellschaftlichen Instanzen wie Politik und Justiz: “Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt da an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze endet.” 14 Zum anderen erklärte er das Theater zu dem Ort, an dem die Werte der Aufklärung zum Ausdruck gebracht werden sollten. Die wichtigste Aufgabe des Theaters bestand ihm zufolge darin, das Menschenbild des Humanismus zu verkörpern. Am deutlichsten wird dies im letzten, immer wieder gerne zitierten, Absatz seiner Rede: Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet (…) Jeder einzelne genießt die Entzückung aller, die verstärkt und verschönert aus Hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum - es ist diese: ein Mensch zu sein. 15 In seinem Buch Kritik und Krise bringt Reinhard Koselleck diese Äußerungen Schillers in einen direkten Zusammenhang mit der Kultur der Kritik, die sich im 18. Jahrhundert ausgehend von Popes Essay on Criticism allmählich ausbildete. Er weist nach, dass Schillers Rede auf genau jener Trennung beruhte, die ausschlaggebend für diese Entwicklung war: die Trennung der historischen Wirklichkeit in das Gebiet der Moral und das Gebiet der Politik. Um nun die Bedeutung dieser Trennung für die Antwort auf Schillers Frage nach der Wirkung der Schaubühne zu verstehen, muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass die Ausübung von Kritik im 18. Jahrhundert gerade im Akt des Vollziehens von Trennungen bestand. Diese Auslegung ist Koselleck zufolge auch etymologisch verbrieft: Denn das altgriechische Verb ‘krineien’ bedeutet spalten, trennen. Die Fähigkeit zur Unterscheidung (z.B. zwischen richtig und falsch, gut und böse) wurde demgemäß im 18. Jahrhundert gleichgesetzt mit der Fähigkeit zur Kritik. Die Ausübung von Kritik war in diesem Sinne die Voraussetzung und die Methode, um ein angemessenes Urteil zu fällen, für die Urteilskraft. Indem Schiller nun in seiner Rede eine Trennungslinie zwischen Moral und Politik zog, schuf er die Voraussetzung für die kritische Funktion, die er als Ziel einer guten stehenden Schaubühne betrachtete. Denn wenn Politik und Staatsmacht auf der Bühne zu moralischen Instanzen erhoben werden, erfährt das Theater die notwendige Befreiung von den weltlichen Gesetzen, um Kritik an ihnen zu üben. Das heißt: Das moralische Urteil, das durch das Theater ausgesprochen wird, kann nur dann als politische Kritik wirken, solange das Theater keinen Teil der Staatsmacht bildet, also nicht effektiv ist. Denn nur wenn sie nicht herrscht, kann die Gerichtsbarkeit der Bühne Recht haben. So wie die Mängel der politischen Gesetze die Kritik der Schaubühne provozieren, so kann die Schaubühne diese Mängel auch nur im Theater demonstrieren. “Hier allein”, so Schiller, “hier nur hören die Großen der Welt, was sie nie oder selten hören - die Wahrheit; was sie nie oder selten sehen, sehen sie hier - den Menschen.” 16 Bereits zehn Jahre später distanzierte sich Schiller von seinem Plädoyer für die moralische Kraft der Schaubühne. Nach den Folgen der Französischen Revolution begann er an diesen Möglichkeiten der Verwirklichung humanistischer Ideale zu zweifeln. Die moderne Gesellschaft hatte zwar in Bezug auf die zunehmende Verteilung von Arbeit in ihrer Gesamtheit einen Fortschritt zu verzeichnen, ebenso wie auf den Gebieten der Wissenschaft und Technologie, aber dafür musste das Individuum seinen Preis bezahlen und wurde von der Gesamtheit der gesellschaftlichen Entwick- 88 Kati Röttger lungen abgetrennt, isoliert. Die Werte der Aufklärung blieben daher reine Theorie, lediglich die Oberfläche der Gesellschaft, der Mensch als solcher wurde durch sie nicht ergriffen. Anstatt sich für die Trennung von Politik und Moral einzusetzen, um die Freiheit des Theaters zu garantieren, sprach sich Schiller nun, unter Einfluss von Kant, für die Funktion der Kunst als ästhetisches Übungsgebiet für die politische Freiheit des Menschen aus. Sein Heilmittel für die kranke Gesellschaft wurde nun die ästhetische Erziehung des Menschen. Politik und Kunst waren nun nicht mehr so leicht voneinander zu unterscheiden. Mehr noch: In Schillers ästhetischem Staat war die Opposition zwischen Gesellschaft und Kunst aufgehoben, denn er forderte sowohl die Autonomie der Kunst als auch die Identität von Kunst und Leben. 17 Damit leitete Schiller eine Wende im Denken über die Beziehung zwischen Kunst und Politik ein, die sich vor allem seit Beginn des 20. Jahrhunderts in den avantgardistischen Erneuerungsbestrebungen des Verhältnisses zwischen Kunst und Leben, Ästhetik und Politik bemerkbar machen sollte. Kritik und Krise Wie aber nun ist es um die Kritik bestellt? Koselleck zeigt in seinem bereits genannten Buch einen weiteren Bedeutungshorizont des Begriffs auf, der für die Beantwortung dieser Frage vor allem im Zusammenhang mit der Funktion von Theater entscheidend ist, denn er verweist hier auf den gemeinsamen etymologischen Ursprung der Begriffe Kritik und Krise. 18 Auch Krise leitet sich aus dem Bedeutungszusammenhang von Trennung und Scheidung ab. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts gehen die beiden Begriffe semantisch getrennte Wege. Während Kritik immer mehr für die Kunst des Urteilsvermögens in Anspruch genommen wird, wird Krise immer mehr in einem medizinischen Zusammenhang benutzt, um den entscheidenden Wendepunkt bei einer Krankheit zu bezeichnen. So wird der Begriff auch in abstrakterem Sinne mehr und mehr benutzt, wenn ein Kehrpunkt, ein Umschwung oder turning point, man kann auch sagen die Peripetie einer Situation gemeint ist. Krise markiert genau den Moment, an dem die Zeit still zu stehen scheint und kein Fortschritt, kein Übergang von einer alten zu einer neuen Ordnung zu beobachten ist. Koselleck zufolge hat die Idee der moralischen Kritik im 18. Jahrhundert den Krisenbegriff eingeschlossen und damit gleichzeitig verborgen. Dies machte sich vor allem in der damaligen Geschichtsschreibung bemerkbar, die den Fortschritt als Prozess moralischer Gesetze ansah. Der erste Aufklärer, der diese Wechselwirkung zwischen Kritik und Krise bemerkt hatte, war Jean Jacques Rousseau. Als Vertreter der Idee des natürlichen Staates, in dem Volk und Staatsmacht eins sind, konnte die Trennung zwischen Moral und Politik nur eine Fiktion sein. Im Gegensatz zum zielgerichteten, progressiven Denken der Geschichtsschreibung plädierte er für ein zirkuläres Modell im Sinne von Peripetie. Aus dieser Perspektive sagte er die französische Revolution, und mit ihr den l’état de crise, welcher die crise de l’État verursachen sollte, voraus: das heißt, die Aufhebung der alten Ordnung und der Zeit der Geschichte. Es wird nun niemanden mehr in Erstaunen versetzen, dass Schillers Idee vom ästhetischen Staat nicht zuletzt auch von Rousseau beeinflusst war. Ja, Koselleck behauptet selbst, dass mit Schillers Mannheimer Rede das Ende der Kritik eingeläutet wurde und die Krise manifest wurde. Krise und Spektakel Vielleicht geht es zu weit, aufgrund des Vorhergesagten zu behaupten, die Krise der modernen Gesellschaft finde seit dem Ende Kritik des Spektakels 89 des 18. Jahrhunderts ihren Ausdruck im Spektakel. Aber es ist nicht zu leugnen, dass in dieser Zeit der Siegeszug des Spektakelstücks oder Melodramas seinen Anfang nahm, 19 parallel zur oben erwähnten Bedeutungsverschiebung des Begriffs. Auch Jonathan Crary setzt in seinem Buch Suspension of Perception. Attention, Spectacle and Modern Culture das Aufkommen des Spektakels am Beginn des 19. Jahrhunderts an. In dieser ausführlichen Studie über die Genealogie der Aufmerksamkeit belegt er den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Krise der modernen Zeit und der Krise der Wahrnehmung, indem er aufzeigt, dass “[…] die wechselnden Konfigurationen des Kapitalismus, mit ihrer endlosen Abfolge von neuen Produkten, Reizquellen und Informationsströmen, Aufmerksamkeit und Zerstreuung ständig über neue Grenzen und Schwellen zwingen”. 20 Anlass sei “[…] die Emergenz von Modellen des subjektiven Sehens [gewesen], die sich relativ unvorbereitet in der Zeit von 1810 bis 1840 in zahlreichen Disziplinen bemerkbar machte”. 21 Ohne an dieser Stelle die Schlüsse, die Cary in dieser interessanten Studie zieht, angemessen diskutieren zu können, möchte ich es hier bei der Feststellung belassen, dass sich also an der Wende zum 19. Jahrhundert zwei Krisenmomente des menschlichen Subjekts ausmachen lassen: eine politische Krise und eine aisthetische Krise, oder: eine Krise der Identität und eine Krise der Wahrnehmung. Das Melodrama nun, so meine These, ist ein Produkt dieser Krisenkonstellation. Gleichzeitig brachte es die Krise des Individuums sowohl in politischer wie in ästhetischer Hinsicht zum Ausdruck. Das Melodrama gilt allgemein als das Genre (manche sagen sogar das einzige Genre), das die Französische Revolution hervorbrachte. “[It] was the morality of the revolution”, behauptete seiner Zeit gar der französische Autor Charles Nodier. 22 Wenn dies tatsächlich der Fall war, dann konnte das jedoch nicht nur an der Eindeutigkeit der moralischen Aussagen und der Unzweideutigkeit der Zeichen liegen, mit denen sie auf die Bühne gebracht wurden, wie Peter Brooks behauptet. 23 Viel eher ist diese Funktion des Melodramas oder Spektakelstücks meiner Ansicht nach auf die Inkorporation und Veräußerung der Spannung zwischen Kritik und Krise (zwischen Stillstand und Fortschritt von Technik und Geschichte) zurückzuführen, indem es die Versprechen der Aufklärung in Bilder einfror (Moral, Tugend, Freiheit, Kritik), die vom Fortschreiten der visuellen Techniken generiert wurden, denen Crary Krisenhaftigkeit attestiert und die der Moderne den Weg bereiteten. Schon allein die Aufzählung der bezeichnenden Merkmale des Genres lässt in diesem Zusammenhang aufmerken: der Einsatz piktoraler Techniken wie Diorama und Panorama, das Einfrieren der Zeit in Aufsehen erregenden tableaux vivants, der Einsatz neuester Maschinerien zur Erzeugung von Licht- und Illusionierungseffekten, die Gleichzeitigkeit von Gegensätzen in plötzlichen Umschwüngen zwischen Stillstand und Bewegung, Gut und Böse, Natur und Technik, Masse und Vereinzelung usw., und schließlich auch die tautologische Anwendung ästhetischer Mittel wie Musik, Schauspieltechnik und Dekor, um ein und dasselbe Gefühl zum Ausdruck zu bringen: einsam dem Schicksal ausgeliefert zu sein, das nicht selten in Gestalt von (Natur)Katastrophen daher kommt. 24 Das Melodrama, so könnte man konkludieren, führt die Vereinsamung oder Vereinzelung des Individuums vor Augen, indem es sich gleichzeitig dagegen widersetzt. Es stellt eine paradoxale Spannung zwischen Kritik und Krise her, indem es Kritik s(t)imuliert und Krise konstituiert. Das Floß der Medusa Um diese These zum Schluss zu unterbauen, möchte ich ein Beispiel anführen. Es handelt 90 Kati Röttger Abb. 5: Jean Louis Théodore Géricault: Das Floß der “Méduse”, 1818-19. Öl auf Leinwand, 14x25 cm, Paris Musée du Louvre sich um die Aufführung des niederländischen Melodramas De schipbreuk der Medusa aus dem Jahr 1840, die ein Jahr nach der Aufführung des französischen Originals von Charles Desnoyer, 25 am 12. Mai in Den Haag in Premiere ging. Es war auch ein Jahr nach der Erfindung der Fotografie, ein Jahr nach der Einweihung der ersten Bahnstrecke in den Niederlanden, ein Jahr, nachdem Willem I verpflichtet wurde, Belgien offiziell als Staat anzuerkennen, indem dessen Unabhängigkeit von den Niederlanden mit dem Vertrag von London endgültig besiegelt wurde. Ein Jahr also, das gleichermaßen von einer nationalen Krise und technologischem Fortschritt gekennzeichnet war. Dieser Kontext ist nicht ganz bedeutungslos, will man die Wirkung dieses Stückes verstehen. De schipbreuk der Medusa war einer der größten Publikumserfolge überhaupt und wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts mehrere Male in verschiedenen niederländischen Städten immer wieder aufgenommen, meistens mit ähnlichem Erfolg. Das “geschichtskundige Drama in fünf Akten mit Musik, Chören, Märschen und weiteren bühnenmäßigen Einrichtungen” handelte von einem Ereignis, das vor allem über ein Gemälde in ganz Europa bekannt geworden war: Das Floß der Medusa von Théodore Géricault (Abb. 5). Es wurde zum ersten Mal 1819 im Pariser Salon ausgestellt und bot direkt Anlass für großes Aufhebens, nicht nur weil es das Schicksal ganz gewöhnlicher Menschen zeigte und darum als “revolutionäre Komposition” 26 gepriesen wurde, sondern vor allem auch, weil es Julian Barnes zufolge die zeitgenössische Geschichte in eine zeitlose Metapher transformierte, das Gemälde habe sich vom “Anker der Geschichte” losgerissen, es “bleibt ein Gemälde zurück, das sogar seine eigene Geschichte überlebt”. 27 Die Katastrophe wurde zum Bild, das Bild zum Ereignis. Das tatsächliche Ereignis des Schiffbruchs hatte 1816 stattgefunden. Die Medusa, Flaggschiff eines Flottenverbandes, war mit Soldaten und ganz gewöhnlichen Passagieren auf dem Weg nach Senegal. Anlass war die Wiederherstellung der kolonialen Macht der Franzosen in diesem Land. Der Kapitän war bereits zwanzig Jahre lang nicht mehr auf hoher See gefahren, er verdankte seinen Job seiner früheren Loyalität als Offizier zu Napoleon. Kurz vor der senegalesischen Küste sank das Schiff. 149 Männer und eine Frau wurden mit einem Minimum an Proviant auf einem Floß zurückgelassen, nachdem die Offiziere die Seile gekappt hatten. Zehn Tage lang trieb das Floß auf dem Meer, der Nahrungsmangel führte zu Tod, Messerstechereien und selbst Kannibalismus. Am Ende warfen die 15 Stärksten die Schwachen über Bord. Zehn Menschen überlebten die Katastrophe, davon schrieben zwei - Henry Savigny und Alexandre Correard - einen Bericht, den sie 1817 veröffentlichten. Er verursachte einen nationalen Skandal, denn nicht nur die Restaurationspolitik der Bourbonen, sondern auch die Mängel der neuen Monarchie und die Spannungen zwischen den Royalisten und Liberalen wurden damit aufgedeckt. 28 Die Handlung des Melodramas basierte im Prinzip auf diesen Ereignissen. Allerdings blieben Blutvergießen und Kannibalismus ausgespart. Der Logik des melodramatischen Genres zufolge mag es niemanden erstaunen, dass die Figuren, die zu Beginn eingeführt werden - Pierre der Lotse und das Waisen- Kritik des Spektakels 91 Abb. 6: Baptême sous les tropiques ou Calcina en amour. Théâtre des Variétés, 4e acte du Naufrage de la Méduse. Nantes, Impr. chez Charpentier, 1840. Lithographie (27,8 x 43,3 cm) BNF, Estampes et Photographie, Jz-23-Fol. Abb. 7: Le Naufrage de la Méduse, Illustration in: M. Charles Desnoyer: Le Naufrage de la Méduse, Paris: Libreraire Dramatique, 1839. kind Marie - am Ende zu den Überlebenden gehören. Von allergrößter Bedeutung für den Erfolg des Stückes war jedoch die Dekoration. 29 Ein Zeitgenosse berichtet: “Im vierten Akt fühlt sich der Zuschauer an Bord der Fregatte Medusa versetzt, auf hoher See, unter der Linie, wenn man vom Bugspiegel ausging, getreu des Bildes Le Baptême sous le Tropique; [dazu Abb. 6, K.R.] […] Am Ende des Aktes sehen wir die Fregatte in Not, im Moment ihres Untergangs, alle versuchen sich in die Beiboote zu retten, dann fällt der Vorhang”. 30 Den Höhepunkt der Aufführung bildete der letzte Akt, der dem “Gemälde von Géricault nachgestellt” war, wie ein Anschlagzettel damals vermeldete (Abb. 7). Für die Einrichtung dieses Tableaus wurde ein halbe Stunde Pause eingeräumt. Der Erfolg war überwältigend, dazu noch einmal der Augenzeuge: “Am Ende wurde der verdienstvolle Dekormaler [Jan van Hove, K.R.] mehrere Male vom aufgewühlten Publikum auf die Bühne gerufen und erhielt die Ehre, jeweils mit lauten Bravorufen empfangen zu werden”. 31 Die bildungsbürgerliche Kritik hingegen befand das Spektakelstück als “schlimmsten Schund [und] Perlen aus Morast”. 32 Ein solches Urteil war jedoch weniger auf die künstlerische Qualität der Aufführung zurückzuführen als auf die ideologische Ladung des Stücks, wie Jan Hein Furnée in seiner Dissertation Vrijetijdscultuur en sociale verhoudingen in Den Haag, 1850-1890 belegt. Er weist hier nach, dass die immer wieder laut gewordene Forderung nach “guten Stücken” seitens der höheren, anti-revolutionären Stände letztlich den Zweck hatte, “die Emanzipation der Arbeiter und der Mittelklasse zu verhindern und die bestehende gesellschaftliche Ordnung sowohl politisch als sozial (im Sinne von Klasse und Geschlecht) zu schützen”. 33 Was sich in der scheinbaren Kritik am ästhetischen Gehalt des Melodramas abzeichnet, ist also auch als Widerstand gegen die Krisenstimmung zu sehen, die das Katastrophenszenario aufruft. Dies lässt sich umso mehr annehmen, als das Gemälde von Géricault, das im Melodrama mit so großem Erfolg nachgebildet wurde, die Krise auf ihrem Höhepunkt zeigt. Es ist jener Moment, in dem die Hoffnung auf ein gutes Ende gerade vereitelt wird. Die englische Kunsthistorikerin Christine Riding drückt dies mit folgenden Worten aus: “[Das Gemälde] repräsentiert nicht den Augenblick der Verzögerung, der der Rettung vorangeht, sondern den Moment des absoluten Leids, der ultimativen Prüfung der Schiffbrüchigen, für 92 Kati Röttger die Ewigkeit im Bild eingefroren”. 34 Es ist der zeitlose Moment der Peripetie. Géricault hat für sein Gemälde genau den Augenblick gewählt, an dem die letzte Hoffnung verloren scheint, das rettende Schiff am Horizont verschwindet. Es ist die tiefste Krise vor der Wende, die dann doch noch die Rettung bringt, wie man aus dem Bericht der beiden Überlebenden weiß. Neben diesem dramaturgisch geschickt gewählten Augenblick entlieh Géricault eine weitere Technik dem Theater: Er ließ die Szene naturgetreu von den Überlebenden und einigen ‘Komparsen’ nachspielen, um sie zu malen. Zunächst bat er den ebenfalls überlebt habenden Zimmermann der Medusa, das Floß in wahrer Größe in seinem Atelier nachzubauen, bis er schließlich die Akteure darauf posieren ließ. Diese Theatralisierung der Wirklichkeit, die den spektakulären und zeitlosen Effekt des Bildes entscheidend mit bestimmte, findet in der Inszenierung des Melodramas also ihre intermediale und ihre politische Rückwirkung, bzw. Rückkoppelung. Intermedial wie politisch kann hier von einer zirkulären Bewegung des piktoralen Katastrophenszenarios gesprochen werden. Seit dessen Veröffentlichung im bereits genannten Bericht im Jahr 1817 wanderte es durch verschiedene Medien. Bereits 1820 z.B. wurde es in England gleich in dreifacher Weise ausgestellt: einmal in Form des Géricaultschen Gemäldes von 1819, das im darauf folgenden Jahr in der Egyptian Hall, Picadilly in London gezeigt wurde, dann als “nautical melodrama” von William Thomas Moncrieff im Royal Coburg Theatre aufgeführt wurde und schließlich auch als Panorama im selben Jahr zu betrachten war - genau gesagt im Grand Marine Peristrephic Panorama of the Shipwreck of Medusa French Frigate with the Fatal Raft von Messr Marshall, ausgestellt im Pavillon in der Prince’s Street in Edinburgh. Christine Riding zufolge wurde der Erfolg des Gemäldes damals bei weitem von dem Panorama in den Schatten gestellt, das wesentlich mehr Publikum anzog. Hans Belting beschreibt den intermedialen Konkurrenzkampf mit Julian Barnes folgendermaßen: In Dublin, wo das Gemälde noch einmal zu sehen war, verlor es die Partie an das moderne Medium des ‘Panoramas’, in dem man das Ereignis wie später im Kino nicht nur als Sensation, sondern auch in einer sensationellen Form aufführen konnte. Schildern wir die Dinge mit Julian Barnes: Während das Gemälde nur seine ‘stationären Pigmente zur Schau stellte’, wurden dem Publikum am Ort des Panoramas “an die 10 000 Quadratfuß mobiler Leinwand geboten. Eine Episode folgte der anderen, wobei bunte Lichter auf der rollenden Leinwand spielten und ein Orchester die Dramatik der Ereignisse unterstrich. Das ist der Weg des Fortschritts, bemerkte der Colonel enthusiastisch, als sie den Pavillon verließen. Diese Maler werden zusehen müssen wo sie bleiben mit ihren Pinseln. 35 Nichtsdestotrotz blieb das Bild, das Géricault mit seinem Gemälde in das europäische kollektive Gedächtnis eingebrannt zu haben schien, auch in seinen medialen Transformationen wiedererkennbar, ja, wie Christine Riding behauptet, letztlich auch untrennbar vom Medium der Malerei. Unter Verweis auf die melodramatischen Versionen von Montcrieff und Desnoyer sowie auf eine Musical- Oper von Auguste Pilati aus dem Jahr 1839 schreibt sie: While all these spectacles were faithful, to varying degrees, to the events of the original shipwreck - with the authors of the theatrical versions largely confining themselves to the fact of the Medusa being shipwrecked, after which a raft was built - they were all connected by the painting through plagiarisms or the performance of tableaux, and thereby engaged, consciously or not, with Géricault’s singular interpretation and artistic vision/ intentionality. 36 Was jedoch nicht unterschätzt werden darf, ist die Attraktion des politischen Skandals, die das Katastrophenszenario ausstrahlte. Zwei- Kritik des Spektakels 93 felsohne fühlten sich die 40 000 Besucher des Panoramas in Edinburgh nicht zuletzt deshalb von diesem Ereignis angezogen, weil sie den Franzosen diesen Skandal gönnten. Und zwanzig Jahre später, als das Melodrama in den Niederlanden auf die Bühne kam, war sicherlich nicht die Tatsache zu unterschätzen, dass das Verhältnis zu Frankreich durch die gerade erst offiziell gewordene Unabhängigkeit Belgiens eher getrübt war. Gleichzeitig aber fanden sich in diesen Genres die Bürger wieder, die sich zwar als Teil einer nationalen Gemeinschaft imaginierten, die aber nun gerade die massenmedialen Produktionsweisen dieser Imagination als krisenhaft erfuhren, weil diese sie wiederum als Individuen von der Gemeinschaft abtrennten, wie Schiller bereits festgestellt hatte. Conclusio Was können wir aus diesen Beobachtungen schließen? Das Spektakel ist ein Manifest der Krise: die Krise der Moderne, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit politischen und aisthetischen Brüchen im Selbstverständnis des westlichen Individuums einsetzte. Die Manifestation des Spektakels bündelt sich im Melodrama als Genre der intermedialen Überkreuzung von textuellen und piktoralen Techniken, die dem Fortschritt und der Massenkultur entlehnt sind. Im Falle des Schipbreuk der Medusa steht ein Katastrophenbild im Zentrum des Geschehens. Es gilt als Phänomen einer Revolution, die im 19. Jahrhundert in der Malerei stattfand, indem mit ihm Bilder zum ersten Mal geschaffen wurden, die keine Helden oder Heiligen in den Mittelpunkt stellten, sondern die Katastrophen einer Gruppe von gewöhnlichen Individuen. Genau diese Konstellation wird vom Melodrama reproduziert, dabei kommt das dialektische Verhältnis von Kritik und Krise, das Koselleck für das 18. Jahrhunderts konstatiert, zum Stillstand. Kritik und Krise fallen in eins, dies ist die Nomenklatur des Spektakels, wie es noch im 21. Jahrhundert Gültigkeit hat. Mehr noch, ich würde sogar behaupten, dass das 19. und das 21. Jahrhundert im Begriff des Spektakels näher zusammenrücken, weil der visuelle Exzess, der mit den neuen Medien im 19. Jahrhundert einsetzte, sich in den digitalen Medien wiederholt. Einhalt geboten wurde diesem Exzess zwischendurch durch die Gültigkeit der Gesetzte der Psychoanalyse seit Beginn des 20. Jahrhunderts, aber das ist ein anderes Thema. Wie steht es nun mit der Kritik des Theaters am Spektakel? Ich würde bei der ursprünglichen Bedeutung des Wortes bleiben wollen, nämlich Trennung und Spaltung. Nur dass es heute nicht mehr um die Trennung der Bereiche der Politik und Moral gehen kann. Was anliegt, und was das Theater - wie ich mit Platform gezeigt habe - leisten kann, ist die Trennung zwischen den Medien und ihren Bildern, um einen Zwischenraum zu schaffen, in dem neue Perspektiven eröffnet werden, Perspektiven, die sich nicht zuletzt auch aus der Zerstörung der eigenen ästhetischen Mittel ergeben. Anmerkungen 1 Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996, S. 23: “Die Trennung ist das Alpha und Omega des Spektakels”; S. 25: “Der Ursprung des Spektakels ist der Verlust der Einheit der Welt, und die gigantische Ausbreitung des modernen Spektakels drückt die Vollständigkeit dieses Verlustes aus […]”. 2 Jonathan Crary, “Fernsehen im Zeitalter des Spektakels”, in: Wulf Herzogenrath, Thomas W. Gaehtgens, Sven Thomas, Peter Hoenisch (Hg.), TVkultur. Fernsehen in der Bildenden Kunst, Amsterdam, Dresden 1997, S. 66-75. 3 Debord, Spektakel, S. 25. 4 Debord, ebd., S. 25. 5 Vgl. z.B. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M. 1999, S. 466-467: “Theatralisierung durchdringt das ganze 94 Kati Röttger gesellschaftliche Leben, angefangen bei individuellen Versuchen durch Mode ein öffentliches Ich zu erzeugen/ fingieren […] Nimmt man die Werbung, die Selbstinszenierung der Welt des Business und die Theatralik der medialen Selbstdarstellungen der Politik hinzu, so scheint das, was Guy Debord als ‘Gesellschaft des Spektakels’ heraufziehen sah, sich zu vollenden”. 6 Crary, “Fernsehen”, S. 69. 7 Vgl. dazu u.a. Derrik de Kerckhove, “Eine Mediengeschichte des Theaters. Vom Schrifttheater zum globalen Theater”, in: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten, Berlin 2001, S. 501-525. De Kerckhove führt hier die Entstehung des klassischen griechischen Theaters auf die Methode der Spektakularisierung zurück, die in der Ablösung des Betrachters von der Erfahrung des Sehens und der Transformation in den reinen Beobachter besteht, welche de Kerckhove als Akt der Entfremdung beschreibt. 8 Vgl. Duden, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim, Wien, Zürich 1963, S. 656. Laut der Eintragung im Duden erhält der Begriff Spektakel an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einen neuen Geltungsbereich, indem er Aktionen und Repräsentationen umfasst, welche die Aufmerksamkeit ungebührlich fesseln, den Blick fangen oder das Ohr beleidigen. Diese bis heute geltende Prägung des Begriffs rührt aus dem Zuviel an Veräußerung, der Überreizung sinnlicher Eindrücke, das die Autonomie des Beobachtersubjekts unterläuft und deshalb zu Passivität bis hin zu völliger Vereinnahmung führt. 9 Reinhard Koselleck, Kritik und Krise, Frankfurt a.M. 1973. 10 Ich erinnere nur an die verschiedenen Versuche, das Theater von dieser ‘Apparatur’ zu befreien, indem es in Rituale oder festliche Akte eingebunden wurde, um intensive körperliche Erfahrungen zu ermöglichen, wie bei Rousseau, Artaud etc. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass Theater selbstverständlich nicht ausschließlich als Medium des Sehens fungiert, sondern alle anderen Formen der Wahrnehmung einschließt. Wenn hier von Visualität die Rede ist, dann sind damit also immer Formen des Sehens in Beziehung zu anderen Formen der Wahrnehmung gemeint. Ausgangspunkt für diesen Ansatz ist die Auffassung, dass Visualität als kulturelle Praxis zu verstehen ist, die selbst wiederum bestimmten Diskursen, Institutionen, Gewohnheiten und Sichtweisen unterliegt. 11 Damit einher geht die Auffassung, dass sich das Theater einerseits im Zuge geschichtlicher Transformationsprozessen von Auffassungen über das Sehen verändert hat, andererseits aber auch das Theater selbst wiederum kulturelle Vorstellungen über Wahrnehmung und Sehen beeinflusst hat. 12 Wikipedia vermeldet folgende Details zu diesem Attentat: “Der Anschlag von Bali im Jahr 2002 ereignete sich am 12. Oktober in der Stadt Kuta auf der indonesischen Insel Bali und tötete 202 Menschen und verletzte über 209 zum Teil schwer. Der Bombenanschlag war der bisher folgenschwerste Akt von Terrorismus in der indonesischen Geschichte. Die Opfer waren mehrheitlich ausländische Touristen, hauptsächlich Australier. Sechs Deutsche und drei Schweizer Staatsangehörige, aber auch viele Einheimische, haben bei dem Attentat ihr Leben verloren. Der Anschlag rief weltweit Bestürzung und Empörung hervor und hatte erhebliche Folgen für den Tourismus auf der beliebten Ferieninsel. Einige Indonesier wurden später für ihre Beteiligung an der Tat zum Tode verurteilt. Im Oktober 2002 stand Abu Bakar Bashir, vermutlich Gründer und spiritueller Führer der Terrororganisation Jemaah Islamiyah, vor Gericht, wurde aber erst im März 2005 für schuldig befunden, an dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein. Als Ziel des Anschlages wurden australische Touristen vermutet, die von muslimischen Extremisten stellvertretend für ihr Herkunftsland als Statthalter der USA angesehen wurden. Australien beteiligte sich am Krieg gegen den Terrorismus. Am Samstag dem 12. Oktober, etwa 23: 05 Uhr Ortzeit (15: 05 UTC), explodierte in Paddy’s Bar eine elektronisch gezündete Bombe, vermutlich in einem Rucksack versteckt. Die Bombe war klein und wirkungsvoll, tötete den Rucksackträger, wahrscheinlich ein Selbstmordattentäter. Die Verletzten flohen sofort aus dem Kritik des Spektakels 95 Lokal auf die Straße. Etwa zehn bis fünfzehn Sekunden später erschütterte vor dem Sari Club eine zweite Explosion das Geschehen, ausgelöst durch eine fast 1 t schwere in einem weißen Mitsubishi Van versteckte und mit einer Fernbedienung gezündete Autobombe. Fast gleichzeitig explodierte eine Bombe vor dem Konsulat der USA in der Inselhauptstadt Denpasar, die aber nur Sachschaden anrichtete. In Kuta bot sich ein Bild der Zerstörung, Verletzte und Tote lagen auf der Straße, Menschen liefen in Panik und Verzweiflung umher. Die Bombe zerstörte Fenster in der ganzen Stadt und hinterließ einen fast anderthalb Meter tiefen Krater im Boden. Das örtliche Krankenhaus war nicht in der Lage, die vielen Verletzten, die meisten mit Brandwunden, zu behandeln. Viele Schwerverletzte flog die australische Luftwaffe nach Darwin und in andere australische Städte aus. Die endgültige Anzahl der Opfer lag bei 202, mehrheitlich Besucher der beiden Bars. Mehrere hundert Menschen litten an Verbrennungen und anderen Verletzungen. Die größte Gruppe der Opfer mit 88 Personen waren australische Urlauber. Außerdem starben 38 indonesische, 26 britische, 7 amerikanische, 6 deutsche, 5 schwedische, 4 holländische, 4 französische, 3 schweizerische, 3 dänische und Staatsangehörige anderer westlicher Nationen. Drei Leichen blieben unidentifiziert und wurden im September eingeäschert. Das ‘Bali bombing’ wird manchmal als ‘Australiens 11. September’ gesehen, wegen der hohen Anzahl australischer Todesopfer und Verletzter.” Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Anschlag_ von_Bali_2002, zuletzt gesichtet am 6.11.2008. Drei der Attentäter sind am 8.11.2008 mit der Todesstrafe belangt worden. 13 Vgl. dazu Boris Groys, “The Fate of Art in the Age of Terror”, in: Bruno Latour and Peter Weibel (Hg.), Making Things Public. Atmospheres of Democracy, London, Cambridge Massachusetts 2005, S. 970-977. 14 Friedrich Schiller, “Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet)”, in: Friedrich Schiller, Theoretische Schriften, Köln 1999, S. 9-21; S. 13. 15 Schiller, “Was kann eine Schaubühne”, S. 21-22. 16 Schiller, ebd., S. 18. 17 Vgl. Jacques Rancière, The Politics of Aesthetics. The Distribution of the Sensible, London, New York 2004, S. 23. 18 Koselleck, Kritik und Krise, S. 196-199; Fußnote 155. 19 Es ist wahrscheinlich müßig, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Rousseau als Erfinder dieses Genres gilt, auch wenn er sicherlich nicht dessen Spektakelgehalt im Sinn hatte. 20 Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a.M. 2002, S. 23. 21 Crary, ebd., S. 21. 22 Vgl. Daniel Gerould, “Melodrama and Revolution”, in: J. Bratton, J. Cook, C. Gledhill (Hg.), Melodrama. Stage, picture, screen, London 1994, S. 185-198; S. 185. 23 Peter Brooks, “Melodrama, Body, Revolution”, in: Melodrama, S. 11-24; S. 16. 24 Vgl. dazu u.a. Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M., Basel 2000. 25 Vgl. Charles Desnoyer, Le Naufrage dela Méduse. Drame au cinq actes. In der ersten Ausgabe wird folgendes angegeben: “Représenté pour la première fois, à Paris, sur le théâtre de l’Ambigue Comique, le 27 avril 1839”. Die niederländische Übersetzung ist mit folgenden Angaben versehen “De Schipbreuk der Medusa. Toneelspel in vijf bedrijven / naar het Fransch van Ch. Desnoyer; Rotterdam: H. Nigh 1840”. 26 Alexander Rauch, “Klassizismus und Romantik. Europas Malerei zwischen zwei Revolutionen”, in: R. Toman (Hg.), Klassizismus und Romantik. Architektur, Skulptur, Malerei, Zeichnung 1750-1848, Köln 2000, S. 318-479; S. 410. 27 Julian Barnes, Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln, München 1994, S. 135. 28 Vgl. dazu auch Christine Riding, “The Fatal Raft”, in: History Today, 53, 2 (2003). 29 Tom van Kalmthout, “De Hollandsche Schouwburg 1804-1876”, in: P. Korenhof (Hg.), De Koninklijke Schouwburg [1804- 2004], Zutphen 2004, S. 48-79; S. 71. 96 Kati Röttger 30 Anonym, in: De Beeldende Kunsten, Rubriek “Mengelwerk” (1840), S. 288-291; S. 290. [Übersetzung aus dem Niederländischen K.R.] 31 Ebd., S. 290. 32 Kneppelhout in: Jan Hein Furnée, Vrijetijdscultuur en sociale verhoudingen in Den Haag, 1850-1890, Dissertation Rijksuniversiteit Groningen 2007, S. 316. 33 Ebd., S. 319. 34 Christine Riding, “Staging The Raft of the Medusa”, in: Visual Culture in Britain 5, 2 (2004), S. 1-26; S. 9. 35 Hans Belting, Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998, S. 121. 36 Riding, “Staging The Raft”, S. 2. Ein Markt nationaler Gefühle? Das niederländische Theater im 19. Jahrhundert Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm (Amsterdam) Im jüngst erschienenen National Theaters in a changing Europe werden die Niederlande als eines der europäischen Länder genannt, die nie ein Nationaltheater besaßen. 1 Auf den ersten Blick erscheint diese Annahme richtig. Denn weder eine in aristokratischen Kreisen gewachsene und an den Hof gebundene Institution wie die Comédie Française, noch ein bürgerliches Nationaltheater, wie es zum Beispiel im 18. Jahrhundert in Deutschland seinen Anfang nahm, hat es in den Niederlanden je gegeben. Allerdings wurde das Phänomen des Nationaltheaters im 19. Jahrhundert in den Niederlanden ausführlich diskutiert. Die Frage ist jedoch, wie der Begriff des “Nationaltheaters” damals definiert wurde. Die plötzliche Relevanz eines möglichen Nationaltheaters entstand aus einem breiteren geschichtlichen und politischen Interesse an Fragen zur nationalen Identität der Niederlande. Gleichzeitig nahmen Reichweite und Macht des Theaters in den Niederlanden nach 1800 schnell zu, womit es zu einer wichtigen Plattform wurde, die die Möglichkeit bot, sich mit den Fragen zur eigenen Identität auseinander zu setzen. Dass das Theater in dieser Zeit ein wichtiger Bestandteil der Diskussionen um Nationalität und Identität war, ist dadurch nachzuvollziehen. Wie die Teilnehmer dieser Diskussionen den Begriff des Nationaltheaters genau definierten, bleibt dagegen schwierig zu beantworten und bedarf einer differenzierten Untersuchung. Im Folgenden wird ausgehend von dem allgemeinen nationalen Diskurs, der sich seit Ende des 18. Jahrhunderts in den Niederlanden herausgebildet hat, untersucht, wie sich dieser im 19. Jahrhundert im niederländischen Theater niederschlug. Der Artikel wirft dabei einige Fragen auf und bildet somit den Ansatz für weitere Untersuchungen. Nationale Gefühle in der Amsterdamse Schouwburg Im Jahr 1831 wurde in der Stadsschouwburg Amsterdam das “dramatische Gedicht” Hulde aan de nagedachtenis van Hollandsch zeeheld, J.C.J. Van Speyk des Amsterdamer Rechtsanwaltes und Schriftstellers Jacob van Lennep (1802-1868) aufgeführt. Es handelte sich dabei um ein “Gelegenheitsgedicht”, das ein hochaktuelles Ereignis aus dem Belgischen Aufstand wiederaufleben ließ. Der südliche Teil des Vereinigten Königreiches - das seit 1814 aus den Landesteilen bestand, die heute die Niederlande und Belgien bilden, - kämpfte seit 1830 um seine Unabhängigkeit vom Norden. Dieses Ziel wurde 1839 endgültig mit der Unabhängigkeit Belgiens erreicht. Die Hulde bezog sich auf die schockierenden Ereignisse aus diesem Kampf: Ein Kanonenboot der niederländischen Truppen hatte in Schelde bei Antwerpen am nördlichen Kai festgemacht. Eine Windböe löste die Taue und wehte das Schiff zum südlichen Kai, wo es in die Hände der Belgier zu gelangen drohte. Der Kapitän, Jan van Speyk (1802-1831), wusste dies jedoch zu verhindern. Er ließ die Mannschaft von Bord springen und warf eine brennende Zigarre in den Pulvervorrat, woraufhin das Schiff samt Kapitän in die Luft flog. Mit einem Mal wurde dieser ehemalige Amsterdamer Waisenjunge zu einem Nationalhelden. Man verglich ihn mit den See- Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 97-108. Gunter Narr Verlag Tübingen 98 Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm helden des ruhmreichen 17. Jahrhunderts, unter anderem mit Michiel de Ruyter und Maarten Tromp, die bedeutende Rollen in der niederländischen Geschichte gespielt hatten. 2 Auch dem Publikum wurde die Ähnlichkeit mit diesen Helden vor Augen geführt: Die Schauspielerin Mimi Engelman- Bia (1809-1889) trat bei einer Vorstellung der Hulde aan Van Speyk in der Amsterdamse Schouwburg in einem “nationalen Kostüm” auf, das in der damaligen Zeit auch außerhalb des Theaters in Mode war. Mit seinen großen Puffärmeln und dem großen Kragen erinnerte das Kostüm an die Kleidung, die auf den Gemälden Johannes Vermeers zu sehen ist. Der Hut war mit schmalen, herabhängenden Schleiern verziert, die die Wimpel der Schiffe des goldenen 17. Jahrhunderts darstellen sollten. 3 Das “Gelegenheitsstück” war ein großer Erfolg. Das war vor allem seinem nationalen Inhalt zu verdanken. Auch die restliche Zusammenstellung des Repertoires lässt vermuten, dass das niederländische Theater in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts einen Markt nationaler Gefühle kannte. In der Amsterdamse Schouwburg wurden in dieser Periode gut und gerne 17 “Gelegenheitsstücke” und 33 vaterländische Geschichtsstücke gezeigt. Die Anzahl an Vorstellungen, die diese Stücke zusammen ergaben, bildete rund 80 Prozent des gesamten Repertoires. 4 In den patriotischen Geschichtsstücken suchte man ganz bewusst nach Parallelen zur eigenen Zeit. Die Vergangenheit wurde verherrlicht und für eigene Zwecke missbraucht. So wurde zum Beispiel propagiert, dass man die moralische und wirtschaftliche Blüte des 17. Jahrhunderts durch die Wiederherstellung der alten Grenzen wieder hätte aufleben lassen können. Der Historiker Van Sas unterscheidet in seiner Studie De metamorfose van Nederland zwei Arten des niederländischen Nationalismus in der damaligen Zeit: Zum einen nennt er den aktiven, ideologischen, nach außen gerichteten Nationalismus, der sich vor allem in Zeiten politischer Unruhen äußerte. Zum anderen spricht Van Sas von einem latenten nationalistischen Gefühl, das zwar auch in politisch ruhigen Zeiten zu spüren gewesen sei, jedoch sehr viel impliziter war. 5 Der Nationalismus auf der Bühne der 30er Jahre ist dem erstgenannten zuzuordnen. Die eigene Nation wurde verherrlicht und alles Außenstehende und Andersartige verteufelt. Damals richtete sich die Ablehnung gegen die Belgier, doch sie war ebenso kennzeichnend für die nationalen Gefühle der Jahre 1780 (gerichtet gegen Oranje und England), 1813 (als die Franzosen die Niederlande besetzten) und für die Zeit um 1900 (aufgrund der Bauernkriege und des kolonialen Konflikts in Niederländisch-Indien/ Lombok und der Atjeh-Kriege). 