Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2009
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BalmeInhalt Christopher Balme (München) Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Aufsätze: David Roesner (Exeter) “An entirely new art form” - Katie Mitchells intermediale Bühnen-Experimente . . . . . . . . . . 103 Berenika Szymanski (München) “Noch ist Polen nicht verloren …” Der Danziger Auguststreik 1980 als Aufführung des Religiösen und Nationalen . . . . . . . . . . . 123 Tobias Staab (München) Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” Martin Kušejs Woyzeck-Inszenierung am Bayerischen Staatsschauspiel 2007 . . . . . . . . . . . . . . 135 Katharina Pewny (Gent) Die Ethik des Botenberichts (in Antike und Gegenwart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Artikelserie: Theater und Emotion Doris Kolesch (Berlin) Guest Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Jenny Schrödl (Berlin) Affektive Wirksamkeiten im postdramatischen Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Relektüre: Christopher Balme (München) Carl Niessen: Handbuch der Theater-Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Rezensionen: Julia Pfahl.: Zwischen den Kulturen - zwischen den Künsten Medial-hybride Theaterinszenierungen in Québec (Aristita I. Albacan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Kati Röttger und Alexander Jackob (Hg.): Theater und Bild. Inszenierungen des Sehens. (Maren Butte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Heidy Greco-Kaufmann: Zou der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lucern lob. Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. (Matthias Däumer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Christina Thurner: Beredte Körper - bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten (Wolf-Dieter Ernst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 E.K. Chambers: The Elizabethan Stage (Peter W. Marx) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Anja Klöck: Heisse West- und kalte Ost-Schauspieler? Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland seit 1945. (Kati Röttger) . . . . . . . . . . . . 199 Wilfried Floeck / Sabine Fritz (eds.): La representación de la Conquista en el teatro español desde la Ilustración hasta finales del franquismo, (Christian von Tschilschke) . . . . . . . . 201 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Umschlagabbildung: Filmische Spezialeffekte - szenisch handgemacht. Szene aus Katie Mitchells Waves. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Stephen Cummiskey) Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · Tübingen Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, im Magnettonverfahren oder ähnlichem Wege bleiben vorbehalten. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Jede im Bereich eines gewerblichen Unternehmens hergestellte oder benützte Kopie dient gewerblichen Zwecken gem. § 54 (2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft, Goethestraße 49, 80336 München, von der die einzelnen Zahlungsmodalitäten zu erfragen sind. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: NagelSatz, Reutlingen Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 0930-5874 Editorial Nach dem bewährten Motto - “better late than never” - erscheint nun Heft 24.2 (2009). Mit diesem Heft sind einige Neuerungen verbunden, die ich kurz erläutern möchte. Mit dem Artikel von Jenny Schrödl beginnt eine Artikelserie zum Thema “Theater und Emotion”, die Doris Kolesch im Guest Editorial inhaltlich erläutert. Mit dem Format Artikelserie wollen wir Themen definieren, die über mehrere Hefte hinweg verfolgt werden und für die jeweils ein Gastherausgeber als Organisator verantwortlich zeichnet. Gleichzeitig werden alle Beiträge dem peerreview-Verfahren unterzogen. Wir erproben damit ein alternatives Format zu dem bekannten Sonderheft, das eine unglückliche Nähe zum berüchtigten Sammelband nicht ganz verbergen kann. Die Herausgeber verstehen die Zeitschrift Forum Modernes Theater ausdrücklich nicht als preiswerte Alternative zum üblichen Tagungsbetrieb mit anschließender Verwertung als Sammelband. Die Reputation von Forum Modernes Theater als peer-reviewed Zeitschrift, die einzige, die wir im deutschsprachigen Raum für Theaterwissenschaft noch haben, steht und fällt mit der Einhaltung strenger Begutachtungsstandards. Diese lassen sich wiederum mit der Praxis von tagungsbasierten Sammelbänden bzw. Schwerpunktheften aus einer Reihe von Gründen nur schwerlich vereinbaren. Gleichwohl wissen wir, dass wissenschaftliche Forschung nicht nur individuell, sondern auch im Verbund geschieht. Das Format versucht sowohl diesem Sachverhalt als auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass hier angestoßene Themenschwerpunkte von anderen, nicht beteiligten WissenschaftlerInnen aufgegriffen und mit eigenen Beiträgen ergänzt werden können. Eine Artikelserie ist somit auch eine Einladung zur Partizipation am wissenschaftlichen Austausch. Mit dem neuen Format der Artikelserie versuchen wir somit dem Anspruch, Themen ausführlicher darstellen und diskutieren zu können, gerecht zu werden, wie der Idee, dass eine lebendige Wissenschaftskultur nur möglich ist, wenn sie sich auf einem offenen Forum des Austauschs artikulieren kann. In diesem Sinne möchten wir Sie einladen, Vorschläge für solche thematische Schwerpunkte mit den Herausgebern abzusprechen. Wir sind für Anregungen offen. Die zweite Neuerung betrifft die Rubrik ‘Re- Lektüren’, die ich mit einem eigenen Beitrag zu Carl Niessens Handbuch der Theater- Wissenschaft lanciere. Auch hier handelt es sich um ein offenes Format, das das Ziel verfolgt, wichtige, durchaus kontroverse Werke in Erinnerung zu rufen, die für die Theaterwissenschaft von Bedeutung waren und hoffentlich noch sind. Re-Lektüren können auch Büchern gelten, die nicht explizit theaterwissenschaftlichen Inhalts sind, aber eine Relevanz für das Fach aufweisen. Da es sich um recht offene, mitunter bewusst subjektive Beiträge handelt, sind sie nicht dem peer-review-Verfahren, sondern nur dem profanen herausgeberischen Urteil unterworfen. Leser sind ausdrücklich eingeladen, Vorschläge für Re-Lektüren an die Schriftleitung zu richten. Wir würden uns über Ihre Anregungen freuen. Zum Schluss möchte ich auf die neue Homepage der Zeitschrift hinweisen: www.forummodernes-theater-de. Wissenschaftliche Zeitschriften werden zunehmend über das Internet rezipiert. Eine Zeitschrift ohne Web- Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 101-102. Gunter Narr Verlag Tübingen 102 Christopher Balme auftritt und Download-Funktionen sowie ein online-zugängliches Archiv wird sehr schnell an Bedeutung verlieren und in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit so gut wie nicht existent sein. Deshalb sind wir sehr erleichtert, dass der Narr Verlag nun Forum Modernes Theater durch einen Webauftritt entsprechend unterstützt. Auch wenn die Zeitschrift noch nicht als full-text online journal verfügbar ist, ist ein erster wichtiger Schritt unternommen worden. Es mögen weitere folgen. München, im Juni 2010 Christopher Balme “An entirely new art form” 1 - Katie Mitchells intermediale Bühnen-Experimente David Roesner (Exeter) Anhand von Katie Mitchells Londoner Inszenierung Waves (2006) stellt dieser Beitrag die Frage nach dem möglichen Forschungscharakter experimenteller theaterpraktischer Arbeit. Zunächst wird daher die Inszenierung detailliert auf die experimentellen Aspekte ihrer Versuchsanordnung hin untersucht, wobei insbesondere Fragen der Fragmentierung von Darstellung, Interaktivität von Wahrnehmung, Betonung der Prozesshaftigkeit und der Intermedialität in den Blick genommen werden. Mitchells Inszenierungsstrategien entpuppen sich dabei als die Einladung zur Teilnahme an einem intermedialen Experiment und nicht als Präsentation seiner Ergebnisse. Anhand der Beobachtungen am Fallbeispiel Waves sucht der Beitrag in einem zweiten Teil einige der Chancen und Gefahren eines Forschungsanspruchs an theaterpraktische Arbeit zu formulieren, indem er auf eine Reihe von Paradoxien hinweist. Diese Paradoxien, wie zum Beispiel die Unvereinbarkeit von Innen- und Außensicht oder die Spannung zwischen Prozes- und Produktorientierung, lassen sich zwar nicht auflösen, wohl aber ins Produktive wenden und sowohl kreativ als auch erkenntnisleitend fruchtbar machen. 1. Theater als Forschung Heiner Goebbels teilte vor kurzem in Theater der Zeit die Theaterlandschaft in zwei Großkategorien ein: Theater als Museum, als Ort der Ausstellung und Bewahrung des schon Dagewesenen, und Theater als Labor, also als Ort des Experiments, der Forschung und des Neuen. 2 Die Idee, dass Theater ein Ort des Forschens und Experimentierens ist, eine Zeit des Erprobens und Testens beinhaltet und einen Anlass und eine Möglichkeit bietet, die Fragen und Erkenntnisse dieses Forschens zu veröffentlichen und erfahrbar zu machen, ist zunächst nicht neu. Alle großen Theaterneuerer, von Brecht und Piscator über Stanislawski, Grotowski, Boal, Barba oder Mnouchkine, um nur einige zu nennen, haben ihr Theater als Labor und als Forschungsarbeit verstanden. 3 In den letzten 10-15 Jahren jedoch ist die Idee eines Theater als Forschung vor allem im englischsprachigen Raum neu und anders diskutiert worden. Theatrale Praxis, so der Wunsch aus den universitären Studiengängen und Forschungszentren, müsse endlich auch als Forschung geltend gemacht und finanziell gefördert werden können. Nach langen Debatten, vielen Projekten und Workshops und etlichen Richtlinien-Dokumenten ist Practice as Research 4 längst eine etablierte Kategorie für Evaluationen, Publikationen und Doktorarbeiten in den performing arts - doch einige der innewohnenden Paradoxien hat dieses institutionalisierte Verständnis von einem Theater als Labor noch nicht abgelegt und wird es vielleicht auch nicht mehr tun. Am Beispiel einer jüngeren Arbeit der britischen Regisseurin Katie Mitchell möchte ich im Folgenden der Frage der Forschung und des Labors auf der Theaterbühne genauer nachgehen und abschließend auf einige der Paradoxien von Practice as Research, bzw. “forschender Theaterpraxis” 5 - als solche etabliert sich diese Idee auch im deutschsprachigen Raum zunehmend - hinweisen. Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 103-121. Gunter Narr Verlag Tübingen 104 David Roesner 2. Katie Mitchell “The Waves” 6 [The Waves constitutes] an ambitious and ingenious experiment in the incorporation of multimedia and especially video technology into live theatre. 7 Katie Mitchell ist in England seit etwa zwanzig Jahren eine feste Größe der Theaterwelt, bekannt und durchaus umstritten durch ihre Inszenierungen von Klassikern und Zeitgenossen, die im englischen Kontext durch eine klare Regiehandschrift auffallen, wie man sie sonst eher auf dem Festland kennt. Erst 2008 führte sie ihre erste Regie an einem deutschen Theater mit Franz Xaver Kroetz’ Wunschkonzert am Schauspielhaus Köln und wurde enthusiastisch gefeiert und zum Theatertreffen 2009 nach Berlin eingeladen. Waves markiert in Mitchells künstlerischer Biographie einen Wendepunkt 8 , insofern sie in dieser Produktion eine theatrale Spielart für sich entdeckt hat, die sie seither immer wieder neu auslotet 9 : Es handelt sich um Theater als die gleichzeitige Produktion und Präsentation eines Live-Films, wobei alle Produktionsmittel offengelegt werden. Die Entdeckung dieser Methode war zunächst das Resultat eines Forschungsprojekts Mitchells, das durch das National Endowment for Science, Technology and the Arts (NESTA) 10 gefördert wurde. In einem Interview sagt sie: “I revisited The Waves recently as part of my research for NESTA. I was looking for a non-theatre text with which to explore the relationship between theatre and dance”. 11 In einem späteren Publikumsgespräch fasst sie das Forschungsinteresse etwas weiter, sicherlich nicht zuletzt deshalb, weil der Schwerpunkt Tanz in der Arbeit deutlich in den Hintergrund gerückt war: About five years ago I got some money from the government - an organisation called NESTA - to do some research into the relationship between theatre and related forms, and that would be: architecture, visual arts, other types of writing, neuroscience, psychology etc. - one of those easy, light-weight research projects you get involved in [Gelächter, DR]. So, part of that was looking for other forms of writing to see whether investigating them would lead to pushing us to create a different type of language for theatre. So one of the things we looked at was The Waves. 12 Waves begann also als Forschungsprojekt, bevor es als Inszenierungsauftrag in die Spielzeitplanung des National Theatre aufgenommen wurde. Die hier zunächst etwas vage beschriebene Suche nach der Beziehung des Theaters zu verwandten Kunstformen bekam durch die Entscheidung für Virgina Woolfs Roman ein klarere Richtung und Methodik. Der Roman stellte Mitchell und ihr Team vor ein Problem, da er selbst in hohem Maße experimentell ist. Woolf bricht in The Waves mit erzählerischen Konventionen, indem sie die Narration primär über stream of consciousness Monologe ihrer sechs Hauptfiguren entwickelt. Sie selbst nannte den Roman ein “playpoem”. 13 Das heißt, dass Mitchell nicht nur die intermediale Grundfrage der Adaption eines Mediums (Roman) in ein anderes (Theater) zu bewältigen hatte, sondern die Adaption eines bereits in sich genre-transzendierenden Textes, der Charakteristika von Epik, Poesie und Drama vereint. Da der Roman eine erzählerische Vorstellung und Entwicklung der Charaktere des Romans verweigert (die Narration ergibt sich nur implizit durch die inneren Monologe), stellte sich aus praktischer Sicht zusätzlich die Frage, wie Schauspieler diese Charaktere darstellen sollten. Mitchell berichtet, dass der Intendant des National Theatre, Nicholas Hytner, in einer frühen Probenphase fand, dass Geschichte und Charaktere in hohem Maße unklar blieben. 14 Mitchells Lösung bestand darin, das Medium des Films für die Inszenierung zu nutzen. Dem Kino geschulten Publikum könne man Charaktere in wenigen Filmbildern plausibel machen, wo das Theater Szenen, Dialoge und Handlung “An entirely new art form” 105 benötige. Um der Hybridität der Vorlage gerecht zu werden, entschied Mitchell, dieser mit einer ebenfalls aus unterschiedlichsten Elementen zusammengesetzten Theatersprache zu begegnen, die die Wahrnehmung der Zuschauer in vergleichbarer Weise fordert, wie es die experimentelle Romanstruktur Woolfs tut. Diese hybride Theatersprache gilt es genauer zu untersuchen. Zunächst fällt auf, dass Mitchell zum einen eine deutliche Trennung verschiedener Ausdrucksebenen vornimmt, zum anderen aber gleichzeitig ihre verblüffende Synthese in einem live projizierten Filmbild vorführt (s. Abb. 1 und 2). Der Kritiker Neil Blackadder beschreibt diesen Vorgang: For instance, as one actor spoke a young woman’s stream-of-consciousness, another actor used props to make the sounds she described; a third embodied the character; a fourth directed a lamp at her face, held up a sheet of Plexiglas, and sprayed it with water; a fifth actor shot the live-video footage we saw of a woman looking out of a window on a rainy day. Later, we viewed seven actors seated on the same side of a long table, but above them the video convincingly suggested that they were facing one another. 15 Diese Schichtung und partielle Verzahnung ist faszinierend zu beobachten, weil sie dem Zuschauer 16 zu jeder Zeit die Wahl überlässt, sich ganz der beeindruckenden Choreographie der fragmentierten Bild- und Klangerzeugung zu widmen oder deren Ergebnis in Form des projizierten Films, oder - und das werden die meisten Zuschauer wählen - kontinuierlich zwischen den verschiedenen Ebenen hin und her zu springen. Dieses Oszillieren der Aufmerksamkeit erzeugt eine Synthese zweiter Ordnung: Für kaum einen Zuschauer stellt der Film die eigentliche Synthese dar - nur sehr wenige werden sich ausschließlich auf das Filmbild konzentrieren, d.h. der Film wird selbst immer nur in Fragmenten wahrgenommen. Die Synthese besteht - für jeden Zuschauer individuell - in dem “Zusammensehen” und “Zusammenhören” von allen theatralen Aktivitäten und ihrer filmischen Wiedergabe, die jedoch nie gleichzeitig gesehen werden können. Das szenisch-mediale setting ist ein Experiment sowohl für die Ausführenden als auch für die Zuschauer. Hybrid und Fragment: vertikale und horizontale Ebenen der Darstellung Für die Ausführenden ist die Aufführung ein hochkomplexes Hybrid aus unterschiedlichen technischen, musikalischen und darstellerischen Aufgaben. 17 Jeder Darsteller agiert in kürzesten Zeitabständen abwechselnd als Kameramann, foley artist, Beleuchter, grip, voice over und Schauspieler. In anderen Worten heißt das: Die Darsteller sprechen die Texte, die hier stets den Charakter von Kommentaren aus dem Off haben; sie spielen stumm Situationen und Begegnungen, agieren stumme Blicke, Haltungen, Emotionen, Verhalten; sie rangieren Bühnenbildelemente hin und her, die innerhalb der stets eng gehaltenen Kadrierung des Filmbildes hinreichend Orte charakterisieren (Wohnzimmer, Bad, Zug, Restaurant); sie erzeugen die Geräusche zu den gefilmten Handlungen (Schreiben, Tee Trinken, Essen); sie beleuchten mit Schreibtischlampen die jeweilige Szene; und sie erzeugen Spezialeffekte wie künstlichen Regen oder geisterhafte Imaginationen durch Spiegeleffekte (s. Abb. 2). Das Experiment für die Darsteller besteht meines Erachtens in einer Doppelfragmentierung ihrer Aufgaben: Die eine Fragmentierung verläuft auf der Zeitachse gewissermaßen horizontal und besteht in der enormen Anforderung, die rasanten Aufgabenwechsel übergangslos zu absolvieren. Die zweite quasi vertikale Fragmentierung besteht darin, dass viele der beschriebenen Aufgaben in sich wiederum verteilt sind. Ein Schauspieler spielt beispielsweise, dass er Tee trinkt; der Vorgang wird im Film allerdings durch den 106 David Roesner Abb. 1: Räumliche Trennung auf der Bühne und Synthese im Filmbild. Szene aus Katie Mitchells Waves. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Stephen Cummiskey) Abb. 2: Filmische Spezialeffekte - szenisch handgemacht. Szene aus Katie Mitchells Waves. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Stephen Cummiskey) “An entirely new art form” 107 Abb. 3: Fragmentierung der Darstellung. Szene aus Katie Mitchells Waves. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Stephen Cummiskey) Schnitt zwischen wechselnden Einstellungen auf seinen Oberkörper und - in einem point of view shot - auf seine Hände und den Tisch vor ihm gezeigt. Die point of view Einstellung entsteht aber an einer anderen Stelle eines langen Tisches (s. Abb. 3), an dem ein anderer Schauspieler mit dem gleichen Teeservice hantiert, was dann durch virtuoses Timing im Live-Schnitt wie ein Vorgang aussieht. Für den zweiten Darsteller heißt das aber, dass er zwar im horizontalen Kontinuum eine darstellerische Aufgabe übernimmt, diese aber vertikal fragmentiert ist, da er lediglich den Arm einer Figur spielt. Ähnliches gilt für andere Aufgaben: Zwei Darsteller an entgegengesetzten Enden der Bühne produzieren die Geräusche für die eben skizzierte Szene, aber auch sie decken jeweils nur Teile dieser Aufgabe ab: Einer übernimmt das Schlürfen, ein anderer das Klappern der Tasse auf der Untertasse (s. Abb. 3). Distanz vs. Immersion / suspension vs. affirmation of disbelief Auf der Zuschauerseite resultiert dieses Darstellungsexperiment in einem Kontinuum an Wahrnehmungsangeboten, die zwischen Einladungen zur Synthese und irritierenden Dissoziationen schwanken. Als Zuschauer kann man in beinahe jedem Moment der Aufführung zwischen einer suspension of disbelief und einer affirmation of disbelief wählen, da die Angebotspalette stets sowohl immersive Fiktion als auch das verfremdende Ausstellen ihrer Gemachtheit umfasst. Ein wesentliches Interesse entsteht für den Zuschauer aus der hohen Fluktuation von szenischen Vorgängen, deren Synthese plausibel und nachvollziehbar erscheint, und solchen, bei denen wir uns selbst verblüfft dabei beobachten, Ebenen zusammenzudenken, die eigentlich nicht zusammenpassen. Plausibel ist es zum Beispiel, wenn wir im Film in einer nahen Einstellung eine Figur gehen sehen und 108 David Roesner diesen Eindruck durch den Klang von Schritten bestätigt finden, auch wenn dieser Klang offensichtlich an einer anderen Stelle der Bühne von einem anderen Darsteller durch Gehen auf der Stelle produziert wird. Eine Schuss-Gegenschuss-Montage eines Gesprächs hingegen, deren Beteiligte sich entgegen unseres Eindrucks vom Filmbild eben nicht gegenübersitzen, sondern weit auseinander und einander nicht zugewandt (s. Abb. 1), lässt unsere filmische und theatrale räumliche Orientierung einander widersprechen. Ein anderes Beispiel ist der Fall, wenn Filmbild und Ton plausibel zusammenpassen, wie z.B. beim Beschreiben und Auswischen einer Tafel vor jedem der sieben Teile der Aufführung, wir aber beobachten können, dass die ‘passenden’ Geräusche mit ganz anderen Mitteln erzeugt werden. Lyn Gardner beschreibt dieses Wechselbad aus Immersions- und Distanzierungsangeboten als “merkwürdige und beunruhigend gespaltene Sinneswahrnehmung”: […] the multi-stranded, non-linear, nonnarrative stream of consciousness unfolds with the fluidity of running water. It feels shockingly intimate and oddly dispassionate, and neither film nor live action alone could come anywhere close to achieving this curious and disconcerting split sensation. 18 Ich will drei Konsequenzen hervorheben, die meines Erachtens aus diesem Spiel mit Immersion und Verfremdung hervorgehen: die Ästhetik des Prozesses, die Dynamisierung von Hierarchien und der ‘doppelte Reiz’, an dessen Erörterung sich eine längere Diskussion des besonderen Intermedialitätsgefüges bei Mitchell anschließt. Die Ästhetik des Prozesses Mitchells Inszenierung räumt der Prozessualität viel Raum ein. Christopher Campell beschreibt, dass ihm bei einem Probenbesuch häufig nicht ganz klar war, ob er bereits einer Darstellung, also einem Probenresultat, oder lediglich dem Versuch ein bestimmtes Problem zu lösen, also einem Probenprozess, zusah. 19 Der springende Punkt scheint mir aber zu sein, dass bereits diese Unterscheidung nicht mehr greift. Auch bei einer Aufführung von Waves sieht man stets gleichzeitig dem Resultat einer Arbeit sowie einem Arbeitsprozess zu, den die Aufführung zum einen als solchen ausstellt und kenntlich macht, ihm aber gleichzeitig einen ästhetischen Eigenwert verleiht. Die konzentrierte Geschäftigkeit, mit der die Schauspieler ihre stets wechselnden Aufgaben versehen, entfaltet eine eigene Theatralität und Schönheit, die mit dem Stoff von Waves eigentlich nichts mehr (oder: noch nichts) zu tun hat, aber zurecht als ästhetischer Vorgang - einer Choreographie nicht unähnlich - beschrieben wurde; ein Effekt, der sich auch jenseits der einzelnen Produktion zu wiederholen scheint, wie eine Beschreibung von Wunschkonzert nahelegt: Im Gegensatz zur Statik des Gefilmten und Projizierten ist auf der Bühne im Off der Kameras stets Bewegung, Kameras und Beleuchtung werden auf- und abgebaut, Requisiten arrangiert, Kostüme gewechselt, die Crew ist geschäftig. Die Synchronizität von Ton- und Bildmaschinerie, von Totale und Detail, von Bühne und Leinwand bietet eine gute Stunde lang eine faszinierend präzise Choreographie der Produktion des filmischen Scheins. 20 Auf die Bedeutung der Prozesshaftigkeit im Bereich eines forschenden, experimentellen Theaters werde ich im dritten Teil noch einmal zurückkommen, wenn ich auf einige der Paradoxien von forschender Theaterpraxis eingehe, wie zum Beispiel auf das Spannungsverhältnis von Prozess- und Ergebnisorientierung. Die Dynamisierung von Hierarchien 21 Mitchells Inszenierung geht mit einer Dynamisierung von Hierarchien der theatralen “An entirely new art form” 109 Ausdrucksebenen einher. Während einerseits scheinbar alle Ausdrucksmittel ihrer Synthese im Film zuarbeiten und innerhalb des Films klar dem Filmbild und dem voice over Text untergeordnet sind, bricht die Offenlegung des Entstehungsprozesses diese Hierarchisierung wieder auf. Im theatralen Gesamtgefüge kann hier auch das Erzeugen von Schrittgeräuschen oder das Sprühen von künstlichem Regen auf eine Scheibe ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und Text oder Film in den Hintergrund treten lassen. Eine zweite hierarchische Achse kommt dabei in Bewegung: die Verbindung der beiden Pole ‘Bühne’ als Bedeutungserzeuger einerseits und ‘Zuschauerraum’ als Bedeutungsempfänger andererseits. Diese Achse beschreibt gewöhnlich einen eher einseitigen Informationsfluss (von der Bühne zum Zuschauer) und wird hier durch ein dynamischeres Konstrukt ersetzt: Viele Bedeutungs- Pfeile verbinden nun Bühne und Zuschauerraum und verlaufen in beiden Richtungen. 22 Durch die Multiplizierung der Fokusse einerseits und die Aufwertung der synthetisierenden und dissoziierenden Wahrnehmungen des Zuschauers andererseits wird die Inszenierung zu einem lebendigen Basar der Wahrnehmungs- und Bedeutungsangebote, verhandlungen und -transaktionen. Eine solche Aufwertung beschreiben George Fisher und Judy Lochhead in einem anderen Zusammenhang unter Bezug auf Peggy Phelan als die Performativität des Sehens: Seeing is performative then in the sense that it is creative and continually refreshed. Further, in her insistence that ‘all seeing is performative’ Phelan adopts a Merleau-Pontyian notion that ‘those who watch’ will bodily enact perceptual meaning in ways similar to ‘those who make’. 23 Auch wenn diese Performativität laut Phelan für alles Sehen gilt, bestehen m.E. doch graduelle Unterschiede, inwieweit eine Inszenierung ein solches Sehen begünstigt und herausfordert. Waves scheint mir dieses aktive, Bedeutung erzeugende Sehen in besonderer Weise zu befördern. Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Erkenntnispotential der Inszenierung deutet sich hier bereits an, dass sich nicht nur der methodische Zugang zu neuer Erkenntnis durch Praxis von anderen Forschungmethoden unterscheidet, sondern auch die Art des Wissens eine andere ist. Ich werde diesen Aspekt einer Neubewertung von Wissen im dritten Teil genauer betrachten. Der ‘doppelte Reiz’ In gewisser Weise ist der Reiz, der von dem in Waves erzeugten Spannungsverhältnis zwischen suspension und affirmation of disbelief ausgeht, dem “doppelten Reiz” nicht unähnlich, den Johann Wolfgang von Goethe bei der Betrachtung von Männern in Frauenrollen in den “römischen Komödien” empfand. 24 In seiner Beobachtung ist es gerade die Gleichzeitigkeit von Illusion und ihrer Aufdeckung, die er mit dem Paradox der “selbstbewußten Illusion” auf den Begriff bringt, die theaterästhetisch erstrebenswert ist. Bernhard Greiner formuliert das so: Der Mann mag die weibliche Figur noch so perfekt vorstellen, so weiß der Zuschauer doch in jedem Augenblick gleichzeitig, dass es ein Mann ist, der eine Frau spielt. Dieses Zugleich ist der Fluchtpunkt der Theaterarbeit: über dem Dargestellten (auf das als Abwesendes verwiesen wird und in das durchaus illusioniert werden soll) die Darstellung unter den jeweiligen Bedingungen der Wirklichkeit hier und jetzt von Schauspieler und Publikum (als Anwesenden) nicht zu vergessen, diese Dopplung vielmehr gerade zu betonen. ‘Selbstbewußte Illusion’ als Ergebnis solchen Spiels ist eine Illusion, die zugleich einbekennt, dass sie Illusion ist. 25 Auch bei Katie Mitchell sind die (filmische) Illusion und das Bewusstsein ihrer Hervorbringung stets gleichzeitig präsent. Die schau- 110 David Roesner spielerischen Darstellungen zielen nie auf vollständige Verkörperungen, Verschmelzungen oder Selbstdarstellungen, sondern sind eine künstlerisch organisierte Präsentation von mosaiksteinartigen Verhaltensmomenten - ein Blick aus dem Fenster, das Eingießen einer Tasse Tee, das Schreiben eines Briefes -, die mit großer Detailgenauigkeit “studiert” und “wieder hervorgebracht” werden. 26 Insbesondere gilt dies auch für die offengelegte Geräuscherzeugung: Ein bestimmter Klang wird genau imitiert, doch die Differenz zwischen dem verweisenden Klang und dem visuellen Signifikat wird spielerisch herausgestellt. Anders als bei den römischen Komödien ist jedoch nicht eine gegengeschlechtliche Besetzung der Auslöser für den doppelten Reiz und das Paradox einer selbstbewussten Illusion, sondern die intermediale Versuchsanordnung, die ich nun etwas genauer untersuchen werde. Intermedialität Intermediality as a concept is no longer reduced to being confined to the mere use of various media technologies in live performance; not as being confined to the computerized media-cultural economy in the early years of the twenty-first century. Rather it is an effect performed in-between mediality, supplying multiple perspectives and foregrounding the making of meaning rather than obediently transmitting meaning. 27 Katie Mitchells Inszenierung ist nicht nur eine raffinierte Schichtung, Verzahnung und Trennung theatraler und filmischer Ausdruckmittel, sie ist auch ein komplexes Beispiel von Intermedialität als einer experimentellen Strategie, um etablierten Kunstformen und Medien durch die wechselseitige Verschränkung, Übersetzung und Vereinnahmung neue Arbeitsweisen, Ästhetiken und Wahrnehmungsgefüge zu entlocken. Waves ist eine Art intermediale russische Matrjoschka-Puppe: In einer Inszenierung steckt ein Film einer Bearbeitung eines Romans, der gleichermaßen poetische und dramatische Konventionen benutzt. Folgt man der Differenzierung verschiedener Formen von Intermedialität, wie Jörg Schröter sie vorschlägt, schachteln sich hier eine Reihe unterschiedlicher theoretischer Modelle von Intermedialität ineinander. 28 Betrachtet man die Aufführung als Ganzes, greift Schröters Begriff der “Synthetischen Intermedialität”: verschiedene Medien verschmelzen in Waves zu einem neuen Ganzen, einem neuen Intermedium 29 : Sichtbares- Produzieren-eines-Live-Films-auf-einer- Theaterbühne-nach-einem-Roman. Dieses Verschmelzen geschieht aber bei Mitchell nur momentweise, weil sie das Trennende genauso stark macht wie das Verbindende. Es ist eine intermediale Kippfigur: Wenn man den Blick ein wenig unscharf stellt, kann man Ton und Bild, live und gefilmt, Wort und Handlung, Bühne und Musik als Eines wahrnehmen, doch sobald man eines der Elemente fokussiert, kippt man zurück in die Betrachtung der Teile und ihrer Nahtstellen, Zerfaserungen und Verflechtungen. Auch Spielarten von ‘trans-medialer Intermedialität’ lassen sich in Waves konstatieren. Dieser Modus basiert “on the assumption that methods and modes of representation (aesthetic conventions) operate in several media” 30 und bringt medienübergreifende Grundprinzipen als tertium comparationis ins Spiel, wie etwa Rhythmus, Narration, Perspektive, Metapher etc. 31 Waves thematisiert die Frage nach diesen Grundprinzipien gerade durch das Wechselspiel von Dopplung und Ergänzung zwischen den Medien. Mal wird das im Text Beschriebene auf der Bühne gezeigt und im Film nochmals wiedergegeben, mal divergieren Text, szenisches Spiel und Filmbild deutlich oder ergänzen sich. So gibt es etwa eine Passage, in der eine der Figuren ansetzt einen Brief zu schreiben (s. Abb. 4). Der innere Monolog beschreibt “An entirely new art form” 111 Abb. 4: S. 41 der Dokumentation von Waves. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Leo Warner) ausführlich die Aspirationen des Schreibers, das Filmbild fokussiert hingegen die Materialität der Schreibutensilien, der Soundtrack die Klanglichkeit, während der Schauspieler versucht, den Beschreibungen des Textes ein Gesicht zu geben. 32 Die beschriebene Situation ist in allen Medien die gleiche, aber das Spiel mit Klanglichkeit, Rhythmus und Perspektive variiert deutlich. Dem Zuschauer werden also medienspezifische Ausformungen medienunspezifischer ästhetischer Prinzipien zum Vergleich angeboten. Bei Schröters ‘transformationaler Intermedialität’ handelt es sich um die Repräsentation eines Mediums in einem anderen Medium: Diese Praxis durchzieht die Aufführung von Waves und ihre Problematisierung scheint mir das Besondere dieser Arbeit auszumachen. Viele Theaterinszenierungen basieren auf Romanen, viele nutzen Film oder Video auf der Bühne, in vielen wird live musiziert. Transformationale Repräsentationen, so Chapple und Kattenbelt, “always have ontological implications because they assume an awareness of the ontology of the medium”. 33 Interessant ist nun aber bei Waves, dass Katie Mitchell hier stets mit diesem Bewusstsein über das ‘Wesen’ der Medien spielt. Die 112 David Roesner Medien des Romans, des Films, des Schauspiels werden im Rahmen des Theaters repräsentiert, aber ihre Charakteristika werden gleichzeitig in Frage gestellt: Der Roman wird sowohl zur szenischen Lesung als auch zum filmischen voice over, der Film ist hier kein konservierendes Medium, sondern ebenso ephemer wie das Theater, und das Schauspiel ist ein Hybrid aus task performance, Bühnentechnik, Geräuschemachen und Camera- Acting. Mitchells intermediales Experiment ist somit nicht zuletzt eine Dekonstruktion intermedialer Praktiken und führt die Vorstellung stabiler Medien-Ontologien ad absurdum. Das hat zum einen zur Folge, dass die Faszination an Mitchells Experiment zu einem nicht geringen Teil durch den performativen Überschuss hervorgerufen wird, der in Mitchells besonderer intermedialer Versuchsanordnung dadurch entsteht, dass keine der intermedialen Übertragsrechnungen ohne Rest aufgeht. So gibt es beispielsweise bei den kontinuierlich offen gelegten Bemühungen, den Live-Film zu erzeugen, performative Rückstände: Wenn ein Schauspieler einem anderen hilft ein Kamera-Kabel zu entwirren, ein anderer sich Requisiten noch einmal zurechtrückt, ein Dritter einen Moment lang konzentriert wartet, bis er auf seine Position kann, dann sind dies Momente einer ganz unbewussten theatralen Präsenz, die ich als Zuschauer nicht mit dem entstehenden Film verrechne, sondern um ihrer selbst willen betrachte. Zum anderen ist Mitchells Arbeit ein Paradebeispiel für eine emergente Narration. 34 Die Erzählung entsteht aus dem Wechselspiel der Medien und ihren Zwischenräumen, dem in-between, dessen Bedeutung für intermediale Performances Chapple und Kattenbelt betonen. 35 Ein Kennzeichen von Emergenz ist laut Steven Johnson die Bewegung von “low-level rules to higher-level sophistication”. 36 Und Peter Corning ergänzt mit Bezug auf Jeffrey Goldstein: “Emergence refers to ‘the arising of novel and coherent structures, patterns and properties during the process of self-organization in complex systems’”. 37 Wenn man für Mitchells Produktion das Neuartige bei der intermedialen Erzählform ansiedelt, besteht die Emergenz in diesem Versuchsaufbau darin, dass keine der beteiligten Instanzen oder Aktanten (wie Bruno Latour das unter Einbeziehung technologischer ‘Akteure’ nennt 38 ) die resultierende Erzählung verantwortet, sondern diese das Produkt der Selbst-Organisation von Schauspielern, Texten, Geräuschen, Kameras, Requisiten, Lampen, Musik und dem selektiven Blick der Zuschauer ist. Obwohl die Inszenierung in sich bereits hoch organisiert ist, lässt sie durch ihre Prozesshaftigkeit und die Mosaikartigkeit ihrer Bestandteile viel Raum für eine Emergenz des Verstehens und des Erzählens in der Aufführungssituation. 39 Aus der Interaktion des Zuschauers mit den beteiligten Medien und dem Spinnen des Netzes in-between entsteht einerseits die Vielfalt der Geschichten, die auf Woolfs Roman basieren, andererseits darüber hinaus eine Vielfalt an Geschichten über das Geschichtenerzählen selbst. So schreibt Neil Blackadder: “These inventively composed images prompted the audience to ponder how we see, how we experience, and how we remember”. 40 In gewisser Weise ist natürlich jede Theaterinszenierung ein potentiell emergentes komplexes System aus Aktanten, aber graduell ist das Maß der Verantwortung eines Schauspielers für die Geschichte seiner Figur in einer Inszenierung psychologischer Prägung viel höher. Hier verkörpert er die Figur, während er bei Mitchell einmal ihren inneren Monolog spricht, ihr ein andermal sein Gesicht leiht, ihre Geräusche produziert oder nur ihren Arm ‘spielt’. Erst dadurch, dass bei Mitchell die Aufgaben der Akteure auf “lowlevel rules” basieren statt auf hoch entwickelter Verkörperungskunst, eröffnet sich die “An entirely new art form” 113 Möglichkeit zur Emergenz zu “higher-level sophistication”. 41 Ich will nun abschließend versuchen, einige der Beobachtungen, die ich anhand von Waves angestellt habe, auf ihre Bedeutung für eine forschende Theaterpraxis hin zu befragen. Obwohl ich fest vom Wert solcher Practice as Research überzeugt bin, schien es mir angemessen, einige der Implikationen solcher Forschung als Paradoxien zu formulieren. 3. Paradoxien einer forschenden Theaterpraxis Ich habe in der Aufführungsanalyse von Waves versucht, den experimentellen Charakter der Aufführung und ihre Eigenschaften als Versuchsaufbau für neue Formen der Darstellung, Wahrnehmung und Intermedialität herauszuarbeiten. Experimente haben üblicherweise ihren angestammten Ort in der Forschung. Experimente sollen dabei helfen etwas herauszufinden, eine Prämisse zu überprüfen oder eine theoretische Frage mit empirischer Beobachtung zu paaren. Ihr Ziel ist es, sowohl das theoretische Rüstzeug als auch das praktische Instrumentarium zu stärken und zu schärfen. Experimente dienen außerdem dem Ziel der Erweiterung: dessen, was wir wissen, und dessen, was wir können. Natürlich unterscheiden sich Experimente in den Naturwissenschaften von denen in den Geisteswissenschaften. Die übergeordneten Forschungsziele beider divergieren deutlich. Wo die Naturwissenschaften Gesetzmäßigkeiten, Regeln und Gewissheiten zu erkennen und etablieren suchen, zielt geisteswissenschaftliche Forschung und künstlerische Praxis nicht selten auf das Transgressive, Individuelle, Ungewisse und Abweichende. Und anders als in den sozialwissenschaftlichen Fächern hat in den Kunst- und Kulturwissenschaften das Experiment als empirische Methode noch nicht so richtig Fuß gefasst. Dennoch hat die Idee, dass etwa eine experimentelle künstlerische Praxis eine Forschungsmethode sein kann, mittlerweile einen gewissen Aufschwung erfahren. Der Anspruch dieser sich verbreitenden Idee von Practice as Research bzw. einer forschenden Theaterpraxis ist, dass Praxis eine zentrale Funktion innerhalb eines Forschungsvorhabens einnimmt. Wenn man die Formel Praxis als Forschung ernst nimmt, geht es hier also nicht um die bloße Illustrierung, Anwendung oder Überprüfung von theoretischen Überlegungen. 