6 Ob damals auch auf der Bühne Stellung bezogen wurde, müsste näher untersucht werden, doch es lässt sich vermuten, dass dem so war. Aus der Periode von 1810-1813, als die Niederlande von Frankreich annektiert waren, gibt es Berichte über scharfe anti-französiche Stücke, auch wenn diese nicht alle durch die französische Zensur kamen. In den dazwischenliegenden Perioden des 19. Jahrhunderts war der Vaterlandskult zwar weniger deutlich, unterschwellig war er jedoch durchaus gegenwärtig. Das patriotische Geschichtsdrama war aus diesem Grunde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Garant für gutgefüllte Theatersäle. 7 Stücke niederländischer Autoren waren in dieser Periode ein wahrer Publikumsmagnet, einzig und allein, da sie aus niederländischer Hand geflossen waren. 8 Dass die Machtposition der Niederlande bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts umstritten war, hatte zur Folge, dass man sich der eigenen Identität wieder mehr zuwandte. 9 Dies wurde unter anderem in Äußerungen deutlich, die in einer großen Anzahl spektatorialer Zeitschriften getroffen wurden. Vorreiter dieser Zeitschriften war das durch den Ein Markt nationaler Gefühle? 99 Hauslehrer und Journalisten Justus van Effen (1684-1735) gegründete einflussreiche Blatt De Hollandsche Spektator (1731-1735). Van Effen gab der allgemeinen Idee der Aufklärung, der formbaren Gesellschaft, eine niederländische Note und äußerte seine Besorgnis über die Position des Landes in Europa. Die Söhne der reichen Kaufleute lägen auf der faulen Haut und lebten von dem, was ihre Väter und Großväter im 17. Jahrhundert mit harter Arbeit verdient hätten. Dies war die Botschaft des Herrn Van Effen. Das Faulenzen sei eine verhasste französische Unsitte, die zu den Niederländern nicht passe. Besserung sei nur in Sicht, würde man auf alt-vaterländische Werte wie Aufrichtigkeit, Treue, Einfachheit, Sparsamkeit und Demut zurückgreifen. Auch nachfolgende Spektatoren predigten in einem sehr ähnlichen Stil. 10 Die Position des Theaters Der aufgeklärte Bürger beschäftigte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stets mehr mit dem Theater. Recht schnell erschienen in den Niederlanden die ersten spezialisierten Theaterzeitschriften- und Spektatoren. Die ersten in den Jahren 1762-63: Der Hollandsche Toneel-beschouwer, der Observateur des Spectacles und Schouwburg Nieuws. Darauf folgten bald mehr: Der Ryswykze Vrouwendaagze Courant (1774), der Lachebek (1780-81), der Tooneelspelbeschouwer (1783-84), der Tooneelspelbeöordeelaar (1784), der Tooneelspektator (1792), die De Amsteldamsche Nationaale Schouwburg (1795) und die Tooneelmatige Roskam (1799). Im 19. Jahrhundert sollten noch viele weitere Zeitschriften folgen. 11 Außerdem entstanden damals viele Genossenschaften, in denen über Kunst und Literatur diskutiert werden konnte. Auch dort wurden die Nation und das Vaterland oft zu einem wichtigen Thema. Das Theater war Teil dieses Genossenschaftskultes: In Haarlem wurde 1784 zum Beispiel die Theatergenossenschaft Leerzaam Vermaak gegründet. 12 Zwei Amsterdamer Theater - das Théatre Français an der Innen-Amstel von 1784 und die Hoogduitsche Schouwburg in der Amstelstraat von 1791 - können ebenfalls als Genossenschaftstheater gesehen werden. Dort gab es regelmäßig geschlossene Vorstellungen, die nur für Mitglieder der Genossenschaft zugänglich waren. Mit alledem entstand eine Art “theatrale Kommunikationsgesellschaft”, zu der auch die öffentlichen Theater gezählt werden können. Die theatrale Kommunikationsgesellschaft erlangt nationale Dimensionen Im Laufe des 19. Jahrhunderts erlangte diese “Kommunikationsgesellschaft” nationalen Dimensionen. Zuallererst entstand ein Netzwerk von Theatergebäuden. Diese Entwicklung wurde erstmals im 2007 erschienenen Handbuch Theater in Nederland sinds de zeventiende eeuw aufgezeigt und mit Zahlen unterbaut. 13 Es handelt sich dabei um eine Inventarisierung und Beschreibung aller festen Theatergebäude, die seit 1638 gebaut und/ oder eingerichtet wurden. (1638 wurde in Amsterdam die erste niederländische “Schouwburg” eröffnet.) Auf Basis dieser Inventarisierung konnte festgestellt werden, dass die Anzahl der Theater in den Niederlanden nach 1800 explosiv gestiegen ist. Bis 1800 spielten reisende Gesellschaften in Theaterzelten aus Holz und Segeltuch, die für kurze Perioden in der Stadt aufgestellt wurden. Erst ab 1800 verlagerten sich die Vorstellungen in feste Theatergebäude. Zwischen 1800 und 1875 ist die Anzahl der festen Theatergebäude von 13 auf 54 gestiegen. Am Ende des Jahrhunderts hatte sie sich mit 79 festen Theatern versechsfacht. 14 100 Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm Erklärungen zum Wachstum Für dieses explosive Wachstum lassen sich einige Erklärungen finden. 15 Zunächst muss an dieser Stelle der politische Wandel von 1795 genannt werden. Nach einem heftigen, innenpolitischen Streit, der über Jahre andauerte, übernahm eine fortschrittliche Partei von Patrioten, mit Unterstützung der französischen Armee, die Macht im Land. Statthalter Willem V wurde aus seinem Amt vertrieben. An Stelle des alten Regierungssystems mit sieben relativ mächtigen Provinzen, sollte ein neuer Einheitsstaat treten, der, wie in Frankreich, auf den Rechten von Mensch und Bürger, Demokratie und Volkssouveränität basieren sollte. Das Zustandekommen dieser “Batavischen Republik” hatte die Trennung von Kirche und Staat zur Folge. Damit wurde der Einfluss der Kirche auf das Theater geschwächt. Gerade von Seiten der Kirche wurde oft gegen das Theater agiert. Lange hatten die Prediger das Theater als ein Medium verteufelt, das nur die “Verlockung des Fleisches” zur Folge haben konnte. Ein desaströser Brand im Jahr 1772, der die Amsterdamse Schouwburg vollkommen zerstörte und bei dem 19 Menschen ums Leben kamen, wurde von den Predigern nur all zu gerne als Strafe Gottes interpretiert. Diese kritischen Stimmen verstummten zwar nicht, doch sie konnten die Arbeit der Theatervorstände nicht länger beeinflussen. Des Weiteren gab es ab 1850 in den Niederlanden einen wirtschaftlichen Aufschwung, der die Anzahl der Bessergestellten in hohem Tempo ansteigen ließ. Mit der Steigerung des Lebensstandards wuchs auch das Bedürfnis nach Unterhaltung. 16 Dazu kam, dass stets mehr Menschen vom Land in die Städte zogen. Aus den demographischen Zahlen der Jahre 1830-1900 lässt sich schließen, dass ein immer größerer Teil der niederländischen Bevölkerung in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern lebte. 17 Die Erklärung für diese Entwicklung findet sich in der Industrialisierung. Durch die Mechanisierung im Landbau gab es in den ländlichen Regionen immer weniger Arbeit, wodurch die Menschen gezwungen waren, in die Städte zu ziehen. Dieser Trend wurde allerdings nicht ausschließlich aus ökonomischen Gründen verursacht, sondern auch aus kulturellen. 18 In vielen Städten stieg die Anzahl potentieller Theaterbesucher stark an. Damit wuchs die Möglichkeit, ein eigenes Theater zu betreiben, ohne (all zu große) Verluste zu erleiden. Ein dritter Faktor war die Infrastruktur. Die Niederlande waren im 19. Jahrhundert stets besser zu bereisen. Dadurch nahm die “theatrale Mobilität” stark zu. Rund 1800 begann, erst in Süd- und Nord-Holland, der Ausbau des Schienennetzes. 1850 waren so gut wie alle “Reichswege” verbessert und befestigt, woraufhin mit dem Ausbau der sekundären Wege begonnen wurde. Komfortable Postkutschen und Omnibusse, die nach fester Dienstregelung fuhren, ersetzten die alten Kutschen und Treckschuten. 19 Zwischen 1839 und 1847 wurde die erste Eisenbahnlinie angelegt, die Amsterdam, Haarlem, Leiden, Den Haag, Delft, Schiedam und Rotterdam mit einander verband. 1845 wurde der Rhijnspoorweg fertiggestellt und von nun an konnte auch die Strecke Amsterdam - Utrecht - Arnhem per Zug zurückgelegt werden. Durch die Verabschiedung des Eisenbahngesetzes im Jahr 1860 entstanden in den gesamten Niederlanden Zugverbindungen. 20 Auf diese Weise wurde es für die bessergestellten Theatergesellschaften, die vor allem im Westen des Landes etabliert waren, viel einfacher, in der Provinz aufzutreten. Nicht nur wegen der neuen Beförderungsmöglichkeiten wurde ein Auftritt in ländlichen Regionen einfacher: Vereinbarungen mussten ab 1850 nicht mehr schriftlich getroffen werden. Dies war nun auch per Telegraph, oder später, über das Telefon möglich. Wichtige Rollen könnten auch die wachsenden Auflagen und die weitere Verbreitung der Zeitungen gespielt haben. Nach 1869, als Ein Markt nationaler Gefühle? 101 Zeitungen nicht mehr pro bedruckter Seite versteuert wurden, berichteten diese stets mehr über Ereignisse im kulturellen und literarischen Bereich. 21 Ein letzter Faktor, der den Trend zu festen Theatergebäuden erklären könnte, ist die Stadterklärung. 1874 wurde das “Gesetzt zur Regelung und Vollendung des Festungssystems” verabschiedet. Der Deutsch-Französische Krieg 1870-1871 hatte gezeigt, dass die alten Festungen gegen die modernen Kriegsgeräte keinen ausreichenden Schutz mehr boten. Aus diesem Grund wurde per Gesetz eine neue Art der Verteidigung vorgeschrieben, bei welcher “Überschwemmung” das Zauberwort war. Durch das Fluten von Ländereien rund um die Städte konnte der Vormarsch der feindlichen Truppen gestoppt werden. Diese Gesetzesänderung hatte zur Folge, dass die Festungen, die eine große Anzahl niederländischer Städte umschlossen, abgerissen wurden. Auf diese Weise entstand zum ersten Mal seit Jahrhunderten in den Innenstädten Raum für neue, große Bauprojekte. Nijmegen und Groningen sind zwei Beispiele, bei denen dieser Raum zum Bau von Theatern genutzt wurde. Initiatoren Doch wer war letztendlich verantwortlich für den Ausbau der theatralen Infrastruktur? 22 Wenn es um die Anzahl der festen Theatergebäude geht, waren es die Theaterunternehmer: Unternehmer, wie sie auch schon vor 1795 für das Theaterangebot in den Niederlanden verantwortlich waren. Eine stattliche Anzahl dieser Unternehmer wandte sich vom Theaterzelt ab und engagierte sich in einer großen oder mittelgroßen Stadt. Dort eröffneten sie einen Theatersaal, oft in Kombination mit einem Café oder einer Herberge, die sie so kostengünstig wie möglich zu betreiben versuchten. In einigen Orten war es der Gemeindevorstand selbst, der die Initiative ergriff. So stimmte der Gemeinderat von Nijmegen am 7. März 1838 dem Plan zu, einen Ort zu erschaffen, an dem sich die Bevölkerung “ohne Unterscheidung des Standes” auf angenehme Weise entspannen und bilden lassen konnte. Anderthalb Jahre später öffnete die Nijmeegse Schouwburg ihre Türen. Außerdem gab es private Initiativen zum Bau eines Theaters mit zusätzlichem Konzertsaal. Initiativen, die vor allem vom wohlhabenderen Bürgertum ins Leben gerufen wurden. Als 1848 die Revolution ihre Schatten über Europa warf, fällte der niederländische König Willem I eine überstürzte Entscheidung: Aus Angst vor Unruhen im eigenen Land stimmte er unter Zeitdruck einer Grundgesetzänderung zu, die dem wohlhabenden Bürgertum politische Macht zusprach: Dieses konnte nun seinen eigenen Volksvertreter wählen. Die Bürger erhielten mit einem Mal wichtigen politischen Einfluss und waren entschlossen diesen auch zu nutzen, um ihr Bildungsideal zu realisieren. Auke van der Woud unterscheidet in seinem Buch Een nieuwe wereld. Het ontstaan van het moderne Nederland zwei Arten von Bildung. Zum einen die “äußere Bildung”, mit der er das Streben bezeichnet, die Natur, unter anderem durch das Bauen von Straßen, Schienen, Wasserwegen und Kommunikationsnetzwerken (Post, Telegraph, Telefon) zu beherrschen und zum anderen die “innere Bildung”. 23 Die vom Bürgertum angestrebte “Bildungsoffensive” richtete sich auf die Aspekte der “inneren Bildung”, wie Gesundheit, Hygiene und eine allgemeine Bildung. Das Theater galt dabei als ein wichtiges Instrument. Nach der Trennung von Kirche und Staat 1795 wurde auch in den Niederlanden auf den erzieherischen Charakter des Theater gesetzt. Anders als die orthodoxen Prediger annahmen, würde das Publikum im Theater nicht zum Schlechten verleitet, sondern geradezu durchtränkt vom Begriff des Guten. So wurde unter anderem in der Zeit- 102 Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm schrift Tooneelkijker argumentiert, dass das Theater von allen Medien das meist geeignetste sei, um das Publikum zu erziehen. Anders als beim Lesen von Büchern oder Hören einer Predigt erlebe der Zuschauer im Theater die Helden in Fleisch und Blut. Allein durch diese Tatsache solle er im wirklichen Leben viel eher dazu neigen, das ehrbare Verhalten der Akteure nachzuahmen. 24 Ein Nationaltheater Ein Begriff, der in der Diskussion um die Rolle des Theaters innerhalb der Bildungsoffensive immer wieder auftaucht, ist der des Nationaltheaters. Dieser wurde jedoch im Laufe der Zeit stets neu definiert. Zu Beginn waren damit ganz konkrete Theater gemeint: die Theater in Den Haag, Brüssel oder Amsterdam. 25 Im übertragenden Sinne hatte der Begriff eine nationalistische, “vaterlandsliebende” Bedeutung. Das Theater sollte zu einem Verbundenheitsgefühl mit der Nation erziehen, und dies ließ sich am besten mit ursprünglich niederländischen Stücken, die Themen aus der eigenen Geschichte behandelten, erreichen. Das große Vorbild war die Comédie Française in Paris. Doch auch in Deutschland und an anderen Orten im Europa des 19. Jahrhunderts gab es Initiativen, die als Vorbild genommen wurden. 26 Es ist übrigens nicht bekannt, wann in den Niederlanden die ersten Forderungen nach einem Nationaltheater aufkamen - die müsste durch genauere Untersuchungen geklärt werden. Sicher ist jedoch, dass die Amsterdamse Schouwburg 1795 in Amsterdamsche Nationaale Schouwburg umgetauft wurde. Diese Namensänderung bedeutete, dass der Staat von nun an darauf achtete, dass das Theater “durch das Zeigen von moralischen Theaterstücken [zum] nationalen Geist [...], zu Tugend und Vaterlandsliebe” beitrug. Die Theater mussten ihr Programm darum vorab dem Minister für Nationale Bildung zur Genehmigung vorlegen. 27 Doch der Einfluss des Staates auf das Theater fand ein schnelles Ende. Der Versuch, das Theater zu einer Institution der nationalen Erziehung zu machen, war gescheitert. 1801 wurde das “Ministerium für Nationale Bildung” wieder aufgehoben, was vor allem am Mangel finanzieller und personeller Mittel lag. Die Amsterdamse Schouwburg wurde wieder “Stadsschouwburg” genannt. Die Forderungen nach einem Nationaltheater allerdings blieben. Einige Beispiele: 1818 schrieb Matthijs Siegenbeek, 1797 in Leiden zum Professor für “Vaterländische Sprache und Beredsamkeit” ernannt, einen offenen Brief an die niederländische Regierung, in dem er für die Einführung eines Nationaltheaters plädierte. Drei Jahre später, 1821, veröffentlichte Petrus van Limburg Brouwer (1829-1873) aus Groningen eine Abhandlung mit dem kuriosen Titel: Verhandeling over de vraag: bezitten de Nederlanders een nationaal tooneel met betrekking tot het treurspel? Zoo ja, welk is deszelfs karakter? Zoo neen, welke zijn de beste middelen om het te doen ontstaan? Is het in het laatste geval noodzakelijk eene reeds bestaande school te volgen, en welke redenen zouden eene keus hierin moeten bepalen? 28 1851 gründete König Willem III, auf Betreiben von Jacob van Lennep und anderen Amsterdamer und Haagsen Theaterreformern, eine Kommission “zur Planung und Angabe der Mittel zur Genesung des Nationaltheaters”. 1866 ertönte im De Nederlandsche Spektator vom jungen Utrechtschen Juristen J.N. van Hall (1840-1918) der Aufruf sich “im Kampf für ein Nationaltheater, im Kampf gegen Geschmacklosigkeit, Unwissen und Routine” zu engagieren. Erste Erfolge konnten die Forderungen erst 1870 vermelden, als unter Einfluss von Van Hall und einigen anderen bekannten Niederländern der Nederlands Tooneelverbond gegründet wurde, der das Nationaltheater fördern sollte. Der erste konkrete Erfolg war Ein Markt nationaler Gefühle? 103 die Veröffentlichung einer neuen Theaterzeitschrift, die mehr als ein Jahrhundert bestehen sollte. Der zweite war die Eröffnung der ersten regulären Schauspielschule im Jahr 1874. Der dritte die Gründung einer neuen Theatergesellschaft im Jahr 1876, der Vereeniging ‘Het Nederlandsch Tooneel’, die in kürzester Zeit zur wichtigsten Theatergesellschaft der Niederlande heranwachsen sollte und behauptete, die nationale Gesellschaft zu sein, auch wenn sie diesen Titel nie offiziel verliehen bekam. Ein Markt nationaler Gefühle? Die immer wiederkehrenden Forderungen nach einem Nationaltheater lassen die Frage aufkommen, ob es damals so etwas wie einen Markt nationaler Gefühle gegeben hat: Wenn es nötig war, sich immer wieder für ein Nationaltheater einzusetzen, kann es dann wirklich so viel Unterstützung dafür gegeben haben, wie aus den Zahlen der Aufführungen hervorgeht? In den vorhergehenden Abschnitten wurde angegeben, dass in der Periode des politischen Nationalismus (1830- 40) eine große Begeisterung für nationale Stücke, die die Eigenart der Niederländer thematisierten, herrschte. Außerdem waren während der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl vaterländische Geschichtsstücke, als auch ursprünglich niederländische Stücke erfolgreich. Betrachten wir jedoch das Gesamtbild, sehen wir, dass Stücke dieser Art ein ziemlich seltenes Phänomen waren. Dem Repertoire der Amsterdamse Schouwburg aus den Jahren 1814-1841 ist nämlich zu entnehmen, dass ungefähr 80 Prozent der gesamten Aufführungen aus übersetzten Werken ausländischer Autoren bestand. Schriftsteller, deren Namen regelmäßig die Plakate schmückten, waren zum Beispiel De Belloy, Bouilly, Duval, Iffland, Kotzebue, Mercier, Picard, Pixérécourt, Scribe, Racine und Voltaire, vielseitige Autoren aus ganz Europa also. 29 Über diesen internationalen Charakter des gespielten Repertoires beklagte man sich im 19. Jahrhundert viel und lautstark. Der Amsterdamer Kaufmann und spätere Professor der Ästhetik und Kunstgeschichte, Joseph Albertus Alberdingk Thijm (1820-1889), war einer der notorischsten Kläger. Er betitelte die Amsterdamse Schouwburg 1840 als ein “Sammelsurium der schmutzigsten Bewegungen der nicht-heimischen Literaturen, unerträglich für das Auge und ekelhaft für den, der es wagt sich ihm auch nur in irgendeiner Form zu nähern”. 30 Auch Potgieter (1805-1875), Schriftsteller und Gründer der Zeitschrift De Gids, war ein solcher Kläger. Dies lässt die Frage aufkommen, was denn nun wirklich so schlimm war am internationalen Charakter des niederländischen Theaters. Warum hätte ein Nationaltheater dessen Platz einnehmen sollen? Zum einen wurden dafür Argumente von allgemein erzieherischer Art angeführt. Es sollten niederländische Stücke gezeigt werden, da diese die niederländische Volksart am besten wiedergeben könnten. Einige verbanden diese Frage mit ästhetischen Argumenten: Was aus dem Ausland importiert wurde, waren nicht die vertrauten Trauer- und Lustspiele. Es handelte sich dabei um neue Genres, wie das Vaudeville, das bürgerliche Drama und das Melodrama. Den Genuss, den man seit jeher beim Anhören von Tragödien mit ihren schönen Versen empfand, machte Platz für das Vergnügen, das man bei einem Spektakelstück erlebte. Doch es ging um mehr, wie die Forschung erst seit jüngerer Zeit belegen kann. Es ging den Befürwortern des Nationaltheaters nämlich nicht ausschließlich um die allgemeine Erziehung des Publikums zu braven Bürgern oder um die Ästhetik, wie vorher angenommen wurde. Einer von ihnen, Jacob van Lennep - der 1851 ein Gutachten über den Zustand des Theaters schrieb und welcher Verfasser des Gedichtes über Van Speyk war 104 Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm - produzierte immerhin auch selber Vaudevilles. Er selbst notierte dabei, nota bene, dass die Rolle des Bühnenbildners, des Ballettmeisters und des Komponisten bei dem Erfolg einer Vorstellung nicht unterschätzt werden dürfe. Beschwerden schien er in diesem Punkt nicht zu haben. 31 Nein, das eigentliche Ziel der Vertreter des Nationaltheaters war eine spezielle politische Erziehung des Publikums. Die gewünschte politische Erziehung unterschied sich von Periode zu Periode, wodurch auch der Begriff des Nationaltheaters stets eine andere Bedeutung erhielt. Der beliebige Umgang mit dem Begriff “Nationaltheater” Auf die Namensänderung der Amsterdamsche Nationaale Schouwburg im Jahr 1795 haben wir bereits hingewiesen. Die Änderung des Namens war ein Resultat des Kampfes zwischen den Orangisten, Anhängern des Statthalters Wilhelm V, und den demokratisch orientierten Patrioten. Diesen Kampf konnten die Patrioten 1795 mit Hilfe der französischen Truppen für sich entscheiden. Das Ziel der Patrioten war ein Staat, in dem das Volk souveräner Träger der Staatsgewalt ist. Der Begriff “national” hatte in diesen Jahren somit eine deutliche demokratische Färbung. 1813 kehrte der Sohn des zuvor verstoßenen Statthalters als König Willem I in die Niederlande zurück. Damals galt es den Parteistreit der Vergangenheit so schnell wie möglich zu vergessen: “Einig unter Oranje” lautete die Parole. Auch in dieser Zeit wurden erneut Forderungen nach einem Nationaltheater laut. Oft waren diese mit Klagen über den internationalen Charakter des Repertoires verbunden. Die Kritik richtete sich vor allem gegen den aus Frankreich und Deutschland importierten “Schund” des Melodramas. Das Gift der Kritik war politischer Art: Das Melodrama wäre zu demokratisch und würde die gesellschaftliche Ordnung angreifen, da die niederen bürgerlichen Stände sich darin nicht standesgemäß verhalten würden und die höheren Stände bespotteten. Es wurde befürchtet, dass dies in der Gesellschaft zu Nachahmungen und zu einer erneuten Revolution führen könnte. Diese Bedenken wurden vor allem von den Kreisen um den Schriftsteller Willem Bilderdijk (1756-1831) und der Theaterzeitschrift De Tooneelkijker (1816-1819) geäußert. Sie richteten sich vorwiegend an die höheren Stände, die mit ihrem “französierten” Geschmack und ihrer Vorliebe für das Melodrama ihre gesellschaftliche Verantwortung nicht wahrnehmen würden. National hatte also auch in dieser Zeit eine politische Bedeutung, jedoch war diese der früheren, demokratisch-patriotischen gegenübergestellt. 32 Durch ein Nationaltheater sollte die herrschende, anti-demokratische Politik aufrechterhalten werden. Im Weiteren sollte es zur Verbreitung der niederländischen Werte und Normen dienen. Aus der Theaterkritik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht allerdings hervor, dass Theaterliebhaber mit einem liberalen Charakter in dieser Periode die Meinung vertraten, dass ein Nationaltheater aus dem Ausland importierte Melodramen zeigen sollte, und dies gerne mit einer demokratischen Botschaft. Ein Nationaltheater musste schließlich durch die Mehrheit der Nation getragen werden, und diese Mehrheit, das wird durch die Besucherzahlen der Theater verdeutlicht, befürwortete ein internationales und demokratisches Repertoire. 33 Die Sorge, die durch die Kreise um Bilderdijk geäußert wurde, wurde 1851 in einem Bericht der Kommission von Van Lennep erneut formuliert. Da die Theater in Frankreich und Deutschland seit der Revolutionen von 1848 und der Abnahme der Kontrolle des Staates über die Theater “Feuerstellen von Revolten und Bürgerkrieg geworden” wären, gerieten auch die Theater in den Niederlanden in gefährliche Fahrwasser: Das “aufrührerische”, ausländische Repertoire wäre dort Ein Markt nationaler Gefühle? 105 schließlich auch zu sehen. In den Stücken würde “alles, was reich [und] ansehnlich ist bespottet” und alles, was auf der Leiter der Gesellschaft auf den “unteren” Sprossen stehe, bejubelt. Außerdem würden die Themen aus den “trübsten Quellen der niedersten Leidenschaften” geschöpft. 34 Das niederländische Theater wäre damit eine Schule der schlechten Sitten geworden, die die gesellschaftliche Ordnung zu zerstören drohe. Leider nennen Jacob van Lennep und seine Mitstreiter keine Beispiele von Stücken und Szenen, die die gesellschaftliche Ordnung bedrohen würden. Aber es scheint, dass sie, selbst Vertreter der höheren sozialen Schichten der niederländischen Gesellschaft, verhindern wollten, dass die unteren Klassen sich mit Hilfe des Theaters emanzipierten. 35 Publikum Dies bringt uns zur Frage nach dem Publikum. Gerade wegen der Tiraden von Alberdingk Thijm und der Kommission Van Lenneps wurde in der niederländischen Theatergeschichtsschreibung lange angenommen, dass das Publikum in den Theatern aus den untersten Schichten der niederländischen Bevölkerung bestand. Die Theater wären in den Niederlanden finanziell nicht unterstützt worden und für ihr Fortbestehen ausschließlich auf den Kartenverkauf angewiesen gewesen. Das Angebot wäre darum auf das abgestimmt, was das “Volk” sehen wolle. Der Begriff “Volk” wurde lange als die “Arbeiterklasse” interpretiert. Jüngste Untersuchungen ergaben jedoch, dass die Theater im 19. Jahrhundert nicht immer marktorientiert waren, sondern auch ideologische Ambitionen hatten, für welche sie starke Unterstützung vom Staat erhielten. 36 Mit dem zeitgenössischen Begriff “Volk” konnte außerdem keine soziale Gruppe gemeint sein. Henny Ruitenbeek schlussfolgerte in ihrer Studie zur Amsterdamse Schouwburg in der Periode von 1814-1841, dass selbst auf den Balkonen kaum Arbeiter gesessen haben können: Weder der geringe Lohn, der ihnen gezahlt wurde, noch die Länge ihrer Arbeitstage ermöglichten es ihnen, das Theater zu besuchen. Auch Angehörigen des Kleinbürgertums, wie Lehrern oder kleinen Beamten, war ein Theaterbesuch nur sporadisch möglich. 37 Zu einer vergleichbaren Schlussfolgerung kam Jan Hein Furnée in seiner Studie zur Freizeitkultur und den sozialen Verhältnissen in der Zeit von 1850-1900 in Den Haag. 38 In dem Kapitel, das er der Haagse Schouwburg widmet, kommt ein Subventionsantrag, gerichtet an den Haager Gemeinderat, zur Sprache, der 1863 von 360 Besuchern der Hollandsche toneelgezelschap des Theaters unterzeichnet wurde. Die Besucher schienen allesamt zum breiten Mittelstand zu gehören: Beamte, Ladenbesitzer und Handwerksleute. Der Haager Metallfabrikant Karel Enthoven plädierte vier Jahre lang für die Einführung günstiger Sonntagsvorstellungen, da Haager Arbeiter und Kleinbürger unter den herrschenden Umständen nicht im Stande wären, das Theater zu besuchen. 39 Angaben zum sozialen Hintergrund der Theaterbesucher sind von Henk Gras ausführlich analysiert und zusammengestellt worden. Auch er kommt zu der Schlussfolgerung, dass das Theaterpublikum des 19. Jahrhunderts aus dem gewachsenen Bürgertum kam, gut ausgebildet und mittleren Alters war. Soziale Klassen, auf die diese Beschreibungen nicht zuträfen, wären nur spärlich in den Theatern zu finden gewesen, und die Arbeiterklasse fehle nahezu komplett. 40 Gras geht noch einen Schritt weiter. In einem Artikel von 2002 stellt er fest, dass die Rotterdamer Theater zwar offiziell dem “Heil des Volkes” dienen sollten, dass die Verwaltung der Anteilseigner jedoch darauf abzielte, lieber “unter sich” bleiben zu können. “Die Elite, die das Theater als öffentliches Institut gründete und diesem Institut seine Normen von Preis und Spielzeit auf- 106 Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm erlegte, wollte dieses Angebot also eigentlich in größtmöglicher Geschlossenheit genießen”. 41 Schlusswort und weitere Forschung Es wurde erörtert, dass das Theater seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auch in den Niederlanden mehr und mehr als einflussreiches Medium gesehen wurde. Es spielte, laut Zeitgenossen, eine wichtige Rolle bei der allgemeinen Erziehung und Bildung und konnte zur Bildung der Nation und einem Gemeinschaftsgefühl der Niederländer beitragen. Es wurde deutlich, dass das Theater vor allem in politisch-nationalistischen Perioden als ein Markt nationaler Gefühle fungierte: Stücke mit einem patriotischen Inhalt hatten großen Erfolg. Gleichzeitig wurde das Theater, wegen seines bildenden Einflusses, von den höheren Ständen gefürchtet: Es hatte die nötige Macht, die gesellschaftliche Ordnung umzuwälzen. Die Angst wurde von der Tatsache genährt, dass das Theater seinen Einfluss im 19. Jahrhundert schnell vergrößerte. Was dabei als Katalysator gewirkt haben könnte, ist der Umsturz 1795, durch welchen die Kirche ihren Einfluss auf das Theater verlor. Aber auch der infrastrukturelle Wandel, der die Niederlande ab 1800 Schritt für Schritt zu einem modernen Land machte, wird eine Rolle gespielt haben. Die im 18. Jahrhundert entstandene theatrale Kommunikationsgesellschaft erhielt dadurch - wörtlich gesprochen - eine nationale Dimension. Nicht nur die theatrale Mobilität und die Diskussionsplattformen (Zeitschriften) wurden überregional. Es gab in den Niederlanden auch ein explosives Wachstum hinsichtlich der Anzahl der Theatergebäude. Die nationale theatrale Infrastruktur bildete die materielle Voraussetzung für das Zustandekommen eines Nationaltheaters, dessen Einführung während des gesamten 19. Jahrhunderts gefordert wurde. Dass es nötig blieb, fortwährend für ein Nationaltheater zu plädieren, ließ die Frage aufkommen, ob das Theaterpublikum in den Niederlanden auch außerhalb der politisch-nationalistischen Perioden das Bedürfnis nach einem Markt nationaler Gefühle hatte. Das durchgehend internationale Angebot von Vorstellungen - vor allem in Perioden des nicht politischen Nationalismus - weist auf das Fehlen eines solchen Bedürfnisses hin. Damit ist das letzte Wort jedoch noch nicht gesprochen. Im Gegensatz zu dem, was in der Theatergeschichtsschreibung oft angenommen wurde, scheint der Begriff “Nationaltheater” in den Niederlanden kein eindeutiger Terminus gewesen zu sein. Das Theater war so “national”, wie es den Benutzern dieses Begriffes in ihre politische und soziale Tagesordnung passte: demokratisch, liberal, konservativ. Die Bedeutung unterschied sich nicht nur von Periode zu Periode, sondern auch von Person zu Person. Einige demokratisch gesinnte Meinungsmacher fanden, dass ein Nationaltheater die Stücke zeigen müsse, die das Publikum gerne sehen würde, auch, wenn dies ausländisches Repertoire wäre. Der Markt nationaler Gefühle muss also viel differenzierter gewesen sein, als immer angenommen wurde. Im vorangegangen Text sind einige Erläuterungen zu den Bedeutungen des Begriffes “Nationaltheater” angeführt worden. Welche Definition des Begriffes im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts jedoch genau zutraf, müsste näher untersucht werden. Eine Erklärung für die stets wechselnde Bedeutung des Begriffes sollte in den politisch-gesellschaftlichen Ansichten derjenigen gesucht werden, die auf dem Theatermarkt operierten. Die theatrale Infrastruktur und deren nationale Ausweitung muss ebenfalls näher untersucht werden. Die Anzahl der Theater weitete sich stark aus, aber was war wirklich der Grund für die Entstehung eines nationalen Netzwerkes? Wer genau waren die Bürger, die überall im Land die Initiative ergriffen, Ein Markt nationaler Gefühle? 107 Theatervereinigungen zu gründen oder ihre Stadt mit einem Theater zu versehen? Durch welche Motive ließen sie sich leiten? Hatte die größere Mobilität eine Bedeutung für das Zustandekommen eines Nationaltheaters, oder hatte die Zunahme (internationaler) Kontakte gerade eine Erhöhung der Anzahl ausländischer Vorstellungen zur Folge? Das Repertoire der Amsterdamse, Rotterdamse und Leidse Schouwburg ist aus einigen Perioden bekannt. Die Programmplanung und die Amtsführung der Theaterleiter und Obrigkeiten aus anderen Perioden und aus anderen Teilen der Niederlanden jedoch noch nicht. War das Repertoire im Allgemeinen vor allem ausländischen Ursprungs? Was waren die Motive derjenigen, die das Repertoire zusammenstellten; gründeten sie ihre Wahl auf die Nachfrage oder handelten sie aus ideologischen Überzeugungen? Wurden die ausländischen Stücke ständig oder mit Unterbrechungen gespielt? Wurden möglicherweise Szenen zugefügt und wenn ja, mit welcher Absicht geschah dies? Gab es bei alledem einen Unterschied zwischen den großen Städten im Westen und der Provinz? Und gab es Unterschiede zwischen den verschiedenen großen Städten? In welchem Umfang funktionierte die Theaterkritik: landesweit oder lokal? Auch diese Aspekte müssten in ihrem politisch-gesellschaftlichen Kontext untersucht werden. Durch eine integrierte und differenzierte Untersuchung der hier genannten Aspekte müsste deutlich gemacht werden können, wie das Theater des 19. Jahrhunderts funktionierte und mit welchen (nationalen) Gefühlen auf dem theatralen Markt in den verschiedenen Perioden gearbeitet wurde. Anmerkungen 1 Stephen E. Wilmer, National theaters in a changing Europe, Basingstoke 2008, S. 10. 2 Sandra de Vries, De lucht in gevlogen, de hemel in geprezen. Eerbewijzen voor Van Speyk, Haarlem 1988, S. 18-19. 3 Henny Ruitenbeek, “Vaderlands verleden in de Amsterdamse stadsschouwburg 1830-1840”, in: De Negentiende Eeuw 17 (1993), no. 4, S. 177-191, S. 183. 4 Ibidem, S. 180-181. 5 Niek van Sas, De metamorfose van Nederland. Van oude orde naar moderniteit 1750-1900, Amsterdam 2005, S. 69-86, S. 551-567. 6 Ibidem, S. 76, S. 95, S. 554. 7 Lotte Jensen, “In verzet tegen ‘Duitschlands klatergoud’. Pleidooien voor een nationaal toneel, 1800-1840”, in: Tijdschrift voor Nederlandse taalen letterkunde (2006), S. 289-302; Idem, “Helden en anti-helden. Vaderlandse geschiedenis op het Nederlandse toneel, 1800-1848”, in: Nederlandse Letterkunde (Juli/ Aug 2006), S. 101-135; Ruitenbeek, “Vaderlands verleden”, in: Idem, Kijkcijfers. De Amsterdamse schouwburg 1814-1841 (diss. UvA), Hilversum 2002, S. 242-245. 8 Ruitenbeek, Kijkcijfers, Grafik 4.35, S. 456. 9 Van Sas, De metamorfose, S. 71-73. 10 Wijnand Mijnhardt, “De Nederlandse Verlichting”, in: Frans Grijzenhout e.a. (Hg.), Voor vaderland en vrijheid. De revolutie van de Patriotten, Amsterdam 1987, S. 60-63; Joost Kloek en Wijnand Mijnhardt, 1800. Blauwdrukken voor een samenleving, Den Haag 2001, S. 77-78. 11 André Hanou, “Juli 1762. Publikatie van Schouwburg Nieuws, het eerste Nederlandstalige toneeltijdschrift. Begin van de toneelkritiek”, in: Erenstein, S. 326-331; Hans de Groot, “Bibliografie van in Nederland verschenen 18deen 19de-eeuwse toneeltijdschriften (1762-1850) en toneelalmanakken (1770-1843)”, in: Scenarium 4 (Zutphen 1980), S. 118-146. 12 Kloek en Mijnhardt, 1800, S. 515-517. 13 Bob Logger e.a. (Hg.), Theaters in Nederland sinds de negentiende eeuw, Amsterdam 2007. 14 Logger, Theaters in Nederland, S. 41-44. 15 Die Informationen in diesem Paragraphen sind zum größten Teil dem Beitrag von Rob van der Zalm in Logger, Theaters in Nederland, S. 45-46, entnommen. 108 Henny Ruitenbeek und Rob van der Zalm 16 Auke van der Woud, Een nieuwe wereld. Het ontstaan van het moderne Nederland, Amsterdam 2006, S. 185. 17 Ibidem, S. 186. 18 “Naast deze economische motieven […] staat als de voorname oorzaak der bevolkingsconcentratie de zucht om het leven intensiever en veelzijdiger te genieten wat […] inzonderheid in de steden te bereiken valt”, C.A. Verrijn Stuart, zitiert nach Van der Woud, Een nieuwe wereld, S. 186. 19 Van der Woud, Een nieuwe wereld, S. 367-369. 20 Ibidem, S. 292-294, S. 312-320. 21 Ibidem, S. 342, S. 354; Rob van der Zalm, “Kritieken zijn geen meneer”, in: Documenta 16 (1998), no. 4, S. 275-284, S. 275-276. 22 Die Information ist dem Beitrag Van der Zalms in Logger, Theaters in Nederland, S. 47-54, entnommen. 23 Van der Woud, Een nieuwe wereld, S. 166.; Siehe auch: Marita Mathijsen, De gemaskerde eeuw, Amsterdam 2002, S. 193, S. 199. 24 De Tooneelkijker, zitiert nach Ruitenbeek, Kijkcijfers, S. 313. 25 Matthijs Siegenbeek, “Over de middelen ter vorming van een nationaal Nederlandsch tooneel”, Haarlem 1828, S. 77-100. 26 Wilmer, National theaters, S. 11-19. 27 “Nationale geest […] tot Deugd en Vaderlandsliefde […] door het doen vertoonen van zedelijke Toneelstukken”, zitiert nach Roelof Pots, Cultuur, koningen en democraten. Overheid en cultuur in Nederland, Nijmegen 2000, S. 36-37. 28 Zu deutsch: Abhandlung über die Frage: Besitzen die Niederländer ein Nationaltheater mit Bezug zum Trauerspiel? Wenn ja, welchen Charakters ist dies? Wenn nein, mit welchen Mitteln könnte ein solches ins Leben gerufen werden? Wäre es im letzteren Fall von Nöten einem schon bestehenden Strom zu folgen? Und welche Gründe könnten eine solche Wahl beeinflussen? 29 Ruitenbeek, Kijkcijfers, Grafik 4.34, S. 456. 30 “vergaarbak van het vuilste draf der uitheemsche literaturen, afzichtelijk voor het oog en walgelijk ten eenenmale voor wie het waagt hem eenigszins nabij te komen”, zitiert nach Worp-Sterck, Geschiedenis van den Amsterdamschen Schouwburg, Amsterdam 1920, S. 267. 31 Cor Geljon, “Jacob van Lennep en het toneel”, in: Scenarium 1 (1977), S. 33-48, S. 40, S. 43-44. 32 Ruitenbeek, Kijkcijfers, S. 291, S. 307-309, Anhang S. 456. 33 Ibidem, S. 325-327. 34 “stookplaatsen geworden van oproervuur en burgerkrijg”; “al wat rijk, wat aanzienlijk […] is, […] bespottelijk gemaakt”; “de troebelste bronnen der laagste hartstochten”, zitiert nach Jan Hein Furnée, Vrijetijdscultuur en sociale verhoudingen in Den Haag, 1850-1900, Amsterdam 2007, S. 318-319. 35 Furnée, Vrijetijdscultuur, S. 317-319. 36 Ruitenbeek, Kijkcijfers, S. 50, S. 47. 37 Ibidem, S. 139-141, S. 504. 38 Siehe Endnote 35. 39 Furnée, S. 329-333, S. 339, S. 403. 40 Henk K. Gras e.a., Theatre as a Prison of Longue Durée (zu erscheinen). Siehe auch: Henk Gras, “Paradise lost nor regained”, in: Journal of Social History 38 (2004), no. 2, S. 471-512, indem er zur selben Schlussfolgerung kommt. In diesem Beitrag handelt es sich allerdings um Abonnenten. 41 Henk Gras, “Souperminnende NRC-heren en andere bemoeials. De rol van de ‘markt’ in het negentiende-eeuwse theaterbestel”, in: Boekman Cahier 14 (2002), no. 54, S. 45-61, 51. The Reception of Melodrama in Flanders 1800-1914. A Tentative Investigation of the Critical Discourse in Reviews, Literary Journals and a Manifesto Frank Peeters (Antwerp) The political situation 1795-1830 Both in the Netherlands and Belgium the debate over and the attitude towards melodrama are closely linked with the experience of the French occupation from 1795 till 1813 and 1814 respectively. Both nations were in a different way marked by a strong sense of nationalism. In Holland this craving for a national identity stood in direct relationship with the Batavian Revolution (1795) and found its strongest expression between 1800 and 1813. It was far and foremost culturally determined and found its expression in the poetry of Helmers, Loots and Tollens which showed a firm and active interest in the safeguarding of the Dutch language and its culture, taking Holland’s Golden Age as a benchmark for a typical Dutch national taste and identity. The relationship with the French was much less tense than in Belgium/ Flanders: the Batavian Republic was considered as a ‘sister’nation, and was treated accordingly by the French, who had a keen interest in keeping Holland as an indispensable ally in its conflict with England. In Belgium and Flanders, things were quite different. The frenchification of public life, the imposition of a statereligion upon the Catholic clergy and churchgoers (Pope Pius VII had been arrested in 1809) as well as compulsory military service (for the poor), were the most important reasons for the fierce opposition against the French. Moreover, where the Netherlands regained full control of their national territory after 1813, Belgium had to wait another 17 years before it would liberate itself from Dutch rule in the Revolution of 1830, marking the birth of the Belgian nation. The Flemish/ Belgian situation between 1795-1830 requires closer inspection. Flanders became part of France on 1 October 1795 after the defeat of the Austrian army at Fleurus in June 1794. It was invaded for the first time by the French revolutionary army in November 1792. During French rule, Flanders was divided into four départements each named after a river and centered around a major city: Lys (Leie, Bruges); L’Escaut (Schelde, Ghent), Deux-Nethes (Twee Neten, Antwerp) and Dyle (Dijle, Brussels). During the Years of Terror (1795-1799) there was a fierce defense of the ‘national’ symbols and ‘Catholic’ became the generic term for all protest against the invader. It was probably the only period when nearly all Belgians/ Flemings, felt ‘occupied’, and the French and their atheist revolution were seen as a threat both to Belgian nationality and to morality and religion. With the rise of Napoleon I (1799-1814), these oppressive times came to an end and economic prosperity (steel, coal, cotton and linen industries) even won the French a certain support from the capitalist upper class that did good business; the same group would also welcome the Dutch in 1815 and would form the so-called Orangists - people in favor of Dutch rule and for economic reasons skeptical of Belgium’s independence in 1830. In July 1814 the European victors of Napoleon, England, Prussia and Russia, decided in the First and Second Treaty of Paris (1814, 1815 resp.) that the Belgian territory would be handed over to the King- Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 109-119. Gunter Narr Verlag Tübingen 110 Frank Peeters dom of the Netherlands and that both nations would become “the most complete amalgam” and “an intimate and complete union”. 1 By this diplomatic decision, the population of Willem’s Kingdom almost tripled from 2 million to 5,5 million; Belgium counted at that time 3,5 million inhabitants, The Netherlands only 2 million. The theatre 1795-1830 Under French rule, the organization of the theatre was, both in Holland and in Belgium, arranged according to national prescriptions, with Paris as the center of the empire and an example for all other cities. The most important decrees or laws for our purpose are the ones from 6 May 1795 and 8 January 1796 stipulating that at each performance the cherished songs of the Revolution were sung, such as La Marseillaise, Ça Ira, Le Chant du Départ etc, and also between each act a republican song was to be sung. Disregard of these prescriptions could lead to the closing of the theatre by the authorities. Another important decree is that which tried to classify the theatre landscape by linking specific theatrical genres to specific theatres. In the Arrêté of 25 April 1807 that stipulates the practical arrangements of the Decree of 8 June 1806, art. 3, 3°, melodrama is assigned to the Théâtre de la Porte Saint-Martin, to the exclusion of “historical and noble ballets which can only be performed at the Grand Opéra”. 2 By the same Arrêté, the list of cities and departments is added where a permanent theatre company could play (“une troupe stationnaire”): Ghent, Brussels and Antwerp; other cities could only receive a travelling company (“une troupe ambulante”): in the department ‘Deux Nethes’, (Antwerp), it was Mechelen (Malines); in the departments L’Escaut (Ghent) and Lys (Bruges) we find such cities as Bruges, Ostend, Courtrai (Kortrijk) and Ypres. In the department Dyle (Brussels): Leuven and Tienen (Tirlemont). Translations of French and German plays belonging to neoclassicism (the French star neoclassical actor Talma performed in Amsterdam, Brussels, Antwerp and Ghent in 1797, 1802, 1803, 1811, 1817, 1820, 1821, 1824), sentimental comedy (Diderot, Beaumarchais) and melodrama (de Pixerécourt, Ducagne, Pelletier Volmeranges, Kotzebue) dominated the stages both in Flanders and Holland. Faber lists sixteen ‘drames et mélodrames’ performed at the Brussels Théâtre de la Monnaie - primarily an opera house - between 1801-1814, with an average of two per year. 3 Mostly Volmeranges and De Pixerécourt; no Kotzebue. One could relate this to French rule, but also during the Dutch period (1815-1830) only French authors are brought to the Royal Brussels’ stage. This is somewhat surprising taking into account the Kotzebuemania that swept over Europe in the first quarter of the 19th century. His absence is probably due to the taste of the Frenchified public. In Ghent on the contrary, Kotzebue reigns. Ph. Blommaert in his account of the Chamber of Rhetoric De Fonteine lists numerous examples of his plays performed between 1813-1830, next to De Pixerécourt, Volmeranges, and an occasional Voltaire or Beaumarchais. 4 The same holds for the Netherlands. 5 That De Fonteine staged such an overwhelming number of melodramatic plays from French or German origin also after the French had left the country, is noteworthy as this chamber is always associated with the awakening of a Flemish identity and the rise of the Flemish Movement. The play list stands in sharp contrast to the selfproclaimed mission we find echoed in Blommaert’s essay: 6 but my esteem is even greater when I consider that it is this same institution, which, during the last years of suppression, when everything foreign was adulated, remained true to itself [i.e. Flemish literature, F.P.], and, in The Reception of Melodrama in Flanders 1800-1914 111 doing so prevented the total loss of our native tongue. 7 Explicit contemporary comments on melodrama in the French period are rather scant, and, with few exceptions, outspokenly negative. Typical for this anti-melodramatic point of view are the numerous contributions on the Amsterdam stage in De Tooneelkijker (1816-1819), which was published a few years after the French had left Holland. Ruitenbeek deals in great detail with several of the important theatre journals between 1816-1830 in Kijkcijfers; 8 a similar publication, analyzing the poetics and criteria by which early nineteenth-century theatre is judged, is still lacking for Flemish theatre. The repugnance expressed by the editors of De Tooneelkijker to melodrama can easily be transferred to Flanders, where similar arguments were used. Ph. Blommaert cites an opinion from 1785 with its exhortation to: “defy these atrocities, so pestiferous for the nation as for art”. 9 Their main concerns apply to morality (no excess! ) and a correct, i.e. radical conservative, presentation of the political system and the public institutions. Their worst fear were plays that dared to doubt the existing social order or mocked certain functions and professions considered of high moral standing such as judges, notaries, doctors and the like. For this reason they fulminated heavily against De ekster en de dienstmaagd, of de onschuldige diefstal 10 by Vreedenberg (also performed by the Chamber of Rhetoric in Ghent in 1817). In the “Letter of Mister Poodle on Animal Melodramas” 11 we find an ironical review of this play where a judge is portrayed as an unreliable philanderer, whose judgments are corrupt and full of self-interest. 12 This portrait could perhaps fit the frivolous French, but it was unthinkable of the Dutch upper class. These plays corrupted the rabble and would contribute to their mistrust of the upper classes and might incite revolutionary ideas. In their conclusion of the first volume (1816) it reads: “that a Kapitein Paulus, an Ekster, a Rolla etc.etc. were all fit to undermine Nationality, respect for the Government and Christendom” 13 and “these foreign monstrosities denationalize the National Theatre”. 14 Intellectuals in Holland and Flanders alike reacted strongly against these un-nationalistic melodramatic plays that undermined the coming about of a national theatre (see also later), but, whereas De Tooneelkijker still praises the great neoclassical plays of Corneille, Racine, Voltaire etc., in Flanders the dislike of French was more general. Famous are the verses of the poet Prudens Van Duyse in his De wanorde en omwenteling op de Vlaamschen Zangberg 15 (1830) where he castigates the love of foreign, i.e. German and French theatre: ‘t Ontneêrlandscht vlaamsch Tooneel, nog Kotzebue ten prooi, Nog door ‘t vertalersgild gedoscht in franschen tooi, Aan dichters even arm, als rijk aan oefenaren, Schuilt in een duisternis, door gaz niet op te klaren, De fransche schouwburg heft ‘t ontzaggelijk hoofd, De vaderlandsche treurt, van glans - en geld - beroofd. Verpestend schouwburgspel der tuimelzieke Gallen, Dat deugd en zeden hoont, en ‘t eigenaardigst volk Tot apenras herschept en schandelijk doet vervallen 16 And also Jan Frans Willems, in his play Quinten Matsys, of wat doet de liefde niet? (1816) introduces a dialogue between father and daughter on the one hand (Floris and Emilia) and the pompous and gallicized Wildert, who competes for Emilia’s hand, on the other. Willems ridicules the way he jabbers a mixture of Dutch and French. To make 112 Frank Peeters things clear, all the gallicisms are printed in italics: “Een Beauté die zoo veel delicieuse sentimenten inspireert als gy, zou pourtant moeten sensible zijn voor de veneratie van iemand als ik”. 17 However, in his famous Verhandeling over de Nederduytsche tael-en Letterkunde opzigtelyk de Zuydelyke Provintien der Nederlanden (1819), he adds an interesting nuance, when he says: “whatever one may pretend, I dare say that the times of the French occupation, were not necessarily as detrimental as is often proclaimed”. 18 Willems aims here at the writers who were provoked by the gallomania and started to write in Dutch and gained pride in their mother tongue. Matthijs Siegenbeek finds something similar in his Beknopte geschidenis der Nederlandsche letterkunde, when he writes: The upheaval and civic disputes, which marked the end of that century [the 18 th , F.P.] so unfavorably, the number of great disasters, which struck the Dutch State in those days, an which eventually would lead to the total destruction of the State, had at least one benevolent result, namely that through all this the spirit awoke as from a deadly slumber and resuscitated new forces. 19 Explicit praisal for (early) melodrama in the way Nodier would do with the publication of Pixerécourt’s complete works in 1841, is hard to find among contemporaries in Holland or Flanders. What we did find was a similar plea for the theatre as an institution that softens people’s manners. When in 1806 the préfect of the department L’Escaut (Ghent), monsieur Faipoult had ordered the closing of all theatres in the province, J. Ferrary in his Petit almanach sans prétention dédié aux jolies femmes (1809) pronounces a clear warning as to the consequences: Dans l’état actuel des moeurs, il faut aux citoyens d’une grande ville un spectacle où ils puissent se délasser et passer noblement ces trois ou quatres heures terribles qui séparent l’instant du travail de celui du sommeil. Si le théâtre est fermé, la débauche et le jeu vont s’emparer, l’étranger fuira au plutôt une ville qui n’offre aucun appât, aucun plaisir public à sa curiosité. [...] des amusemens utiles et agréables. 20 Before we deal with one of the few exceptions where romantic drama or melodrama is treated favorably, it is important to notice that sometimes - even in a conservative journal like De Tooneelkijker - critics made a difference between ‘pure’ melodrama of, for instance De Pixerécourt, Ducagne, Pelletier Volmeranges on the one hand and sentimental comedy, the Rührstücke of Kotzebue and Iffland on the other. At times both categories were treated equally unfavorably, but David De Simpel, who like De Tooneelkijker advocates Boileau’s Art Poétique, refers to Kotzebue in a very favorable way: “The plays of Kotzebue are renowned; this great writer has gauged the human heart perfectly and depicted the bourgeois characters in a natural and pleasant way”, 21 and even De Tooneelkijker, at times, appreciates Kotzebues work: “This [The Silver Wedding, F.P.], amongst the plays of Kotzebue favorably distinguishing drama by the regular treatment, the observance of the [Aristotelian, F.P.] laws and the moral tendency, belongs certainly amongst all nations, and deserves most certainly to be kept [on the repertoire]”. 22 Similar praise for Kotzebue in Letter - en staetkundig dagblad, voor het zuidelijke gedeelte van het Koninkrijk der Nederlanden for his play De lasteraar (The Slanderer): Without touching upon the question of the three unities, we have to admit that Kotzebue has depicted the terrible fruits of the slandering tongue in a perfect way; these plays can make a healthy impression on the morality of the audience, especially when they are interspersed with brief, powerful and meaningful proverbs that are easily remembered [...]. 23 And also H.J. Schimmel, editor of the reputed literary journal De Gids takes the defense of The Reception of Melodrama in Flanders 1800-1914 113 Kotzebue and Iffland whom he prefers over the pernicious French melodrama: “I more than rather prefer Kotzebue and Iffland”. 24 Few however embraced ‘hardcore’ melodrama the way Anton Cramer did. Cramer, who wrote reviews for several journals (Het kritisch lampje, Het tooneelklokje, De arke Noach’s), admitted freely that he was “a Kotzebuan, a Pixericourt [sic]”. 25 He loved melodrama, its action, the often-improbable developments and coincidences, which he called the seasoning, “the ragoutsauce” of the play. 26 A play had to be entertaining, and he couldn’t care less for the observance of Aristotelian laws. In Flanders we haven’t met any critic like Cramer, with the exception of Jan Frans Willems, who reports rather favorably of Devos’s translation into Dutch of Victor Ducagne’s Zestien jaren, of de brandstichters. 27 Cramer really loved the early, the ‘classic’ melodrama, that which McConachie calls ‘providential melodrama’: “The setting [...] is usually timeless and universal, as in a fairy tale. [...] [It] always assures the audience that God watches over innocent goodness, and His power will ensure a happy ending”. 28 This is exactly the reason why Cramer defended melodrama against philistines like Samuel Wiselius in De Tooneelkijker. He is on a par with Nodier - who wrote the first lengthy essay on early melodrama as a preface to the collected works of Guilbert de Pixerécourt - for all the same reasons: these plays demonstrate the victory of virtue over evil and provide the audience with a set of moral rules to live by. 29 Whereas in the Netherlands, Leo Simons and later Ben Albach would take up the defense of melodrama in their historical writings on 19 th -century Dutch theatre, 30 Maurits Sabbe in his contribution to the single most important publication on 19thcentury Flemish theatre to date, treats Pixerécourt and his like as “pale talents’‘ and their plays are called “monstrosities”. 31 Lode Monteyne, for twenty years (1920-1940) Flanders’ most eminent theatre critic, it is true, judges mildly but not because he likes these plays, but because he admits that they clearly surpassed the indigenous (Flemish) drama production at that time; Carlos Tindemans, who deals with 19th century Flemish drama only, not with its theatrical practice, refrains on methodological grounds from an esthetical judgement. 32 J. Prinsen’s Het drama in de 18 e eeuw in West-Europa (1931) meant academic rehabilitation for Kotzebue, and Pixerécourt is treated in relationship with Goethe and Schiller, from whose Götz and Die Räuber he borrowed useful ideas for two of his melodramas. In doing so, Prinsen links “the pope of melodrama” 33 with these two giants of early romanticism. A nice and quite unique gesture. The theatre 1830-1914 The turmoil of 1830 stopped the salutary progress of our proper linguistic activities and of our Flemish theatre performances. This revolution, enhanced for the larger part by the French parties in the Walloon provinces, was utmost pestiferous for the moral independence and the intellectual development of the Flemish people […] 34 The last three years [since Belgian independence, F.P.] have had a very negative influence on the different Flemish chambers of rhetoric. Many a promising youngster, who had been acclaimed on the national stage, has, in spite of Melpomene, exchanged the harmless dagger of tragedy for musket or sable, and wil not be able to resume the peaceful art of the theatre. 35 Philip Blommaert and J.F. Willems quite accurately phrase what many Flemish intellectuals must have felt when the Dutch were chased out in September 1830 and Belgium became independent. On 21 July the German prince Leopold von Sachsen Coburg Gotha was sworn in as Leopold I. The Belgian state, 114 Frank Peeters which replaced the Kingdom of the Netherlands, met with great distrust among Flemish intellectuals and this would also reflect on their attitude towards all forms of cultural expression, not in the least the theatre. The call for authentic, Flemish drama and theatre would be heard louder than ever before. Leopold, married to Louise-Marie, the daughter of the French king, hoped that Belgium would not be faced with the threat of French annexation, but to Flemish intellectuals like Blommaert or Willems, this kinship to the French monarchy wasn’t reassuring at all, on the contrary, it made them even more suspicious of the omnipresence of the French in Belgian political and public life. Under Dutch rule efforts had been made to make Dutch/ Flemish the official language in public affairs, education, the courts etc; Willem I founded the first Flemish university in Ghent (1817), chairs for Dutch language and literature were established in Ghent (prof. J.M. Schrant), Liège (prof. J. Kinker), and Leuven (prof. A. Ten Broecke Hoekstra) and Chambers of Rhetorics got financial support and the Royal epithet. 36 All this changed drastically after Belgium’s independence when attention would shift from a mere discussion of the quality of the plays performed to that of the founding of a truly national theatre with a Belgian dramatic literature. The Belgian state above all was interested in establishing and propagating its own existence. And, because it was commonly accepted that in addition to historical paintings and parades theatre was an excellent tool of propaganda to involve the largely illiterate population in a project of civilising its people, the government took some initiatives to promote the rise of a national theatre culture. One of the first measures het Voorlopig Bewind (the provisional government) took after it had proclaimed Belgian independence was to declare that theatres could be established anywhere on Belgian territory with no restrictions. The fact that Belgium was notorious for its illegal printing of French drama texts (Faber lists several publishers and their production) and for not paying any royalties to authors, makes it easy to understand why so many French plays were produced on Belgian stages. Moreover, as Lode Monteyne said, their quality was far superior to anything written in Belgium in Flemish or French alike. In an effort to counter this dominance of French plays - most of them melodrama -, the so-called premium scheme was established in 1860, allowing for subsidising patriotic theatre texts that carried a message of civil ethos. Attracted by relatively easy additional earnings, dozens of authors emerged - generally teachers, self-employed persons or lower level civil servants - who, with little self-criticism, flooded Belgium with hundreds of plays. In 1872 alone, 175 pieces were premiered and more than 120 historical pieces were written between 1860 and 1890, even though only a handful actually made it onto the stage. Ironically, the bulk if not all of the plays written as a consequence of the premium scheme, took foreign, especially French and to a lesser degree German melodrama as an example. In 1858, the tri-annual state prize for drama was set up, its main aim being to reward theatrical pieces where the subject “must be related to national history or national manners and customs”. In spite of all this, the government still had to urge companies again and again to schedule a minimum number of works by Belgian authors, because spontaneously theatres tended much more to the favoured French, and to a lesser degree to German, romantic and melodramatic repertoire, where the ‘providential melodrama’ of De Pixerécourt had been replaced by the extravagant products of romantic melodrama, with Alexandre Dumas Sr., Adolphe Dennery, Félix Pyat, Georges Ohnet and Xavier de Montépin as its main representatives. Countless are the reprimands and incitements on the part of municipal and provincial Toneelcommissies to do away with this roman- The Reception of Melodrama in Flanders 1800-1914 115 tic, melodramatic repertoire. As late as 1872, Jan Van Beers, a famous Flemish author and critic (there was even a Jan Van Beers Chamber of Rhetoric in Utrecht) wrote an alarming letter to the Commission for the comfort of the National Theatre, stating that French melodrama still contaminated the Antwerp stage. This is not hard to understand when we know that the library of Eloy Lemaire, a former manager of the Antwerp municipal theatre, counted in 1874 no less than 2000 French texts and only 517 in Dutch/ Flemish. The reports of the Antwerp Tooneelraad (Theatre Council) read as a continuous urging for quality and the banishment of romantic drama. As late as 1901, when Ibsen’s A Doll’s House had been staged in the Koninklijke Nederlandsche Schouwburg (Royal Dutch Theatre of Antwerp), bloodand-thunder plays (the so-called draken which means literally ‘dragons’) still persisted on the repertoire. This tenacious practice would eventually lead to Herman Van Overbeke’s pamphlet Siegfried, read at the Ghent Municipal Theatre in April 1918, on which we will report briefly at the end of our contribution. We know that in the middle of the nineteenth century in Holland the question of a National Theatre was high on the agenda of disquieted intellectuals like Schimmel, who fulminated at the irresponsible way theatres were managed by people who, to his view, were only interested in making money, for which reason they programmed popular, melodramatic, plays: “our theatre has become the receptacle of thoughtless creations from abroad”. 37 The solution was to be found in an incorruptible manager with ‘good taste’ on the one hand, and a valuable, indigenous Dutch drama production. A similar concern preoccupied the Belgians, but at the same time their situation was much more complicated. The source of the problem was the bilingual nature of its society, which was guaranteed by the constitution. This meant, at least in theory, that both Dutch and French - spoken by respectively 65 percent and 35 percent of the population - were allowed to be used in private and government matters and in contacts with the government. In reality, however, the young Belgium state was entirely ‘Frenchified’ and it would continue for about a century before both regional languages were treated more or less equally, not only de jure but also de facto. During the first decades after independence, the whole issue of founding a national theatre repertoire dominated the search for a seemingly impossible compromise: a theatre repertoire that at the same time represented both language communities and the Belgian state. In 1839 Englebert-Théophile Van Hecke (1809-1867), a retired medical doctor and officer, provided an analysis of the problem in his Considérations sur le Théâtre en Belgique et sur les Difficultés et les Moyens d’y créer une Scène Nationale (Reflections on the Belgian Theatre and on the Difficulties and Means to Create a National Stage). 38 The text by Van Hecke is highly interesting because it can act as a model for the lines of thought of the Frenchspeaking part of the Belgian population or the ‘Frenchified’ middle classes, to which the majority of theatre producers and their audiences also belonged. Because it was unthinkable for this part of the population that Belgian theatre would involve spoken Dutch because it was considered unsuitable for science or art, the typical Belgian ‘couleur locale’ of the plays should see to it that this type of theatre, in spite of the fact that it was written and performed in French, nevertheless would be nationalist Belgian theatre. This picturesque ‘belgitude’ was found among the ‘Belgian’ ancestors who acted as the main protagonists of the plays: artists, soldiers and kings. The Flemish, of course, didn’t agree with this cultural hegemony of their French-speaking countrymen, and proclaimed, quite on the contrary, that the Walloons were 116 Frank Peeters gallicized Belgians, whose sole chance of acquiring Belgian identity rested in undoing the gallicization as soon as possible. This is important to know when one wants to interpret correctly the epithet ‘national’ in the numerous so-called national theatres that were founded in Flanders from 1853 onward. A national theatre was first and foremost a theatre that produced original plays (in other words, no translations) which, in addition, was morally justifiable and had an educational value. Both contemporary plays, which criticized the mistakes of “modern times”, and historical dramas, which exemplified the forefathers’ and nation’s grandness, made for good “national theatre”. It is here that Hippoliet Van Peene comes in. Maurits Sabbe calls him, rightly, “the Flemish Scribe”. 39 Van Peene seemed to fulfil all the necessary requirements to create this genuine, national (Belgian? Flemish? ) drama. The most successful Flemish playwright for half a century - also in Holland, where he was regularly performed on the Amsterdam and The Hague stages - he was a polygraph like Scribe, who he admired immensely. Van Peene wrote one Scribe-like vaudeville after the other, and yet he was embraced both by the public and the critics alike. They were lenient when they spoke of the literary qualities, but praised his dexterity (which he learned from Scribe) as far as plot construction and the arrangement of scenes was concerned. Van Peene would also be the first to win the tri-annual State prize for Flemish drama in 1858. When one of his first and highly successful plays, Keizer Karel en de Berchemse boer (1841), 40 was first published and performed, De Noordstar published a very enthusiastic song of praise: “Flemish comedy returns to life, the first step has been taken, the race-track is open. Writers only have to step into the arena and the national theatre will be saved [...]”. 41 Frans Rens, a playwright himself, passed a mild judgement in his obituary on Van Peene and obliquely refers to his admiration for the famous Scribe and focuses mainly on his qualities as a craftsman. 42 Although posterity would judge his work more severely, 43 we can say that Van Peene achieved a certain balance between the needs of the public for entertainment and the demands of the intellectuals for authentic Flemish (Belgian? ) plays, although they were aware of its literary fallibility. Van Peene didn’t write melodrama proper but vaudeville, which was considered less excessive, and thus less problematic. In a way his plays fitted perfectly to the ethics of moderation of the bourgeois, a class of which Van Peene himself was the perfect prototype. Acting in the melodramatic age and mode In sharp contrast with the way melodrama as a dramatic genre is castigated, the actors who gave shape to these spectacular play-texts, are, in general, spared of criticism, as long as they performed well. Yzendyck is one of the few to blame also the actors. 44 According to him, it is their love of ease, their unwillingness to learn new texts that lies at the bottom of the crisis. They prefer playing the old French texts and copy the histrionic gestures of their French colleagues. In the list of remedies to heal the national theatre in the Netherlands De Tooneelkijker does not mention of the actors. 45 For sure, we know that Flanders absolute ‘star’ of melodrama, Victor Driessens, went indeed regularly to the Parisian Théâtre du Porte Saint-Martin or the Ambigu-Comique to watch his idol Frédérick Lemaître and to copy in shorthand the new productions in order to stage them a couple of weeks later in the Théâtre des Variétés in Antwerp; and we also know that he plagiarized Lemaître’s exuberant acting style. But Driessens was a fine craftsman, adored by his public, and none of his ‘weaknesses’ were held against him. Quite on the contrary, on Christ- The Reception of Melodrama in Flanders 1800-1914 117 mas Eve 1865, his 25 th anniversary as a professional actor was boisterously celebrated in the Royal Theatre of Antwerp. Moreover in two important actors’ handbooks, Lewes’s On actors and the Art of Acting (1875) and Roobol’s (a Dutch translation of August Lewald’s handbook from 1846) Handboek voor praktische tooneelspeelkunst (1858) both treat melodrama very favorably. Roobol explicitly refers to the ‘providential’ melodrama when describing the genre “these plays always satisfy the human sense of justice, albeit often at the expense of the poetical quality”. 46 Lewes, in the account of his visit to Paris in 1865, sings the praises of the Porte Saint-Martin where Vingt Ans Après of Dumas was performed: Altogether, my visit to this Boulevard theatre was very gratifying, and I could not help thinking what a gain it would be to our actors if they would go there and study the art. […] It is no exaggeration to say that to see this young man, Montal, play the part of Mordaunt in ‘Vingt Ans Après’, is worth a journey to Paris for any actor who is bent on mastering some of the secrets of his art. 47 Epilogue: melodrama und ‘kein Ende’ When the Flemish actor Herman Van Overbeke pronounced his anti-melodramatic pamphlet Siegfried (who slaughtered the ‘dragon’-plays, see above) in April 1918 on the stage of the Royal Flemish Theatre in Ghent, he echoed an attitude that was first expressed a century before in journals like De Tooneelkijker. Ironically, he thus provided the most convincing argument for the immense success of melodrama, which, although critics and philistines alike had incessantly bashed it, never fell out of grace with the masses. It is true, after World War I romantic drama by and large disappeared from the major Western European stages, but, in the best tradition of pantomime and melodrama, the ‘dragon’ had already transmuted, rendering Van Overbeke’s action futile. All he fought was nothing more than a simulacrum for the ‘dragon’ of melodrama had already found a new host in silent cinema, which deployed the full range of melodramatic rhetoric and histrionics. Later it would again defy its opponents when it moved into the storyboards of television soaps and the pope of postdramatic theatre, Antonin Artaud, in his urge to get rid of the limitations of the conventionalized stage, became a herald of the histrionics of melodrama. The dragon proved more of a phoenix, reinventing itself over and over again. It has never stopped since. Notes 1 “amalgame le plus complet” and “union intime et complète”, in: Jeroen Janssens, De helden van 1830. Feiten en mythes, Antwerpen- Amsterdam 2005, p. 13; Theo Luyckx, Politieke geschiedenis van België, Amsterdam-Brussel 1973, p. 40. 2 “On ne pourra donner sur ce théâtre des ballets dans le genre historique et noble; ce genre, tel qu’il est indiqué plus haut, étant exclusivement réservé au Grand-Opéra.” The document is quoted in Frédéric Faber, Histoire du Théâtre Français en Belgique, Bruxelles 1880, vol. 4, p. 137. Other documents relevant to the legal prescriptions can be found in Alfred Bouchard, La langue théâtrale, Paris 1878, pp. 337-376. 3 Frédéric Faber, o.c., vol. 4, p. 146. 4 P h. B lo mm a e rt, G e s c hi e d e ni s d e r Rhetorykkaler: De Fonteine te Gent, Gent 1847, p. 82. 5 On the presence of German and French melodrama on the Dutch stage: Oscar Westers, Welsprekende burgers. Rederijkers in de negentiende eeuw, s. l., 2003, pp. 28-30. 6 All translations from the Dutch orginals are mine. Their aim is to convey the content in English not to render the original stylistic qualities of the texts. Readers who know Dutch 118 Frank Peeters can savour the archaic and sometimes poetic phrasing. 7 Blommaert, o.c., p. 75, who quotes prof. Schrant’s address to the chamber in 1820: “[…]maer nog meer ryst myne achting by de overweging, dat het die zelfde instelling is, welke, in de laetste jaren der onderdrukking, toen alles aen het vreemde wierook bragt, alleen aen het eigene getrouw bleef, en alzoo den geheelen ondergang voorkwam, welke der moedertaele dreigde”. 8 Henny Ruitenbeek, Kijkcijfers . De Amsterdams e Schouwburg 1814-1841, Hilversum 2002, pp. 298-345. 9 Ph. Blommaert, o.c., p. 69: “[...] trotseert die wangedrochten, zoo verdervelyk voor den staet als schaedelyk aen de konst”. 10 Titles of plays are quoted in the original. If relevant for a correct understanding of the text, a approximative translation in English is given: “The Magpie and the Maiden, or the Innocent Theft”. 11 “Brief van den heer Poedel over de Beestenmelodrama’s”. 12 De Tooneelkijker 1 (1816), pp. 183-193. 13 Idem, p. 571: “[...] dat een Kapitein Paulus, een Ekster, een Rolla, enz. enz. enz. allen geschikt waren, om Nationaliteit, eerbied voor Overheden en Christendom te sloopen”. 14 Idem, p. 574: “[...] de buitenlandsche gedrochten dénationaliseren het Nationaal Tooneel”. 15 Disarray and revolution on the Flemish Parnassus. 16 Quoted in Maurits Sabbe, Lode Monteyne, Hendrik Coopman Thz., Het Vlaamsch Tooneel inzonderheid in de XIXe eeuw, Brussel 1927, p. 116. The poet accuses the Flemish theatre of imitating both Kotzebue and the French playwrights. It hides itself in obscurity, and the only winner is the French theatre; the Flemish has neither lustre nor financial means. In attending these immoral French plays, the Flemish people debases itself. 17 “A beauty who inspires such delicious sentiments as you, should however be sensitive for the veneration of someone like me”. (Jan Frans Willems, Quinten Matsys, of wat doet de liefde niet! , Antwerpen 1816, [act I,scene 5], p. 21.) 18 “Wat er van zy, ik durf beweeren dat den tyd der fransche overheersching, in het byzonder voor de belgische Tael-en Letterkunde, niet zoo nadelig is geweest als men zich voorstelt.” (Jan Frans Willems, Verhandeling over de Nederduytsche tael-en Letterkunde opzigtelijk de Zuydelyke Provintien der Nederlanden, Antwerpen 1819, vol. II, p. 204.) 19 “De beroeringen en burgertwisten, welke den afloop dier eeuw en het begin der volgende zoo ongunstig kenmerken, de vele en zware rampen, welke den Nederlandschen Staat in die dagen troffen, en ten laatste in eene gansche vernietiging van denzelven eindigden, hadden ten minste dit weldadig uitwerksel, dat daardoor de geest als uit eene doodsche sluimering ontwaakte, en tot eene nieuwe inspanning van krachten werd opgewekt.” (Matthijs Siegenbeek, Beknopte geschidenis der Nederlandsche letterkunde, Haarlem 1826.) See also Willem de Clercq who, in his Verhandeling van den Heer Willem de Clercq, ter beantwoording der Vraag: welken invloed heeft vreemde letterkunde, inzonderheid de italiaansche, spaansche, fransche en duitsche, gehad op de nederlandsche taal-en letterkunde, sints het begin der vijftiende eeuw tot op onze dagen? Amsterdam 1824, pp. 9-10, speaks in a similar way of early 19th century Dutch literature. 20 J. Ferrary, Petit almanach sans prétention dédié aux jolies femmes, Gand 1809, p. 206. In the actual state of morality, our citizens of the major cities need a spectacle where they can relax and pass three or four hours between work and sleep. If the theatre is closed, debauchery and gambling will take over and the stranger will flee as soon as possible the city which offers no public entertainment, pleasant and useful amusement. 21 David De Simpel, Beredeneerde ontleding van de voornaamste grondregelen der Dicht- Redeen Tooneelen Uitgalmkunst, Ijperen [Ypres, F.P.] 1825, vol. II, p. 52: “De Tooneelstukken van Kotzebue zijn vermaard; die groote Schrijver heeft volkomendlijk het menschelijk hart gepeild en de burgerlijke karakters natuurlijk en bevallig afgeschilderd.” 22 De Tooneelkijker 2 (1817), p. 31: “Dit [De zilveren bruiloft] onder de werken van Von The Reception of Melodrama in Flanders 1800-1914 119 Kotzebue zich door geregelde behandeling, inachtneming van kunstwetten en zedelijke strekking zoo gunstig onderscheidend tooneelspel, behoort gewislijk bij alle natiën te huis, en verdient ook dan [...] gewislijk behouden te blijven”. 23 Letter 15 (1820) [21 March 1820], p. 2: “Zonder van de twistredenen op eenheid van plaats en belangen aan te raken, moeten wij bekennen dat Kotsebue (sic) de verschrikkelijke vruchten der lastertong meesterlijk heeft getroffen; en dat dusdanige tooneelspelen in het zedelijke der aanschouwers eenen heilzaamsten indruk moeten laten, vooral wanneer zij doorzaaid zijn met bondige, krachtige en zinvolle spreuken, welke zich ligtelijk in het geheugen laten drukken [...]”. 24 Quoted by C.G.N. de Vooys, in: De Nieuwe Taalgids, 41 (1948), p. 26. 25 Quoted in Henny Ruitenbeek, o.c., p. 317. 26 Henny Ruitenbeek, o.c., p. 318. 27 Jan Frans Willems, in: Nederduitsche letteroefeningen, 1833, pp. 54-55. 28 Bruce McConachie, in: Phillip B. Zarrilli et. alii, Theatre Histories. An Introduction, New York-London 2006, p. 255. 29 Charles Nodier, ‘Introduction’, in: Théâtre choisi de G. De Pixerécourt, Nancy 1841, vol. 1, pp. i-xvi. 30 See my contribution in Lucia van Heteren et. alii, Ornamenten van het vergeten [Theatre Topics], Amsterdam 2007, pp. 29-42. 31 Maurits Sabbe, Lode Monteyne, Hendrik Coopman Thz., Het Vlaamsch Tooneel inzonderheid in de XIXe eeuw, Brussel 1927, resp. p. 84 and p. 474. 32 Carlos Tindemans, Mens, gemeenschap en maatschappij in de toneelletterkunde van Zuid- Nederland 1815-1914, Gent 1973. 33 Julia Przybos, L’Entreprise mélodramatique, Paris 1987, p. 102. 34 Ph. Blommaert, Geschiedenis der Rhetorykkaler: De Fonteine te Gent, Gent 1847, p. 84. “De omwenteling van 1830 onderbrak den weldadigen voortgang van eigene taelbeoefening en van nederduitsche tooneelvertooningen. Deze staetsberoerte, meest door de fransche party in de waelsche provintien bewerkt, was allerverderfelykst voor de zedelyke onafhankelykheid en de geestontwikkeling des vlaemschen volks [...]”. 