42 Praxis als Forschung heißt, dass die künstlerische Arbeit selbst Methode und Ergebnis bei der Beantwortung einer Forschungsfrage ist. Darin liegen sowohl der Reiz als auch eine der Hauptschwierigkeiten. Erstes Paradox: Eigengesetzlichkeiten von Kunst und Forschung Beginnen wir mit den Schwierigkeiten: Forschung wird im Allgemeinen als ein Vorgang zur Generierung, diskursiven Verbreitung und zur Anwendung von Wissen gesehen, der methodisch selbstreflexiv, transparent und eindeutig ist, also Prämissen offen legt, Methoden begründet und Quellen zitiert. Künstlerische Praxis hingegen beruht meist auf einem polymethodischen patchwork, verschleiert ihren Prozess, zielt auf semantische Mehrdeutigkeit und auf vordiskursive Elemente wie Erfahrung und sinnliches Erlebnis - sowohl für Künstler als auch für Zuschauer - und ihre Verbreitung ist, im Falle des Theaters, flüchtig und nicht fixierbar. Es spricht also manches dafür, dass Praxis als Forschung ein Paradox ist, die Quadratur eines Kreises. Ich habe im britischen akademischen Kontext etliche Beispiele gesehen, die das bestätigen: Mal gerät die Praxis akademisch, trocken und langweilig, mal entwickelt sich eine aufregende Performance, die aber mit den Forschungsfragen und -methoden nur noch lose assoziativ verknüpft ist und in 114 David Roesner gewisser Weise als Kunst gelingt und als Forschung scheitert. Auf dem Kongress Europäische Dramaturgie im 21. Jahrhundert (Universität Frankfurt, September 2007) sagte Marianne Van Kerkhoven, eine der führenden Dramaturginnen der Niederlande und Belgiens und Dozentin an der Universität Utrecht, sinngemäß, sie begrüße es, dass Theaterpraktiker und Theaterforscher eine Brücke zwischen sich gebildet hätten und häufiger das “Territorium” des jeweilig anderen besuchten, aber Kunst bleibe Kunst, und Forschung bleibe Forschung, und sie fände es sehr problematisch, sich mitten auf der Brücke dazwischen häuslich einrichten zu wollen. Van Kerkhoven bekräftigt also die Eigengesetzlichkeit von Kunst und Forschung, fordert sie geradezu ein und stellt die Vereinbarkeit beider grundsätzlich in Frage. Die Erfahrung gibt ihr m.E. bisher Recht. Das Beispiel Waves zeigte, dass die Inszenierungsarbeit nach dem anfänglichen Forschungsimpetus eher einer künstlerischen Eigendynamik folgte. Die Arbeit ermöglicht zwar sowohl für Akteure, Zuschauer und Forscher einen Erkenntnisgewinn, die Erfahrung eines Experiments und seiner Entdeckungen, aber die Inszenierung selbst ist keine Veröffentlichung im akademischen Sinne und will es auch nicht sein. Universitäre Forschungsprojekte oder auch sogenannte practice-led oder practicebased PhDs, die explizit als Practice as Research gekennzeichnet, mit Drittmitteln gefördert und evaluiert bzw. benotet werden, umgehen das Paradox in unterschiedlicher Weise, aber lösen es nicht auf. Eine pragmatische Lösung besteht häufig darin, zu akzeptieren, dass forschende Praxis in ihrer Zweckgebundenheit zwar eine Erkenntnis leitende Methode sein kann, aber eben nicht auf Kunst zielt, sondern auf ein Forschungsergebnis. Forschende Praxis ist hier - im besten Sinne - Kunsthandwerk; ein künstlerisches Tun, das in seinem Zweck aufgeht, während Kunst weiterhin immer auch von einem Überschuss an Bedeutung und Sinnlichkeit, von prä- und postdiskursiven Elementen und von Zweckfreiheit bestimmt ist. Mitchells Inszenierung primär unter den Aspekten ihres Erkenntnis- und Erfahrungspotenzials für Darsteller und Zuschauer zu betrachten, wie ich das getan habe, zeigt die Neuigkeit, die Diskursivierbarkeit und Intelligenz dieser Arbeit, unterschlägt aber das Staunen und Überwältigtsein der Zuschauer und die schiere Schönheit der Aufführung. Zweites Paradox: Explizite und implizite Forschung Obwohl Practice as Research den Anspruch hat, in und durch Praxis zu forschen, braucht es stets eine Etikettierung und Kontextualisierung von außen, damit eine künstlerische Praxis als Forschung gelten darf. Es wird der Praxis also gleichzeitig intrinsischer Wert als Forschung zugesprochen, die Kriterien aber werden nach außen verlagert, in ein von den Theatermachern explizit zu formulierendes Forschungsvorhaben. Die drei Faktoren, die beispielsweise das Arts and Humanities Research Council Englands vorsieht, sind dafür ein klarer Beleg: Als Forschung wird gewertet, was eine oder eine Reihe von Forschungsfrage(n) (research question[s]) formuliert und deren Beantwortung verfolgt. Forschung muss sich außerdem in einem relevanten wissenschaftlichen Zusammenhang oder Stand der Forschung verorten (research context) und schließlich seine Methodik transparent machen (research methods). 43 Angela Piccini schreibt dazu, “that context is the most significant of the assessment criteria - how the practitioner situates the work as ‘fit for purpose’”. 44 Katie Mitchells Arbeit ist in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel für eine Arbeit, die intrinsisch zwar als künstlerisches Labor mit interessanten Ergebnissen gesehen werden kann, die aber im Kriterienkatalog der AHRC nicht als Forschung gelten “An entirely new art form” 115 dürfte. Mitchell folgte zwar zunächst ausdrücklich einem Forschungsimpuls oder “research imperative”, dieser wurde aber spätestens durch die Kommission der Inszenierung durch das National Theatre von einem “professional imperative” 45 abgelöst - der “purpose” oder Zweck, von dem Piccini spricht, ist nun ein anderer. Die Forschungsfrage bleibt zwar erhalten, aber Forschungskontext und Methodologie treten gegenüber der Pragmatik des Theatermachens als auch der künstlerischen Eigendynamik in den Hintergrund. Auch die Dokumentation der Arbeit trägt nicht die Merkmale eines Forschungsergebnisses, sondern liefert eher Material für research about practice. 46 Drittes Paradox: Neubewertung von Wissen Eine forschende Theaterpraxis schafft zwar neues Wissen, nicht selten stellt sie jedoch in Frage, was wir Wissen nennen. Das Wissen, das in einer Aufführung verkörpert, vermittelt und erfahren wird, lässt sich nicht “getrost nach Hause tragen”. 47 Forschung als Praxis erfordert eine Neubewertung von Wissen. Wissen ist hier ein Prozess der Erkenntnis, der in Gang gesetzt wird und eher durch das Verb ‘wissen’ als durch das Substantiv ‘Wissen’ beschrieben werden kann. 48 Wissen wird zu einem aktiven, dynamischen Vorgang und damit selbst wieder zu einer Praxis. 49 Katie Mitchell hat in ihrer Inszenierung eine Versuchsanordnung aufgebaut, die dem Zuschauer nicht einfach das Ergebnis eines Experiments präsentiert, sondern ihn daran teilhaben lässt. Diese Art der Verschiebung haben Ian Sutherland und Sophie Krzys Acord anhand von Beispielen aus Musik und Bildender Kunst als eine Abwendung von einer “isolation of knowledge in the artistic artifact, separated from its production and the evolving reception” beschrieben. 50 Stattdessen, so schlagen sie vor, eröffne sich Wissen als ein verkörpertes, stillschweigendes und kontextabhängiges Phänomen: Knowledge production happens as a combined effort of creators, technology, mediators, artistic works, contexts and recipients - permeable and material art worlds. Knowledge is, therefore, best understood as an embodied, tacit and contextualized phenomenon, varied and subjective: a verb rather than a noun. 51 Angela Piccini unterschiedet ganz vergleichbar das “knowing how” und “knowing that”, 52 kritisiert allerdings auch zurecht eine allzu schematische Gegenüberstellung, die “critical-theoretical research” und “practice as research” als Gegensatzpaar konstruiere. 53 Hence a focus on the ‘uniqueness’ of PAR’s production of knowledge (as embodied or otherwise) runs counter to the wider critical engagement with ‘knowledge making’ in the arts and humanities. PAR may significantly contribute alternatives to current ‘ways of knowing’ in that it crucially calls into question notions of, for example, ‘objectivity’ and ‘originality’. 54 Wo Piccini die dichotomische Gegenüberstellung von theoretischer und praktischer Forschung problematisiert, scheint mir darüber hinaus eine forschende Theaterpraxis die Stabilität der Kategorien ‘Theorie’ und ‘Praxis’ in Frage zu stellen und ihr Verhältnis neu zu bestimmen, was uns zu einem vierten Paradox führt. Viertes Paradox: Notwendigkeit und Unmöglichkeit der Theorie/ Praxis-Dichotomie Forschende Theaterpraxis basiert auf einer konzeptionellen Abgrenzung von Theorie und Praxis, die sie gleichzeitig zu problematisieren sucht. Diese Erkenntnis hat sich im englischsprachigen Raum vor allen in der praxisbetonten Arbeitsweise von universitären Theaterstudiengängen und Promotionen durchgesetzt und wurde unter anderem 116 David Roesner bereits 1998 von Christopher McCullough in seinem Buch Theatre Praxis (London) reflektiert. Er etabliert darin den im Englischen wenig gebräuchlichen Begriff der praxis als ein Verhältnis von theory und practice, die sich in einem zyklischen Wechselprozess befänden. The precise division between theory as a contemplative activity and practice as all action seems to crude a model. There is surely a form of action in theory in the form of verbal discourse, as there is contemplation and decision-making in practice. 55 Stephen Farrier ergänzt diese Bestimmung von praxis 56 um die Idee eines Fluidums zwischen Denken und Tun: The fluidity of moving from work to theory and back to work is probably familiar to most university teachers working in the studio. The fluidity of such a way of working is, I think, best expressed in the idea of praxis. […] Praxis can be seen as an axis around which the exploration of performance genres and processes can be questioned, along with their theoretical categories and considerations. 57 Die Feedback-Schleife zwischen theoretischen Überlegungen und praktischer Erprobung, deren Balance und ‘Drehmoment’ in jedem Projekt neu ausgehandelt werden müssen, erlaubt einen flüssigen Wechsel zwischen Außen- und Innensicht des theatralen Entstehens und Geschehens und ermöglicht so einen experimentellen, forschenden Zugang zur Theaterpraxis. Die Idee einer forschenden Theaterpraxis braucht also gleichzeitig die konzeptionelle Abgrenzung von Theorie und Praxis, um sich als eigenständiger methodischer Weg zu etablieren, muss aber in ihrer Ausübung die gedachte Dichotomie zwischen Theorie und Praxis aufzuheben suchen. Fünftes Paradox: “Outsider-versus-Insider-Perspektive” 58 Eine weitere problematische Dichotomie ergibt sich aus der eben erwähnten Feedback- Schleife, zwischen Theorie und Praxis und Außen und Innen: Es besteht ein wesentlicher Unterschied zu einem von der Naturwissenschaft her gedachten Begriff des Experiments als Forschungsmethode. Während sich im naturwissenschaftlichen Labor meist klar zwischen den Forschenden und dem Forschungsgegenstand unterscheiden lässt - sei es eine chemische Substanz, eine Zelle oder eine weiße Maus -, sind im Theaterlabor die Forscher meist auch ihr eigener Gegenstand und Versuchsobjekt 59 und müssen immer wieder neu Verfahren erfinden, wie dieses Paradox der teilnehmenden Beobachtung produktiv zu machen ist. 60 Vilém Flusser hat darauf hingewiesen, dass sowohl die Beobachtung ihren Gegenstand verändert und manipuliert (oder verändern muss, um ihn beobachten zu können), als auch, dass der Gegenstand den Beobachter verändert. 61 Dieses Problem haben natürlich alle Wissenschaften und innerhalb der Theaterwissenschaften alle Disziplinen, von der Historiographie bis zur Aufführungsanalyse, aber die häufige psycho-physische Untrennbarkeit von Forscher und Gegenstand in der praktischen Theaterforschung stellt ein graduell gravierenderes Problem dar, dem je individuell kreativ begegnet werden muss. Sechstes Paradox: Prozessvs. Ergebnisorientierung Obwohl Forschung in aller Regel ergebnisorientiert ist, führt die methodische Öffnung zur forschenden Theaterpraxis unter anderem zu einer Betonung des Prozesses in der Arbeit und der Aufführung. Forschungsgeleitete Theaterexperimente bewahren häufig ihre Prozesshaftigkeit auch in der Aufführung und legen Teile ihres Entstehungsprozesses offen. Das ermöglicht eine für Forschung erforderliche Transparenz und Nachvollziehbarkeit und demonstriert methodische Selbstreflexivität, schafft aber häufig gleichzeitig eine Ambiguität und Un- “An entirely new art form” 117 abgeschlossenheit, die zusätzlicher Kommentierung bedarf, um Teil einer Forschungsveröffentlichung sein zu können. Bei Katie Mitchell war diese Offenlegung des Übersetzungsprozesses von Virginia Woolfs Sprache in eine Theatersprache deutlich zu sehen, wurde aber nicht als Ergebnis präsentiert, sondern als - offene - Erfahrung zugänglich gemacht. Für die Kunst hat ein research imperative positiv zur Folge, dass sich der forschende Experimentalcharakter auch im Arbeitsprozess selbst niederschlägt, indem hier etablierte und erprobte Arbeitsweisen in Frage gestellt werden. Bei Katie Mitchell stand nicht der Text oder die Institution des National Theatre an erster Stelle des Prozesses, sondern eine Fragestellung: “Will investigating the relationship of other arts and other forms of writing lead to the creation of a different type of language for theatre? ” Dann erst erfolgte die Wahl von Waves als Material und Gegenstand, und dann ein Proben- und Forschungsprozess in Zusammenarbeit mit einem Team, innerhalb dessen bestimmte Arbeitshierarchien und -chronologien neu verhandelt werden mussten. So wurden Videodesigner Leo Warner und Sound Designer Gareth Fry schon viel früher als sonst üblich in den Entwicklungsprozess involviert und waren nicht Ausführende eines Regiekonzepts, sondern integraler Bestandteil eines eher emergenten Prozesses. 62 Für die Theaterwissenschaft ist hier also zusätzlich ein Desiderat hinsichtlich der methodischen Schwierigkeiten entstanden, welche die Erforschung und Reflexion von theatralen Entstehungsprozessen mit sich bringen. Über die forschende Theaterpraxis hinaus gilt es hier die Entwicklung und Fundierung von “genetic research” 63 (etwa: Geneseforschung oder Prozessanalyse), wie Josette Féral es nennt, voranzutreiben. 64 4. Zusammenfassung An Katie Mitchells Inszenierung Waves habe ich versucht, das Potential und einige der Schwierigkeiten der Idee eines Theaterlabors bzw. einer experimentellen Theaterpraxis zu zeigen. Während in vielen historischen Formen von Theaterlaboratorien entweder die Arbeit des Schauspielers an sich selbst und seiner Rolle privilegiert wurde oder die theatrale Situation selbst innerhalb von Happenings, Zufalls-Aktionen sowie durch Verweigerungstrategien gegenüber Figur und Narration in Frage gestellt wurde, ist bei Mitchell eine Vereinigung dieser historischen Stränge zu beobachten. Es findet sowohl eine Reflexion über das Darstellen als auch über das Wahrnehmen und das Wechselspiel verschiedener Medien auf dem Theater statt, wobei gleichzeitig immer noch (oder wieder) eine Geschichte erzählt wird und Figuren entstehen. Mitchells Inszenierung ist ein Beispiel dafür, dass Theaterpraxis durchaus Forschung im Sinne einer Vermehrung der Erkenntnis und Erfahrung sein kann. An Beispiel ihrer Inszenierung ließen sich aber gleichzeitig auch einige der Paradoxien, die dem Projekt einer “forschenden Theaterpraxis” innewohnen, herausarbeiten. Forschende Theaterpraxis trägt der Erfahrung Rechnung, dass es Aspekte des Theatermachens und der Reflexion über Theater gibt, die sich nur durch künstlerisches Tun erforschen lassen. Dass das Resultat aufgrund der methodischen Anforderungen keine Kunst mehr ist, gehört zu den Kosten dieser Unternehmung, verringert aber meines Erachtens nicht ihren Wert als Praxis oder als Forschung. Im besten Fall generiert die forschende Theaterpraxis eigene, neue Formen des kreativen Arbeitens und der Publikation durch Aufführung, die sich nicht ex negativo als defizitäre Forschung oder defizitäre Kunst definieren, sondern neu verstandenes Wissen auf neue Weise erfahrbar machen. 65 Katie 118 David Roesner Mitchell ist hierfür kein Paradebeispiel, da in ihrem Projekt Waves institutionell bedingt der Forschungsanspruch dem Kunstanspruch gewichen ist, aber das ästhetische und darstellerische Prinzip, das sie mit Waves erfunden hat, ließe sich m.E. bestens für weitere Forschung - gerade im Bereich der Intermedialität, der fragmentierten Wahrnehmung und Darstellung und ihrer narrativen Synthese - fruchtbar machen. Abbildungen Abb 1-3: Inszenierungsfotos Waves, Fotograf: Stephen Cummiskey Abb 4: Seite 41 der Dokumentation von Waves 66 , Fotograf: Leo Warner Notes 1 “The Waves at the National Theatre is that rarely sighted beast, a performance where theatre and video come together so seamlessly and complement each other so exquisitely it is as if Mitchell, her actors and video artist Leo Warner have created an entirely new art form.”; Lyn Gardner, “Waves sets a high-water mark for multimedia theatre”, in: http: / / www.guardian. co.uk/ stage/ theatreblog/ 2006/ dec/ 04/ wavessets ahighwatermarkfo, 04.12.2006 [14.03.2009]). 2 Vgl. Heiner Goebbels, “Der Kompromiss ist ein schlechter Regisseur. Eine Rede anlässlich des Symposiums Neue Theaterrealitäten beim Körber Studio Junge Regie 2008 in Hamburg”, in: Theater der Zeit, 06 (2008), S. 18-21. 3 Siehe dazu u.a. Mirella Schino, Alchemists of the Stage. Theatre Laboratories in Europe, Holstebro/ Malta/ Wroc aw, 2009. 4 Siehe dazu u.a. die Website des Forschungsprojekts der Universität Bristol “Practice as Resarch in Performance” (www.bris.ac.uk/ parip) und die dort zu findende Auswahl an Literaturverweisen (www.bris.ac.uk/ parip/ bib. htm) [28.03.09] sowie Angela Piccini, “An Historiographic Perspective on Practice as Research”, in: Studies in Theatre and Performance, 23. 3 (2003), S. 191-207. 5 Entscheidende Impulse gehen hierbei von den beiden praxisorientierten Theaterstudiengängen in Gießen und Hildesheim aus. 6 Der Untertitel der Produktion, “A work devised by Katie Mitchell and the Company? from the text of Virginia Woolf’s novel”, betont die kollaborative Art der Arbeit, weshalb ich hier alle Beteiligten aufliste. Der Einfachheit halber spreche ich im Folgenden dennoch von Katie Mitchell als Autorin der Inszenierung. Waves. A work devised by Katie Mitchell and the Company from the text of Virginia Woolf’s novel, The Waves. Cast: Kate Duchene, Michael Gould, Anastasia Hille, Kristin Hutchinson, Sean Jackson, Liz Kettle, Paul Ready, Jonah Russell, Director: Katie Mitchell; Designer: Vicki Mortimer; Lighting Designer: Paule Constable; Video Designer: Leo Warner; Music: Paul Clark; Sound Designer: Gareth Fry. Premiere am 17. November 2006. 7 Neil Blackadder, “Review of WAVES. Devised by Katie Mitchell and the company from the text of Virginia Woolf’s novel, The Waves. Cottesloe Theatre, London. 13 January 2007. ATTEMPTS ON HER LIFE. By Martin Crimp. Directed by Katie Mitchell and the company. Lyttelton Theatre, London. 5 April 2007”, in: Theatre Journal, 60. 1 (2008), S. 139-141, S. 139. 8 Eine ausführliche Beschreibung von Mitchells Arbeitsweise vor The Waves, die für viele ihrer Produktionen auch weiterhin gültig ist und sich auch in ihren intermedialen Arbeiten niederschlägt, findet sich in: Erica Diane Kylander-Clark, Katie Mitchell: A Director Who Listens, PhD Thesis, University of California, Santa Barbara, 2001. 