35 Jan Frans Willems, Letterkundige Overzichten, Nederduitsche letteroefeningen, 1833, p. 54: “De laetste drie jaren hebben eenen zeer nadeligen invloed gehad op de verschillende kunstgenootschappen, gezegd Rhetorykkamers, van Vlaenderen. Menig veelbelovend jongeling, die, met welgevallen op het vaderlandsche tooneel werd gezien en gehoord, heeft, ondanks Melpomene, den ongevaerlyken dolk des treurspels voor het musket of den sabel moeten verlaten, en zal wellicht nog niet spoedig de beoefeneing van de kunsten des vredes hernemen kunnen.” 36 Floris Blauwkuip, De taalbesluiten van Koning Willem I, Amsterdam 1920. 37 H.J. Schimmel, “Melodrama en Tragedie”, in: De Gids 1860, 2, pp. 354-373; the quotation on p. 357. 38 For a broader discussion of this, see Frank Peeters in S. Wilmer (ed.), Writing and Rewriting National Theatre Histories, Iowa City 2004, pp. 88-105. 39 Maurits Sabbe, o.c., p. 133. 40 The emperor Charles V and the peasant from Berchem. 41 De Noordstar, “Overzigten van verschenen werken”, 2 (1841), 1, p. 260: “Het vlaemsche blyspel herleeft, de eerste stap is gedaan, de renbaen is geopend. De schryvers hebben nu maer in het strydperk te treden en het nationael tooneel is gered […]”. 42 Frans Rens, “Necrologie. Hippoliet Van Peene”, in: Nederduitsch letterkundig jaerboekje, 1865, 32, pp. 149-153. 43 Carlos Tindemans, “Hippoliet Van Peene 1811-1864”, in: Spiegel der Letteren 4 (1961), 4, pp. 252-272. 44 Het Taelverbond, “Vlaemsche Tooneelkronyk”, 4 (1848-1849), 5, p. 350. 45 De Tooneelkijker, “Middelen tot herstel van het nationale tooneel”, 1817, II, pp. 239-249. 46 C.J. Roobol, Handboek voor praktische tooneelspeelkunst, Amsterdam 1858, p. 326. 47 George Henry Lewes, On actors and the Art of Acting, Leipzig 1875, pp. 204-205. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Als die 1869 verabschiedete Gewerbefreiheit auch die Gründung von Theatern erleichterte, kam es zu einem regelrechten Theaterboom und Berlin begann seinen Aufstieg zur wichtigsten deutschen Theaterstadt. Nahezu gleichzeitig mit dieser Gründungswelle aber setzte eine Flut von Streitschriften ein, die diesen Prozess kritisch begleitete. Die Themen reichten von Fragen der künstlerischen Programmatik über die kulturellen Folgen bis hin zur sozialen Situation der Künstlerinnen und Künstler. Viele dieser Kleinschriften, die gerade wegen ihrer besonderen Form sehr direkt Auskunft über das Theater und die Bedingungen seiner Zeit geben, sind heute kaum noch zugänglich. Der vorliegende Band versammelt eine breite Auswahl dieser Schriften und gibt sie in einer kommentierten Form wieder, so dass sie als lebendige Zeugnisse dem Leser die Dynamik und Vielseitigkeit der Theaterlandschaft bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs vermitteln. Peter W. Marx Stefanie Watzka (Hrsg.) Berlin auf dem Weg zur Theaterhauptstadt Theaterstreitschriften zwischen 1869 und 1914 2009, 408 Seiten, €[D] 68,00/ SFr 115,00 ISBN 978-3-7720-8244-3 Am Puls der Zeit. Theater und Revolution im 19. Jahrhundert Meike Wagner (München) Nie und nirgends habe ich die Bedeutung der Bühne, und ihre Stellung zu den Forderungen der Zeit verkannt; unzählige Male habe ich mir es zur Pflicht gemacht, darauf hinzuweisen, daß sie ihr Heil nur im festen, innigen Anschließen an die Gegenwart und das Leben finden könne. 1 Das Theater ist das constitutionelle Haus der Poesie, in welchem der Dichter mit der Beredsamkeit der dramatischen Kunst zur Volksversammlung spricht. 2 Politisches Handeln und gesellschaftliche Relevanz für die Gegenwart - darauf bestehen die Publizisten um 1848, wenn es um dramatische Kunst und Theater geht. Ein Lebensgefühl schlägt sich Bahn, das eine Erneuerung, einen Umschlag des Geschichtsverlaufs in eine bessere Gesellschaft, eine bessere Nation erwarten lässt. Die Zeit selbst setzt die Ziele, das Theater darf sich dem unruhigen Puls der Revolution nicht entziehen. Es werden Antworten von ihm gefordert auf die politischen und gesellschaftlichen Fragen des Umbruchs. Aber welches Theater könnte dies erfüllen? Welche Position muss das Theater hier einnehmen zwischen publizistischer Öffentlichkeit, Kunstautonomie und Repräsentationsanspruch? Und, lässt sich hier eine Neu-Konzeption von Theater erkennen, oder haben wir es hier letztlich mit den Schlagworten einer doch befristeten revolutionären Erhebung zu tun? Nach der französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen ist Europa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet durch massive soziographische und politische Veränderungen. Die Spannungen zwischen Restauration und politischem Reformwillen entladen sich 1848 in Revolutionen. In der Theatergeschichtsschreibung wird die Epoche von 1800 bis 1850 überwiegend als wenig produktive Phase gewertet, da die Erfolgsformate der Zeit - Rührstück und Melodrama - keine literarische Anerkennung erfahren. Interessant erscheint jedoch, Theater und Theatralität als operatives Medium und Modell einer Öffentlichkeit zu betrachten, die in der politischen Umbruchsphase ihre performative Wirksamkeit entfaltet. Denn es lässt sich zwischen 1840 und 1848 eine publizistische Debatte feststellen, die Theater als wirksame Öffentlichkeit kämpferisch verhandelt. In den Revolutionen von 1848/ 49 materialisieren sich diese Diskurse; jetzt ist die Zeit für eine lebensnahe und politiknahe Theaterpraxis. Mein Beitrag wird Albert Lortzings Opernprojekt Regina (1848) in diesen Zusammenhang stellen - der revolutionäre Lortzing am Puls der Zeit. Öffentlichkeit und Zirkulation Trotz des Diktums eines politischen Scheiterns der Revolutionen von 1848/ 49, muss man davon ausgehen, dass in der kurzen freiheitlichen Zeitspanne in Deutschland Konzepte einer modernen Literatur und Theaterkunst erprobt wurden, die eine auch über das Scheitern hinaus wirksame Moderne-Entwicklung in Gang setzten. Es stellt sich nun die Frage, welches Konzept von Literat und Dichter (Intellektuelle) respektive Dramatiker und Theaterkünstler hier vorliegt, und daran angekoppelt, welches Konzept von Literatur und Dichtung? Können Literatur, Theater und Literaten politisch wirksam sein? Jürgen Fohrmann hat die These aufgestellt, dass sich um 1800 ein geschichtliches Be- Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 121-134. Gunter Narr Verlag Tübingen 122 Meike Wagner wusstsein herausbildet, das auf dem Paradigma der Bewegung beruht und so zuallerst die Grundlage einer politischen und gesellschaftlichen Moderne ermöglicht: Von nun an ist ‘Zeit’ auch als die Selbstüberholung der Geschichte in das Denken getreten, und mit ihr wird der alte Raum gegen einen offenen Horizont von Möglichkeiten eingetauscht. Am Ende dieses Prozesses, ab den 1830er Jahren, tauchen dann nicht nur vereinzelt, sondern programmatisch all jene Schlagworte auf, die eine moderne Gesellschaft prägen und die sich in den Ideen des ökonomischen und politischen Liberalismus niederschlagen werden: ‘Freiheit’, ‘Emanzipation’, ‘Fortschritt’, ‘Gegenwart’, ‘Leben’, ‘Jugend’ usw. Was damit gegeben wird, ist ein Versprechen zur Moderne: Alles ändert sich, und alles ändert sich qua Bewegung nach vorn, zum ‘Besseren’. 3 Die Schnelligkeit der Zeit erfordert Orientierung. Daher entsteht, so Fohrmann, in dieser Zeit ein Diskurs um gesellschaftliche Wirksamkeit von Kunst und ein neues Bild von Gelehrsamkeit - nicht mehr als Ansammlung von Wissen, sondern als selegierende Vermittlungskompetenz von Wissen. Diese Entwicklung bringe das Bedürfnis einer medialen Vermittlungsinstanz hervor, die in Gestalt des Intellektuellen öffentlich wirken soll. 4 Diese Vermittlerrolle lässt sich nicht abtrennen von der Medienentwicklung der Zeit, das neue Leben ist eng verschränkt mit Öffentlichkeit und öffentlicher Debatte. “Öffentlichkeit wiederum ist Zirkulation. Zirkulation wird durch schnelle Medien hergestellt”. 5 Die neue Rolle eines Intellektuellen, idealerweise realisiert durch den Publizisten und Journalisten, verknüpft Universalität (im Gegensatz zum Spezialwissen des traditionellen Gelehrten) und Öffentlichkeitsanspruch (aus der Souveränität des Volkes hergeleitet): Vom Leben ermächtigt, bejaht der Intellektuelle also einerseits als reiner Agent des Mediums, etwa der Zeitschrift, die Verbindung von Öffentlichkeit und Sozialwissen, Allgemeinheit und zirkulierendem Geschwätz. Es ist nur das eine Leben, auf das alles führt, und es kann mithin nur eine ungeteilte und allerorts nötige Stimme geben, die für das Leben spricht. Weder wird eine ständische Differenz mehr akzeptiert noch erscheint ein spezialisiertes Reden sinnvoll, das sich aus den Kompetenzen speist, die - etwa im System allmählich entstehender moderner Disziplinen - im Rahmen funktionaler Differenzierungen erworben werden. Der universalistische Anspruch ergibt sich aus der Logik der Zirkulation, die die Anschlußfähigkeit an die erste Stelle setzt. 6 Fohrmann arbeitet als diskursives ‘Korrektiv’ zum Intellektuellen die historische Idee der ‘Kunst als sittlich-schöne Form’ heraus. 7 Diese steht für eine Wertbeständigkeit, die der Aktualität und der schnell vollzogenen Anschlussfähigkeit des intellektuellen Publizisten an den ‘Zeitgeist’ entgegensteht. Die zeitgenössischen Debatten um Theater zeigen die Verhandlung dieser beiden Konzepte von ‘Kulturvermittlung’. Die Theaterpraxis der Zeit muss sich messen lassen an ihrer Fähigkeit beides zu realisieren: im Durchgang durch die Werte einer idealistischen Kunstidee eine gesellschaftliche Anschlussfähigkeit herzustellen - Öffentlichkeit und Zirkulation. Die Zeit gebietet es, gesellschaftliche Relevanz und politische Wirksamkeit von Theater zu erreichen. Dieses Konzept von Theater, so meine Annahme, scheint eng verbunden mit der revolutionären Situation. Im Kern einer Debatte um die politische Funktion von Literatur und Theater lässt sich ein Konzept von ‘Gegenwart’ und ‘Gegenwärtigkeit’ vermuten, dass zuallererst eine politische Wirksamkeit ermöglicht. Kerstin Stüssel hat herausgearbeitet, dass im 19. Jahrhundert und virulent in den 1840er Jahren ‘Gegenwart’ in einem doppelten Sinne begriffen und diskutiert wird: 1) in ihrer räumlichen Bedeutung, und 2) in ihrer zeitlichen Bedeutung (erst ab Ende des 18. Jahrhunderts). D.h. etwas Gegenwärtiges betrifft etwas räumlich Anwesendes oder etwas der Am Puls der Zeit. Theater und Revolution im 19. Jahrhundert 123 Jetztzeit Zugeordnetes. Erstere, ältere Bedeutung lässt sich, so Stüssel, den Jungdeutschen Literaturkonzeptionen zuordnen: [D]ie ältere, räumliche Bedeutung von Gegenwart, die auf Anwesenheit und Präsenz verweist, schwingt aber im auffällig häufigen, prominenten Gebrauch des Begriffes im ‘Jungen Deutschland’ in Vor- und Nachmärz besonders deutlich mit. Gegenwart bedeutet so immer auch körperliche Gegenwart und impliziert die wirksame Tat, den punktuellen Eingriff und die Unterbrechung des Geschichtsverlaufs. Die Frage nach Gegenwartsliteratur verweist somit auf zweierlei: Auf die mit blinden Flecken behaftete, zu Paradoxien tendierende Darstellung und Erkenntnis einer je eigenen Zeit, deren Anfang und Ende sich in einem historischen Kontinuum auflösen oder aber punktförmig ineinanderschnurren und deshalb schwer zu bestimmen sind und auf die pragmatische Dimension von Texten, ihre situationsgebundene Wirksamkeit und ihre je aktuelle Funktion, die die Gegenwartsliteratur prekär zwischen Monumentalität und Momentaneität platziert. 8 Lässt sich nun aus dieser Konzeption von Gegenwartsliteratur, wie sie auch unter dem pejorativen Rubrum der ‘Tendenzliteratur’ im zeitgenössischen Sprachgebrauch erscheint, eine neuartige Idee von Theater im Sinne eines ‘Gegenwartsdramas’ und eines ‘Gegenwartstheaters’ deduzieren? Und, wie kann ein solches zeitgemäßes, aktives und im Sinne von Gesellschaft gestaltendes politisches Theater aussehen? Welche Ideen eines solchen Theaters zirkulieren und welche tatsächlichen Gestaltungsspielräume könnte ein solches Theater in der Zeit um 1848 haben? Man kann die Spielräume von Theater als politisches Medium auch in einen Zusammenhang stellen mit der Politisierung des öffentlichen Raumes im Zuge der 1848er Revolution. Manfred Gailus konzediert einer ‘politisierten Straßenöffentlichkeit’ höchste Massenwirksamkeit in der Revolution von 1848: Mehr noch als die beratende Sitzung im Clubzimmer des politischen Vereins oder das politisierende Gespräch in der Wirtsstube, mehr noch als das gedruckte Wort des von der Zensur befreiten Pressewesens kann die politisierte Straßenöffentlichkeit als das wichtigste massenwirksame ‘Medium’ der Revolutionszeit angesehen werden. Der besetzte öffentliche Raum war nicht allein Schauplatz von Politik, sondern verlangte und kreierte seinerseits einen eigenen Modus des Politischen: ‘Straßenpolitik’. 9 Man könnte nun soweit gehen, Theater als Teil dieser ‘Straßenpolitik’ zu betrachten, 10 und somit seine prekäre, aber auch wirksame Öffentlichkeit in der Aufführung in den Zusammenhang einer Versammlungssituation und der unkontrollierbaren, daher gefährlich entzündlichen, Jetzt-Situation zu setzen. Hier lässt sich annehmen, Gegenwärtigkeit als behauptetes Qualitätsmerkmal von Theater werde übertragen auf die Medienpraxis der politischen Öffentlichkeit, um sie ‘noch gegenwärtiger’ wirken zu lassen - nämlich gegenüber einem der Gegenwart zugewandten Volks-Publikum. Dies lässt sich veranschaulichen am Phänomen der dramatisierten Flugschrift, die um 1848 große Verbreitung findet. Im Theater allerdings ist diese Gegenwärtigkeit immer mit Konzepten von ‘Wiederholbarkeit’ und auch kulturellem Gedächtnis verbunden, d.h. die Gegenwärtigkeit ist schon immer mit Verlust und dem Versuch der symbolischen Einholbarkeit dieses Verlusts verbunden. Daher scheint es geboten, das politische Konzept von Öffentlichkeit mit dem repräsentativen Charakter des Theaters zusammen zu denken und auch mit Diskursen politischer Repräsentation zu verknüpfen. Augenfällig wird dieser Zusammenhang im Theater der französischen Revolution, das schon vielfach begründet als symbolische Politik und volksnahes Forum nationalpolitischer Performanz beschrieben worden ist. 124 Meike Wagner “… wie man athmet in der Luft” Susan Maslan vertritt in ihrem Aufsatz “Theatre and Democracy in Revolutionary France” (1995) die These, dass die zahlreichen vehement ausgetragenen Theaterrevolten um Aufführungsverbote und -gebote in Paris zwischen 1789 und 1794 11 Ausdruck eines Kampfes sind zwischen den Delegierten der Nationalversammlung und dem einfachen Volk um politische Repräsentation und also um Teilhabe an politischer Handlung. Maslan setzt der verordneten Stille der Zuschauer auf den Galerien der Nationalversammlung das ungebremste Ausagieren von Zuspruch und Unmut im Theater als revolutionäre Tradition gegenüber und folgert daraus den Anspruch des Publikums auf politisches Handeln. 12 Obgleich Maslan in ihrem Beitrag ‘performative Aktionskultur’ und ‘diskursive Schriftkultur’ unzulässig gegeneinander ausspielt, um die Jürgen Habermas nachfolgende Traditionslinie der Strukturanalyse von Öffentlichkeit auszuhebeln, 13 führt ihre methodische Zusammenführung der theatralen und der politischen Repräsentation nichtsdestotrotz zu einer Fokussierung auf das Entstehen einer spezifischen Öffentlichkeit, die sich als Diskurs auch in den Schriften des Vormärz nachweisen lässt, insbesondere in der Zeit zwischen 1840 und 1848. In den 1840er Jahren setzen sich zahlreiche Journalisten und Theaterhistoriker mit dem Entwurf eines “neuen Nationaltheaters” auseinander. Neben der angestrebten Professionalisierung der Bühnen ist es vor allen Dingen die Formulierung von Bildungs- und Öffentlichkeitsaufgaben, die hier das Theater als staatstragende Institution in der politischen Kultur verankert wissen wollen. An dieser Stelle soll es um den Aufsatz “Theater und dramatische Poesie in ihrem Verhältnisse zum Staate” von Theodor Rötscher gehen, der 1843 in Rotteck/ Welkers Staats-Lexikon erschienen ist. Rötscher verbindet hier einen legitimistischen Ansatz mit Überlegungen zu einem Staatstheater als ‘politische Bildungsstätte’. Er ist insofern legitimistisch, als er zunächst weit ausholend auf antikes Theater und die Aristotelische Dramentheorie in Verbindung mit klassischem und idealistischem Gedankengut den Kunstwert der dramatischen Poesie herausarbeitet. Das Drama werde Kunst, indem es Ideen versinnliche und also ein Allgemeines und Unvergängliches verkörpere. 14 “Das Drama hebt also den geschichtlichen Geist in seiner höchsten Reinheit heraus und bringt ihn zu seinem erschöpfenden Ausdrucke”. 15 In einer Art dialektischen Dynamik führt das Drama die konfliktreich Handelnden zu einer allgemeineren Wahrheit, die als absolute Gegenwart des Geistes letztlich harmonisierend Gültigkeit erlangt: Wovon und wohin befreit uns aber das ächte Drama? Es baut in uns die Wahrheit der sittlichen Idee auf, welche sich aus allen Conflicten und Einseitigkeiten als die unwiderstehliche Macht erhebt, durch ihre der Handlung und der Thätigkeit der Individuen immanente Kraft sich siegreich über alle erscheinenden Gegensätze schwingt, die sie auslöst, weil jeder derselben sich vermaß, die ganze Wahrheit zu sein. 16 Aufgabe des Theaters ist es nun, diese “Wahrheit der sittlichen Idee” als Erziehungsideal in die Köpfe der Masse, des Publikums einzupflanzen und so zu einer Erziehung zum freiheitlichen Staate zu gelangen. Jörg Wiesel hat 2001, in seiner umfassenden und originellen Analyse des Rötscher- Textes, 17 genau an dieser Stelle eingesetzt und den idealistischen Bildungsanspruch, den Rötscher eben aus der Verkörperung der sittlichen Idee im Drama ableitet, als letztlich undemokratisches und monarchistisches Prinzip gelesen. Rötscher verwalte das bildungspolitische Programm der Goethezeit und löse mit der Bildung des Subjekts dessen Recht auf parlamentarische Vertretung auf. Wiesel legt damit den Finger auf ein grund- Am Puls der Zeit. Theater und Revolution im 19. Jahrhundert 125 sätzliches Problem in der Argumentation Rötschers. Jedoch kann seine Kritik ihre Stärke nur erreichen durch eine Ausblendung der vormärzlichen Debatten um Repräsentation und Öffentlichkeit. Das Problem bei Rötscher liegt letztlich in der ambivalenten Haltung zwischen einem diskursiven Öffentlichkeitsmodell und einer idealistisch geistigen Erhöhung zu einem allgemeinen Ganzen. Rötscher erweist sich hier ganz als Kind seiner Zeit. Repräsentative politische Mitbestimmung und öffentlicher Diskurs im Sinne einer konfliktreichen öffentlichen Auseinandersetzung ohne Harmonisierungsstreben sind moderne Konzepte, die im Vormärz keineswegs als gesicherte Werte der politischen Kultur gelten können. Die Diskussion darüber, was öffentlich sein kann und in welcher Form die Teilhabe an politischer Handlung erfolgen kann, ist gerade erst in Gang gekommen. Im Zeitalter des Liberalismus kristallisieren sich grundsätzlich zwei Bedeutungsstränge von ‘Öffentlichkeit’ heraus. Auf der einen Seite wird Öffentlichkeit als Idee der Meinungsfreiheit und als Verfahren der öffentlichen Diskussion betrachtet, auf der anderen Seite verkörpert sie die durch Mehrheit beherrschte öffentliche Meinung als gesellschaftliche Macht. Rötscher betont in seinem Text die Kraft des Theaters, öffentlich auf die Massen einzuwirken durch die Bereitstellung eines unmittelbaren Erlebnisses, und verbindet die öffentliche Funktion des Theaters mit der Presse und der Frage der Pressefreiheit: Wenn Regierungen daher das Gut der politischen Freiheit zu verkürzen und den Aufschwung des nationalen Lebens wirklich niederzuhalten gesonnen sind, so ist es auch nur eine Consequenz, wenn sie dasjenige Drama, aus dem die Kraft des historischen Geistes und der Sieg der Freiheit uns entgegenweht, von der Bühne fern halten, eine Consequenz, welche mit der Fesselung der Presse völlig gleicher Abstammung ist. 18 Rötscher verspricht sich weiter von dem erfolgreichen “Kampf in Deutschland für die höchsten Güter der Freiheit, für die Entfesselung unsres öffentlichen Lebens” neue Kraft für die dramatische Poesie. Diese Abschnitte machen deutlich, dass Rötscher sich hier durchaus mit einer radikaleren Fassung von Öffentlichkeit verbündet, wie sie etwa auch im Rahmen des Staats- Lexikons, in dem ja auch Rötschers Text publiziert ist, von Carl Welcker in seinem Beitrag “Öffentlichkeit/ öffentliche Meinung” formuliert wird: “Das ganze politische Leben freier Völker bewegt sich in der Oeffentlichkeit, wie man athmet in der Luft”. 19 Dieser öffentlichkeitspolitische Tenor bestimmt wesentlich die Debatten um Theater in den Jahren 1840 bis 1848. So lässt sich auch Richard Wagners künstlerisch-politische Utopie hier einordnen. Die Künstler erleben die von Metternich geprägte Politik der Vormärz-Zeit als repressive Praxen in Form von restriktiver Zensur, aktiver Bespitzelung und wirtschaftlichen Zwängen. Die März- Revolution hingegen verspricht eine Befreiung von diesen Repressionen und eine freie Entfaltungsmöglichkeit in jeder Hinsicht. Dadurch gibt es ein verstärktes Bewusstsein für den Zusammenhang von politischen Vorgaben und künstlerischem Schaffen. Die Verknüpfung von politischer und künstlerischer Revolution gewinnt um 1848 immense Bedeutung, so auch in Wagners zentralem Text “Die Kunst und die Revolution (1849)”. Wagner geht für seine Vision der Befreiung der Kunst durch Politik und der Befreiung der Politik durch Kunst von zwei Prämissen aus. Zum einen ist nur der künstlerisch tätige Mensch ein freier Mensch, zum anderen ist das Theater das europäische Leitmedium der Öffentlichkeit schlechthin: Erst in der theatralen Öffentlichkeit, d.h. in der Theateraufführung, wird das Drama zur Kunst. Die immense Reichweite des Theaters verleiht diesem Schlagkraft: 126 Meike Wagner Unsere moderne theatralische Kunst versinnlicht den herrschenden Geist unsers öffentlichen Lebens, sie drückt ihn in einer alltäglichen Verbreitung aus wie nie eine andre Kunst, denn sie bereitet ihre Feste Abend für Abend fast jeder Stadt Europas. 20 Damit ist ein Potential des Theaters benannt, das jedoch in der Einschätzung Wagners derzeit keine wirkliche Realisierung erhält. Das zeitgenössische Theater hat dreierlei Hemmnisse: 1.) restriktive Zensur und polizeiliche Kontrolle, 2.) Kapitalisierung und Kommerzialisierung und 3.) undemokratische Zuschauerverhältnisse. Die realpolitische Lage in Deutschland erfordert es daher, zunächst einmal überhaupt Teil einer Öffentlichkeit zu werden, Theater als öffentliche Institution zu bilden und die Kunst im politischen Akt zu befreien: Aus ihrem Zustande zivilisierter Barbarei kann die wahre Kunst sich nur auf den Schultern unsrer großen sozialen Bewegung zu ihrer Würde erheben: sie hat mit ihr ein gemeinschaftliches Ziel, und beide können es nur erreichen, wenn sie es gemeinschaftlich erkennen. Dieses Ziel ist der starke und schöne Mensch: die Revolution gebe ihm die Stärke, die Kunst die Schönheit! 21 Kunst und Revolution sind durch den Öffentlichkeitscharakter und das gemeinsame Ziel der ‘Menschenbildung’ eng verwoben in der gesellschaftlichen Utopie. 22 Das Theater steht hier paradigmatisch für Ereignisse, die politische Öffentlichkeit, gesellschaftliches Freiheitsstreben und sinnliches Erleben miteinander verknüpfen. Während in England schon 1809 in den legendären Old Price Riots, einer drei Monate andauernden Theaterrevolte am Covent Garden Theatre, Modelle freier Meinungsäußerung erprobt und performativ ausgelebt worden sind, wird es auf dem Kontinent noch einige Zeit dauern, bis sich die bürgerliche Gesellschaft und öffentliche Meinung aus der eisernen Umklammerung des Metternichschen Spitzelsystems befreien kann. Dem Theater kommt hier als wesentliches Medium der Öffentlichkeit und des kollektiven Erlebens eine spezifische Rolle zu. Opernrevolution Albert Lortzing ist sich des revolutionären Potentials der Oper als Theaterform bewusst, als er sich daran macht, mit Regina eines der zeitnahsten Theaterwerke der Revolution von 1848 zu schaffen. Genau wie auch Richard Wagner kennt er die explosive Wirkung von Daniel François Aubers Oper La Muette de Portici, die wenige Wochen nach der Pariser Juli-Revolution von 1830 in Brüssel die belgische Revolution entzündet. 23 Zeitgenossen berichten immer wieder von der befeuernden Wirkung des patriotischen Duetts “Amour sacré de la patrie” (Masaniello, Pietro): Tombe le joug qui nous accable Et sous nos coups périsse létranger! Amour sacré de la patrie, Rend-nous laudace et la fierté; A mon pays je dois la vie. Il me devra sa liberté. (Akt II, Szene 2) Das französisch-belgische Theaterpublikum entzündet sich am musikalischen und hier kollektiv erlebten Nationalgefühl und schafft nach der Vorstellung realpolitische Fakten: Der Mob greift zu den Waffen, stürmt die Zeitungsredaktionen, den Justizpalast und hat somit den Startschuss für die Belgische Revolution gegeben, die am 4. Oktober 1830 zur Unabhängigkeitserklärung gegenüber den Niederlanden führen wird. Man muss Aubers Oper hier sicher im Kontext der geistigen und politischen Situation sehen. Es gärt und brodelt in Brüssel. Schon Tage vor der Opernaufführung etwa finden sich anonyme Maueranschläge in der Stadt, die den Zusammenhang von königlichen Feierlichkeiten Am Puls der Zeit. Theater und Revolution im 19. Jahrhundert 127 und Revolution herstellen: “Lundi, 23 août. feu d’artifice; mardi, 24. illumination; mercredi, 25. révolution”. 24 Und man weiß heute, dass französische Geheimagenten agitierten, wie schon der Zeitgenosse Franz Heinrich Ungewitter vermutet: Viele von den Zuschauern, besonders unter der niedern Volksklasse, waren mit Stöcken versehen, was schlimme Absichten verrieth. Außerdem hatten gutgekleidete Männer einer Menge Arbeiter Geld und Theaterbillette angeboten. 25 Die Stumme von Portici ist der passende Katalysator für die revolutionäre Stimmung. Es ist jedoch Auber anzurechnen, dass er eine neuartige Ausdrucksform der Oper fand, die eine packende Emotionalität über Musik und Dramaturgie vermittelt und so das kollektiv schwelende Gefühl bündelt und performativ an die Oberfläche schwemmt. Richard Wagner formuliert dies in einer euphorischen Kritik der Stummen präzise und eindrucksvoll: Denn das Neue an dieser Musik zur ‘Stummen’ war diese ungeahnte Konzision und drastische Gedrängtheit der Form: Die Rezitative wetterten wie Blitze auf uns los; von ihnen zu den Chorensembles ging es wie im Sturme über und mitten im Chaos der Wut plötzlich die energischen Ermahnungen zur Besonnenheit, oder erneute Aufrufe; dann wieder rasendes Jauchzen, mörderisches Gewühl, und abermals dazwischen ein rührendes Flehen der Angst oder ein ganzes Volk seine Gebete lispelnd. Wie dem Sujet am Schrecklichsten, aber auch am Zartesten nichts fehlte, so ließ Auber seine Musik jeden Kontrast, jede Mischung in Konturen und in einem Kolorit von so drastischer Deutlichkeit ausführen, daß man sich nicht entsinnen konnte, eben diese Deutlichkeit je so greifbar wahrgenommen zu haben. 26 Dieser Oper - “heiß bis zum Brennen und unterhaltend bis zum Hinreißen” 27 - ermangele es ganz und gar an Steifheit und hohlem Pathos. ‘Echtes Gefühl’ stellt sich durch die massiven Effekte der Streicher und der Dramaturgie des Chores als ‘bewegte Masse’ in ‘drastischen Gruppierungen’ ein. Dies sind die ‘operativen’ Zutaten eines Revolutionspotentials, das Die Stumme in nachfolgenden, mit politischen Turbulenzen verbundenen Aufführungen - die immer wieder zu zeitweisen Verboten führten - bei ihrem Siegeszug durch Europa unter Beweis stellt. Während Auber sich auf die Position der ‘revolutionären Gefühlswelt’ zurück zieht und in Distanz zu den realpolitischen Konsequenzen bleibt, 28 avanciert Die Stumme zur ‘Revolutionsoper wider Willen’. Lortzing war Die Stumme sehr vertraut, hatte er sie doch im Mai und Juni 1847 mehrfach am Theater an der Wien dirigiert, 29 bevor sie auch in Wien verboten wurde. Im Gegensatz zu Auber versteht sich Lortzing jedoch als Teil der politischen, revolutionären Bewegung. Er macht seine dezidiert liberale und demokratische Haltung zur 1848er Revolution in Wien öffentlich und beteiligt sich aktiv am Geschehen. Er lässt sich mitreißen von den Ereignissen. Man könnte vermuten, dass das Opern-Projekt Regina Lortzings Versuch darstellt, die Oper als Theater am Puls der Zeit zu realisieren: eine Oper “im festen, innigen Anschließen an die Gegenwart und das Leben”. So ließe sich Albert Lortzing als Vermittlungsfigur darstellen zwischen einer politischen Publizistik, die in den überstürzenden Ereignissen Position beziehen muss, und der ästhetischen Wertbeständigkeit der Opernkunst. Albert Lortzings Regina (1848) Lortzing ist 1846-48 am Theater an der Wien als Kapellmeister tätig und erlebt die Wiener März-Ereignisse hautnah mit. Lortzing, in dessen komischen Opern sich immer wieder versteckte Hinweise auf seine liberale Haltung finden, begrüßt den Umsturz des 13. und 14. März. Dennoch befürchtet er, dass die errun- 128 Meike Wagner genen Freiheiten durch Ausschreitungen und Übergriffe zunichte gemacht werden könnten und beteiligt sich an der für Ordnung sorgenden Bürgerwehr. Sein Theaterdirektor Franz Pokorny hatte sich sofort als Unterstützer der Revolution gezeigt, wie die Allgemeine Theaterzeitung vermerkt: Director Pokorny hat seine Anhänglichkeit auf eine höchst rühmliche Weise an den Tag gelegt, indem er am 13. März gleich beim Ausbruche der Volksbewegung das untergeordnete Dienstpersonale seiner beiden Theater [Theater an der Josefsstadt und Theater an der Wien, M.W.] zusammenberief, es zur Ordnung mahnte, ihm Waffen reichte und eine Monatsgage ausbezahlen ließ. Ein großer Theil der Schauspieler schloß sich, ebenfalls bewaffnet an, und half so eine Armada bilden, die nicht nur die beiden Theater und ihre Nachbarschaft gegen böswilliges Gesindel schützet, sondern fortwährend bei Tag und Nacht Patrouillen entsendet, die selbst die entferntesten Vorstädte durchstreifen […]. 30 Pokorny ist geschickt genug, sein Theater mit der patriotischen Begeisterungswelle zu verknüpfen, sein Spielplan in Schauspiel und Oper wird entsprechend schnell umgestellt. In die Aufführungen werden patriotische Gesänge und Grußadressen eingeflochten, das Publikum stimmt begeistert ein. Als Pokorny sich entschließt, die Preise zu senken und mit Das bemooste Haupt oder Der lange Israel von Roderich Benedix am 1. April 1848 ein Stück aus dem studentischen Umfeld aufführt, ist ihm die Gunst der aktivsten Wiener revolutionären Bevölkerungsgruppe sicher: Das Theater an der Wien wird zum Treffpunkt und Aktionsraum der Wiener Studenten. 31 In der Folge machen die Studenten das Theater an der Wien am 4. April 1848 offiziell zu ihrem Hauptsitz und erreichen die Umbenennung in ‘Deutsches Nationaltheater’. Lortzings Wirkungsort wird zum symbolischen Zentrum der revolutionären Studentenschaft. Er wird den Studenten chorische Freiheitsgesänge liefern, die er dort auch mit ihnen probt und aufführt. So etwa die Vertonung des Freiheitsliedes von Carl Herlossohn “Sieg der Freiheit oder Tod! ” (handschriftlich von Lortzing datiert auf 5. April 1848), in dem es heißt: “Alle Fesseln wolln wir brechen / jede Unbill wolln wir rächen / frei das Gottesurteil sprechen: / Sieg der Freiheit oder Tod! ” Für Lortzing ist die politische Unruhe auch persönlich eine unsichere Zeit. Nachdem schon seit März desselben Jahres Gerüchte über die Auflösung der Oper kursiert waren, hatte Pokorny dem gesamten Opernpersonal aus wirtschaftlichen Gründen zum 1. September 1848 endgültig gekündigt. Lortzing steckt mit seiner großen Familie in existentiellen Zwängen. Hier zeigt sich ein Dilemma des politischen Lortzing. Während er in der zensurfreien Zeit regelrecht aufblüht, den neuen ‘Freiheiten’ seine Chorlieder entgegenschmettert, so hat er auf der anderen Seite ein dringendes Interesse an einer baldigen Beruhigung der Lage. Jürgen Lodemann beschreibt Lortzings Lage: Der Opernkomponist gerät zwischen die Fronten, ist zwar sofort heftig engagiert, wo die räuberische Fürstenwillkür endlich vertrieben wird, nicht aber dort, wo ‘Radikale’ die Situation ausnutzen und ihrerseits räuberisch vorgehen. Diese schwierig balancierende Zwischen-Position, der gerechte Ausgleich und die Freiheit von jeder Form von Gewalt, von der Gewalt von oben wie von unten, das wird das Thema seiner Regina. 32 Lortzings Oper Regina ist 1848 in der einzigen zensurfreien Schaffensperiode des Komponisten entstanden. Obgleich keine Revolutionssondern eine Freiheitsoper - Regina entzündet keine Tumulte, sondern feiert die Freiheit als höchstes Gut, das auf festem aber gemäßigtem Wege zu erreichen ist - ist dieses Werk auf einzigartige Weise mit den Geschehnissen der März-Revolutionen und ihren Diskursen verbunden. Die Entstehung des Werkes überhaupt kann man mit den publizistischen Forderungen nach einem Am Puls der Zeit. Theater und Revolution im 19. Jahrhundert 129 ‘Zeit-Theater’ verbinden, aber auch einzelne Motive und Ereignisse in der Oper lassen sich auf Zeitungsberichte und -debatten zurückführen. Damit ist Lortzings Regina das einzige musikdramatische ‘Zeit-Stück’ dieser Epoche. Begonnen hat Lortzing die Oper am 31. Mai 1848, in einer ersten Konsolidierungsphase der Revolution. Zur gleichen Zeit erscheint Wagners solidarisch revolutionärer “Gruß aus Sachsen an die Wiener”. 33 Die Oper wurde am 5. Oktober 1848 beendet. Bereits einen Tag später kommt es zum letzten revolutionären Aufstand in Wien, als die zum Kampf gegen das aufständische Ungarn bestimmten Truppen meutern und der Kriegsminister Latour von der aufrührerischen Menge gelyncht wird. Während Graf Windischgrätz mit kroatischen und tschechischen Truppen Wien für die Reaktion zurückerobert, arbeitet Lortzing an der Ouvertüre. Am 31. Oktober kapituliert Wien, die Revolution ist gescheitert. In der Folge kommt es zu Verhaftungen und Hinrichtungen. So wird auch der Führer des liberalen Flügels Robert Blum, der als Teil einer Deputation des Frankfurter Paulskirchen-Parlaments zur Beobachtung der Situation nach Wien gereist war, trotz seiner Immunität als Abgeordneter verurteilt und am 9. November 1848 exekutiert. Blums Tod löste deutschlandweit Trauer aus und auch Lortzing trauert um den Freund aus Leipziger Jahren. 34 Genau jetzt bricht Lortzing seine Arbeit an Regina ab, die Ouvertüre bleibt unvollendet. Lortzing ist sich sofort bewusst, dass der Erfolg seiner ‘Zeitoper’ von den politischen Umständen abhängt und formuliert seine Bedenken am 20. Oktober 1848 in einem Brief an seinen Verleger Raimund Härtel: Hiermit zeige ich Ihnen an, daß ich ein neues Opus vollendet, in welches ich Vertrauen setze, weil es Zeitumstände berührt, Freiheitslieder u.d.g. enthält und einige famöse Parthien besitzt. Ich habe die Oper für das Kärnthnerthor: Theater berechnet, leider aber laßen die hiesigen Zustände noch auf keine Eröffnung der Bühnen hoffen und dann auch - leider muß ich es aussprechen, fragt sich - ob derartiges gegeben werden darf, denn Wien steht auf dem Punkte, seine Errungenschaften - schmachvoller Gedanke! - wieder herausgeben zu müßen. Wenn wir nicht die Kroaten, die vor unsern Thoren liegen sammt den österreichischen Truppen aufs Haupt schlagen, ist unsre Freiheit dahin. Gott stärke unsre Waffen. 35 Breitkopf und Härtel, denen hier offenherzig und vielleicht etwas naiv das Risiko der Verlegung schon geschildert wird, lehnen am 7. Dezember 1848 die Drucklegung ab mit fadenscheinigen Verweisen auf ‘Mangel an Originalität’. Das politische Risiko ist zu dieser Zeit schon wieder viel zu hoch. Auch vorsichtige Versuche, die Oper in Leipzig oder Breslau unterzubekommen, scheitern. Lortzing wird die Uraufführung und auch die Veröffentlichung seiner Oper nicht mehr erleben. 36 Regina beginnt mit einem Arbeiterstreik in einer Fabrik. Die Arbeiter fordern vehement mehr Lohn. Der Geschäftsführer Richard verhindert Gewaltanwendung, indem er verspricht, sich für die Arbeiter beim Fabrikanten einzusetzen. Regina, die Tochter des Fabrikherrn, wird Zeugin des Vorfalls und gesteht Richard ihre Liebe. Bei der Rückkehr des Fabrikanten, Herr Simon, dankt dieser Richard für sein Einschreiten und gibt ihm Reginas Hand als Lohn. Der Werksmeister Stephan, in dessen Schuld Simon steht, ist seinerseits verliebt in Regina und fordert ihre Hand. Nach seiner Zurückweisung verbündet Stephan sich mit dem Freischärler Wolfgang und dessen Freikorps und überfällt die Fabrik während des abendlichen Versöhnungs- Festes. Regina wird entführt und die Fabrik in Brand gesetzt. Richard und eine Schar Bewaffneter nehmen die Verfolgung auf. Als die Situation am Pulverturm für Stephan ausweglos erscheint, will er sich mit Regina in die Luft sprengen. Regina gelingt es jedoch, 130 Meike Wagner Stephan vor der Entzündung des Pulverturms zu erschießen. 37 Im Finale treffen die Liebenden wieder aufeinander und Richard führt den Chor zum Freiheitslied an. In formaler Hinsicht orientiert sich Lortzing weitgehend an der Grand Opéra. Petra Fischer macht den Zusammenhang deutlich: Der unvermittelte Sprung in eine möglichst spannungsreiche Anfangssituation, die Passivität des Tenor-Helden - nach seiner Beschwichtigungsrede zu Beginn der Oper ist Richard für den Gang der Handlung geradezu bedeutungslos -, die herausgehobene Position des Chors - das Bild des Chores als zerstörerische Masse - das Volk als dramatis personae, alle diese Charakteristika der Grand Opéra eignen auch der Lortzingschen Oper. Auch der Schluß der ‘Regina’ scheint zunächst auf die typische Grand Opéra-Katastrophe hinzuzielen. Hätte Scribe das Libretto geschrieben, wäre das Spektakel eines explodierenden Pulverturmes am Schluß der Oper gestanden. 38 Wie die Grand Opéra ist auch Regina größtenteils durchkomponiert, Dialoge fehlen weitgehend. Die Konfliktparteien und Figuren der Oper lassen sich mit den März-Ereignissen in Zusammenhang bringen. So kann man zwischen der Figur des Richard und Robert Blum Ähnlichkeiten feststellen. Blum galt als ausgesprochen überzeugender Redner, hatte er doch durch die Kraft des Wortes während der Leipziger Unruhen 1845, 39 ähnlich wie Richard in der Fabrik, die Volksmassen beruhigt und von Gewaltausbrüchen abgehalten. Die Dankesadresse der Stadt Leipzig an Blum könnte auch an Richard gerichtet sein: Sie haben, treu ihrer Bürgerpflicht, die aufgeregten Tausende ermahnt: nicht zu verlassen den Boden des Gesetzes und mit Vertrauen auf die Behörden zu blicken, die unseren gerechten Beschwerden Abhülfe herbeiführen würden. Sie haben durch Ihre Worte den stürmischen Ausbruch der Gemüter gesteuert. Wir danken Ihnen dafür. 