9 So z.B. in Some trace of her … (National Theatre, 2008), Attempts on her Life (National Theatre, 2007) oder Wunschkonzert (Schauspielhaus Köln, 2008). 10 NESTA bezeichnet sich als “a unique and independent body with a mission to make the UK more innovative” (in: www.nesta.org.uk [14.03.2009]. 11 Katie Mitchell (2006) “Breaking the waves”, in: www.guardian.co.uk/ stage/ 2006/ nov/ 11/ theatre.stage [14.03.2009]. 12 Katie Mitchell, im Gespräch mit Christopher Campell am 12.01.2008, in: www.national- “An entirely new art form” 119 theatre.org.uk/ 23945/ podcast-episodes/ katiemitchell-on-emwavesem.html [15.03.2009]. 13 Siehe Gabriele Schwab, Subjects without Selves: Transitional Texts in Modern Fiction, Boston 1994, S. 209. 14 Katie Mitchell, im Gespräch mit Christopher Campbell, siehe Fußnote 12. 15 Blackadder 2008, S. 140. 16 Hier und im Folgenden meine ich stets männliche und weibliche Zuschauer und Darsteller (etc.) gleichermaßen, verzichte aber zugunsten der Lesbarkeit auf die kontinuierliche Nennung beider. 17 Davon ausgenommen sind lediglich die Mitglieder des Musikensembles, das zwar live, aber außerhalb der Sicht des Publikums die ‘Filmmusik’ liefert, die hier gleichzeitig als Schauspielmusik fungiert. 18 Gardner 2006, o. S. 19 Siehe Katie Mitchell im Gespräch mit Christopher Campell, Fußnote 12. 20 Anon., “Die Nacht brodelt vor elf Sternen”, n.P., http: / / www.kulturraumverdichtung.de/ 2008/ 12/ 24/ katie-mitchell-inszeniert-kroetzwunschkonzert-in-koeln.html [03.03.2010]. 21 Zum Thema der Hierarchie der Bühnenmittel siehe auch meine Ausführungen in “The politics of the polyphony of performance: Musicalization in contemporary German theatre”, in: Contemporary Theatre Review, 18. 1 (2008), S. 44-55. 22 Dieser Gedankengang basiert auf Christopher Smalls Beobachtungen in: Musicking: The Meanings of Performing and Listening, Hanover 1998, S. 6. 23 George Fisher / Judy Lochhead, “Analyzing from the Body”, in: Theory and Practice, 27 (2002), S. 37-68, hier S. 43. 24 Goethe schreibt: “Ich besuchte die römischen Komödien nicht ohne Vorurteil; allein ich fand mich bald, ohne dran zu denken, versöhnt; ich fühlte ein mir noch unbekanntes Vergnügen, und bemerkte, daß es viele andre mit mir teilten. Ich dachte der Ursache nach, und glaube sie darin gefunden zu haben: daß bei einer solchen Vorstellung, der Begriff der Nachahmung, der Gedanke an Kunst, immer lebhaft blieb, und durch das geschickte Spiel nur eine Art von selbstbewußter Illusion hervorgebracht wurde. […] Ebenso entsteht ein doppelter Reiz daher, daß diese Personen keine Frauenzimmer sind, sondern Frauenzimmer vorstellen.”, in: Johann Wolfgang von Goethe, “Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt (1788)”, in: ders., Das römische Karneval, hg. von Isabella Kuhn, Frankfurt/ Main 1984, S. 147-152, hier S. 150 , Hervorhebungen im Original. 25 Bernhard Greiner, Die Komödie: Eine theatralische Sendung. Grundlagen und Interpretationen, Tübingen 2 2006, S. 207. 26 Vgl. Goethes Formulierung “Der Jüngling hat die Eigenheiten des weiblichen Geschlechts in ihrem Wesen und Betragen studiert; er kennt sie und birngt sie als Künstler wieder hervor.”; Goethe 1984, S. 150. 27 Peter M. Boenisch, “Aesthetic Art to Aisthetic Act: Theatre, Media, Intermedial Performance”, in Freda Chapple und Chiel Kattenbelt (Hrsg.), Intermediality in Theatre and Performance, Amsterdam/ New York 2006, S. 103-116, hier S. 103. 28 Jens Schröter, “Intermedialität”, in: www. theorie-der-medien.de/ text_detail.php? nr=12 [20. Feb. 2006]. 29 Schröter macht auf die stark ideologisch geprägte Diskussion aufmerksam, wie sie von Befürwortern einer synthetischen Intermedialität geführt wurde - ich verwende den Begriff hier rein operativ. Ebenso ist mein Anliegen beim Hinweis auf Schröters Kategorien kein taxonomisches, sondern ein pragmatisches: Ziel ist es, anhand der Schröterschen Differenzierung die Vielfalt intermedialer Verfahren bei Waves in den Blick zu bekommen. 30 Freda Chapple und Chiel Kattenbelt (Hrsg.), Intermediality in Theatre and Performance, Amsterdam/ New York 2006, S. 13. 31 Vgl. Schröter, “Intermedialität”, o. S. 32 Siehe: Katie Mitchell, Waves: a record of the multimedia work devised by Katie Mitchell and the company from the text of Virginia Woolf’s novel The Waves, London 2008, p. 41. 33 Chapple/ Kattenbelt 2006, S. 13. 34 Siehe zum Thema der emergenten Narration ausführlicher: David Roesner, “Musicking as Staging”, Studies in Musical Theatre, 4.1 (2010) (im Druck). 35 Siehe Chapple/ Kattenbelt 2006, S. 12. 120 David Roesner 36 Steven Johnson, Emergence. The Connected Lives of Ants, Brains, Cities and Software, London 2001, S. 18. 37 Laut Peter Corning stammt “perhaps the most elaborate recent definition of emergence” von Jeffrey Goldstein “in the inaugural issue of Emergence”; Peter A. Corning, “The Re-Emergence of ‘Emergence’: A Venerable Concept in Search of a Theory”, in: Complexity, 7. 6 (2002), S. 18-30, hier: S. 7. 38 Siehe: Bruno Latour, Reassembling the Social: An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005. 39 Der Film ist dabei nur vermeintlich der Ort der Synthese und der narrativen Autorität, da die szenische Anordnung seine Dominanz für die Narration gleichzeitig in Frage stellt und untergräbt. Kaum ein Zuschauer wird sich primär auf das Filmbild konzentrieren, sondern stets zwischen Prozess und Resultat hin und her springen; das heißt, dass die Synthese gleichzeitig in der Aufmerksamkeit des Zuschauers wieder fragmentiert wird, bzw. sich gar nicht erst realisiert. 40 Blackadder 2008, S. 140. 41 Johnson 2001, S. 18. 42 Vieles von dem, was Patricia Leavy in ihrem Buch Method Meets Art. Arts-Based Research Practice (New York/ London 2009) beschreibt, fällt m.E. unter diese Kategorien - sie verwendet daher auch den weiteren Begriff der “kunstbasierten Forschungspraxis”. 43 Siehe die Kriterien des AHRC, zitiert in Piccini 2003, S. 197. 44 Piccini 2003, S. 196. 45 Piccini 2003, S. 196. 46 Katie Mitchell, Waves: a record of the multimedia work, London 2008. 47 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Der Tragödie erster Teil, Studierzimmer, Vers 1966-1967, in ders. Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 3, Hamburg 6 1962, S. 64. 48 Siehe Ian Sutherland und Sophie Krzys Acord, “Thinking with Art: From Situated Knowledge to Experiential Knowing”, in: Journal of Visual Art Practice, 6, 2 (2007), pp. 125-140; hier p. 126. 49 Gay McAuley nennt dies “the dynamically shifting and contingent nature of theatrical meaning-making” in ihrem Aufsatz “Not Magic but Work: Rehearsal and the Production of Meaning”, in: Theatre Research International, 33. 3 (2008), S. 276-288, hier S. 277. 50 Sutherland/ Acord 2007, S. 125. 51 Sutherland/ Acord 2007, S. 126. 52 Piccini 2003, S. 192. 53 Siehe hierzu auch Susan Melroses detaillierte Überlegungen zum Theorie/ Praxis-Verhältnis in Practice as Research und ihr Konzept einer “critical meta-practice” in Susan Melrose, “Entertaining Other Options … Restaging ‘Theory’ in the Age of Practice as Research”, http: / / www.sfmelrose.u-net.com/ inaugural/ , posted Jan. 2002 [23.03.2009]. 54 Melrose 2002, S. 193. 55 Christopher McCullough (Hrsg.), Theatre Praxis: Teaching Drama Through Practice, London 1998, S. 4. 56 Ich schreibe im Folgenden praxis stets klein und kursiviert, um den Begriff vom deutschen Begriff der Praxis zu unterscheiden, mit dem practice gemeint ist. 57 Stephen Farrier, “Approaching performance through praxis”, in: Studies in Theatre and Performance, 25. 2 (2005), S. 129-143; hier S. 132. 58 Rolf Lindner zit. in Matthias Rebstock, “Theorie der Praxis, Praxis als Theorie. Überlegungen zu einer ‘praktischen Musik-Theater- Wissenschaft’”, in: Stephan Porombka [et al.] (Hrsg.) Theorie und Praxis der Künste. Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis 2008, Tübingen 2008, S. 61-80, hier S. 76. 59 Ich danke Jens Roselt für die Anregung zu diesem Gedanken in Reaktion auf eine frühere Form dieses Artikels. 60 Matthias Rebstock hat dazu einige lesenswerte Vorschläge gemacht. Er schreibt: “Eine Grundfunktion dieses Labors besteht vielmehr darin, Erfahrungswissen zu generieren, zu inkorporieren und zu reflektieren” (Rebstock 2008, S. 78) und entwickelt im Folgenden methodische Grundlagen u.a. auf der Basis Geertzscher dichter Beschreibung für eine “Praxis als Theorie” jenseits der insider/ outsider Dichotomie. Siehe Rebstock 2008, S. 61-80. “An entirely new art form” 121 61 Flusser, Vilém, “Die Geste des Fotografierens”, in: Ders. (Hrsg.), Die Revolution der Bilder, Köln 1995, S. 99-114, hier S. 111. 62 Ähnlich beschreibt Heiner Goebbels, dass in seinen Arbeiten der Licht-Designer Klaus Grünberg nicht wie üblich das fertig geprobte Stück beleuchtet, sondern mitunter Szenen erst auf der Basis eines Licht-Vorschlags von ihm erfunden und erarbeitet werden. (Podiumsgespräch mit Heiner Goebbels, Ruedi Häusermann, Manos Tsangaris und Julian Klein, moderiert von David Roesner, am 7. Oktober 2007 im Rahmen des Symposiums über Zusammenarbeit und Autorschaft im Neuen Musiktheater veranstaltet von der “KlangKunstBühne” (UdK und HfM Berlin) im Haus der Berliner Festspiele, Berlin. 63 Josette Féral, “Introduction: Towards a Genetic Study of Performance - Take 2”, in: Theatre Research International, 33. 3 (2008), S. 223-233, hier S. 225. 64 Es gibt bereits eine Reihe viel versprechender methodischer Ansätze zur Untersuchung von theatralen Arbeits- und Probenprozessen, die unter anderem auf Erkenntnisse der Ethnographie (z.B. Clifford Geertz), Soziologie und Netzwerktheorie (z.B. Bruno Latour) als auch der Prozessphilosophie (z.B. Alfred North Whitehead) zurückgreifen. Siehe dazu u.a. Wolf-Dieter Ernst, “Schauspiel durch Medien. Die verdeckte Funktion der Techne bei Konstantin Stanislawski und Alexander Moissi”, in: Forum Modernes Theater, 22.1 (2007), S. 33-46; Gay McAuley, “Not Magic but Work: Rehearsal and the Production of Meaning”, in: Theatre Research International, 33.3 (2008), S. 276-288; Rebstock 2008; David Roesner, “Die Utopie ‘Heidi’. Arbeitsprozesse im experimentellen Musiktheater am Beispiel von Leo Dicks Kann Heidi brauchen, was es gelernt hat? ”, Vortrag auf der internationalen Konferenz der Gesellschaft für Theaterwissenschaft ‘Orbis Pictus - Theatrum Mundi’, 23.-26.10.2008 in Amsterdam. Erscheint 2010 bei Rodopi (Amsterdam). 65 Die in den letzten Jahren vielfach erprobte Lecture-Performance mag als Beispiel gelten. Siehe auch: Wolf-Dieter Ernst, “Die Lecture- Performance als dichte Beschreibung”, in: Hajo Kurzenberger / Annemarie Matzke (Hrsg.), TheorieTheaterPraxis, Berlin 2005, S. 192-202. 66 Mitchell 2008. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de In Die Untergegangenen und die Geretteten beschreibt der Holocaust-Überlebende Primo Levi ein Paradox der Zeugenschaft: Die wahren Zeugen der Shoah seien jene, die umgebracht wurden, bevor sie Zeugnis ablegen konnten. Von diesem Paradox ausgehend, untersucht die Arbeit das Problem der Zeugenschaft in bzw. von Holocaust-Darstellungen seit den 1950er Jahren. Mit welchen Strategien ist es diesen Darstellungen - in Theaterinszenierungen, literarischen Texten, Filmen, Hörspielen, Comics und Reportagen - möglich, sich in der von Levi konstatierten Abwesenheit von Zeugen als Zeugnisse zu autorisieren? Welche ethischen Schwierigkeiten sind mit einer solchen Autorisation verbunden? Vor dem Hintergrund der nachhaltigen Verschiebung in der Erinnerungskultur, die mit dem Sterben auch der überlebenden Opfer einhergeht, analysiert die Arbeit eine Vielzahl paradigmatischer Texte und Ereignisse. Michael Bachmann Der abwesende Zeuge Autorisierungsstrategien in Darstellungen der Shoah Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Band 42 2010, 297 Seiten, 11 Abb., €[D] 68,00/ SFr 105,00 ISBN 978-3-7720-8352-5 “Noch ist Polen nicht verloren …” Der Danziger Auguststreik 1980 als Aufführung des Religiösen und Nationalen Berenika Szymanski (München) In diesem Beitrag fasse ich den Danziger Auguststreik von 1980, das ein wichtiges Ereignis auf Polens Weg in die Demokratie darstellt, als eine politische Aufführung auf und werde seine theatrale Dimension fokussieren. Denn etliche der hier von den Streikenden durchgeführten Aktionen wurden bewusst exponiert, um im Akt ihres Vollzugs von den jeweiligen Adressaten wahrgenommen zu werden. Die theatrale Dimension dieses Streiks kann somit als politische Strategie betrachtet werden, die die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei unter Druck setzte und zu Zugeständnissen zwang. In diesem Zusammenhang sind die Begriffe Religion und Nation von wichtiger Bedeutung, da es sich bei diesem Streik um eine politische Aufführung des Religiösen und zugleich des Nationalen handelt, die sehr stark mir dem kulturellen Gedächtnis Polens verknüpft ist. Stalin zweifelte daran, dass es ihm gelingen könnte, in Polen den Kommunismus einzuführen. Seiner Meinung nach ließe sich eher eine Kuh satteln und reiten 1 als beim polnischen Nachbarn seine kommunistischen Vorstellungen verwirklichen. Trotzdem erreichte er sein Ziel: In den Jahren 1944 bis 1948 zwang er Polen schrittweise ein kommunistisches System sowjetischer Art auf, ohne die Wünsche oder die Interessen des Landes zu berücksichtigen. Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei hatte dabei die Aufgabe, das kommunistische Gedankengut zu propagieren, die Ideen Stalins und seiner Nachfolger durchzusetzen und die Einhaltung der von der Sowjetunion vorgegebenen Regeln streng zu bewachen. Doch schon bald zeigten sich Risse in der schöngeredeten Fassade: Versprechungen stellten sich als leere Phrasen heraus, Unterdrückung und Machtprivilegien lähmten das Land und auch wirtschaftlich steckte Polen in einer tiefen Krise. Vor allem die Arbeiter waren es, die immer wieder ihren Unmut über die Zustände in Polen zeigten 2 , auch wenn dieser anfangs nicht so sehr gegen das System selbst, sondern vorwiegend gegen die katastrophale wirtschaftliche Situation gerichtet war. Erst mit den Auguststreiks von 1980, die sich von der Küste aus auf ganz Polen ausdehnten, nahmen die Proteste eine politische Dimension an: Am 14. August 1980 traten die Danziger Arbeiter der Leninwerft in Streik. 3 Sie forderten Lohnerhöhungen wegen des drastischen Preisanstiegs für Grundnahrungsmittel sowie die Wiedereinstellung der Kranführerin Anna Walentynowicz, die kurz zuvor entlassen worden war, weil sie sich für bessere Arbeitsbedingungen auf der Werft engagiert hatte und somit dem System unbequem wurde. Aus Solidarität mit der Leninwerft schlossen sich innerhalb weniger Tage immer mehr Betriebe dem Streik an, so dass am 17. August der überbetriebliche Solidaritätsstreik ausgerufen wurde, bei welchem die Streikenden unter der Führung des Elektrikers Lech Wa sa zu den sozialen nun auch politische Forderungen - wie die Gründung von freien und unabhängigen Gewerkschaften - stellten. Das gemeinsame Aufbegehren der Streikenden zwang die Regierung, sich auf Verhandlungen mit dem spontan gegründeten Überbetrieblichen Streikkomitee einzulassen und auf Forderungen einzugehen. Zum ersten Mal in der Geschichte des real Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 123-134. Gunter Narr Verlag Tübingen 124 Berenika Szymanski existierenden Sozialismus wurde hiermit die Verhandlungsfähigkeit opponierender Gruppen anerkannt. Ausgerechnet das alte (wenn auch leicht veränderte) marxistische Motto “Proletarier aller Betriebe, vereinigt euch! ” zwang also die Partei, die stets vorgab, im Namen der Arbeiter zu regieren, sich zum ersten Mal tatsächlich den Forderungen der Proletarier zu stellen und Zugeständnisse zu machen. Als die Streikenden im August 1980 gemeinsam als Handelnde die politische Bühne betraten, setzten sie durch ihren solidarischen und von Anfang an friedlich konzipierten Streik nicht nur die polnische Regierung unter Druck, sondern auch eine Entwicklung in Gang, die nach und nach sowohl Polen als auch andere Satellitenstaaten der Sowjetunion politisch verändern und 1989 in der friedlichen Revolution münden sollte. Doch was zeichnet diesen Streik aus? Was unterscheidet ihn von anderen Arbeitsniederlegungen? Was genau erzeugte die Solidarität unter den Streikenden und gab ihnen die Kraft, trotz vermeintlicher Ausweglosigkeit und aller Gerüchte über eine militärische Intervention der Sowjetunion, an ihren Forderungen festzuhalten? Eine der Antworten hierauf ist in der theatralen Dimension dieses Streiks zu suchen. Politik verfügt über einen theatralen Charakter, denn sie ist auf Aufführungen angewiesen. Sie muss sich, wie Matthias Warstat und Christian Horn betonen, “immer wieder in einem strukturierten Programm von Aktivitäten konkretisieren, das zu einer fest terminierten Zeit an einem bestimmten Ort von einer Gruppe von Akteuren vor einer Gruppe von Zuschauern vorgeführt wird”. 4 Hierbei präsentiert sich eine politisch handelnde Person oder Gruppe ganz bewusst vor den Augen anderer, wobei sie Zeichen produziert, mit diesen Bedeutungen evoziert und Wirkungen intendiert. Diese Aufführungen können somit - je nach politischer Bedürfnislage und historischen Bedingungen - dazu dienen, Wähler zu gewinnen, die Machtposition von Parteien oder von Herrschern zu unterstützen, Missstände in der Politik zu vertuschen, aber auch Identitäten zu stiften und den Zusammenhalt von Bewegungen zu festigen oder Herrscher zu entmachten. 5 Die reale politische Situation ist infolgedessen, wie Doris Kollesch konstatiert, “durch Prozesse der Darstellung, der Inszenierung und der Wahrnehmung [gekennzeichnet], welche aus dem (Kunst-)Theater vertraut sind und aus diesem Grund auch entsprechend beschrieben werden können”. 6 Wer also die Theatralität einer bestimmten politischen Situation fokussiert, der versucht, die Verfahren, Techniken und Strategien herauszukristallisieren, die diese formen und prägen, ohne ihr von vornherein einen pejorativen Charakter zuzusprechen und sie abzuwerten. Vielmehr geht es darum, die ‘Gemachtheit’ der politischen Aufführungen vor ihrem jeweiligen historischen Hintergrund zu analysieren und auf diese Weise Einblick in ihre Funktionsweisen zu gewinnen. In diesem Beitrag fasse ich den Danziger Auguststreik als eine solche politische Aufführung auf und nehme seine theatrale Dimension in den Blick. Denn etliche der hier durchgeführten Aktionen wurden bewusst von den Streikenden exponiert, um im Akt ihres Vollzugs von Zuschauern, den jeweiligen Adressaten, wahrgenommen zu werden und auf diese Weise bestimmte Wirkungen zu erreichen. Die theatrale Dimension dieses Streiks kann somit als politische Strategie begriffen werden, die das Regime in Polen unter Druck setzte und zu Zugeständnissen zwang. Dabei spielen die Termini Religion und Nation eine äußerst wichtige Bedeutung, da es sich bei dem Danziger Auguststreik um eine politische Aufführung des Religiösen und zugleich des Nationalen handelt, die sehr stark mir dem kulturellen Gedächtnis Polens verknüpft ist. Mein Aufsatz ist in zwei Teile gegliedert: Zunächst soll ein Überblick über die histo- “Noch ist Polen nicht verloren …” 125 rische Verflechtung des Nationalen und des Religiösen in Polen gegeben werden, denn erst hierdurch kann die Danziger “Aufführung” verstanden und interpretiert werden. Anschließend wird, nach einer Einführung in den Begriff des kulturellen Gedächtnisses, an Beispielen aufgezeigt, auf welche Weise diese Verflechtung in der theatralen Dimension des Streiks auf der Leninwerft zur Geltung kommt und welchen Zweck sie erfüllt. Polen und der Messianismus Von 1772 bis 1795 wurde Polen drei Mal geteilt und verlor seine Landesteile an Russland, Preußen und Österreich. Auf dem Wiener Kongress von 1814/ 1815 wurde die Dreiteilung bestätigt. Der Verlust staatlicher Souveränität war ein schwerer Schicksalsschlag für die polnische Nation, schärfte ihr Nationalbewusstsein und einte die Menschen im Kampf um die Wiedervereinigung ihrer Rzeczpospolita (res publica). Im Zuge zahlreicher Verbote, welche die Teilungsmächte auferlegten - dazu gehörte z.B. das Verbot, die polnische Sprache und Kultur zu pflegen -, suchte die Mehrheit der Polen nach Möglichkeiten, die Eigenart und Tradition ihrer Nation zu bewahren. Die katholische Kirche bot ihnen dabei einen Zufluchtsort und wurde bald zum Symbol des Kampfes und zum Ort der nationalen Freiheit. 