40 Die Einbettung der politischen Ereignisse in ein Liebes- und Eifersuchtsdrama verstellt dennoch nicht den Blick auf Lortzings Verhandlung revolutionärer Konflikte, die einen Beitrag zu den Diskursen von 1848 darstellen. Die radikalen Freischärler, von Lortzing negativ gezeichnet, lassen ihren revolutionären Kampf umschlagen in die Lust an Zerstörung und das Ausleben des Rachedursts. Hier könnte man anarchistische Positionen etwa eines Mikhail Bakunin erkennen. Dagegen favorisiert Lortzing deutlich die gemäßigte revolutionäre Position, die den Kampf um die ‘März-Errungenschaften’ führt, aber dann eine Stabilisierung der Situation anstrebt. Denn nur im Frieden kann die Freiheit gedeihen. Lortzing gibt so eine Nähe zu den Positionen des ‘Jungen Deutschland’ zu erkennen. In seiner Leipziger Zeit war Lortzing Mitglied des Vereins “Tunnel über der Pleiße”, dem auch die Jungdeutschen Heinrich Laube und Karl Gutzkow angehörten. Dort geht es um sozial und politisch engagierte Literatur und Kunst. Vor allem Pressefreiheit und die soziale Frage stehen im Zentrum. Radikale oder gar anarchistische Positionen fehlen. Wie auch bei Lortzing. In seiner Oper sollen die Besitzverhältnisse nicht angetastet werden: Das kapitalistische System bekommt ein menschliches Antlitz verpasst, Arbeiter und Bürger verständigen sich über die Produktionsbedingungen. Im Finale der Oper ist es das gesamte Volk, das die Freiheit feiert und verteidigt. “Landleute, Arbeiter aus allen Klassen [und] Soldaten” 41 strömen zusammen. Albert Lortzing hat für dieses vaterländische und freiheitliche Finale die populäre “Deutsche Hymne” von Friedrich Stoltze bearbeitet, der als Frankfurter Mundart- und so genannter ‘Paulskirchen-Dichter’ tätig war. Heil Freiheit Dir, du Völker Zier, Dir leben wir, dir sterben wir! […] Auf! rüstet Euch! Das Schwert zur Hand, Im Sturmschritt für das Vaterland! Am Puls der Zeit. Theater und Revolution im 19. Jahrhundert 131 Ein Volk! Ein Heer! Ein Herzensschlag! Nun kommt der Freiheit großer Tag! Das Volk läßt sich nicht spotten! O Glanz! O Sieg! O helle Ruhmesbahn! Auf Vaterland! Voran! Auf! Vaterland, Voran! Wenn man sich den Zeitkontext der Opernentstehung vor Augen hält, dann erscheint dies wie ein letztes Beschwören der revolutionären Freiheitsvision vor der endgültigen Niederlage. Es ist jedoch durchaus radikal, eine Oper mit einem Arbeiterstreik beginnen zu lassen und die Forderungen der Arbeiter zu rechtfertigen. Radikal ist dies im Sinne des Operngenres, augenfällig ist jedoch, dass in den Wiener Zeitungen pausenlos von Arbeiterstreiks, Maschinenstürmerei und Protesten berichtetet wird. Dies gehört zum revolutionären Alltag in Wien. So ist es nur konsequent, dies in das Projekt der ‘Zeit-Oper’ zu integrieren. In fast Brecht-Weillscher Manier skandiert der Chor der Arbeiter seine Forderungen, der Beginn der Oper ist ein regelrechter Protestsong. Nach einer halben Minute Einleitung, in der das rhythmische “Wir wollen nicht” von Flöte und Streichern vorweg genommen wird, setzt mit Macht der Chor skandierend ein. Das “Wir wollen nicht” legt harte Rhythmen über treibend fächelnde Streicher, um sich dann in der Stimmlage dramatisch nach oben zu steigern, wenn es um den Sachverhalt geht: “Auch noch besondre Liebespflicht, bei solchem kargen Lohn”. Jürgen Lodemann kommentiert dieses Klangerlebnis als eine Spiegelung der Welt von 1848: Es ist, als gäbe es mit diesen Lortzing-Noten eine Art Tonaufnahme aus dem Jahr 1848 - skandierend marschierendes Rufen, Sprech- oder Straßengesang waren auch damals in Übung, der Komponist hat das zu hören bekommen, als Studenten und Arbeiter durch Wiens Straßen zogen […]. 42 Anlass zum Streik ist Kilians Aufforderung, dem Dienstherrn einen dankbaren Empfang zu bereiten: die Arbeiter würden sich entwürdigen, wenn sie den ausbeuterischen Fabrikherrn auch noch lieben sollten. Hier ist formuliert, was jeden Arbeiters, auch des Kapellmeister Lortzings Recht ist. Die Arbeiter müssen nicht dankbar sein für den Lohn, wenn sie dafür “des Leibes Kräfte” einsetzen. Der gerechte Lohn ist nur die “verfluchte Schuldigkeit” des Fabrikherrn. Die Auseinandersetzung steigert sich bis zur Androhung von Waffengewalt: “Beschlossen ists, zu Ende sei / Die Knechtschaft und die Tyrannei! / Wir werden Recht uns bald verschaffen, / Seis nicht mit Worten, seis mit Waffen”. Jetzt droht die Situation zu kippen. Lortzing rechtfertigt die Forderungen der Arbeiter, will aber durch Richard Versöhnung erreichen. Diese gelingt durch das Fest der Arbeiter mit dem Fabrikherrn, 43 wird jedoch von den Freischärlern bedroht und zunichte gemacht. Schon am Anfang ist so die Stoßrichtung festgelegt: Regina appelliert leidenschaftlich an die Zuschauer, das kostbare Gut der Freiheit zu erkämpfen, zu nutzen und zu bewahren, aber nicht durch den Exzess aufs Spiel zu setzen. In ähnlicher Tonlage schreibt Lortzing an Georg Meisinger nach der militärischen und politischen Niederlage; die Freiheiten sind verloren, der Exzess hat ihre Konsolidierung verspielt: Du wirst viel Wahres und dito Unwahres in den Zeitungen gelesen haben; so viel ist gewiß, daß es schrecklich hier zu gieng und daß sich viel darüber sagen ließe, wenn man mit gutem Gewißen dem Papiere alles, was man denkt, anvertrauen könnte […] In vielfacher Beziehung sind wir hier wieder auf dem alten Punkte, wie vor den März-Tagen. Im Kärtnerthor sind: die Stumme und Don Juan verboten, mit vielen Stücken gehts eben so - die Censurfreiheit wurde eben zu weit getrieben! 44 Damit schließt sich eine Tür, die einen Weg zu einem politisch öffentlichkeitswirksamen Theater eröffnet hätte. Stattdessen wird sich bis zur Jahrhundertwende Theater als machtrepräsentatives System verfestigen und keinen 132 Meike Wagner politischen Spielraum mehr erringen. Auch Albert Lortzing wird nie mehr die Möglichkeit haben, seine politische Haltung in seiner Arbeit auszudrücken. Nach seiner Wiener Revolutionsepisode wird er keinen Fuß mehr in der Theaterwelt fassen können und stirbt 1851 gebrochen und verarmt in Berlin. Anmerkungen 1 T.F. Lumau in: Allgemeine Theaterzeitung, 23.3.1848, Wien. 2 A. Barri in: Allgemeine Theaterzeitung, 28.3.1848, Wien. 3 Jürgen Fohrmann, “Die Erfindung des Intellektuellen”, in: Jürgen Fohrmann und Helmut J. Schneider (Hg.), 1848 und das Versprechen der Moderne, Würzburg 2003, S. 113-127; S. 113. 4 Fohrmann weist darauf hin, dass der Begriff des ‘Intellektuellen’ erst während der Dreyfus- Affäre (1898) geprägt wurde, die Funktion des Intellektuellen in unserem heutigen Sinne jedoch in der von ihm beschriebenen Epoche entstanden ist. Vgl. Fohrmann, “Die Erfindung”, S. 113. 5 Fohrmann, “Die Erfindung”, S. 115. 6 Fohrmann, “Die Erfindung”, S. 119. 7 Vgl. Fohrmann, “Die Erfindung”, S. 124. 8 Kerstin Stüssel, “Punkt, Punkt, Komma, Strich… - Revolution(en) und die Geschichte von ‘Gegenwartsliteratur’”, in: Fohrmann und Schneider, 1848 und das Versprechen, S. 33-48; S. 35. 9 Manfred Gailus, “Die Straße”, in: Christof Dipper (Hg.), 1848. Revolution in Deutschland, Frankfurt a. M. u. Leipzig, 1998, S. 155-169; S. 155. 10 So etwa Yvonne Raffelsberger, “Theater und Presse 1848/ 49 in Berlin und Wien”, unveröffentlichtes Manuskript, 52 S., München 1998. 11 1791 wurde die Theaterfreiheit proklamiert sowie eine Aufhebung der Zensur; die kurze Phase der ‘theatralen Entfesselung’ dauert bis zu deren Wiedereinführung 1794. 12 Tatsächlich erreichten die ‘Theatermeuten’ in verschiedenen konkreten Fällen, dass ein Stück nach anfänglichem Verbot aufgeführt wurde (Charles IX von Marie Joseph Chenier, 1789) oder auch, dass ein Theater ein angesetztes Stück wegen Verstößen gegen den ‘allgemeinen Volkswillen’ absetzte (L’Auteur d’un moment von François Léger, 1792). 13 Maslan liest in der Tradition der amerikanischen Performance Studies diese Fälle als radikales Potential des live Ereignisses Theater und bringt es in Anschlag gegen die von Jürgen Habermas (Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962) vertretene Schriftkultur als Grundlage einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Obgleich Maslan zahlreiche Schriftstücke, Zeitungsartikel, veröffentlichte Parlamentsreden zum Thema der Theaterfreiheit als Dokumentation der Debatte um die Kraft der theatralen Repräsentation hinzuzieht, macht sie die Wechselwirkungen zwischen dem theatralen Ereignis und den verschrifteten Veröffentlichungen nicht kenntlich. Meines Erachtens schwächt die Polarisierung zwischen ‘Aktionskultur’ und ‘Schriftkultur’ Maslans Argument, eine Durcharbeitung der Interdependenzen und hybriden Performanzen in der medialen Zusammenschau würde den reflexartigen Angriff auf Habermas hinter sich lassen und neue Perspektiven eröffnen. 14 Theodor Rötscher, “Theater und dramatische Poesie in ihrem Verhältnisse zum Staate”, in: Staats-Lexikon oder Enzyklopädie der Staatswissenschaften in Verbindung mit vielen der angesehensten Publicisten Deutschlands, Bd. 15, hg. v. Carl von Rotteck und Carl Welcker, Altona 1843, S. 388-408; S. 389. 15 Rötscher, “Theater und dramatische Poesie”, S. 389. 16 Rötscher, “Theater und dramatische Poesie”, S. 390. 17 Jörg Wiesel, “Zum Verhältnis von Theater und Staat im Vormärz. Heinrich Rötscher und der Chor”, in: Maria Porrmann und Florin Vaßen (Hg.), Theaterverhältnisse im Vormärz (= Forum Vormärz Forschung Jahrbuch 2001), Bielefeld 2002, S. 25-41; S. 27. 18 Rötscher, “Theater und dramatische Poesie”, S. 395-396. 19 Carl Welcker, “Öffentlichkeit/ öffentliche Meinung”, in: Staats-Lexikon, S. 253. 20 Richard Wagner, “Die Kunst und die Revolution (1849)”, in: Die Kunst und die Revolution, Am Puls der Zeit. Theater und Revolution im 19. Jahrhundert 133 hg. v. Tibor Kneif, München 1975, S. 7-50; S. 23. 21 Wagner, “Die Kunst”, S. 39. 22 Wagner, “Die Kunst”, S. 18. 23 Es handelt sich um den revolutionären Aufstand, der von der Aufführung am 25. August 1830 im Théâtre Royal de la Monnaie ausgeht. 24 Vgl. Franz Heinrich Ungewitter, Geschichte der Niederlande von dem Zeitpuncte ihrer Entstehung an bis auf die neueste Zeit und ausführliche Schilderung der belgischen Revolution von ihrem Ausbruch bis zum Ende des Jahres 1831, Bd. l, 1831, S. 255. 25 Ungewitter, Geschichte der Niederlande, S. 255. 26 Richard Wagner, “Erinnerungen an Auber (1871)”, in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Leipzig 4 1907, S. 42-60; S. 45. 27 Wagner, “Erinnerungen”, S. 46. 28 So distanziert er sich explizit von der Revolution in Paris 1830. 29 Vgl. Fritz Racek, “Einiges über Lortzings Tätigkeit am Theater an der Wien”, in: Friedrich Wilhelm Riedel und Hubert Unverricht (Hg.), Symbolae Historiae Musicae. Hellmut Federhofer zum 60. Geburtstag, Mainz 1971, S. 248-251; S. 249. 30 Allgemeine Theaterzeitung, 17. März 1848, Wien. 31 Zur außerordentlichen Wirkung der Aufführung hier nur ein Ausschnitt aus den zahlreichen Berichten: “Interessanter noch als die Vorstellung auf der Bühne, war die im Parterre, welche fast ganz von heimischen und fremden Studenten occupirt war. Jede Wendung, jede auf die Universität bezügliche Stelle, besonders aber das der depravirten Präsidentin gebrachte ‘Pereat’ wurde unter Jubel, der kein Ende erreichen wollte, aufgenommen. Die Studentenlieder sangen alle mit, Studenten und Publikum, die Fußlampen schienen weggeräumt: ein den Wienern neues Schauspiel! ” L. Raudnitz in: Allgemeine Theaterzeitung, 3. April 1848, Wien. 32 Jürgen Lodemann, Lortzing. Gaukler und Musiker, Göttingen 2000, S. 449. 33 Richard Wagner, “Gruß aus Sachsen an die Wiener”, in: Gesammelte Schriften und Briefe, Bd. 12, hg. v. Julius Kapp, Leipzig 1914, S. 36-39. 34 Blum war von 1832-1847 Theatersekretär am Leipziger Stadttheater, wo auch Lortzing tätig war. 35 “Brief an Raimund Härtel am 20. Oktober 1848”, in: Sämtliche Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Irmlind Capelle, Kassel 1995, S. 339. 36 1899 bemächtigt sich Adolphe l’Arronge an der Königlichen Hof-Oper Berlin der Oper Regina, verlegt sie ins Jahr 1813 gab ihr eine stark monarchistische Tendenz. Die DDR- Aufführung von 1951 ist wiederum eine massive Bearbeitung - diesmal zur Arbeiteroper. Erst 1998, 150 Jahre nach der Märzrevolution, findet die Uraufführung der Originalfassung am Schillertheater Nordrhein-Westfalen in der Regie von Peter Konwitschny statt. 37 Es lassen sich in den Wiener Zeitungen tatsächlich Berichte nachweisen, nach denen es einen Freischärler-Überfall auf Pulvertürme bei Simmering gegeben hat, bei dem in letzter Minute die Sprengung durch militärisches Eingreifen verhindert werden konnte. Vgl. Allgemeine Theaterzeitung vom 1. April 1848: “In der Nacht vom 29. auf den 30. März versuchte eine zucht- und ordnungslose, elende Banditenhorde die Pulverthürme im sogenannten ‘Neugebäude’ nächst Simmering, in der ausgesprochenen Absicht zu stürmen, Alles in die Luft zu sprengen! ” 38 Petra Fischer, Vormärz und Zeitbürgertum. Gustav Albert Lortzings Operntexte, Stuttgart 1996, S. 268. 39 Unruhen in Leipzig 1845: Am 12. April demonstriert eine große Menschenmenge vor dem Hotel, in dem Prinz Johann logiert. Die Menge wirft mit Steinen die Fenster des Hotels ein. Als die Menge sich schon zerstreut, feuert Militär und einige Menschen sterben. Am 13. April findet eine Versammlung statt, in der Robert Blum die Teilnehmer überzeugt, die Gesetzte zu achten. Er wird Kopf einer Delegation, die die Wünsche der Menschen im Rathaus vorträgt. Robert Blum profiliert sich als derjenige, der Leipzig vor dem Chaos rettet. 40 Dankesadresse des Stadtrates an Robert Blum anlässlich seines Geburtstags am 10. November 1845. 41 Libretto, Akt III, Szene 7, Programmbuch Nr. 15 Regina, Schillertheater Nordrhein- 134 Meike Wagner Westfalen, Spielzeit 1997/ 98. Alle weiteren Textzitat aus Regina dort entnommen. 42 Lodemann, Lortzing, S. 465. 43 Diese Versöhnung mit festlichen Symbolen auszugestalten gehört zum ‘arbeitspolitischen Repertoire’ der Zeit. Vgl. etwa die Berichte der Allgemeinen Theaterzeitung zur Maschinenfabrik der Wien-Gloggnitzer Eisenbahngesellschaft (27. März 1848) und zu Haslingers K.K. Hof- und bürgerl. Kunst- und Musikalienhandlung (1. April 1848). 44 “Brief an Georg Meisinger vom 26. November 1848”, in: Sämtliche Briefe, S. 344. Metropole als Markt für Mokerie. Parodien auf urbane Unterhaltung als Unterhaltung über Urbanisierung im 19. Jahrhundert 1 Nic Leonhardt (Heidelberg) Berlin, so heißt es oft, sei die deutsche “Theater-Metropole” des 19. Jahrhunderts. Begründet wird dies mit der Herausbildung einer vielfältigen Theaterlandschaft, die quantitativ vielfältig ist durch eine enorme Anzahl an Theaterneugründungen nach der Einführung der Gewerbefreiheit 1869, und qualitativ vielfältig ist durch eine Heterogenität an Theaterangeboten infolge gestiegener Konkurrenz unter den Bühnen. Mit dem Gesetz der Gewerbefreiheit 1869 ist bekanntlich jedem Bürger die Möglichkeit gegeben, eine Konzession für den Betrieb eines Theaters zu erlangen. Dies führt in Deutschland, insbesondere jedoch in Berlin, zu einem Gründungsboom privat betriebener Theaterhäuser. Die Folgen dieses Gesetzes, ebenso aber auch die veränderten stadtsoziologischen Bedingungen in der neuen Reichshauptstadt Berlin (nach 1871) und die verbesserte Infrastruktur, die eine höhere Mobilität der Theaterbesucher gewährleistet, resultieren in einer Ausdifferenzierung des Unterhaltungsangebotes in der Stadt. Diese bekannte Tatsache wurde von der Theatergeschichtsforschung lange als Inflation eines qualitativ minderwertigen Theaterangebotes abgewertet. Dabei wurde überwiegend übersehen, dass der Anstieg der Theater- und anderen Unterhaltungseinrichtungen auch eine (durch die Konkurrenz unter den Bühnen zunächst wirtschaftlich notwendige) die deutsche Theaterkultur bereichernde Ausdifferenzierung der Theaterformen, eine Veränderung der Publikumsstruktur mit sich brachte. 2 Theater-Metropole wird Berlin im 19. Jahrhundert nicht, ohne dass Berlin versucht, Metropole zu werden. Oder anders gesagt: Die Etikettierung Berlins als Theater- Metropole ist eng verknüpft an die zeitgenössischen Bestrebungen, aus Berlin eine Metropole zu machen. Und an dieser “Umwandlung” sind auch Theater, Medien und andere urbane Institutionen beteiligt. Wie ist das zu verstehen? Metropolen des 19. Jahrhunderts bedienen und folgen zahlreichen und ambivalenten Erwartungen: Sie sind Sinnbild von Fortschritt, geographische Zentren der Macht, Gegenstand utopischer Entwürfe, sie stehen, in einer urbanitätspessimistischen Haltung, für Chaos, Entfremdung, Bedrohung des Einzelnen und Anonymität der Massen. Metropolen sind ökonomische Knotenpunkte mit überregionaler Wirkung und “glitzernde Schauplätze” 3 der Massenkultur. Ihre Funktion besteht wesentlich darin, wie Peter Alter 1993 formuliert, eine positive oder auch negative Vorreiterrolle in der Gesellschaft zu spielen [...]. Die Metropole ist mithin der Sonderfall der großen Stadt: sie ist die Zusammenballung menschlicher Talente und Fähigkeiten an einem von der Geschichte ausgezeichneten Ort, der nicht zuletzt auf Grund dieser Zusammenballung zum Brennpunkt wie zum Spiegelbild der Gesellschaft und ihrer Entwicklung wird. Die Metropole ist Zentrum, Kaleidoskop des Lebens, Experimentierfeld und Maßstab für Neues, Ort der Extreme. 4 Die politische Bedeutung als neu ernannte Hauptstadt des Deutschen Reiches nach 1871, der wirtschaftliche Aufschwung, die stetig voranschreitende Industrialisierung, Ver- Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 135-151. Gunter Narr Verlag Tübingen 136 Nic Leonhardt besserung und Ausbau der Infrastruktur, der steigende Unterhaltungsbedarf einer rasant anwachsenden Stadtbevölkerung verändern Berlin von einer vormals “provinziellen königlichen Residenzstadt” in die “Hauptstadt eines der mächtigsten Staaten Europas”. 5 Indes: ist Berlin “eine wirkliche Hauptstadt” des Deutschen Reiches? Dies fragt Theodor Fontane am 10. August 1875 seine Frau Emilie in einem Brief und gibt sich selbst eine Antwort: Nein, Berlin sei “weit ab” davon, eine “wirkliche Hauptstadt” zu sein. Es sei zwar “durch politische Verhältnisse über Nacht dazu geworden, aber nicht durch [sich] selbst” und werde es “noch lange nicht werden”. 6 Mit dieser Einschätzung ist Fontane nicht allein. Im zeitgenössischen Diskurs wird wiederholt konstatiert, Berlin komme über den Status einer Provinzstadt nicht hinaus. Differenziert wird diese Ansicht nur versteckt: Politisch sei Berlin “über Nacht” zur Hauptstadt geworden; aber eine Hauptstadt und Metropole sei Berlin damit “noch lange nicht”. Die Umwandlung vollziehe sich zu rasch, zu plagiiert - nämlich durch Orientierung an den “weiter entwickelten” europäischen Metropolen Paris und London und der Adaption deren städtischer Angebote und Unterhaltungseinrichtungen und Theaterformen. Wie David Clay Large in seiner “Biographie” der Stadt Berlin schreibt, werden nach 1871 Anstrengungen unternommen, Berlin zu einer ‘wahren’ Metropole zu machen. Zur Behebung des “Mangels” an ‘metropolitaner Eignung’ übernehme die Stadt “fieberhafte Anstrengungen”, denn sie solle, “was die Qualität ihrer urbanen Lebenskultur anbetraf, nicht hinter Paris oder London zurückstehen”. 7 In diesem Beitrag über die (Theater-)Metropole als Markt für Mokerie möchte ich am Beispiel von Parodien der Zeit zeigen, wie Theater des 19. Jahrhunderts Umschlagplatz für die Unterhaltung über soziale, politische und kulturelle Angelegenheiten der Metropole Berlin wird und - selbst Bestandteil der Urbanisierung Berlins - andere Institutionen und Marker der “urbanen Lebensart” thematisiert. Im Blick stehen hier Parodien, die vielfältige Phänomene und Erfolgsmittel der zeitgenössischen Theaterangebote und die Präsentationsmodi der urbanen Unterhaltungseinrichtungen thematisieren, indem sie die jeweiligen Charakteristika der Vorlage überzeichnen oder verdrehen. Diese Parodien, so eine weitere These, dienen in Zeiten der Umwandlung Berlins zur (Theater-)Metropole als Mittel der Selbst-Reflexion der Großstädter/ des städtischen Publikums über ihre/ seine Unterhaltungskultur. Aus kultur- und theaterhistorischer Perspektive ist die Parodie insofern von besonderem Interesse, als sie Aussagen über ihre und die Rezeption ihrer Vorlage sowie über vorherrschende “Trends” zulässt. Mein Verständnis von Unterhaltung lehnt sich an Werner Faulstichs “pragmatisch deskriptive, integrative Arbeitsdefinition” an: “Unterhaltung ist die anstrengungslose Nutzung geschichtlich unterschiedlich formatierter Erlebnisangebote, um im je zeitspezifischen kulturell-gesellschaftlichen Kontext disponible Zeit genüsslich auszufüllen.” 8 Wie Faulstich wende ich mich gegen eine wertende Lesart von “Unterhaltung” und stehe mit ihm für die unbedingte Berücksichtigung des historischen Gehaltes, der Historizität von Unterhaltung ein: Unterhaltung ist keine ästhetisch negative, keine anthropologisch positive und auch keine rezeptional-funktional neutrale, sondern eine gesellschaftsbezogene Kategorie, die Produkte und ihre Rezeption in Beziehung setzt - und damit natürlich historisch. 9 Im folgenden Abschnitt werde ich das Zusammenspiel von Urbanisierung und Unterhaltungsinstitutionen skizzieren, um dann im Hauptteil, Parodie: Unterhaltung über Unterhaltung, ausgewählte Parodien der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu besprechen, die die Phänomene Metropole als Markt für Mokerie 137 der Theater-Vielfalt sowie die zeitgenössisch gefragten Unterhaltungsangebote thematisieren. Urbanisierung und Unterhaltungsinstitutionen Die Umwandlung Berlins zur (Theater-)Metropole vollzieht sich sowohl quantitativ wie qualitativ: Nach 1871 und im Verlauf der folgenden Dekaden wird Berlin verstädtert - eine quantitative, messbare Veränderung der Stadt als geographische und demographische Ausdehnung. 10 Daneben wird Berlin auch urbanisiert: Im Gegensatz zum Begriff der Verstädterung wird der Begriff der Urbanisierung als qualitativer Prozeß der Diffusion einer spezifisch urbanen Lebensform begriffen, die sich nicht automatisch aus der Verstädterung ergibt und andere Elemente des Modernisierungsprozesses, [darunter] die Verbreitung von Massenkommunikationsmitteln miteinbezieht. 11 “Urbanisierung” ist folglich ein qualitativer Begriff, mit dem, wie Zimmermann 2000 präzisiert, die “Herausbildung und Verbreitung der ‘urbanen’ Lebensformen” beschrieben wird, wie sie sich “besonders in den großen Städten des 19. Jahrhunderts entwickelten”. 12 Schon im Meyers Konversationslexikon von 1897 ist “Urbanität” als “feine Lebensart, Bildung” definiert. 13 Verstädterung und Urbanisierung gehen Hand in Hand: Durch das wirtschaftliche und Bevölkerungswachstum sowie die infrastrukturellen Veränderungen ändert sich das Stadtbild, werden neue Plätze und neue Institutionen errichtet, die zuvor nicht denkbar gewesen wären, weil sie keine ‘stadtfunktionale Wertigkeit’ gehabt hätten. Damit meine ich, dass sie ihren Zweck (nur) in einem städtischen Kontext erfüllen und ihrerseits ohne diesen nicht denkbar wären. Die institutionellen Neuerungen brauchen das Publikum, 14 das sein Bedürfnis nach Unterhaltung aus dem privaten in den öffentlichen Raum der Stadt verlagert, 15 und schaffen und befriedigen “innovative Verhaltensweisen”, 16 einen urbanen “Lifestyle”. Urbanität, die “feine Lebensart”, herauszubilden und Berlin zur Metropole zu formen, ist eine Funktion von Institutionen und Medien der Zeit. Zu diesen gehören beispielsweise Passagen, Warenhäuser, 17 Museen, Panoptika, Varietés, Zoologische Gärten - und Theater. Diese Stätten konstituieren und prägen die Stadt, indem sie einerseits das topographische Stadtbild mitbestimmen sowie andererseits das Bild von der Stadt (i.S. einer Imagination) mitgestalten, ihr “ein Gesicht geben”. 18 Als Beispiel mag hier die bekannte Passage in der Friedrichstraße genannt werden: Architektonisch den Passagen in anderen Metropolen der Zeit entlehnt, verändert sie das Straßenbild und die Bewegung der Passanten durch die Verknüpfung zweier Straßen und Viertel; gleichzeitig beherbergt sie wesentliche Einrichtungen urbanen Lebens wie exquisite Warenläden, Restaurationsbetriebe, ein Panoptikum und ein Theater. In dieser ‘architektonischen Dramaturgie’ ist sie den Urban Entertainment Centers ähnlich, die heute mittlerweile auch in deutschen Städten das Bild der Innenstädte prägen. 19 [D]ieser Tunnel, dieses enge Straßenband, das auch tagsüber von der Sonne gemieden wird und sich nur in einem grauen, schummerigen Märchenlichte spiegelt, ist ein Zauberland, das die Gäste nicht zwecklos betreten. Keine Straße ist mit Ergötzungen so gepflastert wie diese, an deren beiden Seiten die Lustbarkeiten aufmarschiert sind wie eine Paradefront, zu kleinen Preisen zu genießen und jeden Kunststil umfassend. Man bedient sich selbst: die Honorare für die Beamtenschaft der Kunsthäuser, diese lästigen Nebentribute, sind unnötig. Zehn Pfennige sind und bleiben der Einheitspreis, für den diese Choks zugänglich werden. Sie werden in einer Viertelstunde 138 Nic Leonhardt genossen, in einer zweiten vergessen. Aber gerade darum passen sie in die Großstadt mit ihrem Motto ‘Vorüber, vorüber’, in diese Tunnelgasse, durch deren Spalt die Geißel des Tages immer von neuem die Ruhelosen treibt, die sich Menschen nennen […] 20 Theater und andere Institutionen der Unterhaltung sind gleichermaßen Produkte und wirtschaftlicher Sektor wie auch “Unterstützer” der prozesshaften Metropolisierung Berlins. Sie institutionalisieren den urbanen Lebensstil und tragen zur (insbesondere in der Literatur um die Jahrhundertwende ausgiebig thematisierten) Reizüberflutung der Großstadt bei, indem sie Zerstreuung und Unterhaltung als ästhetisierte Ware anbieten. 21 Die urbanen Unterhaltungsangebote halten für das städtische Publikum Zerstreuungen vom städtischen Alltag bereit und stehen damit “im Wettbewerb mit den Reizen der städtischen Umwelt”, wie Kaspar Maase für die Massenkultur schreibt. 22 Parodie: Unterhaltung über Unterhaltung Im Zuge des Theater-Gründungsbooms in Deutschland zwischen den siebziger und neunziger Jahren spezialisieren sich einzelne Spielhäuser auch auf die Präsentation von Parodien. In Berlin sind das Walhalla- Parodie-Theater, der Wintergarten, das Zentraltheater sowie das American-Theater einschlägige Parodie-Spielstätten. Später werden Kabarett und Varieté (ebenfalls im Zuge der Urbanisierung sich herausbildende und an französischen Vorgängerinstitutionen orientierende Einrichtungen) zu Aufführungsorten der theatralen Parodie. Die Errichtung dieser eigenen Spielstätten für Parodie beziehungsweise die Aufnahme von Parodien in das Repertoire bestehender Bühnen in diesen Jahren ist eine logische Folge des Theater-Über-Angebotes: Die Parodie findet da besonderen Nährboden, wo populäre, i.e. bei weiten Teilen des Publikums bekannte, Angebote vorherrschen. Denn die erfolgreiche Rezeption einer Parodie setzt die Popularität und die Kenntnis der Vorlage voraus. Die Parodierung von bekannten Opern, Theatertexten und -aufführungen macht einen großen Teil der Parodien des 19. Jahrhunderts aus. Die Parodieforschung beschränkt sich jedoch schon lange nicht mehr nur auf Parodien literarischer Vorlagen, sondern hat auch alltagssprachliche Parodien (Werbung, Presse) und andere, nicht textgebundene Parodie (Film, Bildende Kunst, Geschäftswelt, Zeitungen etc.) zum Untersuchungsgegenstand. 23 Ich möchte im Folgenden aus der Vielfalt an Parodien des späten 19. Jahrhunderts einige herausgreifen, die nicht nur eine Aufführung oder einen (Theater-)Text parodieren, 24 sondern die Theater-Vielfalt, ein Phänomen der Unterhaltungskultur jener Jahre oder eine moderne urbane Institution. Parodien auf urbane Institutionen der Unterhaltung erscheinen mir deswegen der Beachtung wert, weil sie auf die Nachfrage nach Unterhaltung in der Stadt antworten - und gleichzeitig diese Nachfrage und das Angebot parodieren. Zeitgenössisch sind sie ‘Nutznießer’ des Unterhaltungsbedarfs und ‘Unterhaltungslieferanten’. Aus der Sicht der Theater- und Kulturgeschichte sind sie in ihrer Komplexität wertvolle Seismografen für die Annäherung an den Erlebnishorizont des damaligen Stadt-Publikums. Zu den wesentlichen Charakteristika der Parodie gehört, dass sie die formalen Elemente der Vorlage beibehält und den Inhalt in dazu passender Weise abändert (imitiert, nachahmt, nachbildet, verändert, adaptiert). Das Parodieren ist ein indirektes, darstellendes Verfahren: Eine Parodie sagt nicht direkt (wie die diskursive Kritik), wie ein Text gemacht oder daß ein Text kritikwürdig ist, sondern sie zeigt es, indem sie seine Eigentümlichkeiten Metropole als Markt für Mokerie 139 oder Unzulänglichkeiten nachbildet und verzerrt und damit vorführt. 25 Die Art der Variation ist grundsätzlich abweichend, unpassend, verzerrend; verzerrt wird immer dergestalt, dass eine komische Wirkung entsteht - speziell eine komische Diskrepanz zwischen Original und Parodie, wobei sich die komische Wirkung gegen das Original richtet. Sie spielt mit der Wahrnehmung und Erwartungshaltung der Zuschauer und ist per se intertextuell/ intervisuell und darin höchst zeit- und kulturspezifisch. Gerade die historiographische Beschäftigung mit Parodien birgt auch Schwierigkeiten. Nicht selten mangelt es an überlieferten Manuskripten von Parodien, häufig sind die Autoren der Parodien nicht bekannt. Und selbst vorhandene Manuskripte können nur unzureichend wiedergeben, wie die Aufführung tatsächlich ausgesehen hat - und damit auch, was tatsächlich parodiert wurde. Die enge Bindung der Parodie an die Popularität der Vorlage ermöglicht zwar eine Annäherung an den je historischen Entstehungs- und Erlebnisraum; diese enge Einbindung in den historischen Kontext birgt jedoch auch die Unmöglichkeit des Nachvollzugs aller Anspielungen ex post. Trotz dieser Schwierigkeiten vermögen die nachfolgenden Beispiele für Parodien auf zeitgenössische Theater- “Trends” und urbane Unterhaltungseinrichtungen des 19. Jahrhunderts einen ersten Einblick in ihre Komplexität und ihren Wert als Indikatoren für die ‘Unterhaltung über Unterhaltung’ zu liefern. Parodie des Sündfluth-Panoramas Als erstes Beispiel sei die Parodie des Sündfluth-Panoramas (von Fischer-Cörlin) genannt. Es handelt sich hierbei um eine Parodie auf das bekannte Riesenrundgemälde Sintflut-Panorama von Max Koch, das “Haupt- und Zugstück des Passage-Panoptikums”, 26 auf dem die biblische Sintflut dargestellt ist. Hier ein Ausschnitt aus einer zeitgenössischen Bildbeschreibung: Während fern zur Linken die Arche schwimmt, werden entwurzelte Stämme, an die sich Ertrinkende angstvoll anklammern, und wild durcheinandergeworfenes, in Knäuel zusammengeballtes Gethier jeder Art, Krokodile und Tiger, zottige Stiere, riesige Dickhäuter [...] fortgerissen und von den Wassern verschlungen. [Es wird ferner gezeigt, wie die] Todesangst die Verlorenen mit letzter Kraftanstrengung selbst an den steilen Bergwänden emporklimmen läßt, gegen die das Wasser in tosenden Strudeln emporschäumt [...]. Im nächsten Vordergrund aber blickt [der Beschauer] auf die figurenreichen, plastischen Gruppen derer, die theils besinnungslos fortstürmen und die Ihrigen mit sich reißen, und entgegenwälzt sich dem Beschauer hier endlich das Gewühl der in wildem Entsetzen fliehenden, Busch und Baum niedertretenden und in der Angst sich gegenseitig vernichtenden Thiere, hoch überragt von einem mächtigen Mammuth, das, selbst, von einer Löwin angefallen, den Löwen mit dem Rüsseln in die Luft schleudert, um das Hinderniß seiner Flucht aus dem Wege zu räumen. 27 Wie Stephan Oettermann informiert, habe sich schon die zeitgenössische Kritik “zurückhaltend” geäußert und das Sintflut- Panorama als ein “verunglücktes” “Sammelsurium” aus Ernst und Spaß, Kunst und der Befriedigung der “Schaulust” eher argwöhnisch rezipiert. 28 Von Bedeutung ist hier die Popularität des Panoramas beim Berliner Publikum, die mit einer ästhetischen Wertschätzung nicht vordergründig zu tun hat. Das Sintflut-Panorama ist trotz seiner umstrittenen künstlerischen Qualität - deren Diskussion in der Presse dennoch als Werbung für die Ausstellung funktioniert haben mag - “Haupt- und Zugstück” des Passage- Panoptikums. Die Zeitungen berichten mehrfach darüber, das Panorama ist Stadtgespräch und schon deswegen präferierter Gegenstand der Parodie. 140 Nic Leonhardt Erstaunlicherweise wird sowohl die Vorlage als auch die Parodie im Berliner Passage- Panoptikum gezeigt, letzteres “an den Wandflächen” des “Berliner Saals”. Der Illustrierte Catalog durch das Passage-Panoptikum aus dem Jahr 1888 beschreibt die Parodie: Die Parodie des Sündfluth-Panoramas (von Fischer-Cörlin), [führt] uns, und zwar mit starkem plastischen Vordergrund, die Sündfluth vor Augen [...], bei welcher die Arche Noah in Gestalt eines Schraubendampfers die Wogen durchfurcht, und der Elefant mit seinem Rüssel den ‘Löwen der Saison’ in die Lüfte hebt. 29 Wenn auch aus dieser kurzen Beschreibung nicht konkret deutlich wird, in welcher Form diese gemalte Parodie gestaltet ist, so fallen doch folgende Elemente der Parodie ins Auge: Aus dem eigentlichen Titel Sintflutwird ein Sündfluth-Panorama, ein Spiel mit der Homophonie der beiden Wörter, ein gängiges Mittel, parodistischen, komisierenden Effekt zu erzielen, indem die Form gleich oder ähnlich bleibt, der Inhalt jedoch variiert wird. Die Motivation für eine Parodie auf das Sintflut-Panorama ist, wie weiter oben erwähnt, mit der Popularität der Vorlage zu begründen, aber auch mit der generellen Praktik des Panorama-Fertigens, -Zeigens und -Anschauens im 19. Jahrhundert. Panoramen sind Massenmedien der Zeit und beeinflussen - als für sich bestehende architektonische Rotunden - auch das Stadtbild. Das Sündfluth-Panorama mokiert sich ferner über die scheinbar “manieristische” Darstellung der biblischen Flut in der Vorlage. In dieser heißt es, der Beschauer blicke im Vordergrund auf die figurenreichen, plastischen Gruppen derer, die theils besinnungslos fortstürmen und die Ihrigen mit sich reißen, und entgegenwälzt sich dem Beschauer hier endlich das Gewühl der in wildem Entsetzen fliehenden, Busch und Baum niedertretenden und in der Angst sich gegenseitig vernichtenden Thiere, hoch überragt von einem mächtigen Mammuth, das, selbst, von einer Löwin angefallen, den Löwen mit dem Rüsseln in die Luft schleudert, um das Hinderniß seiner Flucht aus dem Wege zu räumen. Die Parodie macht daraus einen “starken plastischen Vordergrund, die Sündfluth vor Augen [...], bei welcher die Arche Noah in Gestalt eines Schraubendampfers die Wogen durchfurcht, und der Elefant mit seinem Rüssel den ‘Löwen der Saison’ in die Lüfte hebt.” Die Arche Noah wird zum Schraubendampfer, einem Produkt des 19. Jahrhunderts, aus dem Mammuth wird ein Elefant, der nicht einfach nur einen Löwen, sondern den “Löwen der Saison” durch die Luft schwingt. Aus einer medien- und visualitätsgeschichtlichen Perspektive interessant ist, dass der plastische Vordergrund der Vorlage auch in der Parodie aufgegriffen wird: In der Vorlage “wälzt” sich die “figurenreiche plastische Gruppe” im Vordergrund dem Betrachter entgegen. Auch in der Parodie hat der Beschauer durch den “starken plastischen Vordergrund” die Sintflut vor Augen. Einem Panoramagemälde durch gemalte oder tatsächlich plastische Ansammlungen von Figuren oder Gegenständen im Bildvordergrund mehr Wirklichkeitsnähe zu verleihen, ist eine gängige Praxis in der Panoramamalerei des 19. Jahrhunderts. Dieses (übertriebene) Streben nach größtmöglicher Illusion wird in die Parodie übertragen und erhält in dieser eine Verweisfunktion auf ein Charakteristikum beziehungsweise seine übertriebene Ausführung im konkreten Fall des Sintflut- Panoramas. Circus Stiefelmann oder Parodie unter Wasser Bei der Parodie Circus Stiefelmann oder Parodie unter Wasser (1891, Aufführungsort bislang nicht ermittelt) - der Hinweis auf diese Parodie lässt sich Berliner Zeitungen aus dem Metropole als Markt für Mokerie 141 Jahr 1891 entnehmen - handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Parodie auf die aufwändigen Féerien und Ausstattungsstücke, die in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zum erfolgreichen Repertoire des Circus Schumann (später Deutsches Theater, vorher Zirkus Renz) zählen. In der “Pflege von Pantomime, Ballett und Schaustellung in prunkvoller Ausstattung” befriedigt der Zirkus, wie Bucher et al. 1981 notieren, “auf sozial niedriger Ebene die gleichen Bedürfnisse wie die Oper bei Adel und gehobenem Bürgertum”. 30 Durch die Einbeziehung solcher Pantomimen in das Programm verwischen die bis dato gültigen institutionellen Grenzziehungen zwischen Zirkus und Theater. 31 Kennzeichen der Pantomimen sind die Aneinanderreihung von Schaueffekten, der Bezug auf aktuelle Themen (Politik, Gesellschaft, Industrialisierung) und die aufwändige Szenographie, die die visuellen Effekte in den Vordergrund rückt und bekannte Bildzitate einbaut. Das Repertoire des Zirkus Renz/ Zirkus Schumann passt sich in der Auswahl seiner Pantomimen zeitaktuellen Themen an, etwa in den Pantomimen Episoden aus dem Schleswig-Holsteinischen Krieg und Erstürmung der Düppeler Schanzen (Bezug: Deutsch-Dänischer Krieg um Schleswig- Holstein, die entscheidende Schlacht bei den Düppeler Schanzen entscheidet am 16. April 1864 Preußen für sich), Im dunklen Erdteil (Bezugnahme auf die Kolonialpolitik) 32 oder Harlekin à la Edison, oder: Alles elektrisch (Bezug auf das Novum Elektrizität). Bereits Ende der sechziger Jahre wird die “große phantastische Zauber-Pantomime” Montana gezeigt, zu deren Höhepunkten eine Schluss- Apotheose “mit Anwendung von neuen Lichteffecten” zählt. 33 Im Jahr 1890 erlangt der Zirkus Renz besondere Aufmerksamkeit durch die “große hydrologische Ausstattungs-Pantomime in 2 Abtheilungen” Auf Helgoland oder Ebbe und Flut: In dieser Inszenierung wird Wasser zum Hauptthema und -effekt: “Wassermassen rauschen in die Manege, ein Schiff schaukelt auf den Wellen, eine 25 Meter hohe, farbig angestrahlte Fontäne steigt auf, Menschen und Tiere stürzen sich in die Wogen.” 34 Diese Pantomime verarbeitet szenisch die Abtretung Helgolands an das Deutsche Reich im Jahre 1890, wobei anzunehmen ist, dass in der Aufführung die “hydrologischen Effekte” Vorrang vor dem Inhalt haben. Im Zensurexemplar vom 2. August 1890 wird informiert, dass innerhalb von zwei Minuten “mehr denn 150 Cubikmeter Wasser den Circus [überfluthen], in mächtigen Cascaden und Fällen sich ergießend.” Der überwiegende Teil der Aufführung vollzieht sich im Wasser: “in kunstgerechtem Sprunge” werfen sich “anmuthige [...] Schwimmerinnen [...] in die Wellen, in denen sie darauf ein ebenso graciöses wie kunstvolles Spiel beginnen”. 35 Die Parodie Circus Stiefelmann oder Parodie unter Wasser mokiert sich, dies lässt der Titel vermuten, über diese aufwändige und effektvolle hydrologische Pantomime. Dem Berliner Zuschauer wird aufgrund der Popularität von Seebad Helgoland diese Anspielung schon beim Lesen des Titels deutlich gewesen sein. Auf einer allgemeineren Ebene wird mit dieser Parodie auch die Mode der Ausstattungsstücke, die in anderen Theatern der Zeit, etwa im Victoria-Theater in der Münzstraße, Erfolgsgaranten sind, zum Motiv der parodistischen Behandlung. Die Ausstattungsstücke und Pantomimen geraten schon zeitgenössisch wegen ihrer piktoralen und Effekt- Dramaturgie ins Kreuzfeuer in Kritik. Die Parodie nimmt auf ihre Weise dazu Stellung: sie führt schon im Titel die Eigentümlichkeit der Pantomime vor und verzerrt sie. 36 Die Reise in die Astronomie - Urania-Parodie Bei dem nachfolgenden Beispiel Die Reise in die Astronomie - Urania-Parodie (vgl. Abb. 1) 142 Nic Leonhardt Abb. 1: Reise in die Astronomie (Urania-Parodie). Theaterzettel des American Theater (Landesarchiv Berlin, A Pr.Br. Rep. 030-05 Tit. 74, Th 571). Metropole als Markt für Mokerie 143 handelt es sich um eine komplexe Verflechtung von parodistischen Kommentaren zu unterschiedlichen Phänomenen der urbanen Unterhaltungskultur. Sie schließt, wie ich zeigen möchte, die Parodie auf visuelle Medien und Unterhaltungsformen sowie auf die zeitgenössische Bedeutung der Naturwissenschaften in der Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts ein. Zur Aufführung gelangt die Urania-Parodie 1890/ 1891 im American- Theater in der Dresdener Straße. Eröffnet im Jahre 1873 durch Louis Heinsdorff, ist dieses Theater, das bis 1897 betrieben wird, eine der bedeutendsten Spielstätten für varieté-ähnliche Darbietungen. Unter der Direktion August Reiffs 37 gehören Burlesken, Singspiele, Tanz und “Spezialitäten”, Auftritte von Komikern und Parodien zum Repertoire. Gemäß einem Zeitungsartikel aus der Berliner Illustrierten Zeitung, ist der Innenraum des American-Theaters eher “altmodisch”, nur spärlich ausgestattet, das Trinken von Bier und Spirituosen sowie Rauchen sind erlaubt und gehören mit zur beabsichtigten Atmosphäre: Das Theater wird zum Ort öffentlichen Austauschs, zur Unterhaltung über Ereignisse und Veränderungen in der Stadt. Von der Urania-Parodie liegt mir bislang nur ein Ankündigungszettel vor, der in die Zensurakte des American Theaters eingebunden ist. 38 Dieser Zettel ist per se schon ein parodistischer Kommentar, markiert durch verbale Parodierungen von Aufführungspraxis und medialen Darbietungsformen der Zeit sowie von berlinischen Figuren, Straßen und Namen. Es ist unmöglich, allein auf der Grundlage des Theaterzettels konkrete Aussagen über die tatsächlichen szenischen Versuche, das Original zu parodieren, zu treffen. Dennoch lassen sich einige Facetten dieser komplexen Parodie ausleuchten. Vorangestellt ist der Parodie ein “Motto”, das deutlich macht, dass hier vor allem die Institution Urania Gegenstand der parodistischen Behandlung ist. Das Motto lautet: “Die Wissenschaft muss umkehren - vom Ausstellungspark (Urania) nach der Dresdenerstraße (American)”. Gezeigt werden soll, wie es im Kopf des Zettels heißt, Das unwissenschaftliche des wissenschaftlichen Theaters der Urania. Von der Erde schlankweg über die Wolken verquer durch die Milchstrasse, linkerhand direct nach dem Mond, in III Abteilungen und einem Vortragsmeister. Überschrift und Motto dieser Parodie verweisen auf das “wissenschaftliche Theater” der “Urania”. Ein kurzer Exkurs soll die Bedeutung dieser Berliner Institution und damit auch die “Berechtigung” ihrer Parodie verdeutlichen. Gegründet im Jahre 1888 von Wilhelm Foerster, einem Schüler Alexander von Humboldts, und Max Wilhelm Meyer, dient diese 1889 eröffnete und privat betriebene Institution in der Invalidenstraße als Veranstaltungshaus für die Präsentation neuer (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfindungen für ein breites Publikum. Die Berliner Urania ist eng an den Prozess der Urbanisierung, die Herausbildung einer urbanen Lebenskultur, geknüpft. Max Wilhelm Meyer hatte bereits zuvor in Wien eine vergleichbare Institution aufgebaut und unter anderen Vorstellungen auch ein “Naturwissenschaftliches Theaterstück” mit dem Titel Bilder aus der Sternenwelt aufgeführt. 39 Die Berliner Urania existiert bis heute. Wie es im geschichtlichen Überblick über das Haus auf der Homepage heißt, entwickelt der Mitbegründer Wilhelm Foerster, Direktor der damaligen Universitätssternwarte von Berlin, “schon früh ganz im Sinne Alexander von Humboldts den Gedanken in Berlin eine Einrichtung zu schaffen, die nur dem Vermitteln von Fachwissen an ein Laienpublikum dienen sollte”. 40 In Vorträgen, die durch den Einbezug von visuellen Medien wie Dioramen oder opti- 144 Nic Leonhardt schen Apparaturen gleichsam multimediale Präsentationen sind, informieren Naturwissenschaftler selbst oder auch eigens für die Vorträge engagierte Vortragskünstler über jüngste Forschungen. Die Urania kann als eine “Bühne des Wissens” angesehen werden, als Schauraum oder Ort verschiedener Schauräume, “in denen experimentelle Beobachtungs- und Darstellungskünste aufeinandertreffen, um Wissen zu produzieren und zu vermitteln”. 41 Die geschickte, gezielte Verschränkung von Vermittlung naturkundlichen Wissens, Experiment, ästhetischen Elementen und dem theatralen Charakter der Vorführungen ist eine eigene Untersuchung wert, die hier nicht geleistet werden kann. Was am oben zitierten Zeitungsausschnitt deutlich wird und im Kontext urbaner Unterhaltungsinstitutionen von Interesse ist, ist, dass die Urania schon bald nach ihrer Gründung einen festen Platz in der Stadtlandschaft und der Topographie der Unterhaltungsinstitutionen errungen hat. Verkehrstechnisch geschickt in der Nähe des Lehrter Bahnhofs (heutiger Hauptbahnhof) gelegen, entspricht schon ihre Ver-Ortung in der Stadt den Anforderungen an eine urbane Institution. Die neue Berliner ‘Urania’ enthält ein höchst geschmackvoll eingerichtetes Theater, das über 760 Plätze verfügt und mit allem Komfort ausgestattet ist, den der verwöhnte Bewohner der Reichshauptstadt verlangt; Foyer, Wandelgang - alles ist hier vorhanden. Auf der verhältnismäßig sehr geräumigen Bühne werden dem Zuschauer unter Verwendung der vollendetsten Mittel moderner Bühnentechnik die großen sich ewig wiederholenden Schauspiele vorgeführt, welche die Hörer im Weltenraum und auf unserer Erde vollbringen. [...] Bei naturwissenschaftlichen Vorträgen war man bisher gewohnt, den Vortragenden in mehr oder minder lehrhaftem Ton seinen Stoff entwickeln zu hören. In der Urania spricht ein Bühnenkünstler den vom Direktor, oder einem anderen in volkstümlicher Darstellungsweise erfahrenen Schriftsteller verfaßten Text, der sich fast immer in anmutigen, gewandten, ja zuweilen poetischen Formen bewegt. 42 In den “populären Vorführungen”, den mediatisierten und professionell Information mit einer unterhaltsamen Dramaturgie verbindenden Performances, ‘durchwandern’ die Zuschauer zum Beispiel Landschaften aus früheren geologischen Perioden (Geschichte der Urwelt). Im Vortrag Die Kinder der Sonne wird eine “Reise durch den Weltenraum” unternommen: die Zuschauer sehen Vorgänge auf der Erdoberfläche, die Eruption der glühenden Gase, die Protuberanzen und Fackeln, den Mars et cetera. In Die Werke des Wassers werden Nebel, Wolken, Gewitter gezeigt, Nebensonnen, Sonnenauf- und Untergang, Polarlicht und Regenbogen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass hier mit den Lichteffekten eines Dioramas oder der Laterna Magica ähnlichen Projektionsapparaten gearbeitet wird. Das “Ausstattungsstück” der Urania (so nennt es die die Illustrierte Zeitung) ist Von der Erde bis zum Monde (1889). Darin zeigt ein Zyklus von Dioramen die geologische Prähistorie der Erde nach Gemälden des deutschen Bildkünstlers Olof Winkler: Einzelne Dioramabilder werden ineinander übergeblendet, anstatt seriell gezeigt zu werden. Ein Sprecher kommentiert und erklärt die Bilder. Glaubt man den zeitgenössischen Zeitungsberichten, sind die Vorträge Kassenschlager, vergleichbar den laufenden Inszenierungen in den bekannten Theaterhäusern der Zeit. In der Illustrierten Zeitung vom 11. Januar 1890 heißt es: Das Ausstattungsstück des ‘Wissenschaftlichen Theaters’, [...] der astronomische Gedankenausflug ‘Von der Erde bis zum Monde’, hat wohl namentlich wegen der gelungenen Dioramen von Mondlandschaften u.a. so großen Anklang beim Publikum gefunden, daß dieser populäre Vortrag an 120 Abenden wiederholt werden konnte. Metropole als Markt für Mokerie 145 Die Popularität ist zum einen dem Präsentationsmodus dieser “optischen Reise” geschuldet, zum anderen dem wachsenden Interesse eines breiten Publikums an (natur-)wissenschaftlichen Themen. 43 Es ist diese erfolgreiche Vortrags“reise” Von der Erde bis zum Monde, die der Urania- Parodie Reise in die Astronomie Modell steht. Einige parodistische Elemente dieser Parodie möchte ich im Folgenden herausgreifen. Über den Aufbau der Parodie lässt sich sagen, dass er der Dramaturgie eines Ausstattungsstückes ähnelt: Die Reise in die Astronomie ist in drei “Abtheilungen” gegliedert, eine Apotheose, auf die weiter unten noch einzugehen ist, beschließt das Stück. In welchem Aufführungsmodus die Urania-Parodie gestaltet wurde, ließ sich noch nicht ermitteln. Es ist möglich, dass sie - ebenso wie die konkrete Vorlage - als Vortrag gestaltet ist. Hauptfigur, also Vortragskünstler, der Parodie ist Martin Bendix, beim Berliner Publikum für seine schon kabarettistischen Vorträge mit “Lokalkolorit” bekannt. In der Reise in die Astronomie ist ihm die Rolle des Vortragsmeisters zugewiesen, “mit dem Beinahmen [sic] ‘Der Leuchtende’‘ auch ‘Das Sonnenlicht in der Westentasche’ genannt, naher Verwandter eines Forschers der Natur”. Martin Bendix (Spitzname “der Urkomische”) gilt als Zugfigur des American-Theaters, seine Darbietungen prägen lokale Anspielungen und Wortwitze in Berliner Mundart. Dieses “Berliner Lokalkolorit”, das den Zuschauern zur Wiedererkennung und Identifikation diente, begegnet häufig in den Parodien der Zeit. III. Abteilung: Die Milchstrasse, oder der Durchbruch der Zimmerstrasse, Stern- Schnuppen und Katarrhe, nebst anderen Planeten, durchgehend mit erläuternden Erläuterungen und lebendigen Vorbei-, Nebenher- und An-Wandelungen. In der Ankündigung der “III. Abtheilung” wird mit dem Begriff “Milchstraße” gespielt, auf einen “Durchbruch der Zimmerstraße” verwiesen, möglicherweise eine Anspielung auf eine gleichnamige Straße in Berlin oder Umgebung, der Ankündigungstext mokiert sich über die “erläuternden Erläuterungen”, was ein Hinweis entweder auf eine übertriebene Kommentierung (i.S. einer Über- Information) oder auf einen übertriebenen performativen Modus der Kommentierung sein kann. Sodann wird auf “lebendige[...] Vorbei-, Nebenher- und An-Wandelungen” verwiesen: in der Vorlage einer Präsentation in der Urania werden “Verwandlungen” (= dissolving views oder Nebelbilder) benutzt, womit hauptsächlich Überblendungseffekte oder Lichteffekte, die mit einem Projektionsapparat erzeugt und beispielsweise benutzt werden, den Wechsel von Tag und Nacht, Sonnenauf- oder Untergang darzustellen. Diese Verwandlungen sind gängiges szenisches Mittel in der Theaterpraxis der Zeit und, wie weiter oben beschrieben, auch bei den Vorträgen mit performativem Charakter in der Urania üblich. In der Gartenlaube aus dem Jahre 1896 heißt es zu diesen Wandelbildern: Was einst Jules Verne in Form des Romanes gab, giebt die ‘Urania’ in dramatischer Form. Die Phantasie wird also aufs lebhafteste durch die Dekoration, durch Wandelbilder und durch Beleuchtungseffekte unterstützt. Der Zuschauer folgt einer Reise durch den Sternenraum; man zeigt ihm die interessantesten Gegenden unseres vielzerklüfteten Nachbars, des Mondes; oder man läßt vor seinem Auge sich die wechselvollen Vorgänge abrollen, die sich während einer Sonnenfinsternis vollziehen. [...] In der Figurenliste wird ferner mit dem Sternbild des Wassermanns (dargestellt von Fritz Heffer) gespielt, der, wie es in der Beschreibung heißt, “in der neuesten Sternkunde auch unter dem Namen ‘Kneip’ aufgeführt” sei, verbunden mit dem Kommentar “so’n Blödsinn! Wer kneipt überhaupt Wasser? ” 146 Nic Leonhardt Dieses Wortspiel mit den klanglich gleichen Wörtern “Kneipe” und “kneippen” spielt auf die in diesen Jahren aufkommende medizinische Praktik des Wasser-Kneippens an, die Wasserkur mit Wassertreten, das der Priester und Hydrotherapeut Sebastian Kneipp (1821-1897) als gesundheitsfördernd propagiert hatte. Seit 1890 werden zahlreiche Badehäuser errichtet, und erste Kneippvereine gegründet, die Kneippschen Wasserkuren sind rasch europaweit bekannt. Einmal mehr wird hier der parodistische Effekt durch die Kombination aus der Verlagerung des Begriffes (Wassermann, in der Vorlage als Sternzeichen gemeint) in ein neues Wortfeld (Wasser) und Anspielung auf den zeitgenössischen gesellschaftlichen Kontext erzeugt. Die “Schluss-Apotheke: Die Kinder der Sonne” am Ende der Reise in die Astronomie ist eine Anspielung auf die Apotheosen genannten, aufwändig inszenierten Schlussbilder in den Ausstattungsstücken der siebziger bis neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts. In diesen Schlussbildern werden Allegorien und Personifikationen von Errungenschaften der Industrialisierung wie zum Beispiel Licht oder Elektrizität dargestellt, ein beliebtes szenisches Mittel zur Verherrlichung des industriellen Fortschrittes. In oft symmetrischer Anordnung integriert die Apotheose bildkünstlerische Elemente, zeitgenössische Themen und (häufig innovative) szenographische Effekte. Dass in der Urania-Parodie die Apotheose in “Apotheke” umgewandelt wird - eine für Parodien typische inkongruente Zusammenstellung von Text und Wortfeldern -, und damit zum Gegenstand der Parodie wird, kann als Reflex auf den gesteigerten Gebrauch der Apotheose als “Allheilmittel” für einen eindrucksvollen Schluss in den Ausstattungsstücken gedeutet werden. Zusammenfassung: Urbane Unterhaltung als Unterhaltung über Urbanisierung Im Vorangegangenen habe ich mein Augenmerk auf die Unterhaltungsinstitutionen im Urbanisierungsprozess Berlins gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelegt. Ich habe versucht zu zeigen, dass und wie Parodien auf urbane Unterhaltung in der Stadt Berlin einerseits zum Produkt der Unterhaltungskultur werden und zur Theatervielfalt beitragen und andererseits schon zeitgenössisch die Urbanisierung Berlins parodisieren. Die sich entwickelnde Stadt, die Phänomene der Verstädterung und Urbanisierung sind bevorzugtes Sujet der Literatur und der bildenden Kunst um die Jahrhundertwende. Auch die besprochenen Parodien machen die Stadt zum Gegenstand. Allerdings, und dies macht ihre Qualität und ihren Wert für die historiographische Arbeit deutlich, weniger in einer abbildenden Form als in einer subtilen Thematisierung der urbanen Unterhaltungsweisen. Die Parodie wird zu einer “anstrengungslosen Nutzung” des Unterhaltungsangebotes der Metropole Berlin und ist in ihrer immer auch kommentierenden Funktion gleichzeitig eine Unterhaltung im Sinne einer Konversation, einer Verhandlung und Kommunikation über urbane Unterhaltung. Parodierungen, Verunglimpfungen, Verzerrungen einer Vorlage orientieren sich an den die Vorlage kennzeichnenden Elementen. Ein historiographischer Blick auf Parodien eröffnet sowohl die Qualität der Vorlage als auch die kultur- und zeitspezifischen Anspielungen ihrer Parodie. In diesen Doppelblick ist die Möglichkeit der Annäherung an den jeweiligen “Erfahrungshorizont” der zeitgenössischen Produzenten und Rezipienten eingeschlossen. Dieser Erfahrungshorizont setzt sich aus einer Phalanx von Fähigkeiten und Kompetenzen und inhaltlichem Wissen zusammen, über die das zeitgenössische Publikum verfügen muss, um die Parodie Metropole als Markt für Mokerie 147 nachzuvollziehen: Erforderlich ist die Kenntnis der Vorlage (inhaltlich und dramaturgisch), der Rezeptionsbedingungen, der genre- und medialen Eigenschaften der Vorlage sowie ihre Bedeutung in der jeweiligen Kultur. In den besprochenen Parodien werden zeitgenössische “Moden”, Neuerungen der Theaterpraxis und Unterhaltungsinstitutionen der Stadt thematisiert. Trotz der lückenhaften Überlieferung der Parodien lässt sich aus dem skizzierten Material erschließen, dass die Rezipienten der Parodien das Unterhaltungsangebot, aber auch ihre Unterhaltungsbedürfnisse reflektieren. Die Metropolisierung nach 1871 zeigt Berlin in einer auch für die Untersuchung der Unterhaltungskultur jener Jahre interessanten Doppelbindung: Quantitativ vollzieht sich eine rasante Verstädterung durch Zuzug, Ausbau der Verkehrswege, wirtschaftliche Bedingungen, ein rasches Ausdifferenzieren des Medienangebotes mit Folgen für die Zugänglichkeit von Informationen aus der Region und der Welt. Qualitativ bewegt sich Berlin im Zuge der Urbanisierung im Spannungsfeld zwischen ‘europäisch metropolitan’ und ‘regional provinziell’. Zum Einen ist die Adaption etwa der Architektur der großen europäischen Städte und ihrer Theater- und Unterhaltungsangebote Folge eines nach außen gerichteten Blickes mit dem Ziel der Modernisierung/ Metropolisierung. Zum Anderen lässt sich eine Gegenbewegung “nach innen” beobachten, eine Besinnung auf der Region/ und der Stadt “Eigenes”, das ebenso gut ein Produkt einer kollektiven Imagination der Metropole Berlin ist. Wie weiter oben erwähnt, ist Parodie nicht nur zeit- und kulturspezifisch, sondern häufig auch lokalspezifisch. Es ist zu vermuten, dass die Anspielungen auf die Stadt, ihre Angebote und Ereignisse auch mit der seit 1871 andauernden quantitativen Expansion der Reichshauptstadt und (versuchter) Metropolisierung zusammenhängen. In einer sich rasch wandelnden Umgebung, die neben einer geographischen Ausdehnung und dem infrastrukturellem Ausbau bei den Stadtbewohnern zu einer Beschleunigung und zeitweisen Desorientierung, und durch den Zuzug von “Fremden” 44 zu einem Gefühl der “Überfremdung” geführt haben mag, können Parodien über die lokalen Unterhaltungsangebote und Ereignisse identitätsstiftend und stabilisierend wirken. In den Worten Marie Lee Townsends: Gemeinsam zu lachen bedeutet, an einer gemeinsamen Kultur teilzuhaben, die sich über eine Frage von allseitigem Interesse austauscht. In dieser Weise trug der Humor dazu bei, eine Öffentlichkeit zu schaffen, ein Gebiet oder eine Arena, innerhalb derer alle Arten von Ideen besprochen und debattiert werden konnten, gleich ob sie politischer, gesellschaftlicher oder moralischer Natur waren. 45 Die in diesem Beitrag vorgenommene, zunächst ungewöhnlich erscheinende, Verknüpfung von stadtgeschichtlichen Überlegungen und Untersuchungen von Parodie eines historischen Zeitraums gewinnt ihre Legitimation aus der Inflation der Parodie im 19. Jahrhundert und ihrem Potential als “Seismograph” einer je zeitspezifischen Kultur. Zur Urbanisierung einer Stadt gehört nicht nur die Herausbildung einer “feinen Lebensart”, sondern auch der kritische und parodisierende Umgang mit dieser. Das sich- Mokieren über Veränderungen und Ereignisse in der Stadt ist Produkt und Reflexionsmittel dieses Urbanisierungsprozesses. Anmerkungen 1 Dieser Beitrag ist aus einem Vortrag, den ich im Rahmen der Ringvorlesung Markets of Emotions an der Universität Amsterdam (2008) hielt, und meinen Vorbereitungen für die Konferenz der European Association for Urban History, Comparative History of 148 Nic Leonhardt European Cities, Lyon (27. bis 30. August 2008) entstanden. 2 Vgl. u.a. Ruth Freydank, Theater als Geschäft. Berlin und seine Privattheater um die Jahrhundertwende, Berlin 1995 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 16. November 1995 bis 15. Mai 1996, Märkisches Museum, Berlin) und Nic Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2007. In einer negativ-kritischen Wertung äußert sich Karl Strecker 1911 über die neue Zusammensetzung des Publikums in Folge der Ernennung Berlins zur Reichshauptstadt und der damit verbundenen wirtschaftlichen Wandlungen: “Der erfreuliche Wohlstand des Deutschen Reiches ist hauptsächlich dem Handel und der Industrie zugute gekommen, nicht so den Berufsarten mit akademischer Vorbereitung, nicht so den Beamten und dem gebildeten Mittelstande. [...] Wir wollen keinem Stande zu nahe treten - es liegt einfach in den staatlich geforderten Vorbedingungen der einzelnen Berufsarten begründet, daß nicht nur der Lehrer, der Jurist, der Arzt, sondern auch der höhere Post- und Steuerbeamte [...] im allgemeinen eine gediegenere und verinnerlichtere Bildung hat, haben muß, als etwa der geschäftliche Selfmademan oder durchschnittliche Börsenmensch, der doch fast allein bereit und imstande ist, die hohen Eintrittspreise unserer hauptstädtischen Theater zu bezahlen. Es ist also - wer bestritte das noch - die Scheinkultur und Afterbildung der Deutschen, die sich in den Zuschauerräumen unserer großen Bühnen breit macht, den Ton angibt, den Geschmack bestimmt. [...] Für alles, was ‘gefragt’, was ‘aktuell’ ist, zahlen sie die höchsten Preise, und da den Theaterbesitzern fast durchweg die ‘Tageskosten’ wichtiger sind, als Fragen der Ästhetik, wird in den Theatern gespielt, was ein Börsenmann sehen will.” (Karl Strecker, Der Niedergang Berlins als Theaterstadt, Berlin 1911, S. 18-19.) 3 Peter Alter (Hg.), Im Banne der Metropolen. Berlin und London in den zwanziger Jahren, Göttingen, Zürich 1993, S. 10. 4 Alter, Im Banne der Metropolen, S. 10-11. 5 David Clay Large, Berlin. Biographie einer Stadt, München 2002, S. 21. Vgl. zur Entwicklung Berlins als Stadt u.a. Large 2002, Ruth Glatzer, Berlin wird Kaiserstadt. Panorama einer Metropole 1871-1890, Berlin 1993, und Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a.M. 1985. 6 “Theodor Fontane an Frau Emilie”, Mailand, 10. August 1875, in: Theodor Fontane, ‘Wie man in Berlin so lebt’. Beobachtungen und Betrachtungen aus der Hauptstadt, Berlin 2000, S. 27. 7 Large, Berlin, S. 35. 8 Werner Faulstich, Karin Knop (Hg.), Unterhaltungskultur, München 2006, S. 14. Werner Faulstich bezieht sich in Unterhaltungskultur explizit auf die wissenschaftliche Diskussion, den “terminologischen Wirrwarr”, wie er es nennt, um den Begriff der Unterhaltung - S. 7: “Der Begriff selbst gilt als vielschichtig, der Untersuchungsgegenstand als multidisziplinär und die enorme Fülle der Sekundärliteratur kann nur entmutigen.” Siehe auch die Diskussion des Begriffs durch Stefan Hulfeld im Eintrag “Unterhaltung”, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 375-377. 9 Faulstich, Unterhaltungskultur, S. 12. 10 In Deutschland steigt, wie Friedrich Lenger informiert, “der Anteil der großstädtischen Bevölkerung zwischen 1870 und 1910 von weniger als 5 Prozent auf mehr als 20 Prozent an, die Zahl der Großstädte (mit mehr als 100 000 Einwohnern ) von acht auf 48”. (Friedrich Lenger, “Großstadtmenschen”, in: Ute Frevert, Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Der Mensch des 19. Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 261-291; S. 264.) Die Einwohnerzahl Berlins verdoppelt sich zwischen 1850 und 1871 und erreicht bis 1910 über zwei Millionen. 11 Lenger “Großstadtmenschen”, S. 263. 12 Clemens Zimmermann, Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt a.M. 2 2000, S. 11-12. 13 Siehe Lenger “Großstadtmenschen”, S. 263. 14 Diese Institutionen entstehen durch Anlehnungen an urbane Institutionen anderer europäischer Metropolen, vor allem Paris. 15 “Mit dem Leben in der von Industrie und Dienstleistungsgewerbe geprägten Großstadt verlagerte sich das Freizeitbedürfnis von der Metropole als Markt für Mokerie 149 Familie in die Öffentlichkeit. Dem suchten die hier entstehenden zahlreichen Erholungs-, Vergnügungs- und Kulturstätten [...] zu entsprechen”. (Martin Howaldt, “Der ‘Berliner Prater’”, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart (Jahrbuch des LA Berlin), Berlin 1994, S. 133-151; S. 133.) 16 Zimmermann Die Zeit der Metropolen, S. 37. 17 Siehe hierzu e.g. David Clay Large: “Eine andere Arena, in der Berlin mit Paris wetteiferte, war der Einzelhandel, die große Innovation in diesem Bereich war das Kaufhaus, durch das das Einkaufen erst zu dem typischen Großstadt-Erlebnis wurde, das es bis heute geblieben ist, nämlich zu einem Bombardement der Sinne mit einer verwirrenden Reizvielfalt, die die Menschen in ein Einkaufsfieber versetzt. Die in Berlin erscheinende Zeitschrift Die Zukunft charakterisierte das moderne Kaufhaus als eine Kombination als ‘Wildnis und Weltstadt’”. Large, Berlin, S. 98.) 18 Die Berliner Theater und ihre Erfolgsautoren tragen ihren Teil dazu bei, indem die in den Theatertexten und Aufführungen kreierten Lieder von den Bühnen in die Straßen getragen wurden. “Lieder aus Possen des Theaterautors Kalisch wurden als Gassenhauer von Köchinnen, Dienstboten, Handwerksburschen und Gassenjungen gesungen und gepfiffen.” (Lothar Binger, Berliner Witz: zwischen Größenwahn und Resignation, Berlin 2006, S. 107.) Somit tragen die Theater auch zur Bildung einer imaginierten Stadt Berlin bei. Die Stücke und Lieder, (e.g. der Operetten), die ihrer Stadt ein Denkmal setzen, werden als Kulturprodukte und als zu vermarktende visuelle, auditive, textuelle “Icons” wichtige ‘Exportprodukte’, die das Berliner Lebensgefühl transportieren und zementieren sollen. 19 Nach einer Definition des Urban Land Institute versteht man unter einem Urban Entertainment Center eine innovative Form des Einkaufszentrums, das überwiegend vier Merkmale umfasst: einen “Unterhaltungsanker” (etwa eine Oper, eine Konzerthalle, ein Sportstadium, ein Kino), ein Themenrestaurant, Hotels sowie Einzelhandel. Weitere Bestandteile sind Edutainment-Einrichtungen wie Museen oder Aquarien. 20 W. Turzinsky, Berlin: drüber weg und unten durch, Berlin 1999, S. 41, S. 43. 21 “In einer Zeit enormen gesellschaftlichen Wandels, in der eine traditionelle, auf Landbesitz gegründete Gesellschaft den Weg zu einer verwirrenden neuen Welt frei machte, die von Industrialisierung, Verstädterung und sozialer Mobilität gekennzeichnet war, kam volkstümlicher Humor einer Vielfalt von Bedürfnissen entgegen. [...] Die Macht des Humors wurde im Deutschland des 19. Jahrhunderts zunehmend deutlich, als er sich von einem traditionellen Zeitvertreib explosionsartig in ein kommerzielles Produkt des Massenmarktes wandelte.” Mary Lee Townsend, “Humor und Öffentlichkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts”, in: Jan Bremmer, Herman Roodenburg (Hg.), Kulturgeschichte des Humors. Von der Antike bis heute, Darmstadt 1999, S. 149-166; S. 149. 22 Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M. 1997, S. 31. 23 Siehe Beate Müller, Komische Intertextualität. Die literarische Parodie, Trier 1994, und Parody: Dimensions and Perspectives, Amsterdam, Atlanta 1997. Ich verstehe meinen Aufsatz über die urbane Unterhaltung als Unterhaltung über Urbanisierung nicht als einen Beitrag zur Parodieforschung. Hier ist grundlegende, wenngleich ganz sicher nicht erschöpfende Arbeit geleistet worden. Siehe u.a. auch: Margaret A. Rose, Parodie, Intertextualität, Interbildlichkeit, Bielefeld 2006; Nikola Rossbach (Hg.), Ibsen- Parodien in der frühen Moderne, München 2005, und Theater über Theater: Parodie und Moderne 1870-1914, Bielefeld 2006; sowie Frank Wünsch, Die Parodie. Zur Definition und Typologie, Hamburg 1999. 24 Um einige Titel von Parodien auf bekannte Theatertexte zu nennen: Faust, Parodie in 1 Act (1891); Lohengrün (Opern-Parodie in 1 Akt; 1892); Die Gaubenlerche, Parodie in 1 Akt (1890); Die Afrikanerin in Kalau, parodistische Posse mit Gesang in 1 Akt (1892); oder eine der zahlreichen Parodien auf die Arbeiten Gerhart Hauptmanns, “Nach Sonnenaufgang von Erhart Glaubtmann”. Hierzu heißt es in den Zensurakten des Walhalla-Parodie-Thea- 150 Nic Leonhardt ters, das Stück könne zur Aufführung nicht genehmigt werden, weil es “den guten Sitten widerspreche” und einen “unfläthigen und ekelerregenden Gehalt [...]” aufweise. (Acta des Polizei-Präsidii zu Berlin, betreffend die im Walhalla Parodie-Theater zur Aufführung kommenden Theaterstücke. 1889-1900 (Zensurexemplar, Landesarchiv Berlin, LA B, A Pr. Br. Rep. 03-05 Nr. 725) 25 Wünsch, Die Parodie, S. 224. 26 Stephan Oettermann, “Alles-Schau: Wachsfigurenkabinette und Panoptikum”, in: Lisa Kosok, Mathilde Jamin (Hg.), Viel Vergnügen. Öffentliche Lustbarkeiten im Ruhrgebiet der Jahrhundertwende. Ausst. Kat. Ruhrlandmuseum Essen (25. Oktober 1992-12. April 1993), Essen 1992, S. 36-56, hier S. 46. 27 Führer durch das Passage-Panoptikum. Berlin, Unter den Linden. Zitiert nach Oettermann “Alles-Schau”. Oettermann gibt “um 1900” als Erscheinungszeitraum für diesen Führer an. 28 Oettermann “Alles-Schau”, S. 46. 29 Illustrierter Catalog durch das Passage- Panoptikum (1888). 30 Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger, Reinhard Wittmann (Hg.), Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880, Bd. 1, Stuttgart 1981, S. 147. 31 Vgl. Leonhardt Piktoral-Dramaturgie. 32 Vgl. Leonhardt Piktoral-Dramaturgie. 33 Ankündigung der Vorstellung in der dritten Beilage zur Vossischen Zeitung, Nr. 78, 4. April 1869, S. 2. 34 Wolfgang Carlé, Heinrich Martens, Kinder, wie die Zeit vergeht. Eine Historie des Friedrichstadt-Palastes Berlin, Berlin 1987, S. 26. 35 Seebad Helgoland im Circus Renz. Große hydrologische Ausstattungs-Pantomime in 2 Abtheilungen (Zensurexemplar vom 2. August 1890. Landesarchiv Berlin, A Pr. R. Rep. 030 Tit. 74, Nr. Th 1535). 36 Vgl. Wünsch Die Parodie, S. 224. 37 Von 1878-1897 war August Reiff gleichzeitig Leiter des Puhlmanns Theater. 38 Überliefert ist dieser Zettel in den Zensurakten des American Theaters im Landesarchiv Berlin, Akten des Königlichen Polizei-Präsidii zu Berlin, betreffend das Amerikan. Theater (Zensurexemplar, Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 030-05 Tit. 74, Nr. Th 571). 39 Siehe www.urania.de/ die-urania/ geschichte/ (Zugriff am 1. August 2008). 40 www.urania.de/ die-urania/ geschichte. In der Illustrierten Zeitung vom 11. Januar 1890 heißt es: “Vor einigen Jahren ist in Berlin ein wirklich gemeinnütziges Unternehmen in’s Leben getreten, eine Anstalt, welche dem Zwecke dient, das Verständniß für die Erscheinungen im Thier- und Pflanzenleben, die Wunder des Sternenhimmels, die geheimnißvollen Kräfte der Natur durch Anschauung zu vermitteln. Zur Ausführung derselben wurde von einer Anzahl begüterter Naturfreunde eine Aktiengesellschaft gegründet, und die ‘Urania’, welche Anfang Juli 1889 im königlichen Ausstellungsgebäude am Lehrter Bahnhof eröffnet wurde, ist in kurzer Zeit Sammelplatz eines wißbegierigen, Aufklärung suchenden Publikums geworden. Auf ebenso interessante wie leicht verständliche Weise werden hier die sämmtlichen Zweige der Naturwissenschaften vorgeführt. Populär und interessant im vollesten Sinne des Wortes sind zunächst die Vorträge im ‘Wissenschaftlichen Theater’. In diesem Raume der Urania werden täglich größere oder kleinere Vorträge gehalten und durch die verschiedenartigsten Anschauungsmittel erläutert. Diese Vorträge sind für die weitesten Kreise bestimmt, und vermögen auch dem mit nur geringen Vorkenntnissen Ausgerüsteten, besonders der heranwachsenden Jugend, ein klares Bild von dem betreffenden Gebiete vorzuführen. Alle Künste der Theatertechnik werden zur Ausstattung der populär-wissenschaftlichen Vorträge verwendet. Alle die Naturereignisse, Himmelserscheinungen, Landschaften u.s.w., von denen gerade die Rede ist, werden dem Zuhörer so klar vor Augen geführt, als Malerei und Theatertechnik es nur immer vermögen.” (Illustrierte Zeitung, Nr. 2428, 11. Januar 1890). 41 Helmar Schramm et al. (Hg.), Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2007, S. 15. 42 Die Gartenlaube, Nr. 38, 1896, S. 632-37; S. 634. Metropole als Markt für Mokerie 151 43 Seit der ersten Weltausstellung im Jahre 1851, besonders aber im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, werden in den europäischen Städten zahlreiche wissenschaftliche Einrichtungen gegründet, wissenschaftliche und ethnographische Museen errichtet. Horaz’ Dictum des “delectare et educare” wird für ein heterogenes Publikum institutionalisiert in unterschiedlichen Medien wie Zeitungen, Bildern, Ausstellungen, Völkerschauen, Literatur und Theater. 44 Gemeint sind nicht die aus der Provinz Zugezogenen. Zu diesen meint Binger: “Die aus der Provinz kamen, wehrten sich am heftigsten gegen alles Provinzielle. Sie nahmen in ihrem Verhalten das Berlinertum an - wenn auch nicht dessen Sprache. Sie brachten aus ihrer persönlichen Geschichte das Element mit, das so wichtig für das Berlinertum ist - erfahrene Unterdrückung.” (Binger 2006, S. 12). 45 Townsend “Humor und Öffentlichkeit”, S. 151. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Die Rückkehr zu Wort und Sprache gilt als zentrale Konstituente des Gegenwartstheaters. Zahlreiche avancierte Regisseure wie René Pollesch oder Falk Richter sind zugleich auch ihre eigenen Autoren. Globale Fragen der Polis werden von jungen Autoren erneut thematisiert, wenngleich ein explizit theaterpolitisches Engagement im Übergang zum 21. Jahrhundert fehlt. Der schnelle Zugriffauf aktuell geschriebene dramatische Literatur erscheint somit als Möglichkeit, einen Realitätsbezug zu behaupten, der Theaterkunst ihre gesellschaftspolitische Relevanz sichert. Die in diesem Band versammelten Beiträge widmen sich erstmalig der kulturhistorischen Bedeutung dieser neuen Formen avancierten dramatischen Theaters im interkulturellen Vergleich. Friedemann Kreuder / Sabine Sörgel (Hrsg.) Theater seit den 1990er Jahren Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 39 2008, 291 Seiten €[D] 58,00/ SFr 98,00 ISBN 978-3-7720-8264-1 Performing for the Proletariat in Imperial Berlin: Actors and Spectators in the Early Years of the Freie Volksbühne (1890-1895) 1 Arno Paul (Berlin) Founded in Berlin right after the fall of Bismarck’s anti-socialist law in 1890 the Freie Volksbühne managed to stage its own theatre productions for about 90 years until in 1992 it finally resigned. 2 This extraordinary long run of an independent theatrical association by no means could be expected, in particular at the beginning, when it was far from certain whether this in many regards risky experiment would be able to endure. As a consequence of its provocative proletarian origins in a pronounced imperial class society most studies of the early history of the Freie Volksbühne deal with politico-cultural and organizational aspects. 3 As regards the aesthetic side, some studies investigate the plays which the Freie Volksbühne produced. 4 The genuine theatrical aspect, however, which is to say the actual performances and their reception by the audience, is usually neglected. 5 The main reason for this deficit is that the available sources, mostly theater-reviews, are sparse and pay little attention to aesthetic concerns. By taking a new look at these sources, this essay will make an effort to investigate the relationship between the performances and their audiences. For it is precisely this relationship that differentiated the Freie Volksbühne performances from those of the contemporary bourgeois theatre and as a consequence was in large part responsible for the success of this historically significant artistic-political project. Due to its newly gained status as capital of the Kaiserreich, Berlin’s population grew with breathtaking speed from about one million inhabitants in the late 1870s to about 1.6 million inhabitants in the early 1890s. About 500.000 of the population belonged to the working class and some 170.000 were industrial workers. 6 The number of theater companies grew in analogy to the population. With the exception of subsidized court-theaters, like the Opera or the Königliche Schauspielhaus, most of these stages were primarily concerned with money-making rather than with artistic quality. At least eighteen permanent theaters adding up to a total capacity of approximately 18.000 seats were competing in the 1890s for paying visitors, not counting the around twelve music halls, vaudevilles, and summer theaters which offered another 12.000 seats. 7 To this one may further add the brand-new genres of cabaret and so-called Tingel-Tangel stages for the entertainment of, in particular, the ‘demi-monde’. Apart from searching for new theatrical attractions to fill the relatively large auditoriums (averaging 1.000 seats), the easiest way to maximize profits was to minimize the salaries of the actors. Berlin had an over-supply of actors, who were by no means organized or otherwise legally protected. With the exception of a few, wealthy stars (the so-called Virtuosen) these actors were severely underpaid and often lived even below the standards of the Lumpenproletariat. While workers averaged a daily salary between three to four Marks many actors earned less than one Mark per show. 8 As the output of new productions was enormous, rehearsals had to be kept at a maximum of three to five meetings, which merely served technical matters like arranging the stage-settings and coordinating the moves and positions of the actors. Because of this lack of preparation the Virtuosen tended to Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 153-160. Gunter Narr Verlag Tübingen 154 Arno Paul withhold their assistance, following the motto: “Those who have to practise have no talent.” The quality of performances, thus, steadily declined also because the average actor primarily sought to produce striking effects rather than to engage seriously with the complexities of the embodied character. 9 Besides the commercially corrupted taste of most producers and consumers, another main obstacle to artistic improvement were the severe restrictions by government censorship, which had severe effects on the autonomy of the working class. In less than ten years Berlin had become the industrial centre of the Kaiserreich with a great concentration of all types of proletarians ranging from highly skilled, self-conscious craftsmen and well organized industrial workers to a ‘depraved rabble’ without any education and skills. Many workers and their families suffered from unbearable housing conditions, living in damp and dark onebedroom dwellings without sanitary facilities. Compared to rural areas, however, workers in Berlin usually had better living conditions because of higher wages and shorter working hours (nine to ten hours as opposed to up to twelve hours). 10 Above all, urban proletarians found it easier to establish functioning communication networks, despite chancellor Bismarck’s infamous anti-socialists-law, which from 1878 to 1890 prohibited all socialist political and educational organizations. During this period socialist workers learned to camouflage by gathering in newly formed clubs and associations. While they masked these clubs as harmless entertainment circles devoted to singing, dancing, performing and reading, many members actually used them for secret party work and educational matters. After the anti-socialist law was abolished in 1890 a strong desire for proletarian selfdetermination broke through and materialized in all kinds of politico-cultural activities. Thus, the idea for an independent people’s theatre emerged from Alte Tante (‘old aunt’), one of those proletarian social clubs. 11 Evidently, this idea and its realization was inspired by the Freie Bühne, which Otto Brahm had founded one year earlier (and which in turn had been influenced by André Antoine’s théâtre libre in Paris). Like the Freie Bühne, the Freie Volksbühne was organized as a licensed association with formally registered members. This ensured not only a guaranteed number of spectators so as to avoid as much as possible the risks of commercial theater, but, above all, because as an association it was not subject to severe political censorship. 