7 Genau in dieser Zeit entwickelte sich die tiefe Verbundenheit der polnischen Nation mit dem Katholizismus, und genau in dieser Zeit geriet der katholische Glauben zu einer patriotisch motivierten Verteidigungshaltung. 8 Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Messianismus. Die Bezeichnung Messianismus 9 steht für eine eschatologische Glaubensvorstellung, die davon ausgeht, dass mit dem Auftreten des Messias - eines von Gott gesalbten Retters und Erlösers - eine positive Veränderung der gegebenen und als negativ empfundenen Zustände herbeigeführt werden kann. Die älteste Form des Messianismus findet sich im Alten Testament wieder, wo Israel, als das von Gott auserwählte Volk, auf die Ankunft des Messias wartet, der es von Gewalt und Unterdrückung erlösen und in ein Friedensreich führen soll. In der christlichen Glaubensvorstellung dagegen ist mit der Geburt Jesu Christi der Warteprozess bereits abgeschlossen. Der Terminus Messianismus tritt auch außerhalb der Bibel auf, besonders in Zeiten großer Umbrüche und Krisen, in denen er zumeist für politische Zwecke instrumentalisiert wird. In Polen wurde der Begriff vor allem von Freiheitskämpfern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts übernommen und zur polnischen Sache erklärt: Das Leid der polnischen Nation sollte dazu führen, in Europa eine neue Ordnung herzustellen und die Menschheit moralisch-ethisch im Geiste des christlichen Glaubens zu erneuern. 10 Die Niederschlagung des Novemberaufstands von 1830/ 31 gegen Russland wurde zur literarischen Geburtsstunde des polnischen romantischen Messianisums. “Es war”, um mit Heinrich Olschowski zu sprechen, “die Antwort der Romantiker auf die nationale Katastrophe. Umgetrieben von der Frage, wie man der ausweglosen Niederlage einen positiven Sinn abgewinnt, bemühten sie das religiöse Paradigma.” 11 Einen wirkungsvollen Ausdruck findet der Messianismus vor allem im Werk von Adam Mickiewicz (1798-1855). In seinem Drama Ahnenfeier III (Dziady III), das 1832 direkt nach dem gescheiterten Novemberaufstand entstand, sakralisiert Mickiewicz die polnische Nation aufgrund ihrer politischen Unterdrückung und erhebt das Leid Polens ins Heilsgeschichtliche, stellt also das Schicksal seines Landes als Plan Gottes und - in der berühmten Szene der Vision von Pater Piotr - Polen als Christus der Nationen dar. 12 Das Leid und das Unglück des polnischen Volkes erfüllt, so die Aussage dieser Szene, sowohl einen historischen als auch einen 126 Berenika Szymanski eschatologischen Sinn. Der romantische Messianismus in Polen war also nicht nur ein Symptom der politischen Krise des Landes, sondern auch ein Versuch, diese zu überwinden. Durch seine Verbreitung sollte das Selbstverständnis der polnischen Nation gestärkt, Kräfte für einen Kampf um die Souveränität mobilisiert und der katholische Glauben vertieft werden. So wird es verständlich, dass die Mehrheit der Polen auch in den auf die Dreiteilung ihres Landes folgenden nationalen Krisenzeiten Zuflucht im Katholizismus gesucht haben. Sowohl im 2. Weltkrieg als auch und vor allem im Kommunismus nahm die katholische Kirche aufgrund ihrer historischen Rolle als Bewahrerin und Kämpferin für die polnische Nation von Anfang an eine wichtige Stellung ein. 13 Auch im Danziger Auguststreik findet sich eine besondere Verschmelzung von Religion und Nation wieder, die in der Aufführung des zivilgesellschaftlichen Protests deutlich zum Tragen kommt. Manifestation des kulturelles Gedächtnisses als Aufführung Jede Gruppe, die sich als solche konsolidieren will, ist darum bemüht, ihr Selbstbild zu gestalten und mit diesem die eigene Differenz nach außen zu betonen. Hierbei spielen Jan Assmann zufolge Erinnerungen bzw. das kulturelle Gedächtnis 14 eine wichtige Rolle: Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Be stand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ‘Pflege’ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt. 15 Zumeist zählt allerdings nicht so sehr die faktische Geschichte, die erinnert wird, sondern vor allem die erinnerte Geschichte, die zu symbolischen Figuren und Mythen transformiert wird. Assmann subsumiert sie unter den Begriff Erinnerungsfiguren. 16 Die Erinnerung an die Zeit der Dreiteilung und mit ihr verbunden die Idee des Messianismus wurde im Laufe der Jahrzehnte in Polen zu solchen Erinnerungsfiguren transformiert und immer wieder als Identität sicherndes Wissen und zugleich als politisches Machtmittel benutzt. In Form von zahlreichen Symbolen und literarischen Texten - seien es Lieder, Gedichte oder Dramen - werden sie und mit ihnen die nationalen Erfahrungen aus dem 19. Jahrhundert bewahrt und in Krisenzeiten immer wieder belebt und aktualisiert. Solche Aktualisierungen bzw. Vergegenwärtigungen der Erinnerungen spielen innerhalb des nationalen Gedächtnisses eine wichtige Rolle. Sie stabilisieren die Identität von Gruppen, geben ihnen Orientierung in der Gegenwart und Hoffnung für die Zukunft. Die Vergegenwärtigung des zu Erinnernden hat oftmals Festcharakter und findet durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen statt. Sie ist, wie Assmann betont, an den Prozess ihrer Inszenierung gekoppelt: Mit Inszenierung ist hier gemeint, “dass dieses [Identität sichernde] Wissen in der Form einer multimedialen Inszenierung aufgeführt zu werden pflegt, die den sprachlichen Text unablösbar einbettet in Stimme, Körper, Mimik, Gestik, Tanz, Rhythmus und rituelle Handlung”. 17 Hierbei ist die kollektive Partizipation der jeweiligen Gruppe von wichtiger Bedeutung. Erst durch die Zusammenkunft und persönliche Anwesenheit der Gruppenmitglieder entsteht nämlich die Vergegenwärtigung von Erinnerungen und erst hierdurch werden Identität und das Selbstbild der Gruppe verstärkt bzw. nach außen positioniert. Die Vergegenwärtigungen dieses Wissens, die Assmann auch als Manifestationen des kulturellen Gedächtnisses bezeichnet, können “Noch ist Polen nicht verloren …” 127 Abb. 1: Heilige Messe während des Auguststreiks auf dem Gelände der Lenin-Werft in Danzig. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Stiftung KARTA) meiner Meinung nach auch im Sinne theatraler Aufführungen begriffen werden. Denn auch diese sind durch ein prozesshaftes Zusammenspiel von Handeln und Wahrnehmen konstituiert, wobei Wirkungen und Bedeutungen generiert werden. Auch sie sind an die gemeinsame Anwesenheit von Akteuren und Zuschauern für eine bestimmte Zeitspanne an einem bestimmten Ort gebunden. Und auch sie haben einen das Alltägliche überschreitenden Charakter. Auch im August 1980 wurde auf der Leninwerft in Danzig ein Ausnahmezustand ausgerufen und das kulturelle Gedächtnis des Landes vergegenwärtigt, indem die Streikenden und ihre Helfer mit Hilfe von Symbolen, Liedern und Theatertexten die Geschichte Polens ins Gedächtnis gerufen, als Bilder aktualisiert und aufgeführt haben. Wie genau wäre diese Aufführung des kulturellen Gedächtnisses Polens zu beschreiben? Politische Aufführung des Religiösen und Nationalen Timothy Garton Ash, der den Streik als Journalist begleitete, bemerkt in seinen Beschreibungen: “Where else but in communist Poland would a strike be launched with Holy Mass […]”. 18 Und damit hat er nicht Unrecht: Am 17. August, dem Tag, an dem der Solidaritätsstreik begann, zelebrierte der Priester Jankowski um neun Uhr früh auf dem Gelände der Werft-Fabrik die Heilige Messe. Diese verfügte über einen theatralen Charakter. So haben die Streikenden einen großen Anhänger zur Bühne umfunktioniert und darauf einen provisorischen Altar errichtet. Im Hintergrund ragte ein großes hölzernes Kreuz auf, das einige Arbeiter spontan am Tag zuvor zum Gedenken an die beim Streik 1970 von Polizei und Militär getöteten Kameraden zusammengezimmert hatten. 19 Die gesamte Messe wurde - trotz eines enormen Wider- 128 Berenika Szymanski stands seitens Parteiangehöriger - über Lautsprecher übertragen, so dass auf dem gesamten Werftgelände und auch über dieses hinaus eine Teilnahme am Gottesdienst möglich war. Diejenigen, die das Bühnengeschehen nicht sehen konnten, konnten es zumindest hören und somit auch an der Messe partizipieren. An diesem Gottesdienst kann eine interessante Akteur-Rezipient-Situation konstatiert werden: Einerseits können der Priester Jankowski und seine Helfer als Akteure bezeichnet werden. Sie standen erhöht auf einer Bühne, zelebrierten die Messe und wurden in ihrer Aktion von den Messeteilnehmern wahrgenommen. Andererseits erhalten die Teilnehmer der Messe, die sich auf dem Werftgelände befanden und durch Mauern und Zäune körperlich von den vor den Toren Stehenden abgetrennt waren, durch ihre aktive Teilnahme an der Messe in Form von Gebet und Gesang nicht nur den Status von Zuschauern, sondern traten ebenfalls als Akteure auf. In ihrer aktiven Partizipation am Gottesdienst nämlich wurden sie von denjenigen wahrgenommen und beobachtet, die in diesen Stunden vor den Toren der Leninwerft standen. Die Wirkung, die von dieser betenden Arbeitermasse auf dem Streikgelände ausging, war immens. So nahmen nicht nur die vor der Fabrik stehenden Angehörigen der Streikenden am Gottesdienst teil, auch zufällig an der Werft vorbeigehende Bewohner Danzigs beschlossen spontan, sich an der Zeremonie zu beteiligen - angelockt und ergriffen vom Gesang und vom Gebet der Masse. Es erscheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Streikenden erst durch diese erste Messe Zulauf von außerhalb, also von ursprünglich nicht am Streik Beteiligten, bekamen, die von nun an tagtäglich vor den Toren ausharrten und auf diese Weise Solidarität mit den Streikenden bekundeten, kämpften diese doch nicht nur für bessere Arbeitsbedingungen der Werftarbeiter, sondern für die Verbesserung der Lebensbedingungen in Polen insgesamt. Durch das gemeinsame Gebet verschmolzen die sich in und außerhalb des Fabrikgeländes befindenden Menschenmassen und gewannen zunehmend an Mut. Anna Walentynowicz, ein Mitglied des Streikkomitees, fasst es folgendermaßen zusammen: Die beruhigenden Worte der uns gut bekannten und seit Jahren wiederholten Gebete nahmen neue Bedeutungen an. Sie einten uns, gaben uns Kraft. In den konzentrierten Gesichtern der Menschen konnte man mühelos große Ergriffenheit, tiefen Glauben und Hoffnung erkennen. 20 Somit kann in einem weiteren Gedankenschritt konstatiert werden, dass alle an der Messe Beteiligten, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Fabrikgeländes, in ihrer Gesamtheit auch als Akteure fungierten, indem sie gemeinsam als Gruppe offen ihre Frömmigkeit demonstrierten und diese als politisches Statement an die Machthaber und ihre Anhänger richteten, die den Katholizismus in Polen seit Jahrzehnten vergeblich zu bekämpfen versuchten. In dieser Messe wie auch in allen darauf folgenden (von besagtem Sonntag an fand den gesamten Streik über täglich eine Messe statt) wurde ganz bewusst in Form von Gebeten, Fürbitten, Predigten und gemeinsamen Gesängen die Zeit der Dreiteilung ins Gedächtnis gerufen. Vor allem auf drei Lieder möchte ich an dieser Stelle Bezug nehmen: auf das Lied der Schwarzen Madonna, auf Gott, der du Polen und die polnische Nationalhymne, die auch unter dem Titel Mazurek D browskis bekannt ist. Sowohl Gott, der du Polen als auch Mazurek entstanden Ende des 18./ Anfang des 19. Jahrhunderts; beide Lieder konkurrierten 1918, nachdem Polen seine Souveränität wieder erlangt hatte, um den Status der Nationalhymne, bis sich das Letztere durchgesetzt hat. Schon in der ersten Strophe der Nationalhymne, die zum ersten Mal von polnischen Legionen in Italien “Noch ist Polen nicht verloren …” 129 gesungen worden war in der Überzeugung, dass sie Polens Unabhängigkeit wiederherstellen könnten, wenn sie unter der Führung D browskis Napoleon dienten 21 , werden die Gewissheit und die Hoffnung deutlich, dass Polen als Nation trotz aller Widerstände solange existieren wird, solange es Polen gibt, die für ihr Vaterland bereit sind zu kämpfen: Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben. Was uns fremde Macht genommen, holen wir wieder mit dem Säbel. Diese gleiche Hoffnung leitete auch die Streikenden von Danzig: Sie kämpften mit ihren 21 Postulaten, 22 die u.a. die Forderung nach freien und unabhängigen Gewerkschaften, das Recht auf Streik und auf freie Meinungsäußerung beinhalteten, für mehr Rechte und mehr Freiheit im kommunistischen Polen. Und für ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Denn gerade in der Diktatur des Regimes sowjetischer Prägung sah die Mehrheit der Polen eine Parallele zur Unterdrückung durch Russland im 19. Jahrhundert. Diesmal sollte der Kampf jedoch nicht mit dem Säbel stattfinden, sondern mittels Verhandlungen; nicht mit dem General Jan Henryk D browskis, sondern mit dem Elektriker Lech Wa sa an der Spitze. Die Hoffnung auf ein freies und unabhängiges Polen wird auch in Gott, der du Polen deutlich. Das Singen dieses religiösen Liedes, das 1862 im russischen Teilungsgebiet sogar verboten war, ist politisch motiviert und ein Ausdruck des Glaubens daran, dass das Schicksal Polens in Gottes Händen liegt und dass Gott “Polen aus der Tyrannen Sklaverei” - wie es in dem Lied heißt - befreien und ihnen das Vaterland zurückgeben werde. Auch das Lied der Schwarzen Madonna bezieht sich auf die überirdische Hilfe und drückt das Vertrauen darauf aus, dass Madonna dem polnischen Volk als Beschützerin zur Seite steht. Genau aus diesem Grund hat König Jan Kazimierz im Jahr 1656 nach dem Sieg gegen die Schweden, der auch als das Wunder von Tschenstochau bekannt ist, sie zur “Regina Poloniae”, zur Königin Polens erklärt. In allen Krisenzeiten suchten gläubige Polen Schutz bei der Schwarzen Madonna von Tschenstochau - besonders zur Zeit der Dreiteilung, wo ganze Menschenmassen, trotz des Verbots der Teilungsmächte, nach Tschenstochau pilgerten. Auch während des Streiks baten die Streikenden um ihre Hilfe, nicht nur indem sie ihr Lied sangen, sondern auch indem sie gemeinsam, auch außerhalb der Gottesdienste, das Mariengebet sprachen. In diesem Zusammenhang sollte hervorgehoben werden, dass auf dem gesamten Werftgelände neben polnischen Fahnen und Blumen in den Nationalfarben auch überall Bilder der Schwarzen Madonna zu sehen waren. Ihr bewusstes Platzieren neben die nationalen Symbole kann als politisches Statement interpretiert werden, dass nicht die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei, sondern die Madonna als die wahre Machthaberin des Staates vom Volk anerkannt werde und dass sich die Streikenden von ihr, nicht aber von der Partei vertreten fühlten. Äußert wichtig erscheint mir der Hinweis, dass die drei gerade genannten Lieder nicht nur während der Gottesdienste gesungen wurden. Sie stellten auch ein Kampfmittel Wa sas dar: Jedes Mal, wenn die Menge vor Unzufriedenheit tobte, wenn die Streikenden nicht mehr an einen Sieg glaubten oder Angst vor einem militärischen Angriff hatten und alles hinzuschmeißen drohten, kletterte Wa sa auf die Bühne - mal auf einen Bagger, mal einen Tisch, mal eine Mauer vor der Fabrikhalle, mal auf einen Elektrokarren - und begann mit Verstärkung eines Sprachrohrs oder Mikrofons eines dieser Lieder zu singen. 23 Die Menge beruhigte sich schlagartig, schaute zu Wa sa hoch, stand auf und sang mit ihm. Durch dieses gemeinsame Singen wurden die Streikenden einerseits an den Zweck ihres Streiks und ihre selbst auferlegte patriotische Verpflichtung erinnert, 130 Berenika Szymanski Abb. 2: Lech Wa sa bei einer seiner Ansprachen am geschmückten Tor Nr. 2 während des Streiks. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Stiftung KARTA) andererseits wurden sie durch diese Art der Manifestation des kulturellen Gedächtnisses in ihrer Gruppenzugehörigkeit gestärkt und nach außen, d.h. ihren politischen Gegnern bzw. Verhandlungspartnern gegenüber, positioniert. Kirche und Glaube waren im kommunistischen Polen zwar nicht gesetzlich verboten, doch den Machthabern mit ihrer offiziellen Propaganda des Atheismus ein Dorn im Auge. Das Abhalten einer Messe ausgerechnet auf der Leninwerft, einem Prestigeobjekt des polnischen Kommunismus, empfanden überzeugte Parteimitglieder als Provokation. Für die Streikenden war es jedoch mehr als das: Zum einen war es ein öffentlicher Ausdruck ihres Willens nicht mehr als Objekt des Regimes behandelt, sondern als ein zum Handeln fähiges und das gesellschaftliche Leben mitgestaltendes Subjekt wahrgenommen zu werden - wie Wa sa in seinen Memoiren konstatiert: “Wir haben die Kirche aus dem Museum herausgeholt, in das die Propaganda sie hatte verbannen wollen. Wir haben auf diese Weise gezeigt, daß dies unser Polen ist, daß wir nicht nur Mieter, sondern Miteigentümer sind”. 24 Zum anderen stärkte es die Gruppenzugehörigkeit und die Identität der Streikenden auf eine besondere Weise, wie ein Arbeiter bestätigt: Outdoor masses, especially the first one, made an indelible impression upon us. They were experiences which no Shakespeare and no Goethe could produce by his magic. Why? I dare say it was so because even the finest theatrical performances lack that supernatural power which emanates from the wooden cross. An atheist would probably snarl at this statement, but there were no atheists among us, and the experience was genuine. […] For the onlookers the cross was merely a relic two thousand years old and nothing more. For us, strikers, it was something much more because of our (unconscious) identification with Christ. We were ready to take the cross upon our own shoulders, the cross in the form of the “Noch ist Polen nicht verloren …” 131 caterpillar tracks of the tanks, if it came to an assault on us […]. 