12 At the same time, the Freie Volksbühne substantially differed from the Freie Bühne. Even at the very beginning when it was still run by a committee consisting of petit-bourgeois intellectuals the Freie Volksbühne had close links to the labor movement. It thus had other goals, other working conditions, a different audience, and a different public response to cope with than the sophisticated upper-middle-class oriented Freie Bühne. Especially in the early years the Freie Volksbühne faced great artistic and organizational difficulties. The fear that other, more renowned theaters would not allow their actors to perform at the Freie Volksbühne proved unfounded. Yet the limited funds of the young association were barely sufficient to rent the decayed suburban Ostend-Theater for Sunday-matinees. But since the Ostend-Theater’s personnel were dramatically underpaid it was rather mediocre and the Freie Volksbühne had to hire in addition talented actors from other companies. As to be expected, the members of the Ostend-Theater demanded the same payment as the guests and they even managed to receive a bonus-fee for rehearsals, which at the time was exceptional and confirms the non-commercial intent of the Freie Volkbühne. For the first two years the management chose the plays and also appointed the artistic director. The first in charge was Cord Hachmann, a thoughtful and solid practitio- Performing for the Proletariat in Imperial Berlin 155 ner who had already successfully directed shows at Brahm’s Freie Bühne. Hachmann advocated the new naturalistic style of staging, which he had studied with Brahm. As a result of Hachmann’s still uncommon naturalistic approach the critics paid more attention to the staging than to the actors, who, being unfamiliar with this new kind of performing, generally had had to put up with negative reviews. Concerning the second Freie Volkbühne production, Gerhart Hauptmann’s Vor Sonnenaufgang (Before Dawn), the critic Heinrich Hart, an ardent partisan of naturalism, formulated this symptomatic impression: “The majority of the actors obviously did not move by their own laws and drives, but mechanically - exactly as Cord Hachmann, the director, had specified. In fact, he was the only one playing - the actors merely lent him their bodies.” 13 Discussing the same production, the critic Otto Erich Hartleben, who like Hart was also a playwright, stated that on the contrary Hachmann’s efforts to establish naturalistic acting neither had an effect on the players nor on the audience. As most of the critics, Hartleben noticed a stylistic contradiction between the staging and the actors, who still displayed the inadequate declamatory pathos of the antiquated court-theatre and its illegitimate child, exaggerated melodrama. Dealing with the performance of a certain Mr. Hagemann who had to play the character of the socialist functionary Alfred Loth, Hartleben writes: “Mr. Hagemann is no realistic actor […] Mr. Hagemann understood how to step out of the confines of art as if he were an agitator at the rostrum addressing the crowd”. 14 With a touch of bitter irony Hartleben noticed that this deliberate and gross striving to please the leftwing audience exactly attained its aim: “The public enthusiastically hailed that noble-toned Mr. Hagemann; this same man, who during rehearsals had driven the author, Gerhart Hauptmann, to despair, so that he kept away from the show”. 15 As much as one can speak at all of a theatrical style in the first years of the Freie Volksbühne, it was characterized by a certain duality in which naturalistic elements stood next to melodramatic pathos. This unsound combination was the result of differing aesthetic positions in the fairly mixed ensemble. But also insufficient rehearsal work and casting were responsible for the coexistence of various styles. The audience, largely consisting of workers, however, was relatively indifferent to this stylistic mish-mash with which the critics were so concerned. For the workers content counted much more than form. For this reason it is short-sighted to explain the often intense reactions of the audience primarily with the occasionally overloaded, exaggerated acting. The audience responded most vehemently to class issues, which could be verbally stated or result from attitudes of the characters. For these spectators it was thus of subordinate importance how an actor portrayed a role if the role contained elements to which the viewer could relate his or her own proletarian existence. A striking example of the audience’s decisive concern with class is reported by the critic Fritz Mauthner in his review of Ludwig Fulda’s rather tacky, class-appeasing Das verlorene Paradies (Lost Paradise). In a scene of little importance to the plot a worker on a picketing line refuses the money offered to him by a good-natured dandy. While the bourgeois public of the Deutsche Theater, in which the play previously had been staged, hardly took notice of this episode, it provoked angry reactions in the Freie Volksbühne. Yet when the worker replied to the dandy: ‘I am no beggar! ’ Mauthner observed that “applause broke right into this open scene, the applause of relief, as if the playwright had retracted an insult”. 16 The reservations of the Freie Volksbühne members against naturalism probably also relate to audience’s strong class-concerns. They neither result from the presumable lack 156 Arno Paul of experience with serious drama nor from the alleged taste for the crude entertainment of the music halls and vaudevilles. Unlike bourgeois audiences the workers accepted the unadorned representation of life as selfevident. Yet to see their misery all over again on stage did not appeal to them. Instead, they expected from the theatre suggestions how to master the difficulties of everyday life. So their lack of interest in naturalistic plays did not come so much from insensibility to their problems. It was the plays’ missing outlook which left the workers fairly unengaged. 17 The actors often played without understanding the mental and intellectual differences between them and the workers. When their usually so emotional audience occasionally lost interest, some actors may have thought that the performance had not been sufficiently explicit and played it up more strongly, attributing the missing feed-back to the workers’ lack of cultural refinement. 18 A more formal reason for the indifference of the audience to naturalistic acting may stem from the simple fact, that even the most talented performers, such as Emmanuel Reicher, Else Lehmann, Rudolf Rittner or Oskar Sauer, who were confident of their effect on a bourgeois public, did not have the command of the proletarian idiom, neither verbally nor in body language, that the majority of the Freie Volksbühne audience was acquainted with. Although many artists sided with the rising social democracy after the fall of the anti-socialist statutes, one can hardly ascertain an encouraging support of the Freie Volksbühne on the parts of the actors, despite their own distinct exploitation and suppression. A weakly developed class-consciousness, corresponding with the inability to organize on terms of collective bargaining can be seen as the main obstacle. Not until 1871 (that is, 25 years after the employers had formed their Deutsche Bühnenverein) the actors succeeded in establishing their own syndicate, the Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger, which at first was involved less in labour conflicts than in matters of welfare (like oldage pensions). 19 Despite this general lack of solidarity, there were some prominent artists who offered the Freie Volksbühne their services free of charge. Oscar Blumenthal’s Lessing Theater, which was next to the Deutsches Theater the city’s most respected privately run stage, offered in the Freie Volksbühne’s first season a free performance of Hermann Sudermann’s rather melodramatic Die Ehre (Honour). Despite a high level of ensemble acting, which the Freie Volksbühne audience had not yet experienced, the spectators concentrated on the play’s social conflict between the depraved and corrupt tenants of a Lumpenproletarian back-premises and the self-righteous, no less degenerated inhabitants of the splendid front building. 20 The most distinguished actor who played for free at the Freie Volksbühne was Emmanuel Reicher, widely considered the “true master-actor of the naturalistic epoch.” 21 One may guess that Reicher’s purpose was not merely benevolent. Considering his disposition to teach and experiment, it is more likely that he primarily wished to try out the effect of his acting style on this new and less experienced audience. Like Blumenthal Reicher offered a play of his own choosing: Friedrich Hebbel’s pessimistic and moralistic Maria Magdalena (Mary Magdalene). The majority of newspapers spoke of a superb production and Heinz Selo, the expert on the early Freie Volksbühne, even ranked it as the best in the theatre’s first five years. According to Selo, Reicher managed to “sweep his colleagues along”, so that he attained here “for the first time a truly superior group effort”. 22 In his performance Reicher played the father Master Anton with great psychological realism and discarded much of the role’s inherent prudishness. But the audience nevertheless re- Performing for the Proletariat in Imperial Berlin 157 mained reserved, probably because it could not go along with the self-destructive tendencies of the Master resulting from his narrowminded petit-bourgeois morals. Instead, the workers were caught by the wicked town clerk and forcefully expressed their dislike. 23 About two years after Mary Magdalene Reicher played the tragic painter Janikow in Hermann Sudermann’s Sodoms Ende (The End of Sodom) at the Freie Volksbühne, which also was not a success. This portrait of a genius artist, who became the victim of Berlin’s high society, was too strange for the proletarian audience. Reicher’s extremely realistic performance was so radical that parts of the audience was embarrassed and escaped into laughter. 24 After only two years the Freie Volksbühne split up because of fundamental inner conflicts. The chairman Bruno Wille and with him other members of the executive board branched off to form the Neue Freie Volksbühne, which was dedicated ostentatiously to ‘pure art’ and left the rank and file without a say in organizational and artistic matters. The majority of workers decided against such a patronizing measure and remained at the Freie Volksbühne. Its new president, the Marxist historian and literary critic Franz Mehring, tried harder for a proletarian cultural politics than the old Freie Volksbühne management. But not only the Prussian government set him narrow limits. Mehring also suffered from a shortage of plays dealing with important social issues. Hauptmann’s Die Weber (The Weavers), however, constituted an exception and even though the Freie Volksbühne was always short of money, Mehring made every effort to put it properly on stage. Yet Hauptmann did not want the Freie Volksbühne to be the first and instead chose Otto Brahm’s Freie Bühne, where Cord Hachmann staged it in February 1893. Even though the production aimed at an academic upper-middle-class audience, Mehring praised it highly: The performance left no doubts about the powerful revolutionary effect that the play would have on a receptive public with the capacity for enjoyment. […] The acting seemed to have been cast from one mould, and there was almost nothing wanting in any of the fifty speaking actors. 25 The bourgeois critics were not quite as impressed as Mehring. Many were more pleased with the script than with the performance and rather narrow-mindedly complained about the actors’ difficulties with the Silesian dialect. While these shortcomings were in large part caused by the difficult rehearsals - rarely all fifty actors assembled together - the actors’ awkward reservation in the inflammatory scenes resulted from the difficult political circumstances. In order for his play to pass the political censors, Hauptmann agreed that the explosive scenes would be performed in a subdued manner. 26 In October 1893 Emil Lessing directed another production of Die Weber with some of the same actors at the Neue Freie Volksbühne, before finally in December it was the turn of Mehring’s Freie Volksbühne. While two renowned naturalistic directors rehearsed the two preceding productions, the Freie Volksbühne gave the play to its house director, the experienced but rather unscrupulous Max Samst, who worked on everything that promised to entertain the audience. Samst recruited several actors from the previous productions and yet his version could not be considered naturalistic in the true sense of the word. This was in part due to the form of the text and to Samst who had hardly any connections with naturalism. Mostly, however, Samst’s more traditional production was a concession to the proletarian spectators who did not care about principles of style and instead focused on the message to react to it in a concerted fashion. The previous productions had also had an effect. But those who were directly concerned by the play saw it now for the first time, as it was not acceptable 158 Arno Paul for a class-conscious worker even to attend performances at the Neue Freie Volksbühne. Those elements of the Die Weber which were new and pointed to the future were without a doubt the crowd scenes. In these, there is not only a multitude of people in motion; the movement itself reaches decisive meaning. Mehring wrote in an enthusiastic letter to Samst: “Our performance was not only better than the Neue Freie Volksbühne’s, but even better than the Freie Bühne’s, namely in the circumspect arrangement and powerful grouping of the crowd.” 27 The performances of the Die Weber marked the culmination of the early history of the Freie Volksbühne. They constituted the first indication that the proletarian-revolutionary theater that would be born some twenty-five years later was conceivable. It was not the “catch-phrases of social democrats,” as the Prussian police put it, that constituted the revolutionary potential of Die Weber. 28 And although the weavers’ song has great explosive power, as already Mehring had pointed out, not even the dramatic configuration was responsible for Die Weber’s revolutionary effect. As has already been discussed, the acting also did not cause this dimension of the Freie Volksbühne’s production. After all, the traditional Samst was not concerned with stylistic questions. For him the naturalistic demand for fidelity was less important than aiming at dramatic effects. His Moritz Jäger (played by Gustav Kadelburg) delivered the weavers’ song with professional craftsmanship whereas Reicher and Rittner’s impersonation drove it home in the stumbling, difficult idiom of an uneducated worker - as specified by Hauptmann. 29 The acting at the Freie Volksbühne was throughout declamatory, even by those guest-actors known for their naturalistic performances. 30 Not the play or the performance, then, constituted the true revolutionary potential of Die Weber but the audience. As a play about the masses it belonged to the masses, which alone could bring it to life. 31 Maybe subconsciously this dynamic also surfaces in the reviews of the Freie Volksbühne’s production, which focused on the spectators’ responses. A critic wrote in the Kleines Journal: Contemptuous laughter accompanied the naïve humiliation of the starved weavers. […] During the arrogant talk of the factory workers and policemen, the faces of the listeners were so tense that one expected rage to break out at any moment. From the more tender-hearted one heard compassionate sobbing throughout the sad events of the second act. However, when the delivery of the revolutionary weavers’ song brought the real dramatic movement, there was no holding them. The nervous shushing, which tried at the beginning to suppress any interrupting applause, in order that no word of the gospel assailing capitalism be lost, was soon drowned in the raging applause. 32 The Freisinnige Zeitung wrote on December 5, 1893: “When Luise challenged the men to rouse themselves at last to action, the play had to stop because of the storm of applause …”. 33 In the early years of the Freie Volksbühne, the main actors were undoubtedly the proletarian spectators, and not because the bourgeois journalists were as struck by them as if they were fabulous beings who had blundered into the theater. More important was the specific aesthetic function of the Freie Volksbühne audience, whose vivid reactions often generated the actual meaning of the performance. So the study of the early Freie Volksbühne’s productions is not valuable because of their notable aesthetic achievements, but because of just the opposite: despite the encouragement of the vitally interested audience, neither playwrights nor actors or directors were able to adequately respond to their spectators. The few artists who saw a new historical dimension in the Freie Volksbühne and wanted to help it along, like Reicher, more or Performing for the Proletariat in Imperial Berlin 159 less withdrew, because they could not offer what was expected from them. The early productions of the Freie Volksbühne demonstrate that theater was in no position to work actively towards a proletarian aesthetic movement. Not until the second historical period of socialist theater emerged after World War I, would the actors be “revolutionized”. The history of these playwrights, directors, actors, and scenery designers has already been extensively investigated. An exhaustive examination of the very first German attempt at a theater for the “emancipation of the masses” still has to be written. Notes 1 This essay is partially based on my paper “The Actor as Part of the Establishment of the ‘Volksbühne’ in Berlin (1890-1895)”, in: Acts of the VII. World Congress of the International Federation for Theatre Research, Prague 1979, pp. 119-132. 2 During the Nazi regime the Freie Volksbühne was forced ‘into line’ before it was liquidated in 1939. After World War II it took two years to reestablish the association and to start its own theatre productions, when it was divided - due to the impending Cold War - into an Eastern and a Western organization. The end of the Freie Volksbühne as an independent producing unit is documented in: Hermann Treusch, Rüdiger Mangel (edd.), Spiel auf Zeit. Theater der Freien Volksbühne 1963-1992, Berlin 1992. 3 The most detailed study, offering the richest collection of source-material, still is Heinz Selo, ‘Die Kunst dem Volke’. Problematisches aus den Jugend- und Kampfjahren der Berliner Volksbühne, Berlin 1930. The most recent analytical work is by Andrew G. Bonnell, The People’s Stage in Imperial Germany, London, New York 2005. 4 Besides the contemporaries Otto Brahm in: Die Freie Bühne, vol. I-III (1890-1893) and Franz Mehring, Aufsätze zur deutschen Literatur von Hebbel bis Schweichel. Gesammelte Schriften, vol. XI, Berlin (GDR) 1961, there are in particular numerous studies on naturalist drama. See, for example, John Osborne, The Naturalist Drama in Germany, Manchester 1971. 5 At best, Selo, Kunst, considers the actoraudience-relation as an important factor. 6 Cf. Selo, Kunst, pp. 28-29. 7 Cf. Paul Linsemann, Theaterstadt Berlin, Berlin 1897, pp. 4-5. 8 Cf. Selo, Kunst, p. 31. 9 Cf. Max Martersteig, Das Deutsche Theater im 19. Jahrhundert, Leipzig 1924, pp. 702-703. 10 Cf. Selo, Kunst, p. 32; Bonnell, People’s, p. 16. 11 Cf. Selo, Kunst, pp. 46-47; Bonnell, People’s, pp. 125-126. 12 For the problematic relationship of the Freie Volksbühne to Prussian censorship, see Selo, Kunst, pp. 83-98. 13 Tägliche Rundschau, No. 264 (November 11, 1890), quoted from Selo, Kunst, pp. 131-132. All translations are mine unless otherwise indicated. 14 Berliner Volksblatt (November 12, 1890), cited in Selo, Kunst, p. 139, footnote 37. 15 Freie Bühne, vol. I, No. 41, p. 1089. 16 Magazin für Literatur, vol. LX, No. 16 (April 18, 1891), cited in Selo, Kunst, p. 175. 17 Cf. Franz Mehring, Gesammelte Schriften, vol. XI, pp. 134-140. 18 Cf. Selo, Kunst, pp. 171-173. 19 Cf. Martersteig, Theater, pp. 392-397; pp. 697-699. 20 Cf. Mehring, Gesammelte Schriften, vol. XI, pp. 244-246; Hartleben, Review of “Die Ehre”, in: Vorwärts, Feb. 10, 1891. 21 Martersteig, Theater, p. 755. 22 Selo, Kunst, p. 140. 23 Cf. Brahm, Freie, vol. II, p. 1128; Selo, Kunst, p. 178. 24 Cf. Selo, Kunst, pp. 181-182. 25 Quoted from Gernot Schley, Die Freie Bühne in Berlin, Berlin 1967, pp. 100-102. 26 Cf. Mehring, Gesammelte Schriften, vol. XI, pp. 284-285. 27 Quoted from Siegfried Nestriepke, Geschichte der Volksbühne Berlin, Berlin 1930, p. 104. 28 Cf. Mehring, Gesammelte Schriften, vol. XI, p. 288. 160 Arno Paul 29 Cf. Selo, Kunst, p. 142, footnote 48. 30 Cf. Selo, Kunst, p. 172. 31 Cf. Mehring, Gesammelte Schriften, vol. XI, p. 563. 32 Quoted from Nestriepke, Geschichte, p. 107. 33 Quoted from Selo, Kunst, pp. 170-171, footnote 21. Rezensionen Stefan Hulfeld: Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht. Materialien des ITW Bern, Nr. 8. Zürich: Chronos, 2007, 435 Seiten. Stefan Hulfelds Studie Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht stellt sich die Aufgabe, als “Buch über Bücher”, einen wesentlichen Beitrag zur Reflexion theatergeschichtlicher Diskurse - und somit auch theaterhistoriographischen Arbeitens - zu leisten. Im Zentrum seines Interesses steht dabei die Entwicklung der wirkmächtigen Diskursformel der ‘Reformtheaterhistoriographie’ im 18. Jahrhundert und eine Analyse ihrer Resistenz sowie ihrer Überwindung in der späteren Theatergeschichtsschreibung. Reformtheaterhistoriographie, so Hulfeld, sei eine historische Darstellung theatraler Praktiken, die stark eingefärbt sei von ihrem eigentlichen Zweck - nämlich der Reform von theatraler Praxis hin zu einem angenommenen Ideal/ Modell von Theater. Die so ideologisierte Perspektive auf Theatergeschichte ziele jedoch am eigentlichen Gegenstand vorbei: Der Glaube an eine Vision als Endpunkt teleologischer Dynamik und die damit gewonnene engagierte Grundhaltung führen dabei zur zielgerichteten Wahrnehmung historischer Phänomene, womit a priori definierte Wertungskriterien am Ausgangspunkt des historischen Diskurses stehen und die Quintessenz desselben bestimmen. Damit werden theatrale Praktiken kaum in ihrer eigenen Widersprüchlichkeit wahrgenommen. (121) In einem ersten Kapitel benennt Hulfeld ausgehend von den Entwicklungsfeldern “Theater/ Reisen”, “Theater/ Diskurs” als Poetik des Dramas und “Theater/ Diskurs” als christliche Normgeschichte die Anfänge eines Geschichtsbewusstseins im Zusammenhang mit Theater und erste Artikulationen eines Verständnisses von Theater als historischem Gegenstand. Diese Präfigurationen finden nun ihre eigentliche Form in den Theatergeschichts-Schreibungen des 18. Jahrhunderts. Hier ist es Luigi Riccoboni, dessen Histoire du Théâtre Italien (1728) und Réflexion historiques et critiques sur les différens théâtres de l’Europe (1738) Standards setzten. Riccoboni erweist sich als Hauptfigur von Hulfelds Argumentation, da er in einer außerordentlich detailreichen und umfassenden Analyse die Entstehung der Hauptwerke Riccobonis und deren Reichweite dokumentiert und kommentiert. Ein großer Verdienst Hulfelds ist es hier, Riccoboni erstmals in diesem Ausmaße im Zusammenhang mit theaterhistoriographischen Fragestellungen zu diskutieren und somit dem bekannten ‘Theaterreformer’ Riccoboni, der im Zusammenhang mit der Entwicklung der Commedia dell’Arte omnipräsent und doch stark beschnitten rezipiert ist, einen ganz anderen, nämlichen den ‘methodischen Historiographen’ Riccoboni gegenüber stellt. Riccobonis versuchte europäische Zusammenschau der nationalen Theaterkulturen setzt Standards in der “Leistungsschau europäischer Zivilisation” (85), die Theatergeschichte vor allen Dingen als Indizien einer Progression kultureller Identität und Kultur darstellt. Die Diskussion um den Ursprung des modernen Theaters und auch die ausdiskutierte Rivalität der Nationen in dieser Frage wird von Hulfeld in der detaillierten Analyse von Werken Riccobonis und seiner Zeitgenossen einleuchtend dargestellt. Hulfeld geht nun so weit, eine “latente Resistenz” (226) dieser Reformtheaterhistoriographie festzustellen, und kann diese Behauptung anhand von zahlreichen Analysen und kommentierten Dokumenten auch überzeugend belegen. Im zweiten Teil der Studie geht er nun dazu über, Reformtheaterhistoriographie als wissenschaftliche Tradition zu problematisieren. Hulfeld belegt anhand von Fallbeispielen den Anspruch einer modernen Theaterhistoriographie, diese Norm zu überwinden. Er beschreibt hier grundsätzlich drei ‘Ausgänge’ (233f.) aus der Tradition: 1.) auf methodischer Ebene, basierend auf einer eingehenden Reflexion des eigenen methodischen Vorgehens und der Differenzierung vom Gegenstand, 2.) in der Überwindung der nationalen Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 161-163. Gunter Narr Verlag Tübingen 162 Rezensionen Ebene durch Fokussierung auf den lokalen und städtischen Bereich, wodurch ökonomische, politische und soziologische Funktionen von theatralen Praxen in den Blick kommen, 3.) durch die Überwindung des bürgerlichen Theaterbegriffs und die Ausweitung der Perspektive auf ‘Theatralität.’ Verbunden mit diesen drei ‘Ausgängen’ diskutiert Hulfeld das Werk von Max Herrmann, Ludovico Zorzi und Rudolf Münz und kann hier überzeugend deren Konzepte als Nachweis einer längst erfolgten theaterhistoriographischen Reflexion der Theaterwissenschaft darstellen. Somit sticht Hulfeld in seiner Detail-Kenntnis und zurückhaltend wertenden Argumentationspraxis heraus aus den generalisierenden Vorwürfen gegen eine wie auch immer unterstellte ‘positivistische historische Grundhaltung’ der Theaterwissenschaft und leistet damit einen verdienstvollen Beitrag zur Fachgeschichte. Während Rudolf Münz in den letzten Jahren eine deutliche Wertschätzung erfährt - kaum eine theatergeschichtliche Studie kommt heute ohne den Verweis auf ihn und das Konzept der ‘Theatralität’ aus - wäre es wünschenswert, dass der historiographische Aspekt in Max Hermanns Werk und auch die in eine soziopolitische Richtung weisenden Ansätze Ludovico Zorzis künftig stärker berücksichtigt würden. Es bleibt zu hoffen, dass Hulfelds Studie hier zum Auslöser wird. Im letzten Kapitel nimmt Stefan Hulfeld zwei wichtige Abgrenzungen vor. Zum einen verweigert er sich der Erwartungshaltung des Lesers, dass in diesem Schlusskapitel “Theatergeschichte der Gegenwart”(334-357) nun eine Abrechnung mit gegenwärtigen Ansätzen erfolgt, die eine eigene vorgestellte Methode umso wertvoller erscheinen ließe. Zum anderen grenzt er sich gegenüber einer medien- und kulturwissenschaftlichen Perspektive ab. Wo genau aber steht der Autor Hulfeld in dieser Studie? Implizit lässt sich Hulfelds methodische Position aus den Zeilen und Argumenten herauslesen. Warum also nicht explizit Stellung beziehen? Gerade im Hinblick auf eine studentische und Orientierung suchende Leserschaft würde eine solche Diskussion und Positionierung Klarheit verschaffen. Im Hinblick auf medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven ist der Untertitel der Studie zunächst irreleitend: “Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis” lässt erst einmal eine kulturwissenschaftliche Analyse erwarten, die ein besonderes Interesse an den performativen Aspekten der Geschichtsvermittlung, an den Performanzen des Archivs bei der Formation von Wissen und auch an Geschichtsschreibung als mediale Praxis hätte. Hulfeld liefert eine umfassende und hochreflektierte Diskursanalyse, die auch die Perspektive des Gegenwärtigen im Blick auf die Vergangenheit immer mit bedenkt. Bedauerlich ist jedoch, dass er Kulturwissenschaft stark mit ihren schlechtesten Praktiken identifiziert. Er unterstellt einer Medien- und Kulturwissenschaft des Theaters einen universalistischen und historisch schwach informierten Grund-Gestus und exemplifiziert dies anhand von Derrick de Kerckhove. Hier wird die methodologische Bandbreite einer Fachdisziplin mit dem Hinweis auf ein ausgewiesen problematisches Beispiel eng geführt. Eine Erweiterung der disziplinären Perspektive dagegen führt zur Wahrnehmung ausgesprochen viel versprechender kulturwissenschaftlicher Debatten, so etwa die seit einigen Jahren virulente und produktive Auseinandersetzung zwischen Historikern und Medientheoretikern, die ergiebige Anstöße zu fruchtbarer Kooperation von Konzepten und Fragestellungen zwischen diesen Disziplinen liefert. So etwa die methodologischen Reflexionen, die der Band Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive (2004), hg. von Fabio Crivellari, Kay Kirchmann, Marcus Sandl und Rudolf Schlögl, vorstellt oder auch die theoretischen Konzepte und Überlegungen, die das Weimarer Projekt der Medialen Historiographie (2001), hg. von Lorenz Engell und Joseph Vogl, leiten. Interessante Impulse für eine pragmatische Integration von kulturwissenschaftlichen Perspektiven in historisch fundiertes Arbeiten könnten darüber hinaus von einer Rezeption der neueren und neuesten US-amerikanischen Theaterhistoriographie ausgehen, die bei Hulfeld einzig durch Darstellung des Sammelbandes Interpreting the Theatrical Past (1989), hg. von Thomas Postlewait und Bruce A. McConachie, vertreten ist. Stefan Hulfeld hat mit seiner Studie ein höchst materialreiches, fundiertes und reflektiertes fachhistorisches Werk vorgelegt, das sich zur Pflichtlektüre eines jeden Theaterhistorikers empfiehlt. Rezensionen 163 Hulfeld eröffnet die wichtige Möglichkeit einer tiefgehenden Diskussion der historiographischen Fachtradition und hat damit einen Meilenstein für weitere theaterhistoriographische Forschung gesetzt; insbesondere im Hinblick auf Methoden und die Reflexion der eigenen Arbeitswerkzeuge. München M EIKE W AGNER Peter W. Marx: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierung um 1900. Tübingen/ Basel: Francke Verlag, 2008, 420 Seiten. Die Zeit um 1900 ist von Historikern und Soziologen oft als eine krisenhafte Epoche gewaltiger sozialer und kultureller Umwälzungen beschrieben worden, in der das lange 19. Jahrhundert ziemlich abrupt in die Moderne katapultiert wurde. Der Zuwachs an sozialer und tatsächlich erfahrbarer Mobilität, die damit verbundenen Anforderungen im Berufswie im Privatleben sowie die vielfältigen verlockenden Angebote der Konsumgesellschaft schufen eine Alltagswirklichkeit, in der die bürgerlichen Lebens- und Subjektentwürfe alles andere als stabil bleiben konnten. Der Bürger nahm daher dankbar Rollenmodelle an, die über ein hohes Identifikationspotential verfügten. Am Beispiel des als “falscher Prinz” Berühmtheit erlangten Harry Domela, der gekonnt und gewitzt die Autoritätsgläubigkeit deutscher Bürger für seine Selbstinszenierung ausnutzte, zeigt Peter W. Marx den Zusammenhang zwischen Autoritätsverlust und der kompensatorischen Funktion inszenierter Autorität. Die “kollektive Sehnsucht nach einem aristokratischen Herrscher” (11) offenbarte demnach ein Trauma im kollektiven Unbewussten der Deutschen, die nach der in ihrem Verständnis katastrophalen Niederlage des Ersten Weltkriegs einstiger wilhelminischer Größe nach trauerten. Marx attestiert dieser Zeit ein Höchstmaß an verdrängendem Inszenierungswillen und zugleich “die soziale Relevanz und Notwendigkeit symbolischen Rollenspiels” (16). Deshalb spricht er dezidiert - trotz Vorbehalten gegen den im alltäglichen Sprachgebrauch unpräzise verwendeten Begriff - von einem “theatralischem Zeitalter”. Zu diesem Befund passt die Tatsache, dass Domelas Geschichte 1927 verfilmt wurde und er darin höchst selbst die Rolle seines Lebens als “falscher Prinz” übernahm: Der Hochstapler, der mit großem Erfolg Aristokraten mimte, führt sein Rollenspiel nun im neuen Unterhaltungsmedium Film auf und vor. Das in der Figur Domelas fassbare Ausmaß theatraler Selbstinszenierung, die gleichwohl von der zeitgenössischen Medizin als Unvermögen pathologisiert wurde, zwischen Realität und Rolle unterscheiden zu können, sieht Marx als Blaupause für das Verhältnis zwischen Theater und Gesellschaft um 1900 an. Diesem prekären Verhältnis wendet er sich in einer Reihe von Einzeluntersuchungen zu. Zunächst jedoch schlüsselt Marx seine methodischen Überlegungen zu den Bedingungen bürgerlicher Selbstdarstellung auf und bezieht damit zugleich seine informierte Arbeit auf aktuelle kulturwissenschaftliche Diskussionen. Er entwirft ein anspruchsvolles Modell, in dem performative Praktiken, das kollektive Imaginäre und die Zirkulation kultureller Werte miteinander verwoben sind. Ziel dieses Modells ist es darzulegen, dass das Theater “innerhalb gesellschaftlicher Verhandlungen [...] eine zentrale Rolle ein[nimmt], weil hier Rollenmuster gezeigt und ‘durchgespielt’ werden” (28). Den Theaterbesuch sieht Marx zudem als eine kulturelle Praxis der Selbstinszenierung des Publikums. Gleichzeitig bestimmt er die Inszenierung als ein “Schnittstelle zwischen der Sphäre der Öffentlichkeit und dem Markt” (38), an der komplexe Austauschprozesse zwischen den performativen Praktiken, dem kollektiven Imaginären und der Wertezirkulation stattfinden. Das “theatralische Zeitalter” um 1900 gewinnt so für Marx gerade durch die neuen Formen einer Öffentlichkeit an Konturen, die sich dezidiert am Konsum orientiert. Sein Analyseinstrumentarium erprobt Marx zunächst an drei kanonischen Theaterstücken, in denen das komplexe Zusammenspiel von nationaler und Identitätspolitik auf und hinter der Bühne verhandelt wurde. Am Beispiel der Bühnenfiguren Tell, Nathan und Shylock, der Aufführungspraxis dieser Stücke und zahlreicher Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 163-164. Gunter Narr Verlag Tübingen 164 Rezensionen Quellen aus ihrer Wirkungsgeschichte entwickelt er eine genealogische Perspektive auf die Austauschprozesse zwischen dem je individuellen Rollenspiel der Interpreten, den ästhetischen und politischen Motiven der Inszenierungen und den kollektiven Wunschvorstellungen des Publikums. Diesen sehr unterschiedlich angelegten Rollen ist nach Marx jedoch gemeinsam, dass sie das kollektive Imaginäre sichtbar zu machen vermögen. Besonders gelungen ist in dieser Hinsicht die Schilderung der Ausführungspraxis von Schillers zur Nationaldichtung avanciertem “Tell”. Marx’ Studie gelingt es hier, Verbindungen zwischen Text- und Bildelementen zu knüpfen, die allmählich ein Geflecht unterschiedlicher Kräfte und Wirkungen bilden. Nicht immer gelingt es Marx so überzeugend, seine vielfältigen Quellen im Dienst der Argumentation zu entfalten. Dies wird dadurch erschwert, dass er sein profundes theaterhistorisches Wissen allzu detailreich ausbreitet und darüber die Ansprüche seines Analysemodells vernachlässigt. Den engen Rahmen der historischen Aufführungsanalyse verlässt Marx im zweiten Teil seiner Studie, wo er die gleichzeitige Konjunktur des Bauerntheaters und des großstädtischen Unterhaltungstheaters behandelt. Populäre, ja triviale Theaterformen wie die Posse und die Operette interpretiert er als Modelle eines Gemeinschaftserlebnisses, die womöglich “einen wesentlich größeren Anteil an der Bewältigung der (auch traumatischen) Modernisierung” (204) als die Hochkultur hätten. Damit relativiert Marx gleichzeitig die Bedeutung der heroischen Rollenbilder, die er im ersten Teil herausgearbeitet hatte. Leider fällt sein Fazit am Ende der einzelnen Kapitel oftmals sehr allgemein aus, etwa wenn er notorisch die Opposition Stadt - Land, Kultur - Natur heranzieht, ohne deren wechselseitige Dynamiken wirklich zu entfalten. Wenig überzeugend argumentiert die Studie etwa, wenn sie den Erfolg lokaler Bauerntheater der nostalgischen Ausprägung einer “ursprünglichen, ethnischen Identität” (230) und einer Renaissance des Mimus zuschreibt oder diesem Theater die Funktion eines Heilmittels gegen Entfremdung attestiert. Im Sinne von Marx’ eigenem Modell der “Kulturen der Zirkulation” greifen solche Urteile zu kurz. Erst im Kapitel über den großstädtischen Theaterkonsum und die Verbindung von Spektakel, Schaulust und Warenhaus entwickelt dieses Modell in vollem Umfang interpretatorische Plausibilität. Fraglich bleibt letztlich auch die Beschränkung auf das Theater als Modell und Vorbild des “theatralischen Zeitalters”, entwickelt sich doch nicht erst seit der Jahrhundertwende eine Vergnügungsindustrie außerhalb des Theaters - zumal der groteske Körper, auf den Marx immer wieder rekurriert, genauso im Schaustellermilieu und Zirkus verankert ist. In dieser Hinsicht wären sowohl die Ausprägung neuer Formen massenhafter Unterhaltung (wie dem seit 1895 sich etablierenden Film) als auch der Austausch und die Konkurrenz zwischen den etablierten Orten wie dem Theater und den neuen Orten, wie den Vergnügungsparks gerade in Hinsicht auf die Programmatik der “Kulturen der Zirkulation” stärker zu konturieren. Nicht von ungefähr bettet Marx im zweiten Teil seine Studie thematisch die frühen “Sally”-Komödien von Ernst Lubitsch ein, in deren zentraler Figur er den Prototyp einer modernen Aufsteigermentalität und ethnisch geprägten Identität ausmacht, und widmet der Konjunktur des Ausstellungswerts ein eigenes Kapitel. Wien P ETRA L ÖFFLER Bruce D. McClung: Lady in the Dark: Biography of a Musical. Oxford, New York: Oxford University Press, 2007, 274 pages. Lady in the Dark: Biography of a Musical by Bruce D. McClung is very promising from the outset. The book offers us a ‘virtual ticket’ to the shortlived history of a prominent American musical in relation to its wider social, cultural and political frameworks. McClung’s exceptionally engaging and confident style of writing succeeds in taking the reader back to the opening night of Lady in the Dark on 23 January 1941. We meet the producer and script-writer Moss Hart, the lyricist Ira Gershwin, the ‘émigré composer’ Kurt Weill, the ensemble Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 164-166. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 165 with its rising star Danny Kaye and leading ladyin-the-dark Gertrude Lawrence (playing Liza Elliot). The book gives us an opportunity to witness and re-experience the show as if sitting “in the front row”. McClung concurrently brings to life a plethora of historical data, facts and figures about the production, its genesis, its developments on Broadway and on tour, and its later adaptations for radio and television. Throughout the chapters, however, our attention is drawn to offstage political events; readings of Weill’s musical score with an eye on its growing importance for the American musical theatre; references to the social struggles of women in the war effort in contrast to the musical’s theme of a patronizing Freudian psychoanalysis of the 1940s and 50s. In this way, the book aims to give different perspectives on a keystone musical that has sadly been overshadowed by its contemporaries such as Oklahoma! but that shines as new through McClung’s historiographic lens. Despite of the book’s promising aspirations and McClung’s nineteen dedicated years of research guided by copious interviews and historical documents, it occurred to me while reading that this biography has its methodological problems: not so much due to its bulking exhaustiveness but due to its claims of historical accuracy. I appreciate McClung’s keen eye for detail a great deal but he constantly mixes self-acclaimed accurate evidence with fiction in his apparent efforts to give a ‘true’ account. For instance, during lengthy descriptions of what is there to be seen on and behind the stage, McClung often puts footnoted references to concurrent events, audience reactions, the crew’s personal and professional biographies between brackets. This gives the impression that we are receiving inside knowledge by an impartial offscreen voice while we are re-experiencing the actual events. In the intermissions and after the performances we read telegrams, letters, scratch books, and critical newspaper reviews. The book reads therefore easily like a novel or a musical in itself with many subplots, rumours and intrigues between people (such as the ongoing mutual and amusing backstabbing of the actors Kaye and Lawrence). However, McClung’s fictional reconstruction of historical data puts into question its claims at historiographical validity and the historicity of the play’s socio-cultural matrix. Its approach is evidently part of a research context and a tendency to revive historical data through an ‘informed’ style of fictional writing. But the book does never engage with the methodological problems of such an approach: its reification, its use of archival resources and the ways we are affected by this approach. As a result, the book is interdisciplinary without admitting it, and restrictive in the methodology it implies, without really grounding it in the theory of social and cultural history. Its reference list with sources that predominantly matter American musical theatre and American Social History on issues of gender and popular music speaks for this unfortunate limitation. Although McClung initially declares his enduring interest in the work of Kurt Weill, the book culminates in an adoration of Gertrude Lawrence’s persona stemming from a personal encounter with her in New York’s Grand Central station, of which it is unclear if it is a dream or a fictionalized anecdote. McClung comments when he catches a glimpse of her in a newspaper article: “Thrilled by our discovery, we try not to call attention to ourselves but get close enough to observe what is happening” (199). This neutral stance to the historical event does not correspond to the book’s piling up of historical data which has to compensate for its fragmentation by McClung’s highly engaged way of writing. McClung goes on to describe how he tries in vain to catch something of Lawrence’s performance as both a myth and a real woman, which in my view shakes the heart of his implied historiographical efforts for truthfulness and totality. In relation to this rather problematic historiography, McClung does not fully explain in chapter eight the cultural-historical context for why Lady in the Dark has not and cannot be restaged today regardless copyright matters. Part of his explanation is musical theatre’s development, for which Lady in the Dark subtitled as ‘musical play’ served only as “progenitor of the first type of concept musical” (165). McClung is right to address Weill’s intentions to make a difference to ‘American opera’ and music theatre by developing a distinct American musical-dramatic form separating music from drama, in which music would carry the story and address the audience in a representational 166 Rezensionen style (such as Lawrence’s rendition of ‘The Saga of Jenny’ directly to the audience). But McClung does not recognize the legacy of Bertolt Brecht in Weill’s innovations at all. He moreover fails to fully account for how the theme of psychoanalysis makes this so-called ‘conceptual musical’ too tendentious and serious to persist time, neither does he acknowledge the dubious entertaining character of ‘psychoanalysis for the layman’ in this musical. The issue of psychoanalysis and gender is also a sore spot in McClung’s argumentation of the social context. On numerous occasions McClung refers to the feminist objections to the musical’s sexist content, which has focused on Liza’s indecision which man to marry, sexual harassment and in the end of the play, the sacrifice of her career for a relationship. The depiction of the psychoanalyst Dr. Brooks plays a significant role in the social commentary. McClung implies the dramaturgical relevance of ‘adaptation’ when claiming that “judicious cutting of Dr. Brooks’s part is necessary” (197) for the play to be staged today. But the gender issue becomes rather oblique in light of a controversy claiming that the role of Liza can be understood within the playwright’s personal biography. Moss Hart namely struggled with personal and artistic demons for which he regularly visited psychiatrist L.S. Kubie. McClung suggests that Lady in the Dark - in the wake of Sigmund Freud’s death - can be seen as a vehicle for Dr. Kubie’s views on the purpose and legitimization of psychoanalysis in the US. Moreover, McClung presents us with a psycho-analytical reading of the play by Dr. Kubie suggesting that Liza’s indecisiveness can refer to a drive to become both sexes. In this reading Hart’s one-time performance of Liza’s role at a closed dress rehearsal would reveal a confusion concerning his sexual identity. Homosexuality was classified in the 1940s as a mental illness, which Dr. Kubie (sorry to say) claimed to be able to ‘cure’. In this sexually repressive context, McClung’s throw-away remarks give the play much further reaching implications than are discussed so far. His suggestive readings are appealing, though they ask for more historical contextualization and careful explanation. Finally, McClung’s attempts at rather conceptual analyses of both the performance and the musical score are unconvincing. His application of the Brechtian ‘Gestus’ - through a book by Kim H. Kowalke which is in turn based on a translation of Brecht’s notion - to some of the dance sequences in Lady in the Dark is, to say the least, dubious. This makes his subsequent reading of the dream sequences as “metadiegetic” relatively unsubstantiated. In his musicological discussion of symbolic keys and tonalities, ‘musical riddles’ and thumbprints, McClung falls short of analysing their relation to one another for the spectator in the perception of the performance and often mistakes Weill’s assumed intentions for his own narrative readings. Hence, despite McClung’s well-intentioned and highly accessible attempts to join a wide corpus of historical data, socio-cultural contexts, and historical voices on a somewhat forgotten musical in the history of musical theatre, the book lacks one strong argumentative thread and selfreflexivity towards its concepts and methodology, which at times regretfully leaves its reader ‘in the dark’. Amsterdam P IETER V ERSTRAETE Fritz Lang Collection. Dr. Mabuse, der Spieler. Frau im Mond. Spione. Restaurierte Fassungen mit neuer Musik. 6 DVD-Set. München: Transit Film, 2007, ca. 32,00 . Fritz Lang (1890-1976) ist einer jener Protagonisten der Filmgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts, die durch Werke, wie den monumentalen Nibelungen-Film (1922-24), Metropolis (1925/ 26) oder M - eine Stadt sucht einen Mörder (1931) einen festen Platz im Bildungskanon einnehmen. Allerdings gründet diese Position eher auf einer rückblickenden Perspektive, die diese Filme als Meilensteine der Moderne interpretieren. Am deutlichsten ist dies vielleicht an Metropolis zu erkennen, dessen Bilder heute fast schon Ikonen für die Modernisierungsängste und -fantasien sind, während seine Fabel eher in den Hintergrund getreten ist. Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 166-168. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 167 Wirft man einen zweiten Blick auf Lang, der sich nicht durch diesen grand récit ablenken lässt, so entdeckt man ein deutlich vielschichtigeres und auch widersprüchlicheres Bild: So fällt nicht nur die extrem lange Schaffensphase auf, die von ersten Filmen ab 1919 (als Regisseur) bis zu späten Arbeiten 1960 reicht. So umspannt sein filmisches Schaffen die Phase der 1920er Jahre und Filme im US-amerikanischen Exil der 1930er und 1940er Jahre ebenso wie den Nachkriegsfilm in Deutschland. Auch die formale Bandbreite Langs ist beeindruckend, so stehen fantastische Filme neben Western und Kriminalfilmen, wobei die Grenze zwischen Kunst- und Populärfilm für ihn selbst weniger relevant gewesen zu sein scheint als für seine Kritiker und Historiographen. Die Beschäftigung mit Lang wird erleichtert durch eine gute Verfügbarkeit seiner Arbeiten auf DVD: So erschien bereits 2004 eine Fritz Lang Sonderedition, die Metropolis, M und Das Testament des Dr. Mabuse enthielt. Die vorliegende Ausgabe nun umfasst Dr. Mabuse, der Spieler (1922), Spione (1928) und Frau im Mond (1929). Allerdings bleibt der Fokus der auf DVD veröffentlichten Filme auf die 1920er Jahre beschränkt; der Wunsch, auch die US-amerikanischen Filme, wie Fury (1936, mit Spencer Tracy) oder Hangmen also die! (1943, Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht beim Drehbuch) sehen zu können, bleibt ebenso unerfüllt wie derjenige nach den Filmen, die er im Nachkriegsdeutschland gedreht hat, wie etwa Der Tiger von Eschnapur (1958/ 59) oder Das indische Grabmal (1958/ 59), beides Remakes von Filmen, für die Lang 1921 das Drehbuch verfasste. Hier offenbart sich in der Auswahl des Materials eine Verengung der historischen Perspektive, die hoffentlich bald überwunden werden kann. Dies als Vorbedingung angenommen, offenbaren die hier vorliegenden Filme nichtsdestoweniger ein faszinierendes Zeitbild, das über das Œuvre Langs hinaus von großem Interesse sind. Zunächst einmal fällt der monumentale Film Dr. Mabuse, der Spieler auf: Mit einer Gesamtspielzeit der beiden Teile von ca. 270 Minuten sprengt der Film sowohl historische wie zeitgenössische Konventionen. Die Figur des Dr. Mabuse, zu der Lang immer wieder zurückkehrte, ist, wie Siegfried Kracauer bemerkte, ein Verwandter des Dr. Caligari, der ebenfalls mithilfe von Hypnose Verbrechen begehen lässt. Mabuse entwickelt ein Netzwerk von Verbrechern, durch die er die Gesellschaft in ihren ökonomischen, moralischen und sozialen Grundfesten erschüttert. Die Kriminalhandlung des Films zieht sich wie ein roter Faden durch die opulenten Tableaux, mit denen der Film eine Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Verfasstheit zu Beginn der 1920er Jahre bietet. Dieses dramaturgische Moment wirkt sich auch unmittelbar auf die ästhetische Gestaltung aus: Für heutige Sehgewohnheiten irritierend, schwelgt der Film in seinen sozialen Choreographien, wobei immer wieder auch scheinbar nebensächliche Schauplätze der Handlung zu Schlüsselszenen der Gesellschaftsanalyse werden. Offensiv verabschiedet sich Lang von einer realistischen Bildführung und lässt stattdessen kommentierende Collagen entstehen. Spione umkreist ein ähnliches Thema: Ein skrupelloser Bankier baut ein Syndikat für seine kriminellen Machenschaften auf, das gezielt politische Spannungen und Verwicklungen erzeugt, um seine eigenen Ziele zu verfolgen. Willy Fritsch (1901-1973) als Agent 326 erscheint als ein Urvater des modernen 007, und es gelingt - dank einer mit der Handlung verwobenen Liebesgeschichte - schließlich auch hier, die Verbrecherbande dingfest zu machen. Auffällig ist allerdings in beiden Filmen, dass die Schlusssequenzen mehr an bürgerkriegsähnliche Zustände erinnern als an eine Polizeiaktion. Kracauer sieht daher im Schluss des Mabuse-Films eine Reminiszenz an die Straßenkämpfe der Spartakisten mit den Noske- Truppen. 1 Typisch für beide Filme ist die symbolisch aufgeladene Raum- und Bildgestaltung, die immer wieder zu Chiffren der kulturellen Verfasstheit werden. Diese Räume sind nicht als realistische zu lesen, sondern sind symbolische Szenen, die einen Resonanzraum für den Handlungsverlauf bieten. Dies entspricht Langs programmatischem Ansatz, mit seinen Filmen ein Porträt seiner Gegenwart zu liefern; gerade dies aber könnte auch der Ansatzpunkt einer Re-Lektüre dieser Filme sein, die danach fragt, inwiefern der paranoide Grundzug der beiden Filme, der die Furcht vor einem übermächtigen Manipulator mit nahezu übermenschlichen Fähigkeiten zu seinem dramaturgischen 168 Rezensionen Motor macht, nicht auch einen blinden Fleck der historischen Wahrnehmung erzeugte. Der dritte der hier versammelten Filme, Frau im Mond, schließlich knüpft in gewisser Weise an den utopischen Gestus von Metropolis an, fokussiert sich aber ganz auf den Topos der Mondreise. Thea von Harbou (1888-1954), Langs Ehefrau, die mit ihm gemeinsam zahlreiche Drehbücher verfasste, hatte sich durch die Arbeiten von Hermann Oberth (1894-1989) inspirieren lassen. Der Film schwelgt in den Fantasien der Raumfahrt, die seit Jules Vernes De la terre à la lune (1865) und Georges Méliès’ Film Le Voyage dans la Lune (1902) ein fester Bestandteil des populären Imaginären war. Aus heutiger Sicht oszilliert die spielerische Darstellung der Schwerelosigkeit sowie die Detailfreude, mit der die Rakete und die Mondlandschaft dargestellt werden, zwischen genialischer Vision und liebenswertem Anachronismus. Auch an diesem Beispiel lässt sich das Phänomen beobachten, dass die Fabel vor dem Fluss der Bilder in den Hintergrund tritt. So manifestiert sich hier die Lust am Spektakulären bzw. an symbolischem Tableau oder Collage, die das eigentlich leitende Prinzip dieser Filme zu sein scheint. Die Fabel hingegen, wie oft bei Lang, wirkt eigentümlich naiv bzw. dramaturgisch widersprüchlich. Es ist ein glücklicher Umstand, dass durch die digitale Aufbereitung zunehmend erschwingliche und technisch einwandfreie Editionen von Filmen, die einen festen Platz im historischen Diskurs haben, aber eben im ‘üblichen’ Kreislauf von Filmen durch Kino und Fernsehen nur noch eine Randposition einnehmen, wieder verfügbar sind. Es wäre zu wünschen, dass dieser Trend anhält und weitere (Wieder-) Entdeckungen ermöglicht. Bern P ETER W. M ARX Anmerkung 1 Vgl. Siegfried Kracauer, Von Caligari bis Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 90. Kristina Jensen: Formen des episierenden Metadramas. Ausgewählte Dramentexte José Sanchis Sinisterras und anderer spanischer Gegenwartsdramatiker. Frankfurt a. M.: Vervuert, 2007, 274 Seiten. Metadrama in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen und in seiner historischen Entwicklung war bereits mehrfach Gegenstand von aktuelleren Untersuchungen. Nun hat die Romanistin Kristina Jensen das Ergebnis ihrer Studien zu Formen des episierenden Metadramas bei spanischen Gegenwartsautoren vorgelegt. Das Hauptaugenmerk richtet die Autorin in ihren Analysen auf die Dramenproduktion von Sanchis Sinisterra, einem der heute erfolgreichsten spanischen Dramatiker. Jensen verortet in ihrer Arbeit das episierende Metadrama des Autors innerhalb des Kontexts zeitgenössischer spanischer Dramenproduktion und der Theorie zum Metadrama und schließt damit eine Forschungslücke. Sie stellt die These auf, dass bei José Sanchis Sinisterrra ein systematischer Rückgriff auf verschiedene Formen metadramatischer Episierung stattfindet, und somit die Selbstreflexivität eine Konstante seiner Dramenproduktion ist. Die Autorin legt ihrer Untersuchung als theoretische Basis die Typologie zum Metadrama von Karin Vieweg-Marks (1989) zu Grunde und modifiziert diese. In ihrer Einleitung bespricht die Autorin ausführlich diese Theorie und zeigt deren Vorzüge und Nachteile auf. Sie weist vor allem auf das Problem der Überschneidungen innerhalb des Kategoriensystems von Vieweg-Marks hin, weshalb sie es um Gradationsskalen zur Explizität episierender Verfahren, zur Betonung von Narration oder Figuration und zur metadramatischen Intensität erweitert. Diese Erweiterung bietet für künftige Analysen im Bereich des Metadramas die Möglichkeit, verschiedene metadramatische Formen systematischer zu verorten. Die Autorin führt für die zu untersuchenden Stücke den Oberbegriff des episierenden Metadramas ein. Dieses umfasst die Unterkategorien thematisches Metadrama, episierendes Metadrama im engeren Sinne und figurales Metadrama. Dieser Dreiteilung folgend ist die Arbeit aufgebaut. Im Hauptteil der Studie werden Dramen analysiert, die sich diesen drei Formen zu- Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 168-170. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 169 rechnen lassen. Die Rückbindung der Einzelanalysen an die von ihr erarbeitete Theorie zum Metadrama erfolgt leider nicht immer in gleichem Maße, das heißt, es erfolgt bei einzelnen Stücken nicht immer die Einordnung auf allen erarbeiteten Gradationsskalen, so dass der Eindruck entstehen könnte, es seien nicht alle Aspekte in den jeweiligen Analysen berücksichtigt worden. Um das thematische Metatheater als Form des episierenden Metatheaters zu illustrieren, wählt Jensen El cerco de Leningrado (1994), Ñaque (1980) und El retablo de Eldorado (1985). Gerade bei El retablo de Eldorado bietet die Autorin eine stringente und detaillierte Analyse des Textes und der Funktionen der verwendeten metadramatischen Verfahren. Im nächsten Teil der Arbeit werden personalisierte Formen des episierenden Metadramas in Lope de Aguirre, traidor (1986), Monológico und Al lado aus der Sammlung Pervertimiento (1986) und Bartleby, el escribiente (1989) betrachtet. Man hätte sich gewünscht, dass bei Bartleby, el escribiente das Spiel mit dem narrativen Hypotext von Herman Melville für die Analyse fruchtbar gemacht und in Beziehung zu metadramatischen Formen gesetzt worden wäre, denn gerade das Kontrastieren mit einem Erzähltext hätte weitere Facetten des episierenden Metadramas bieten können. Erhellend ist, dass Jensen anhand dieser vier Dramen klar aufzeigt, wie bei Sanchis Sinisterra das Publikum aktiv in seiner eigenen Imagination gefordert wird. Im Gegensatz zu den Stücken von Sanchis Sinisterra konstatiert die Autorin in Jaime Saloms El otro William (1997) eine illusionsfördernde Wirkung, die durch den Erzähler entsteht. Die gelungene Wahl dieses Textes macht es dem Leser möglich, die zwei Pole der Gradationsskala der metadramatischen Intensität zu sehen. Ferner werden Stücke mit impliziten Erzählerfiguren anhand von Caballito del diablo (1983) von Fermín Cabal, Naufragíos de Álvar Núñez (1991) von Sanchis Sinisterra und Rodolf Sireras Indian Summer (1991) untersucht. Die Autorin arbeitet klar heraus, dass alle drei Texte wesentliche Gemeinsamkeiten haben. Erstens wird die zweite Fiktionsebene durch die implizite Erzählerfigur motiviert. Allen drei Texten dient zweitens als Hintergrund ein narrativer mise-en-abyme Text. Drittens werden in allen drei Dramen durch die gewählte Vermittlung Gefühle des Protagonisten sichtbar, Selbsttäuschungen werden aufgedeckt. Demgegenüber stellt Jensen Cardeñas La puta enamorada (1998), bei dem es sich um ein Metadrama mit expliziter Erzählerfigur handelt, die nicht zur Selbstreflexion genutzt wird. Die Autorin erarbeitet schlüssig, dass hier ein wichtiger Unterschied zu den Dramen Sanchis Sinisterras liegt, denn dieser nützt die Techniken des figuralen Metadramas immer in Verbindung mit illusionsstörenden Verfahren. Das folgende Kapitel wendet sich dem figuralen Metadrama unter zwei verschiedenen Aspekten zu. Kollektive Rollenzuschreibungen werden thematisiert in Los figurantes (1989) von Sinisterra und Elsa Schneider (1989) von Sergi Belbel. In beiden Stücken findet eine Überlagerung verschiedener metadramatischer Verfahren statt, deren unterschiedliche Funktionen gekonnt analysiert werden. Der Widerstreit mit einer dominanten Rollenfigur wird anhand von Alonso de Santos’ La sombra del Tenorio (1994), El canto de la rana (1987) aus der Sammlung Mísero Próspero von Sanchis Sinisterra und López Mozos D.J. (1987) untersucht. Im Gegensatz zu diesen Dramen steht Un maldito beso (1989) von Concha Romero. Die Rollenspiele sind hier illusionsfördernd, denn die Figuren werden nicht durch das Vorbild einer berühmten Rollenfigur geprägt, sondern sie spielen sich immer wieder selbst in ihrer eigenen Rolle als Ehefrau, Ehemann, Geliebte und Geliebter. Jensen macht somit nochmals deutlich, wie auch im Bereich des figuralen Metadramas die beiden Pole der Gradationsskala zur metadramatischen Intensität besetzt sind. Die Autorin kommt zum Schluss, dass Sanchis Sinisterras Texte grundsätzlich episierend sind und die konventionelle dramatische Formen aufsprengen, um das Publikum zu aktivieren. “Sie sind eine Kampfansage an das bürgerliche Illusionstheater” (266). Jensen stellt in ihrer Arbeit immer wieder Bezüge zwischen den einzelnen, analysierten Stücken her, so dass Parallelen, aber auch Unterschiede im Einsatz metadramatischer Mittel deutlich werden. Verwirrend für den Laien ist leider, dass Jensen innerhalb einzelner Analysen auf Grund ihrer umfassenden Kenntnis des Werkschaffens Sanchis Sinisterras neue Stücke einführt, 170 Rezensionen anhand derer einzelne Aspekte vertieft werden, ohne diese näher zu erläutern. Formen des episierenden Metadramas bietet insgesamt eine gelungene Erweiterung der Typologie von Vieweg- Marks und eine gute Einführung in das Werkschaffen Sanchis Sinisterras. Passau M ARTINA W EIS Meike Wagner, Wolf-Dieter Ernst (Hg.): Performing the Matrix: Mediating Cultural Performances. München: Epodium, 2008, 346 Seiten. Performing the Matrix: Mediating Cultural Performances brings together in article form the contributions of some seventeen speakers at the international conference of the same name held in Mainz in 2005. It includes contributions from renowned scholars who are field-leaders in performance research in a number of European countries and, in this sense alone it is a volume of significance. In a review of this scope it is not possible to remark upon all the contributions and a selection is chosen for comment below in an attempt to give a taste of its contents. But the impact of the volume overall will depend in part upon whether the contents add up to more than the sum of their parts in respect of the guiding notions of “the matrix” imbricated within “performance” and vice-versa. How might such a concept differ from, say, Williams’s seminal ‘structure of feeling’ or Foucault’s ‘regimes of truth’? What might the combination of the established, though contested, sites of both “performance” and “the matrix” contribute to an understanding of the ‘in-between’ in contemporary culture? Wagner and Ernst deftly and knowledgeably mobilise the conceptual model in the introduction. Taking their cue from the now legendary Wachowski brothers’ The Matrix (1999) movie and its legacy in academia, Wagner and Ernst invite a reflection not upon the shadows of Plato’s cave but on “the processes and effects of the media-matrix” (12). Indeed “a double exposure of thematic and methodological issues” (12), arising when performances are inexorably mediatized and media are ineluctably performed, yields a metaphor more akin to a dynamic double helix than the shadows flickering from Plato’s cave fire. Is there any escape, Wagner and Ernst seem to ask, from a virtual web as determining as DNA on the one hand but endlessly deferring the significance of human cultural performance on the other? To assist the reader in pondering her options in respect of this structure in process, Wagner and Ernst provide an etymology of terms from the Greeks to Thomas Kuhn, from Böhme to Butler to show how concepts historically are constructed, and revised, in discourse. Given the understandable editorial refusal to “promote a clear-cut distinction of structure and process in this volume” (18), a range of approaches in the articles might be expected. In ‘Seeing Sound’, Christopher Balme explores an interdisciplinary practice in the form of mental imaging of a postdramatic theatre in which “the drama takes place in the music, not on stage” (80). Drawing upon theories of the “visual” and “iconic” turns and referencing Helmut Lachenmann’s The Match Girl and Adriana Hölsky’s The Invisible Room, Balme proposes a scenography of “a music that is working towards a visual effect without resort to crass, mimetic effects” (80). Balme’s essay finds a resonance with other contributors’ explorations of a new set of aesthetic relations within the “matrix”. In a thought-provoking engagement with the “factual fictions” of Walid Raad with the Atlas Group, Martin Doll brings out the performative aspect of “pictoriality” (as distinct from representative-ness) and goes further to expose “fictitious rules of production as fictitious” (330-31). Doll prefers the lecturepresentations of Raad over his installations precisely because they mobilise a dialogic play in the process of performance and in reception. Both Balme’s and Doll’s pieces, like others in the volume, offer insightful analyses of ground-breaking contemporary arts practices but they do not perhaps promote the “matrix-performance” concept since they might simply be embraced by the, admittedly over-expanded, notion of ‘performativity’. In outlining his ecological perspective, however, Baz Kershaw overtly takes up - and illustrates Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 170-172. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 171 a performance of - the volume’s conceptual framework. Indeed, he reprocesses his IFTR paper exploring the ecology of theatre by reflecting upon his early community theatre work and his more recent The Iron Ship in a performed and interactive presentation. In the process, Kershaw advocates another hybrid, the citizen-artist engaged in a dialogic interactivity, in place of the commercialprofessional genius artist delivering a gnomic message from on high to passive recipients. He makes a distinction, however, between ‘matrix’ defined as “the structure of a system” and ‘ecology’ defined as a “system in process” (262) on the grounds that ‘ecology’ places an emphasis on process which ‘matrix’ lacks. He thus confounds the overall issue since the editors of the volume evidently see the matrix in performance as a fluid and dynamic concept. Undertaking a case study of the dance piece Mes Jours et Mes Nuits (performed by Michèle Noiret), Peter Verstraete further stirs the conceptual waters in exploring a matrix which is technological rather than ecological. For Verstraete, the matrix is “the technologically sensitized grid that makes space responsive and its knowledge proprioceptive […] for the dancer to interact with the system” (158). However, he is refreshingly modest in claims about new proprioceptive modes of knowing through interactivity. Though he discerns a new experience for the dancer, he is less certain about the engagement of the spectator. In another nuanced essay, drawing useful conceptual distinctions between inside/ outside, sight and sound experiences, haptic and optic spaces (drawing on Deleuze, Massumi, Mulder, Sobchak), Verstraete ultimately leaves open the question “as to whether interactive dance could result in a new paradigm of knowledge about the body, movement and spatial experience” (170), where all too many commentators have simply begged the question. In the piece under discussion, the virtual grid (illustrated in a diagram, 173) is a matrix, but ironically of a more concrete, technological, rather than meta-conceptual, kind. In the final essay in the collection, Kati Röttger illustrates Rancière’s theory of political art with a discussion of Schlingensief’s Bambiland. She concludes that the piece has “a clear political impact [because] it distributes sensuousness” (357). Bambiland, as experienced by Röttger is a paradigmatic example of Rancière’s notion that political response is mobilised by theatre conceived as “an intermedial event [which] opens up and stages perspectives on media revealing their mediality” (355). Audiences, however, are not committed to a “politics of action” but left with a “politics of aesthetics” (338) which may change perception but does not necessarily commit to intervention to address the inequalities of the actual world (as Brecht proposed). If, to adapt Jameson, the internet is a prison-house of freedom, intermedial theatre becomes the prisonhouse of politics in which sensuousness may be distributed but not perhaps wealth or power. In the context of the edited collection, however, another thought-provoking article yields yet another conception of a matrix, in this case a concept very similar to Kattenbelt’s notion of theatre as a “hypermedium” (see Chapple & Kattenbelt (eds.), 2006). In sum, this volume is a useful and stimulating collection of articles which provokes thought on a range of practices in the arts and media, located in diverse but overlapping conceptual frameworks. It is unfortunate that the very clear lay-out of the contents is a little marred by errors of typography and English expression, despite the editors’ best endeavours. The greater majority of the contributions apply and unpack a contemporary theoretical perspective in discussing a specific example of performance practice. Raymond Williams’s ‘structure of feeling’ purports to be “as firm and definite as a ‘structure’ suggests, yet it is based in the deepest and often least tangible elements of our experience” ([1952] 1981: 10). Wagner and Ernst are seeking in the notion of “performing the matrix” to mobilise a similar conceptual framework for the twenty-first century. Indeed a matrix in performance begins to emerge in the loose form of overlapping and dynamically interacting accounts of subject-object relations in the experience of arts and media. But before it solidifies, it dissolves to reform in another configuration. Since Williams’s time the boundaries between concepts have become more porous, and digital culture has caused us to revise our mind-sets in the light of new experiences of time and space. In today’s context, a new dynamic conceptual model is 172 Rezensionen appropriate and it may be that “performing the matrix” captures an apt tension in the contemporary between securing “the structure of a system” and abandonment to a “system in process”. Manchester R OBIN N ELSON References Freda Chapple & Chiel Kattenbelt (edd.), Intermediality in Theatre and Performance, Amsterdam/ New York, NY: Rodopi, 2006. Raymond Williams, Drama from Ibsen to Brecht, Harmondsworth: Penguin, 1981. Marijke Hogenboom, Alexander Karschnia (Edd.): Na(ar) het Theater - After Theatre? Supplements to the International Conference on Postdramatic Theatre. Amsterdam: School of the Arts, 2006, 166 Seiten. Sieben Jahre nachdem Hans-Thies Lehmanns einflussreiches Werk Postdramatisches Theater in Deutschland erschien, hat es 2006 Eingang in den anglophonen Sprachbereich gefunden. Grund für Marijke Hogenboom (Professorin und Mitbegründerin von DasArts, Amsterdam) und Alexander Karschnia (Mitbegründer des internat. Künstlerkollektivs ‘andcompany&Co’), Dramaturgen, Produzenten, Theatermacher und -theoretiker einzuladen, um gemeinsam unter dem Motto “Na(ar) het Theater - After Theatre? ” (hin zum/ nach dem Theater) über gegenwärtige Entwicklungen des Theaters zu diskutieren. Das nun erschienene Buch zeigt anhand von wissenschaftlichen und künstlerischen Beiträgen der Tagung auf, inwieweit es seit den 1980er Jahren zu Veränderungen im Bereich der Theaterproduktion, der Verbindung von Theorie und Praxis und damit zum Verständnis von Theater gekommen ist. Die Publikation bietet für jeden, der sich über gegenwärtige Entwicklungen der freien Theaterszene in Deutschland und den Niederlanden informieren möchte, einen interessanten und innovativ aufgemachten Einblick in praktische Probleme, theoretische Fragestellungen und der daraus resultierenden Experimentierfreude des postdramatischen Theaters. Die Auswahl der Beiträge und künstlerischen Statements, die thematisch in fünf Blöcke unterteilt sind, spiegelt das Interesse von Hogenboom und Karschnia, einen Überblick über den Stand der Diskussion zu geben und Perspektiven auf künftige Entwicklungen zu wagen. Welche Bedeutung und Funktion hat das Theatermachen in einer Zeit, in der das Drama verabschiedet wurde, die Diskussion um Postdramatik andauert und die Idee der Post-Postmoderne in der Luft liegt? Im ersten Abschnitt zeigt Kathrin Tiedemann (Leiterin des Forum Freies Theater, Düsseldorf) auf, in welcher Weise künstlerische Entwicklungen und Möglichkeiten heute durch Produktionsbedingungen bestimmt werden. Sie hebt hervor, dass gerade der freie Theaterbereich zwar eine wichtige Rolle für die Entwicklung einer sich international entwickelnden Theaterszene habe, es dieser jedoch an kontinuierlicher Förderung fehle. Die konstante Sorge um Finanzierung bedeute einen Verlust an kreativem Potenzial und führe zur Behinderung von theaterästhetischen Innovationen. Die mangelnden Möglichkeiten für selbst bestimmtes Arbeiten beklagt auch Marianne Van Kerkhoven (Dramaturgin am Kaaitheater, Brüssel), die in “Stones in the Stream” die Umbrüche des Theaters der 1980er Jahre in Flandern darlegt. Die Lust am Experimentieren sieht sie gegenwärtig zunehmend schwinden. Ein Umstand, der für sie, wie für Tiedemann, durch mangelnde Alternativen im Förder- und Produktionsbereich begründet ist. Theatermacher, die ihre Arbeit hinterfragen und an eindeutigen Darstellungsweisen zweifeln, erführen unzureichende Unterstützung, müssten mit höherer Ausdauer für die Durchsetzung ihrer Projekte kämpfen. Die häufige Entscheidung dieser Künstler für unhierarchische und autonome Produktionsbedingungen außerhalb fester Subventionsstrukturen beurteilt Van Kerkhoven daher als politisches Statement. Die Ansicht, dass mangelnde Produktionsmöglichkeiten ein Theater im Sinne der Postdramatik erschweren, vertritt auch Alexander Karschnia. Allerdings stellt sein Text “The Drama Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 2 (2008), 172-173. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 173 of Drama” eine theatergeschichtliche und -theoretische Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Situation des Dramas dar. Der Anfang und das Ende des europäischen Dramas, das in der Postdramatik als obsolete Form der Auseinandersetzung mit Welt und Gesellschaft bewertet wird, werde nach Karschnia durch Shakespeare markiert: Dieser nehme sich die Freiheit, jegliche Begrenzung in Form, Inhalt und Stil zu überwinden - weswegen er nun, in der Postdramatik, Programm geworden sei. Gerade die Unterwanderung von dramatischen Regeln führe zu fruchtbaren und alte Gräben überwindenden neuen Formen. Eine weitere Parallele zur vergangenen Shakespearezeit sieht Karschnia in der Arbeitsweise freier Gruppen. Gleich den elisabethanischen Schauspieltruppen wandern sie unhierarchisch und unspezialisiert organisiert - ein jeder ist Dramaturg, Regisseur und Performer - durch Europa. Hans-Thies Lehmann widmet seinen Beitrag “Theatre after Theatre” dem gegenwärtigen Trend, Theaterspiel als Spiel im Sinne von ‘game’ zu verstehen. Die Entwicklungen des Dramas haben ihm zufolge zu einem alternativen Verständnis des ‘Dramatischen’ geführt, auch weil heute das tägliche Leben als dramatisch und theatral inszeniert empfunden werde. Die Betonung von Spielstrukturen sowie der Ansatz, traditionelle Dramaturgie von Figur und Handlung durch Spielregeln zu ersetzen, bedeutet für Lehmann eine innovative Annährung des Theaters an die Lebenswirklichkeit. Zusammen mit der Verabschiedung der vierten Wand und dem Ansatz, Theater als Ort der Forschung zu verstehen, ist die Idee des ‘end of drama - begin of game’ für ihn eine der Perspektiven für das ‘Theater nach dem Theater’. Der Frage der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der sie bedingenden politischen Situation widmen sich im dritten Teil des Buches Lotte van den Berg und Marianne Van Kerkhoven. Beide plädieren in einer Zeit, die sich durch Komplexität und die Unmöglichkeit von einseitigen Stellungnahmen auszeichnet, für ein Theater, das sich der Ruhe und Reflexion verschreibt. Fragen stellen statt simplifizierte Antworten zu geben - dies sei die Stärke eines Theaters, das es darauf anlegt, sich mit den Problemen der postmodernen medialisierten Gesellschaft zu beschäftigen. Die freiwillige Konfrontation mit Problemen und nicht ihre Negation mache Theater politisch. Die künstlerischen Beiträge von Nicola Nord, Jets Batelaan, Ivana Müller und anderen im letzten Teil, reflektieren die vorhergehenden Texte und setzten den Akzent auf die Frage, was politisches Theater heute sein kann. Ritsaert ten Cartes’ (Mitbegründer DasArts, Amsterdam) Bild, das eine Giraffe mit gestutztem Hals und der Bemerkung “everything is under control” zeigt, kann als Plädoyer gegen den Weg des geringsten Widerstands gedeutet werden. Rebellion um der Rebellion willen könne jedoch nicht das Ziel politischer Kunst sein, wie David Weber Krebs’ Text “This is a Performance” verdeutlicht. Den fünften Block findet der Leser im Layout des Buches. Die Idee hierfür, von Louise Moana Kolff und Niels Schrader entwickelt, basiert auf dem Gedanken, die Konferenz unhierarchisch zu dokumentieren. Per live-blog-Verfahren wurden während der Konferenz Statements festgehalten und nach Wörtern sortiert, um als Grundlage für die Konstruktion eines bunten, einem Barcode ähnelnden, visuellen Archivs zu dienen. Das ‘performative Archiv’ ist Dokumentation und Übersetzung von theoretischem Diskurs in künstlerische Praxis zugleich. Die Anthologie bietet Ideen an, welche Formen (freies) Theater in Zukunft annehmen kann und zeigt auf, welche Möglichkeiten sich durch Veränderungen der letzten Jahre eröffnen. Zudem wird dem Leser die Lust der Teilnehmer anschaulich vermittelt, sich mit den Fragen der postmodernen Gesellschaft und ihrer Übersetzung in eine (post-) postdramatische Theaterästhetik zu beschäftigen. München S ARAH I SRAEL Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Das Theater erscheint , wie Roland Barthes festgestellt hat, als ein besonders »privilegiertes semiologisches Objekt«. Denn es arbeitet nicht nur wie andere Kunstgattungen z.B. Literatur und Malerei mit einem einzigen Zeichensystem, sondern vereinigt in sich eine Vielzahl heterogener Zeichensysteme (wie Sprache und Gestik, Kostüm und Dekoration, Musik und Beleuchtung), deren jedes nach anderen Prinzipien Bedeutung hervorbringt. Soll das Theater seinerseits als ein spezifisches bedeutungserzeugendes System begriffen und erforscht werden, müssen daher die einzelnen beteiligten Zeichensysteme einerseits in ihrer jeweiligen Eigenar t, andrerseits in ihren Beziehungen zueinander untersucht werden. Der von Coseriu in der Linguistik getroffenen Unterscheidung zwischen den Ebenen des Systems, der Norm und der Rede entsprechend wird diese Untersuchung unter systematischem, historischem und analytischem Aspekt durchgeführt. Erika Fischer-Lichte Semiotik des Theaters Band 1 Das System der theatralischen Zeichen 5., unveränderte Auflage 2007 268 Seiten EUR 14,90/ SFr 26,00 ISBN 978-3-8233-6321-7 Band 2 Vom »künstlichen« zum »natü r lichen« Zeichen Theater des Barock und der Aufklärung 5., unveränderte Auflage 2007 212 Seiten EUR 14,90/ SFr 26,00 ISBN 978-3-8233-6322-4 Band 3 Die Aufführung als Text 4., unveränderte Auflage 1999 220 Seiten EUR 14,90/ SFr 26,00 ISBN 978-3-87808-178-4