25 Die Messe wird hier mit der Aufführung eines Werkes von Shakespeare bzw. Goethe verglichen. Mit dem Ergebnis, dass die Wirkung, die von dem Gottesdienst und von dem im Hintergrund aufgestellten Kreuz ausging - so die Aussage des Streikenden - jede Theateraufführung eines noch so bedeutenden Dramatikers übertraf. Das einfache Kreuz vermittelte den Zuschauern nicht nur ein einzigartiges Erlebnis von Zusammengehörigkeit, sondern bot ihnen auch, ganz im messianischen Sinne, eine Identifikation mit Jesus Christus, was gerade an den beiden letzten Sätzen des Zitierten erkennbar wird: Hier werden ganz deutlich die Bereitschaft und der Entschluss der Streikenden ausgedrückt, das Kreuz, das in diesem Fall für die aktuellen Sorgen und Nöte des Landes steht, auf die eigene Schulter zu nehmen und zu tragen. Es steht für die bewusste Entscheidung, für ihr Vaterland zu handeln, so wie es Generationen vor ihnen bereits getan hatten. Das Kruzifix wurde zu einem der wichtigsten Symbole des Streikes überhaupt und tauchte nicht nur während der Messe auf. Auf den Toren der Fabrik sowie an den Wänden in den Verhandlungssälen haben die Streikenden das Kreuz ganz bewusst platziert, einerseits aus dem Bedürfnis nach der Ermutigung heraus, die ihnen dieses Symbol vermittelte. Andererseits erhielt es, Jan Kubik zufolge, neben der allgemeinen Bedeutung als Symbol für das Christentum folgende drei Konnotationen, die an die nationalen Erfahrungen und Erinnerungen anknüpfen: “First, it was a sign of defiance toward the Communistic regime and the authorities; second, it was a metaphor of national martyrdom; and third, it was a symbol of Poland as a messiah of nations”. 26 Die drei von Kubik konstatierten Bedeutungen des Kreuzes charakterisieren auch das Gefühl und das Selbstverständnis der Streikenden als Kämpfer für das Wohl der polnischen Nation ganz im messianischen Sinne. Dieses Empfinden wurde durch einen Auftritt der Schauspieler aus dem Danziger Theater Wybrze e verstärkt. Diese haben, neben Ausschnitten aus romantischen Werken von Juliusz S owacki (1809-1849) und Cyprian Norwid (1821-1883), auch ausgewählte Passagen aus der Ahnenfeier III - dem eingangs bereits erwähnten Träger des messianischen Gedankens schlechthin - für die Streikenden rezitiert. Norman Davies stellt die Bedeutung solcher kulturellen Initiativen für die polnischen Arbeiter heraus: In den demokratischen Gesellschaften des Westens, wo die meisten Freiheiten die meiste Zeit geachtet werden, sehen Arbeiter wenig Veranlassung, bei ihren Gewerkschaften auf kulturelle Kost zu drängen, da jede Familie das Kulturgeschehen nach eigenem Gutdünken wahrnehmen oder auch ignorieren kann. In der kommunistischen Welt, wo die gesamte Kultur der offiziellen Propaganda dienstbar zu sein hatte, hatten die Arbeiter jedoch andere Bedürfnisse. Sie waren erregt und begeistert, wenn ihnen eine Theateraufführung oder eine inoffizielle Dichterlesung mit dem Versprechen angekündigt wurde, von der verbotenen Frucht der Doppeldeutigkeiten und mehrdeutigen Bildern kosten zu dürfen. 27 In Danzig stieß dieser Auftritt der Schauspieler auf großen Zuspruch und nährte das messianische Empfinden der streikenden Masse. Maciej Prus, der Regisseur und Dramaturg der Lesung, erinnert sich: “In dem Saal, in dem wir auftreten mussten, herrschte ein ständiges Geklapper von Schreibmaschinen und Fernschreibern. Doch während der ‘Vision des Paters Piotr’ wurde alles still. Die Leute weinten ungeniert … Man bat uns um Zugaben”. 28 Mickiewiczs Pater Piotr sieht in seiner Vision das polnische Volk leiden, wie Jesus Christus gelitten hat. Seine Peiniger sind die drei Länder, auf die Polen aufgeteilt ist. Die Anklage lautet: Die polnische Nation hat sich dem Zaren nicht untergeordnet und muss sterben. Der Gallier sieht keine Schuld Polens, 132 Berenika Szymanski wie auch Pontius Pilatus zunächst keinen Grund für die Verurteilung Jesu sah, doch er beugt sich der schreienden Masse, gibt Polen zur Kreuzigung frei und begnadigt den Verbrecher Barabbas. Am Kreuz ruft Polen: “Herr, Herr, warum hast du mich verlassen? ”, ebenso wie der biblische Jesus um die neunte Stunde rief. Zu seinen Füßen weinte Maria, um Polen dagegen weint in Mickiewiczs Drama die Freiheit. Der Sohn Gottes starb am Kreuz, doch er erstand vom Tode auf und wurde gen Himmel erhoben und von einer weißen Wolke bedeckt. Im christlichen Glauben wird dies als die Erfüllung der Mission Christi gedeutet. Auch Polen steigt nach seiner Kreuzigung in einem weißen Gewand zum Himmel hinauf und bedeckt mit ihm die ganze Erde. P IOTR Und ich hör vom Himmel Stimmen, die wie Donner hallen: Er, der Walter aller Freiheit auf der Erde, ist sichtbar allen! […] Hoch erhoben über jedem König, jedem Erdensohne; Auf drei Kronen steht er, selber ohne Krone […]. 29 Das polnische Volk darf also auf seine Freiheit hoffen. Auch die Streikenden von Danzig nahmen sich der Aufgabe an, ein Stück Freiheit im kommunistischen Polen zu erkämpfen. Als Ausdruck ihres messianischen Empfindens ist somit auch ein theatraler Akt zu verstehen, der an die gerade beschriebene Szene aus der Ahnenfeier III anknüpft und direkt im Anschluss an die erste Messe stattgefunden hat: Einige Arbeiter, darunter auch Lech Wa sa 30 , haben symbolisch das große hölzerne, am Vortag gezimmerte Kreuz auf ihre Schulter genommen und es gemeinsam - von einer Prozession begleitet - an den Ort getragen, an dem später ein Denkmal für die 1970 Verstorbenen stehen würde. Der Priester Jankowski weihte dieses Kreuz und die um ihn Versammelten. Im Anschluss daran sangen alle wie selbstverständlich die Nationalhymne und legten Blumen und brennende Kerzen am Kreuz nieder. Später befestigte ein unbekannter Streikender an dem Kreuz ein Bild der Schwarzen Madonna und ein Stück Papier, auf dem ein von Mickiewicz ins Polnische übersetze Zitat aus Byrons The Giaour gekritzelt war: For Freedom’s battle once begun, Bequeath’d by bleeding sire to sun, Though baffled oft is ever won. 31 Das Wort bleeding wurde allerdings ausgelassen, als Zeichen dafür, dass der hiesige Kampf anders als der von 1970 ohne Blutvergießen zu Ende gebracht werden sollte. Theatrales Verhalten als Möglichkeit politischer Äußerung, gar als politische Strategie, ist in Polen nicht erst mit den Auguststreiks festzuhalten. Bereits in der barocken Adelskultur des Sarmatismus lässt sich ein hoher Grad an Theatralität im konventionalisierten und ritualisierten Lebensstil des polnischen Adels (Szlachta) erkennen, mit dem sich dieser Normen setzende Teil der Bevölkerung selbst definierte und vorführte. 32 Auch in der Zeit der Dreiteilung können theatrale Verhaltensmuster ausgemacht werden, die während zahlreicher patriotischer Manifestationen praktiziert wurden. So berichtet ein Augenzeuge, dass während des Massakers auf dem Warschauer Schlossplatz am 8. April 1861 eine Gruppe von Menschen vor der Figur der Mutter Gottes kniend beharrlich religiöse Lieder sang, während um sie herum und auch auf sie geschossen wurde. 33 Vor Beginn des Aufstandes 1863/ 64 sollen selbst polnische Soldaten sich zu Manifestationen versammelt und u.a. Verse von Mickiewicz rezitiert haben. Diese zwei in der Zeit der Dreiteilung beobachteten Möglichkeiten das kulturelle Gedächtnis in einem politischen Kontext zu vergegenwärtigen, finden sich 1980 auf der Leninwerft in Danzig wieder. Denn gerade durch die Aufführung nationaler Lieder und Literatur wurde an den Augusttagen Protest ausgeübt. Die Manifestation “Noch ist Polen nicht verloren …” 133 des kulturellen Gedächtnisses hat es den Streikenden ermöglicht, nicht nur ihre Identität als Gruppe und somit ihre Zusammengehörigkeit zu stärken, sondern auch, sich nach außen - dem Regime und seinen Anhängern gegenüber - zu positionieren. Das Wiederaufleben des messianischen Gedankens der Romantiker und das gezielte Zur- Schau-Stellen der historischen Parallelen zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert drückte ganz besonders die oppositionelle Haltung der Streikenden aus sowie ihren Willen, als handlungsfähige Subjekte anerkannt zu werden. Denn an diesen Tagen waren sie davon überzeugt, dass Polen noch nicht verloren ist, solange sie leben; und das sollten alle sehen, vor allem aber die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei. Anmerkungen 1 Vgl. Rudolf Jaworski [et al.], Eine kleine Geschichte Polens, Frankfurt/ Main 2000, S. 334. 2 An dieser Stelle sei besonders auf die Unruhen von 1956, 1970 und 1976 verwiesen. 3 Siehe detaillierte Informationen zum Streikverlauf in Hartmut Kühn, Das Jahrzehnt der Solidarno . Die politische Geschichte Polens 1980-1990, Berlin 1999, S. 15-70. 4 Christian Horn und Matthias Warstat: “Politik als Aufführung. Zur Performativität politischer Ereignisse”, in: Erika Fischer Lichte [et al.] (Hg.), Performativität und Ereignis. Tübingen/ Basel 2003, S. 395-417, S. 395. 5 Vgl. Horn/ Warstat 2003, S. 395. 6 Doris Kolesch: “Politik als Theater: Plädoyer für ein ungeliebtes Paar”, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. 42 (2008), S. 35-40, 36. 7 Vgl. hierzu Jerzy Holzer, Polen und Europa. Land, Geschichte, Identität, Bonn 2007, S. 132, sowie Geri Nasarski, Noch ist Polen nicht verloren. Die Tragödie einer stolzen Nation, Wien [etc.] 1982, S. 110. 8 Der Katholizismus wurde in Polen mit der Taufe von Herzog Mieszko I. im Jahr 966 eingeführt, existierte jedoch lange Zeit neben anderen Glaubensvorstellungen. Seit den Kriegen im 17. Jahrhundert begann der katholische Glauben zunehmend eine identitätsstiftende Wirkung auszuüben. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Verteidigung des Klosters bei Jasna Góra (Heller Berg) 1655 gegen die Schweden, die einerseits den Kult um die Schwarze Madonna auslöste und andererseits die Überzeugung verbreitete, dass die Mutter Gottes als Beschützerin dem polnischen Volk zur Seite stehe. Die Verbindung des katholischen Glaubens mit nationalen Gefühlen wird jedoch erst in der Zeit der Dreiteilungen voll ausgeprägt. 9 Vgl. hierzu Stanis aw Pieróg: “Mesjanizm” [Messianismus], in: Józef Bachórz und Alina Kowalczykowa (Hg.), S ownik literatury polskiej XIX wieku. [Begriffswörterbuch der Polnischen Literatur im XIX. Jahrhundert], Wroc aw 1991, S. 536-540. 10 Vgl. Maria Janion und Maria migrodzka, Romantyzm i historia [Romantik und Geschichte], Warszawa 1978, S. 57-78. 11 Heinrich Olschowsky, “Sarmatismus, Messianismus, Exil, Freiheit - typisch polnisch? ”, in: Andreas Lawaty und Hubert Or owski (Hg.), Deutsche und Polen. Geschichte - Kultur - Politik, München 2003, S. 279-288, bes. S. 280. 12 Der Vergleich der polnischen Nation mit Jesus Christus wird von Mickiewicz auch in Ksi gi narodu i pielgrzymstwa polskiego [Bücher der polnischen Nation und der polnischen Pilgerschaft] aus dem Jahr 1832 ausformuliert. 13 Vgl. Nasarski 1982, S. 115. 14 Jan Assamann: Das kulturelle Gedächtnis. München 2002, S. 36-56. Hierauf beziehe ich mich auch im Folgenden. 15 Jan Assmann: “Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität”, in: Jan Assman und Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/ Main 1988, S. 15. 16 Assmann 2002, S. 52. 17 Assmann 2002, S. 56. 18 Timothy Garton Ash, The Polish Revolution, New Haven/ London 2002, S. 49. 19 Am 14. Dezember 1970 kam es in den Küstenstädten Danzig, Stettin, Gdingen und Elbling zu spontanen Arbeiterstreiks und Demonstrationen aufgrund von starken Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel. Die 134 Berenika Szymanski Streikenden forderten die Regierung vergeblich auf, mit ihnen in Verhandlungen zu treten. Am 17. Dezember eskalierten die Proteste und es kam zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Protestierenden und den gegen sie eingesetzten Armee- und Milizeinheiten, in deren Verlauf sehr viele Menschen ums Leben kamen. 20 Anna Walentynowicz, Cie przysz o ci [Schatten der Zukunft], Gda sk 1993, S. 84; hier zitiert in meiner Übersetzung. 21 Vgl. hierzu Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 2002, S. 147. 22 Die gesamten 21 Postulate sind nachzulesen u.a. bei Kühn 1999, S. 29-31. 23 “Ein Streik - das ist die Masse, die ganz verschieden reagiert. Auch ich hatte kein Drehbuch, aber ich hatte ein Gespür für die Masse. Ich weiß immer, wenn ich in einer großen Menschenansammlung bin, was die Leute wollen. Ich spüre das ganz einfach instinktiv.” Aus: Lech Wa sa: Ein Weg der Hoffnung: Autobiographie. Wien 1987, S. 170. 24 Wa sa 1987, S. 205. 25 Zitiert nach Jan Kubik, The Power of Symbols against the Symbols of Power: the Rise of Solidarity and the Fall of State Socialism in Poland, Pennsylvania 1994, S. 189. 26 Kubik 1994, S. 189. 27 Davies 2002, S. 344. 28 Zit. nach Davies 2002, S. 346. 29 Zit. aus der Übersetzung von Walter Schamschula; Mickiewicz, Adam: Die Ahnenfeier. Ein Poem, Köln 1991, S. 301f. 30 Wa sa 1987, S. 176. 31 Vgl. hierzu Ash 2002, S. 49. 32 Vgl. Brigitte Schultze: “Die Erschaffung des Menschen aus Rollen. Zur metatheatralen Ausstellung der Rolle im polnischen Drama der 1920er-1960er Jahre.”, in: Christopher Balme [etc.] (Hg.): Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Tübingen/ Basel 2003, S. 216-242, bes. S. 216. 33 Vgl. Janion/ migrodzka 1978, S. 546. Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” Martin Kušejs Woyzeck-Inszenierung am Bayerischen Staatsschauspiel 2007 Tobias Staab (München) Mit seiner 2007 entstandenen Woyzeck-Inszenierung am Münchner Residenztheater akzentuiert Martin Kušej die Risse und Bruchstellen des Dramenfragments, indem er den Stoff in eine Welt nach der Apokalypse verlegt, in welcher sich Raum und Zeit als undifferenziert und diskontinuierlich zu erkennen geben. So wie der Büchner-Text als Aggregat einer Vielzahl von Stimmen erscheint, zeigt sich auch die Inszenierung von Volksliedern, Märchen, aber auch einer Reihe von kontemporären Fremdtexten durchdrungen. Der vorliegende Aufsatz widmet sich den Konsequenzen, die sich aus einem derart collagierten Textkörper ergeben. Im Rekurs auf postmoderne Zeichentheorien werden auf diese Weise jene Strategien der Inszenierung freigelegt, die vermeintlich festgeschriebene Konstellationen von Sinnbelegungen unterminieren und in ein bewegtes Spiel mit Deutungsstrukturen und Interpretationsebenen münden. Schließlich wird versucht, die exponierten Bewegungslinien des Lese-Akts selbst zu verfolgen und zu reflektieren, um zu der grundlegenden Frage nach den Modi von Rezeption zu gelangen. Woyzeck - Ein Text in Bewegung Die Not von gestern ist die Tugend von heute: die Fragmentierung eines Vorgangs betont seinen Prozeßcharakter, hindert das Verschwinden der Produktion im Produkt, die Vermarktung, macht das Abbild zum Versuchsfeld, auf dem Publikum koproduzieren kann. Ich glaube nicht, dass eine Geschichte, die ‘Hand und Fuß hat’ (die Fabel im klassischen Sinn), der Wirklichkeit noch beikommt. 1 Es ist, als hallten die Worte Heiner Müllers über die komplette Dauer der Woyzeck-Inszenierung im Residenztheater Münchens durch Bühnen- und Zuschauerraum. Martin Kušejs Interpretation nimmt die spezifische Beschaffenheit des Büchner-Textes in ihre Fragestellungen auf und untersucht diese in einer hoch komplexen Auseinandersetzung mit einem Fragmentbegriff, der über den Rahmen üblicher Konnotationen wie “Überbleibsel, Rest, Spur einer Sache” 2 hinausgeht. Ist das Fragment immer Bruchstück eines ehemals Ganzen oder funktioniert es auch für sich allein? Liegt in Splittern eine eigene Wertigkeit, eine eigene Ästhetik? Wie wäre mit dieser umzugehen? Inwieweit die ungewöhnliche Form des Originaltextes, die sich in einer Fülle von Szenen ohne Aktgliederung präsentiert, eine von Büchner selbst intendierte ist, wird in der Forschung nach wie vor viel diskutiert. Ob die zahlreichen Ortswechsel und die kaum präzisierten Angaben der Zeitlichkeit dem unerwarteten Tod des jungen Dichters in Rechnung zu stellen sind oder ob die inhaltliche Zerrissenheit des titelgebenden Protagonisten auch in einer abgeschlossenen Version des Autors ihre formale Entsprechung gefunden hätte, bleibt Spekulation. 3 Fest steht, dass jeder Umgang mit dem erhaltenen Text die Frage des Arrangements, des dramaturgischen Bauplans, weit intensiver stellt als die Auseinandersetzung mit vielen anderen Stücken, welche mit dem Siegel der Vollendung die Hände des Autors verließen. 4 Aus den vier Entwurfshandschriften Büchners wurde seit der ersten Ausgabe aus dem Jahre 1875 immer wieder versucht eine Fassung zu generie- Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 135-149. Gunter Narr Verlag Tübingen 136 Tobias Staab ren, die sich dem vermeintlichen Willen des verstorbenen Dichters auf ein Maximum anzunähern in der Lage ist. Die fast allen nachträglichen Bearbeitungen zu Grunde liegende heimliche Prämisse, Büchner habe vorgehabt, die verstreuten Szenen zu einer Textform zusammenzufassen, die sich letztlich mehr oder minder an den Vorgaben des klassischen Dramas der geschlossenen Form orientiert, ist eine gewagte Unterstellung, deren fragilen Untergrund man leicht zu verdrängen geneigt sein mag. Als Effekt dieser Debatte (zumindest scheint jeder der Teilnehmer - bewusst oder unbewusst - dies zu bestätigen) zeigt sich ein semiotisches Verständnis, das den Text aus seiner vermeintlichen Verankerung löst und als bewegliches Gefüge begreift. Der Sinn eines Textes soll damit nicht als vom Autor festgeschriebene und mit diesem verwobene Einheit, sondern mit Derridas Theorie der Dekonstruktion als variabler Effekt von Differenzen verstanden werden. An die Stelle von Eindeutigkeit tritt ein dynamischer Prozess von permanent im Wechsel begriffenen Bedeutungskonstitutionen und Blickwinkeln. Der Perspektivismus dieses Denkens besagt, daß es vermeidet, erneut eine Perspektive zu verabsolutieren, daß für das eigene Denken die Begrenztheit seiner Perspektive und ihre Verschiebbarkeit mit in Ansatz gebracht werden 5 . Im Falle des Woyzeck-Fragments zeugt bereits die Inszenierungs- und Editionsgeschichte von einer außerordentlich beweglichen Struktur der Sinnbelegung. Durch das Fehlen einer autorisierten Szenenreihenfolge entstand ein großer Spielraum möglicher Arrangements der Szenenentwürfe Büchners, die eine Vielzahl unterschiedlicher Akzentuierungen des Stoffes zuließen. Versteht man mit Culler die Dekonstruktion eines Diskurses als eine Bewegung, als ein [A]ufzeigen, wie er [der Diskurs] selbst die Philosophie, die er vertritt, bzw. die hierarchischen Gegensätze, auf denen er beruht, unterminiert, indem man die rhetorischen Verfahren nachweist, die die angenommene Basis der Beweisführung, den Schlüsselbegriff oder die Vorraussetzung erst schaffen 6 , so stellt sich die Frage, ob dekonstruktive Prozesse am Woyzeck-Fragment nicht per se schon in noch offensichtlicherem Maße sichtbar werden als bei anderen Texten. Auch eine Bühnen- und Lesefassung in der Edition Thomas Michael Mayers, die seit einigen Jahren die allgemein akzeptierte Ausgangsbasis der Aufführungspraxis markiert und mit deren normativer Struktur sich auch diese Arbeit auseinandersetzt, bringt keinen Stillstand in das kontinuierliche Spiel der Bedeutungsproduktion. Der Text bleibt in unablässiger Bewegung, sein Körper entzieht sich einer festen Form. Kušej macht den Umstand, mit einer unsicheren, lückenhaften Zeitlichkeit und einer ungeklärten Handlungsabfolge umgehen zu müssen, formal wie inhaltlich zum Thema seiner Inszenierung. Wenn jedoch scheinbar selbstverständliche Kategorien wie diese in Frage gestellt sind, ist es dann überhaupt zulässig von diesen Parametern ausgehend eine Analyse anzutreten? Was bedeutet es, einen Inszenierungstext zu lesen, der die Struktur seiner Lesbarkeit selbst permanent verschiebt? Anhand einer Untersuchung raumzeitlicher Faktoren der Inszenierung gilt es demnach in einem ersten Schritt herauszufinden, wie mit diesen scheinbar basalen Koordinaten umgegangen wird, um sich in einem weiteren Schritt den Figuren zuzuwenden. Durch das so erörterte Verhältnis des wahrnehmenden Subjekts zu seiner Umwelt wird zu zeigen sein, inwiefern der Inszenierung über die offenkundigen sozialkritischen Tendenzen hinaus daran gelegen ist, Kausalverhältnisse auf ihre konstitutiven Bestandteile hin zu prüfen und damit die elementarsten Kriterien unserer Wahrnehmung zu hinterfragen. Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” 137 Exposition(en) und Fremdtexte Wie Volker Klotz nachgewiesen hat, handelt es sich bei Woyzeck um alles andere als eine klassische geschlossene Dramenform. 7 Die Idee einer Exposition im herkömmlichen Sinne, welche Handlungsstränge und Problemfelder des Mythos vorab umreißt, wird nicht nur formal durch die verschiedenen (notwendigerweise ungesicherten) Editionen des Dramenfragments, sondern auch inhaltlich gesprengt. Durch die bewegliche, instabile Struktur des Woyzeck steht die Exposition, vor allem die des Protagonisten, im Fokus der Untersuchung. In Ermangelung eines besseren Begriffes soll daher im weiteren Verlauf von einer Figurenexposition - in Abgrenzung zu einer Exposition der Umwelt bzw. der Gesellschaft, die diese umgibt - die Rede sein. Die Figurenexposition gliedert sich in der Inszenierungspraxis in zwei gängige Richtungen, wobei eine im Sinne der Foliohandschrift H1, die andere gemäß der Foliohandschrift H2 (bzw. der Quarthandschrift H4) einleitet und damit über die Figur Woyzeck entweder das Verdikt des sozialen Opfers oder das des Psychotikers verhängt wird. 8 Kušejs Exposition, gerade weil sie keinen der beiden historisch etablierten Wege beschreitet, bestimmt die Lesart von allem, was im weiteren Verlaufe der Inszenierung folgen wird, maßgeblich. Die Neuverortung wird durch die Montage von Fremdtexten erreicht, die - ganz ähnlich wie bereits in Büchners Textfassungen - in die Narration eingreifen. Während Büchner, wie Klotz nachweist, seine Figuren durch Volkslieder, Sprichworte, Märchen und Bibelstellen ein “unbewusstes Verhältnis zur Sprache” 9 artikulieren lässt, operiert Kušej mit Gegenwartsliteratur und Songtexten, die das Geschehen durch ein apokalyptisches Nach-der- Bombe-Szenario in einen Kontext aktueller politischer Probleme rückt. In beiden Fällen geht es darum, einen Ausdruck für das kollektive Unbewusste der jeweiligen Zeit zu finden. Als wichtigste Inspirationsquellen benennt Kušej (in einer an seine Mitarbeiter gerichteten Vorbemerkung der Internen Textfassung) explizit zwei Texte: Auf der einen Seite stehen die literarisch gefärbten Kriegsberichterstattungen Denis Johnsons, auf der anderen Cormac McCarthys tiefdüsterer Endzeit- Roman Die Straße (2006). 10 Vor allem McCarthys Text konditioniert inhaltlich, durch die ihm eigene atmosphärische Kompromisslosigkeit, wie formal, durch sein hochfrequentes Aufkommen innerhalb der Inszenierung, in frappierender Weise die Rezeption des Stückes. McCarthys Text spielt in einer postapokalyptischen Welt, in der ein namenloser Vater mit seinem Sohn durch die Ruinen Nordamerikas wandert. Da Tiere und Pflanzen längst zu einer dahingeschiedenen Vergangenheit gerechnet werden müssen, ist das Los der beiden Protagonisten dadurch bestimmt, jeden Tag aufs Neue in der Asche nach vergessenen Konserven, Kleidung oder anderweitig Verwertbarem zu suchen. Umherziehende, plündernde Horden, die den Mangel an verfügbaren Nahrungsquellen durch Kannibalismus kompensieren, stellen eine permanente wie omnipräsente Bedrohung dar. Auffällig an McCarthys Text ist weniger die Entwicklung von Handlung oder Charakteren als vielmehr die ausdrückliche Exponierung der Absenz einer solchen. Die tägliche Suche nach Brauchbarem wird zum ewigen, ausgehöhlten Ritual einer zeitlosen Gegenwart, in der jede Idee einer Ethik ihres Sinnes beraubt, unbegreiflich und rudimentär erscheinen muss. Es ist diese aus jeglicher rationalen Ordnung gelöste Welt, die Kušej als Folie für seine Interpretation des Woyzeck-Stoffes wählt. Es wird sich zeigen, in welch besonderem Maße die Inszenierung vom Fatalismus, vom dunklen Geiste McCarthys durchdrungen wird. 138 Tobias Staab “Ein dunkles Floß in der Nacht” 11 - Martin Kušejs Exposition einer Welt In seiner Inszenierung akzentuiert Kušej die Bedeutung der szenischen Exposition doppelt, indem er noch vor den ersten gesprochenen Worten ein Setting präsentiert, dessen bloße Raumwirkung bereits markante Signale setzt, die das Erleben alles Weiteren unwiderruflich prägen. Aus diesem Grund soll der Analyse der Figurenexposition eine Untersuchung der Exposition dieser neuen Umwelt vorausgehen und in einem zweiten Schritt gegenüber gestellt werden. Der Zuschauer erfährt, bereits während er seinen Platz einnimmt, den visuellen Eindruck einer tiefen, bis zur Brandschutzmauer nach hinten geöffneten Bühne, die bei geöffnetem Vorhang einen erkenntnisreichen Blick auf die Szenerie der nächsten zwei Stunden freigibt. Er sieht sich konfrontiert mit einer hügeligen Landschaft aus Müllsäcken, deren unterschiedlich nuancierte Blautöne unter dem stumpfen Neonlicht der an langen Ketten herabhängenden Fabriklampen die sterile Atmosphäre anorganischer Kälte bis weit über den Bühnenrand hinaus tragen. Die grauen, mit Schmutz befleckten Wände scheinen wie Überbleibsel eines vergangenen industriellen Zeitalters, während die Gitterstäbe an den Fenstern auf die Grenzen einer Welt, die ihren Bewohnern zum Gefängnis geworden ist, verweisen. Nach diesem ersten kurzen Eindruck erlischt das Licht schlagartig, um den Zuschauer für einige Momente dem Dunkel zu überlassen. Derartige Blacks, filmisch anmutende Schwarzblenden, werden in der Folge die gesamte Inszenierung des Woyzeck-Fragments strukturieren und das Publikum in immer neue Szenen und Figurenkonstellationen werfen. Indem er den Betrachter mit Dunkelheit blendet, greift Kušej unmittelbar physisch an; er reißt die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum ein, überträgt die Gewalt der Bühnenhandlung auf den Körper des Rezipienten und zwingt diesen, sich immer wieder neu zu verorten und zu orientieren. Das erste dieser Blacks gibt mit seinem Erlöschen zum ersten Mal den Blick auf die Figur Woyzeck frei, der mit einer transparenten Plastiktüte in der rechten Hand seinen starren Blick in den Zuschauerraum geheftet hält. Seine abgetragene Kleidung entzieht sich einer historischen Einordnung und verortet Woyzeck wie alle anderen Figuren in einer zeitlosen Gegenwart. Aus den im Zuschauerraum verteilten Lautsprechern, also einem schwer zu lokalisierenden und damit eher undefinierten Außen, ist das Rauschen eines Gewässers zu vernehmen. Das einzige Geräusch, bis Woyzeck zu sprechen beginnt. Doch schon die ersten Worte stammen nicht aus Büchners Stück. Stattdessen spricht Woyzeck die finalen Sätze von Cormac McCarthys Roman Die Straße. 12 W OYZECK : In den Gewässern gab es einmal Forellen. Man konnte sie in der bernsteingelben Strömung stehen sehen, wo die weißen Ränder ihrer Flossen sanft im Wasser fächelten. Hielt man sie in der Hand, rochen sie nach Moos. Glatt, muskulös, sich windend. Ihr Rücken zeigte wurmlinige Muster, die Karten von der Welt in ihrer Entstehung waren. Karten und Labyrinthe. Von etwas, das sich nicht rückgängig machen ließ. Nicht wieder ins Lot gebracht werden konnte. In den tiefen Bächen und Seen, wo sie lebten, war alles älter als der Mensch und voller Geheimnis. 13 Das Präteritum dieser ersten Sätze akzentuiert bereits die zeitliche Verortung eines Blicks, der Vergangenes rekapituliert. Man weist uns offensichtlich eine künftige Perspektive zu, welche die Harmonie einer funktionierenden Welt nur als weit zurückliegende zu erinnern vermag. Die äußeren Zeichen einer vergessenen Gesellschaft zeigen sich in inhaltslosen Fragmenten, in leeren Hüllen einer vergangenen Zeit. Statt auf soziale Formationen trifft man auf das Bild einzeln versprengter Glie- Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” 139 der, die nur noch durch halbverweste Überbleibsel eines einstigen Gesellschaftsorganismus zusammengehalten werden. Entgegen der offensichtlich exponierten Bühnenrealität des Settings beschreibt Woyzeck die Ordnung einer vergangenen Welt, in der sämtliche Erscheinungsformen ihren natürlichen Platz hatten. Der Kontrast zwischen Lebendigem und Steril-Totem wird darüber hinaus noch verschärft, indem eine natürliche Analogie alles Organischen in einer unbestimmten Vergangenheit angenommen wird. Die Welt erscheint in Woyzecks Worten als metaphysisch strukturierter Kosmos, als Harmonie alles Lebendigen, in der sich die Ordnung der großen Zusammenhänge auch in den kleinsten Elementen spiegelt (als “Karten” auf dem Rücken der Fische). Offensichtlich ist von einem Raum die Rede, der durch Karten erfahrbar gemacht werden kann und - darauf weist die Apostrophierung der “Labyrinthe” hin - ein Zentrum aufweist, von dem aus die Welt geordnet und strukturiert wird. 14 Diese scheinbar goldene Vergangenheit erscheint allerdings lediglich in der Sprache. Tatsächlich agieren die Figuren aber nur innerhalb der unhintergehbaren Realität der auf der Bühne gezeigten Tatsachen: in einer Welt nach der Zivilisation; in einer Welt des Abfalls. Sie geht nicht über die Ränder der Bühne hinaus. 15 In dieser Bühnenrealität gibt es kein organisierendes Zentrum mehr, von dem eine kollektiv anerkannte Ordnung ausgehen könnte. Wer sich wie der Tambourmajor als Subjekt konstituiert, kann sich nicht dauerhaft auf diese Stellung verlassen. Die Hierarchiestrukturen eines solchen Systems sind nie gefestigt. Das Recht des Stärkeren entscheidet über die lokal und temporär limitierten Machtverhältnisse. Jeder kämpft in jeder Sekunde einzig und allein für sich selbst. Dieses Bild wird in der auf den Prolog folgenden ersten Szene erweitert, in der auch erstmals Büchner-Text gesprochen wird. In der Internen Textfassung bezeichnenderweise mit dem Titel Wirklichkeit versehen, zieht Kušej den Auftritt der Großmutter zeitlich nach vorn. Ihr düsteres “Unmärchen” in H1,14, direkt dem Mord an Marie vorangestellt, erzählt die Geschichte der ausweglosen Sinnsuche eines Kindes, die ohne weiteres mit der Situation des Kindes bei McCarthy in Verbindung gebracht werden kann. Klotz sieht in dem Märchen der Großmutter den Integrationspunkt des Dramas: Hierin kommt das Bedeutungsfazit bündig zur Sprache und stellt das aus vielen Einzelpartikeln sich zusammensetzende besondere Geschehen des Dramas in einen größeren Zusammenhang. Es ist der Fluchtpunkt, in dem die vielerlei Perspektiven des Dramas sich koordinieren. 16 Die Entscheidung, dieses Märchen so weit an den Anfang zu setzen, gibt somit eine ganz bestimmte Lesart vor. Kušej enttarnt auf diese Weise das Sinnversprechen des “gesellschaftlich funktionalisierte[n] Himmel[s]” 17 vorneweg als Illusion, als simplen Jahrmarktstrick, was im weiteren Verlauf vor allem für die Figur des Woyzeck eine Rolle spielt. Die exponierten Themenkomplexe zu Raum und Zeit werden hier bereits um den Ausschluss einer metaphysischen Lösung des Problems erweitert. Indem Kušej jedoch diese Textstelle nach vorn zieht und damit direkt an den (neuen) Prolog anknüpfen lässt, legitimiert er einerseits den großflächigen Einsatz des Fremdtextes von McCarthy 18 , andererseits potenziert er jene atmosphärische Grundstimmung, die bereits im Prolog angelegt wurde. Die Katastrophe steht bereits fest, bevor die Bühnenhandlung überhaupt beginnt. Um diese Verhältnisse einzuführen, nimmt sich Kušej für die Exposition dieser Welt fast vierzig Minuten Zeit, also fast die Hälfte der gesamten Inszenierung. Die wichtigen Figuren werden zwar eingeführt und in Relation zueinander gesetzt, die Handlung der Eifersuchtstragödie steht aber gerade an 140 Tobias Staab ihrem Anfang. Indem er Zeit und Raum als Kategorien der Welterfassung disqualifiziert, entzieht er den Figuren die Möglichkeit, sich in ihrer Umgebung zu orientieren. Die Akteure nehmen keinen Einfluss auf die Welt, sondern sind ihr im Gegenteil völlig ausgeliefert. Sie sind die Produkte dessen, was sie umgibt. Einzig Woyzeck stellt hier zunächst eine Ausnahme dar: Er kämpft gegen nicht weniger als gegen die Welt, die ihn umgibt. “Wer das lesen könnte” - Die Figur Woyzeck Die Aufführungsgeschichte des Stoffes lehrt uns, dass die Wahl des Einstiegs den Blick auf die Figur Woyzeck determiniert. In Frage steht der geistige Gesundheitszustand der Hauptfigur. Für den Regisseur geht es dabei um die Entscheidung zwischen sozialkritischer Eifersuchtstragödie oder der dramatischen Skizze einer psychotischen Dekompensation. Ganz zu Beginn der Inszenierung artikuliert Woyzeck die mythischen Erinnerungen von McCarthys Erzähler, worauf die Prolepse auf die Situation direkt vor seinem Mord folgt. Bei seinem daran anschließenden ersten längeren Dialog mit Marie spricht er mit den zynischen, sozialkritischen Worten Dantons, 19 die eine klare Tendenz zur Lesart einer differenzierten Figur bei klarem Verstande ausweisen. Die spürbare Verbitterung in Woyzecks Vortrag vermittelt zudem auf der Ebene des Schauspiels weder den Eindruck des Hysterischen noch des Katatonen, wodurch jedwede Zeichen vermieden werden, die Anlass zur Annahme eines fragilen Psychotikers geben könnten. Gleichwohl behandelt Marie den Vater ihres Kindes allerdings von Beginn an wie einen Delirierenden (“Erkennst du mich? ”) und akzentuiert damit eine kaum zu überwindende kommunikative Barriere, die das Verhältnis der beiden prägt: Woyzeck ist ihr ein Fremder, dessen Sprache sie nicht spricht, dessen Denken sie nicht versteht. Darüber hinaus liefert der ‘Arztbesuch’ Woyzecks dem Zuschauer wichtige Informationen über die mentale Verfassung des Protagonisten. So scheinen die vom Doctor als Krankheitssymptome interpretierten Erscheinungen Woyzecks nicht den herbeieilenden Wahnsinn, sondern eher dessen intensive Affiziertheit durch seine Umwelt zu illustrieren. Vor allem aber können - die Permanenz des unveränderlichen Bühnenbildes ständig im Blick, die Passagen aus McCarthys Roman nachhallend im Ohr - die Weltuntergangsszenarien Woyzecks (“als ginge die Welt in Feuer auf”) kaum mehr als die Visionen eines Verrückten gedeutet werden. Die vermeintlichen Prophezeiungen erscheinen als Erinnerungen an eine bereits erlebte Apokalypse. Auch die in der Inszenierung später folgende Szene Freies Feld, die in der Inszenierungsgeschichte gerne als Beleg seiner Geisteskrankheit vorgeschoben wird, wird in diesem Sinne verstanden. Die Perspektive Woyzecks liegt in einem Außen, von dem aus er versucht, in zeichenhaft erscheinenden Phänomenen der Natur, wie etwa den Formationen der “Schwämme”, Sinnzusammenhänge zu erkennen. Dass Kušej seinen nackten Woyzeck in exakt jenem Moment, da diese Anstrengungen mit dem bedeutungsschwangeren Satzbruchstück “Wer das lesen könnte! ” 20 quittiert werden, die Arme zur Pose des Gekreuzigten erheben lässt, richtet den Fokus einmal mehr auf die Frage nach einer zentralen Sinnstiftungsinstanz. Offensichtlich handelt es sich bei Woyzeck um den einzigen seiner Art, der daran glaubt, in den Ruinen der Welt noch signifikante Spuren einer symbolischen Ordnung entdecken zu können. Er hat die Hoffnung auf eine Besserung der Zustände noch nicht aufgegeben. Die Fetzen ehemaliger Sinnkonstrukte, deren rudimentäre Struktur von den anderen Figuren ignoriert wird, spielen dabei weniger eine Rolle. Doctor und Hauptmann als Repräsen- Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” 141 tanten dieser Gesellschaft verkennen die Versatzstücke vergangener Bedeutungszusammenhänge als ganzheitliche Wahrheiten und vereinnahmen sie für ihre privaten Scheinideologien. Woyzeck dagegen versucht in Phänomenen zu lesen, die unmittelbar von einer originären unkontaminierten Natur stammen. Seine Signifikanten hofft er in Exponaten dieser Natur zu finden, welche die Apokalypse überdauert haben. So sucht er in den Mustern auf der Haut von Forellen und in den rätselhaft anmutenden Formationen der Pilze nach Verweisen auf eine übergeordnete Instanz, ein transzendentales Signifikat, das den in Splittern zerfallenen Ideen wieder Sinn einzuhauchen in der Lage wäre. Die Fähigkeit, diese “Hieroglyphen der Natur” 21 richtig deuten zu können, erkennt die Figur als möglichen Schlüssel zu einer Rettung. Derjenige, der die Zeichen zu lesen und zu einer symbolischen Ordnung zu verbinden in der Lage wäre, müsste - in Analogie zu den über die Inszenierung gestreuten Verweisen auf christliche Motive - als erlösender Messias verstanden werden. Doch schließlich bereitet das Liebesverhältnis Woyzecks zu Marie auch in dieser Inszenierung den Boden für die Peripetie der Handlung: An seiner Beziehung zu Marie wird Woyzecks System zerbrechen. In frappierend emotionaler Erregung sucht er (dessen Figur schauspielerisch bis dahin eher durch analytische Distanz definiert wurde) nach Zeichen an ihr, nach Beweisen, die seinen Verdacht bestätigen oder verwerfen sollen. Er will die “Sünde” 22 auf ihrem Körper lesen können, ist aber nicht in der Lage etwas zu erkennen. Hierbei gilt es sich noch einmal vor Augen zu halten, dass es sich bei den Dingen, die Woyzeck bisher als lesbar erschienen, um Phänomene handelt, die sich gegenüber einer geschändeten Erde stets durch eine gewisse, zumindest von ihm selbst empfundene Reinheit auszeichnen: Die Forellen in ihrer Natürlichkeit als Ausdruck einer harmonischen Welt vor der Katastrophe; die Schwämme als zu den wenigen Erscheinungen der Natur gehörend, die scheinbar in der Lage waren das Inferno zu überdauern. Und schließlich Marie, die letzte Jungfrau, die heilige Mutter Christi. 23 War Woyzeck bisher noch überzeugt, als außen stehender Beobachter eine Sonderposition innezuhaben, von der aus sich Welt und Gesellschaft analysieren (und womöglich heilen) lassen, so verliert er mit dem Aufkommen des Zweifels an der Integrität seiner Geliebten jenes Schild, welches ihn bisher davor bewahren konnte, von dieser Welt aufgesogen zu werden. Mit der Reinheit der Mutter verschwindet die letzte Ganzheit, der letzte Wert, den Woyzeck bis hierhin bewahrt zu haben glaubte. Mit dem Verrat zieht sich durch seine heilige Familie (als aus der Vergangenheit gerettetes, eine Zukunft garantierendes Kleinod) ein irreparabler Riss. Another brick in the wall Woyzeck ist ab diesem ersten Zweifel an seiner Lesefähigkeit ein anderer. Ohne die Sicherheit seiner kritischen Distanz verliert er sich zusehends in der zerstörten Welt, die ihn nach und nach aufsaugt. Besonders deutlich wird dies durch sein verändertes Verhalten bei den folgenden Szenen, in denen er sich nicht mehr in einem Außen, sondern zwischen den anderen Figuren, als Teil der Gesellschaft, positioniert. Ob er zusammen mit Andres in das “Volkslied” 24 Kurt Cobains oder als einer der verstreut im Müll Liegenden in die nihilistische Formel “Immer zu” 25 einstimmt - Woyzeck ist dabei, das Bewusstsein der Unterscheidung zwischen sich und seiner Umwelt zu verlieren. Stattdessen beginnt er deren Strukturen zu affirmieren und sich in diese einzugliedern. Mit dem Nirvana- Song Smells Like Teen Spirit dekonstruiert Kušej in diesem Zusammenhang eine gängige Position zur sozialisierenden und damit das dramatische Individuum psychisch stabilisie- 142 Tobias Staab renden Funktion von Volksliedern, die von Klotz vertreten wird: Vermag die Sprache dort Anker zu werfen, so ist der Einsame für einen Augenblick aus seiner Einsamkeit gelöst. Volkslied und Sprichwort leihen seinen Äußerungen Halt und Stütze; denn sie sind aller Besitz. Sie bergen alte Erfahrungen und Weisheiten, nach denen das Unbewusste strebt, sich Bestätigung zu holen. 26 Die Inszenierung etabliert das Volkslied zwar in ähnlicher Form als Brücke zu einem Kollektiv, reflektiert aber zusätzlich die Beschaffenheit der Woyzeck umgebenden Gesellschaft auf zynische Weise. Durch den gemeinsamen Song nähert er sich dabei Andres an, welcher schon im Büchner-Text als charakterarmer, nur kollektives Gedankengut reproduzierender Repräsentant der herrschenden Gesellschaft dargestellt wird. Dass es es sich bei dem Nirvana-Song um die nihilistische Hymne der verlorenen Generation X handelt, deren Selbstverständnis durch “die Erkenntnis des wesentlichen Alleinseins in der Welt” 27 geprägt war, hebt Woyzecks völlige Selbstaufgabe gleichsam auf einer weiteren Ebene emphatisch hervor. 28 Diese Entwicklung findet ihren Höhepunkt in der Testamentszene. Seiner Kleidung entledigt und blutverschmiert, ruft die visuelle Erscheinung des Woyzeck hier ein weiteres Mal Assoziationen an die Ikonographie des christlichen Erlösers (diesmal als Schmerzensmann) auf: Auch Woyzeck wird sich opfern, jedoch ohne ein Heilsversprechen zu geben. Mit den Worten Dantons erkennt er stattdessen nicht nur seine Existenz als eine unter vielen an, sondern er artikuliert auch ein Weltverständnis, mit dem es dem Einzelnen nicht mehr möglich ist, dem gesellschaftlichen Korsett zu entkommen. Er öffnet einen der Müllsäcke und blickt nicht nur ins Innere, sondern auch in die Vergangenheit dieser Welt, die in Plastik verpackt auf ihre Abholung wartet. Der Zuschauer, der bisher parallel zur Hauptfigur durch Strukturieren und Deuten des exponierten Zeichenangebots auf ein schlüssiges Verständnis hoffte, kann vor diesem Hintergrund seine Vermutungen verifizieren: Die schwarze Erde, die aus dem Müllsack auf die Rampe geschüttet wird, erscheint in ihrer Organik als seltsamer Fremdkörper im sterilen Gefängnis der Bühnenwelt; als bedeutungsloses Überbleibsel einer Natur, die bisher entweder als Fischkadaver oder als sprachlich geäußerte Erinnerung auf der Bühne exponiert wurde. Die von Woyzeck einst vermutete Harmonie des Kosmos gründete, wie wir gesehen haben, in einer organischen Vitalität der Natur. Mit der Erkenntnis der sterilisierten Wesenhaftigkeit der Erde jedoch verebbt auch die Lesebewegung, die Verfolgung der Sinnspur, in Unfruchtbarkeit. Woyzeck kann den Dingen keine Bedeutung mehr zuordnen. Aus dem Inneren des Sacks entnimmt er mehrere einstmals für ihn signifikante Objekte, die ihm nun in ihrer bloßen Materialität erscheinen und gleichgültig geworden sind. Für den Zuschauer sind sie einerseits als Repräsentanten einzelner Wertesysteme aus früheren Zeiten (der Gegenwart des Publikums), andererseits als ganz persönliche Erinnerungsstücke Woyzecks erkennbar. Ring, Kreuz, die Kette aus “zwei Herzen”, Bibel und Heiligenbild verbinden sich noch einmal zu eben jener Ebene, die bisher die Plattform einer Hoffnung markierte, nun jedoch - zersetzt in einzelne Splitter - keinen Halt mehr zu gewähren in der Lage ist. Woyzeck selbst liefert mit seinen Erklärungen zu den einzelnen Gegenständen den erneuten Bezug, zurück zur über allem stehenden Idee der Familie. So findet sich im Müllsack neben den Splittern aus Woyzecks persönlichem Wertekosmos eine Akkumulation von Symbolen einstmals kollektiver Sinnsysteme: Gold, Kreuz, Familie, “alles passé” 29 . Mit der Absage an all diese Sinnbzw. Wertordnungen durchtrennt Woyzeck das Band zum Publikum. Er wirft die ihm leer gewordenen Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” 143 Objekte achtlos beiseite, lacht sogar höhnisch über die Bedeutung, die er ihnen in der Vergangenheit beizumessen bereit war. Die Dinge, die dem Zuschauer vielleicht wertvoll erscheinen mögen, haben in der Realität der Bühne ihren Glanz verloren und weisen nicht mehr über sich hinaus. Hier zeigt sich, dass das Publikum zusammen mit Woyzeck eine Entwicklung durchmachen musste, an deren Ende eine bittere Erkenntnis steht: Alles, was Kraft zum Widerstand spendete, entpuppt sich als Trugbild. So verabschiedet sich schließlich auch Woyzeck als Identifikationsfigur, indem er sich jener Welt hingibt, der er bisher analog zum Zuschauer als externer Beobachter gegenüberstand. Er reibt Gesicht und Körper mit Erde ein und wird damit Teil dieser Welt, Teil des Inhalts der Müllsäcke, Teil des Abfalls. Auch er bedeutet sich selbst nun nichts mehr. Die Bedeutung seiner Identität war genauso an Lebendigkeit geknüpft wie die Funktionalität der signifikanten Muster auf der Körperoberfläche der Forellen. Mit der Gewissheit, dass Marie ein Teil jener autodestruktiven Gesellschaft, jener Meute ist, erstirbt in Woyzeck das Verlangen in den etwaigen Zeichen der Natur die Schrift einer höheren Erkenntnis zu entdecken. Es besteht keine Verbindung mehr zum ‘Atem der alten Welt’. Mit Marie verliert Woyzeck “Sinn und Mitte seines Lebens” 30 , und damit den Antrieb, sich außerhalb seiner Umgebung zu positionieren. Mit den Worten aus einem Brief Büchners an seine Geliebte Wilhelmine Jaeglé tritt auch Woyzeck in die Meute ein: “Ich gewöhne mein Auge ans Blut. Ich bin wie in mir vernichtet, ein einzelnes Gefühl taucht nicht in mir auf. Ich bin ein Automat, die Seele ist mir genommen.” 31 Als Automat kann Woyzeck kein Subjekt mehr sein. Er willigt ein, sein künftiges Tun von jener anonymen destruktiven Macht bestimmen zu lassen, die von den letzten menschlichen Bewohnern der Welt längst Besitz ergriffen hat. Der Kulturwissenschaftler Silvio Vietta bemerkt zu Büchners Brief: Büchner kann die aus den materialistischen Naturwissenschaften stammende Maschinen- und Automatenmetapher zur Kennzeichnung der politischen Wirklichkeit benutzen, weil in beiden die Kategorie der Freiheit und der Selbstbestimmung negiert wird. 32 So entsteht alles, was in der Chronologie der Ereignisse auf der Bühne nun folgt, nicht mehr aus dem freien Willen eines autonom agierenden Individuums. Die anfängliche Affiziertheit Woyzecks durch seine Umwelt, die Klotz in der sprachlichen Figur der “transzendentale[n] Evokation” 33 identifiziert, schlägt nun in einer radikalen Erschütterung der Machtrelationen auf den Protagonisten zurück: Er ertrinkt in seiner Umwelt; das “Subjekt Woyzeck” wird zum Unterworfenen. Der Kreis schließt sich Der zweite Auftritt der Großmutter bildet schließlich nicht nur formal, sondern auch inhaltlich die Klammer für die Inszenierung. Erneut werden die Themenkomplexe des Märchens vom Beginn behandelt, nur weicht nun die lyrische Form des Berichts einer nüchternen Beschreibung der (Bühnen-) Wirklichkeit. Handelte es sich zu Anfang noch um eine nach vorn gezogene Textstelle Büchners, so spricht die Großmutter bei ihrem zweiten Auftritt in den trostlosen Worten McCarthys. Der Nihilismus, der im Märchen zu Beginn noch dunkle Ahnung war, gibt sich in seiner Unausweichlichkeit zu erkennen. So zeugt das entfernte Lachen der Kinder, das aus den Lautsprechern über die verlassene Bühne erklingt, nicht mehr von jener vermeintlichen Hoffnung des Wasserrauschens zu Beginn; genauso wenig wie die absurde Suche nach dem “Bub […] Christian” 34 , dessen Erscheinen als Erlöser von den Figuren erhofft wird, an dessen Existenz im 144 Tobias Staab Zuschauerraum jedoch keiner mehr so recht glauben mag. Der Zuschauer hat bis zu diesem späten Zeitpunkt der Inszenierung zu unterscheiden gelernt: Die radikale Wirklichkeit des visuell Exponierten unterminiert die nur sprachlich formulierten Räume. Als Erinnerungen ausgesprochen und wiederholt, verblassen sie im Angesicht des Immergleichen zusehends, werden immer unwahrscheinlicher. So auch Woyzecks Sohn. Das Fehlen des Kindes ist eine Leerstelle, die sich mit nichts aus dieser Welt füllen lässt. Mit der Erkenntnis dieser Absenz erlischt die Hoffnung auf einen möglichen Heiland, der sich noch einmal gegenüber der Welt positioniert, sie zu lesen und zu beherrschen versucht und den verlorenen Kampf des Vaters weiterführt. So ist das Ende der Inszenierung erreicht. Statt am Ende einer Entwicklung befindet sich Woyzeck wieder an der Ausgangssituation: Zeitlich unmittelbar nach dem “traurigste[n] und böseste[n] Märchen, das man zu unserer Zeit erzählen kann” 35 , einer ernüchternden Beschreibung der “Wirklichkeit” 36 , und direkt vor dem Mord an seiner Geliebten. Mit der Wiederholung des kurzen Dialogs zwischen Marie und Woyzeck schließt sich die Bewegung der Geschichte zu einem Kreis und negiert damit die Möglichkeit von Entwicklung und Ende gleichermaßen. Selbst der unvermeidliche Tod der beiden Hauptfiguren muss in diesem Sinne weniger als Abschluss denn als unendliche Bewegung einer Wiederholung angesehen werden, in der keine Differenz mehr aufscheint. Eine Welt des ewigen Krieges und der immerwährenden Vernichtung. Kušej zeichnet das dunkle Bild eines unausweichlichen Determinismus, der nicht linear und teleologisch, sondern als Drehbewegung um die eigene Achse funktioniert. Was mit der radikalen Umstellung der einzelnen Szenen schon in den ersten Minuten angedeutet wurde, gibt sich zum Ende des Stückes als bittere Wahrheit zu erkennen. Kušej zeigt, indem er das Ende von McCarthys Roman an den Beginn seiner Bühnenerzählung stellt, dass dieser Kampf schon von vornherein verloren ist. Die komplex verschachtelte Struktur der filmisch montierten und durch eine Vielzahl von Blacks zerschnittenen letzten 24 Minuten der Inszenierung ist das Ergebnis von Woyzecks veränderter Wahrnehmung, dessen ordnend rationaler Blick dem Publikum nur bis zu seiner Automatwerdung zur Seite stand. Mit seiner Eingliederung in das Chaos der postapokalyptischen Welt geht seine ordnende Perspektive auch dem Zuschauer verloren. Woyzeck ist kein externer Beobachter mehr. Stattdessen sind für ihn, wie für die anderen Figuren, Zeit, Raum und Welt aus den Fugen. Die ineinander geschachtelte Struktur dieser Schlussszenen, die zeitlich keiner linearen Chronologie mehr folgen, nimmt dabei auf einer anderen Ebene Bezug auf den Anfangsmonolog Woyzecks, in welchem dieser sich noch mit den Worten von McCarthys Erzähler an die Ordnung einer gesunden Vergangenheit zurückerinnerte. Die zu Anfang beschriebenen Analogien von Mikro- und Makrokosmos finden im Szenenarrangement insofern ihren Ausdruck, als sowohl in der Gesamtinszenierung als auch im zeitlich gebrochenen Szenenkomplex am Ende der Inszenierung der Schluss vorgezogen und an den Anfang gesetzt ist. Aufs Ganze betrachtet sehen wir uns zu Beginn der Inszenierung mit den letzten Worten aus Die Straße, wenig später mit der Situation der Protagonisten kurz vor dem Mord konfrontiert. Im Finale wird der eigentliche Mord zeitlich übersprungen und eine Szene mit dem blutverschmierten Woyzeck der Tat vorangestellt. Dadurch wächst der benannte Determinismus zu einem zynischen Kommentar des Prologs, indem er sich die dort exponierte Harmonie des Kosmos aneignet und invertiert. Nicht mehr die Idee des Lebens, sondern jene einer unentrinnbaren Destruktion wird nun als ein das Kleine wie das Große durchdringendes Prinzip entlarvt. Statt der göttlich garantierten Ordnung der Vergangenheit findet sich in Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” 145 der dezentrierten Gegenwart nur noch ein ubiquitär waltendes Chaos. Zeit funktioniert nicht mehr chronologisch, Raum ist nicht mehr differenzierbar. Wir befinden uns wieder an jenem Anfang, der das Ende vorwegnahm. Raschen Filmschnitten gleich verändert sich die Örtlichkeit, während doch alles gleich bleibt. Durch parallele Figurenkonstellationen und semantische Kohäsionen werden die örtlich und zeitlich durcheinander gewürfelten Szenen miteinander verknüpft und verwachsen durch analoge Bildeindrücke mit dem Beginn der Inszenierung. Die Wiederholung des Anfangs lässt auf einen Kreislauf schließen, der sich unendlich weiter denken lässt: als ewige Wiederholung des Gleichen, als hoffnungsloser Fatalismus, der vor allem deshalb so dunkel anmutet, weil keine Perspektive einer möglichen Veränderung zugelassen wird. Die Erde wird sich weiter drehen, nur eben “spurlos und unvermerkt” 37 , dem Prinzip der Wiederholung unterworfen, und ohne Chance auf Entwicklung. Die Welt, die “nicht wieder ins Lot gebracht werden” 38 kann, ist nun für alle Figuren unumstößliche Realität. Kušej betont explizit den Charakter des Fragments, indem er die verschiedenen Ebenen der Inszenierung von einer solchen Struktur durchdringen lässt. Die rudimentären Bruchstücke ehemaliger Sinnsysteme haften all den Figuren auf verschiedene Weise an. Die Ideologien von einst erscheinen entwurzelt, unzusammenhängend und fragmentiert, die Fundamente denkbarer Sinnkonstrukte finden auf dem Boden der neuen Realität keinen Halt mehr. Während alle Figuren außer Woyzeck jedoch dazu in der Lage sind, die leere Struktur ihrer automatisierten Gesten (ob es sich nun um Zeichen des Faschismus, den Fortschrittsglauben der Wissenschaft oder die Überlegungen zur Moral handelt) einfach zu ignorieren, ist der Protagonist maßgeblich daran interessiert eine Möglichkeit zu finden, Kohärenz zu stiften. Er versucht die Einzelteile wieder zu einem funktionierenden Ganzen zusammen zu fügen, indem er nach Hinweisen, Zeichen, versteckten Codes sucht. Eine Bewegung, die ihn auf eine Ebene mit dem Zuschauer stellt. Dieser sieht sich bei der Inszenierung Kušejs auch in formaler Hinsicht einem Fragment gegenüber. Die Blacks betonen dabei emphatisch, dass es sich bei den einzelnen Szenen selbst nur um Bruchstücke einer dramatischen Narration handelt, die der Autor Büchner nie in eine feststehende Ordnung brachte oder bringen wollte. Der Zuschauer ist dabei wie Woyzeck einer Lesebewegung - oder besser: einer Suchbewegung - ausgesetzt. Beide sehen sich einer Welt aus Splittern gegenüber und sind bestrebt, diese nach den Maßgaben ihrer Weltanschauung, also nach jenen der Rationalität, als ordnendes Subjekt zu strukturieren. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass dem Streben, aus dem sich selbst permanent dekonstruierenden Aggregat der Splitter eine kohärente Einheit zu schaffen, ein Widerspruch zugrunde liegt. Der Versuch an sich widerstreitet dem offenen Wesen des Fragments, welches gerade durch seine Bruchstellen in einem stetigen Werden begriffen ist und sich nicht auf eine feste Form begrenzen lässt. Kušej weist in aller Deutlichkeit darauf hin, dass die Mechanismen des Rationalen in einem solchen Fall nicht greifen, dass hier nicht im Sinne einer linearen Zeitlichkeit, sondern nach einem Prinzip unzähliger Diskontinuitäten gearbeitet werden muss. Entsprechend darf sich der Zuschauer fragen, inwieweit diese ausgestellte Zukunft überhaupt als solche funktionieren kann, wenn die von Woyzeck formulierte Vorstellung einer Vergangenheit womöglich nur auf einer kausalen Konstruktion von Chronologie fußt, die letztlich als “rhetorische Operation” 39 entlarvt werden kann. Und weiter: Ist Geschichte an sich nicht stets subjektrelative Fiktion? Müssen nicht Kausalkonstruktionen jeglicher Art auf diese Weise hinterfragt werden, da sie sich immer auf fragmentierte Ereignisse beziehen, die künst- 146 Tobias Staab lich in ein logisches Einheits-Verhältnis gesetzt werden? Wir gelangen also wieder zur anfangs gestellten Frage nach Linearität und Chronologie, die sich notwendigerweise auf den größeren philosophischen Rahmen verschieben muss, wie aus der Internen Textfassung hervorgeht: “[W]ir sind an der wichtigen Frage über das Verhältnis des Subjekts zum Objekt.” 40 Es geht um nicht weniger als die Wahrnehmung selbst und mit welchen Mitteln das Rauschen unzähliger, unzusammenhängender Reize auf ein vermeintliches Verstehen hin strukturiert wird. Sämtliche thematischen Komplexe des Büchner-Textes - ob es nun um die Frage nach Wirklichkeit und Wahnsinn oder um sozial determinierte Ethikbegriffe geht - müssen sich dieser zentralen Fragestellung Kušejs unterordnen. Um den Blick des Zuschauers unmittelbar zu dirigieren und zugleich zu dezentrieren, führt er seinen Woyzeck von Anfang an als Rationalisten ein. Er benötigt eine Figur, die dem Selbstverständnis des Zuschauers verwandt ist, die über ähnliche Werkzeuge des Zugriffs auf Welt verfügt. Mit dieser Strategie gelingt es ihm, den Zuschauer selbst auf den Weg Woyzecks zu schicken. Am Ende des Versuchs, sich diese Welt anzueignen, sie rational zu erfassen und zu durchdringen, ihre Zeichen zu lesen und über sie zu herrschen, steht die Erkenntnis des Scheiterns. Damit kreist die Inszenierung um ein Moment, das bereits Büchners Woyzeck eingeschrieben ist: In der Verweigerung, sich dem Publikum ohne weiteres hinzugeben, präsentiert sich der Text (sowohl was die Ebene des Dramas als auch was die der Inszenierung betrifft) in seiner Bewegtheit, seinem offenen Wesen. Dekonstruktion heißt, den Texten in ihren Bedeutungen soweit nachzuspüren (und dass hier der Begriff der Spur anklingt, kann diesen Umstand zusätzlich sprachlich plausibilisieren), dass offensichtlich wird, dass jeder Begriff, den ein Text einsetzt und bestimmt, seine eigene Bestimmung wieder unterläuft, dass jeder Begriff auf andere Begriffe verweist, die seine Bedeutung selbst relativieren oder gar suspendieren können 41 Somit kann die Suche nach der Spur als zentraler Impuls der Inszenierung begriffen werden, die durch die Akzentuierung des fragmentarischen Charakters noch auf einer weiteren Ebene manifest wird: Wenn Texte als “Spiel aufeinander verweisender Signifikanten” 42 angesehen werden müssen, deren Bedeutungen durch kontextuelle Verschiebungen permanent performativ neu konstituiert werden können, so bildet diese Erkenntnis ganz und gar das Herz dieser Inszenierung. Die formalen Erkenntnisse der Theorie der Dekonstruktion infizieren durch Kušejs Bühnenadaption auch den Inhalt, was die ohnehin schon verschlungenen Bewegungslinien der Bedeutungszuweisungen zu einem noch komplexeren Spiel reizt. Nicht genug, dass durch die Montage von Texten und das Neuarrangement der einzelnen Szenen solche Verschiebungen provoziert werden; vielmehr überträgt Kušej das subversive Spiel auf das Denken des Zuschauers selbst. Dieser erkennt einerseits in Woyzeck seine eigenen Mechanismen der Bedeutungskonstitution, muss diese als unhinterfragte Konditionen seines Denkens in der Konsequenz allerdings genauso wie jene der Figur von Grund auf reflektieren. Der rationalistische Zugriff auf die Welt wird als Inszenierung, als performative Konstruktion entlarvt, die Welt als raumzeitliches Ganzes erst hervorbringt. Infrage steht somit nichts Geringeres als das abendländische Subjekt in seiner Struktur als Ankerpunkt von Weltwahrnehmung und dessen Umgang mit den scheinbar unhintergehbaren Entitäten einer kollektiv vereinbarten Wirklichkeit. Mit der Bearbeitung des Stoffes zu diskontinuierlichen Handlungsfetzen in einer scheinbar grenzenlosen Wüste aus Müllsäcken verschiebt Kušej den Stoff auf ein reduktionistisches Level, welches die - als selbstverständlich angenommenen - Kategorien unserer Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” 147 Wahrnehmung unterläuft und den Zuschauer dazu zwingt, deren elementarste Operationsbedingungen von Grund auf zu hinterfragen. Womöglich ist gerade dies ein Grund für die drastische Wirkung einer Inszenierung, die selten mehr als zwei Vorhänge Applaus erntet und die Zuschauer in aller Regel schweigend in deren ‘Realität’ zurück entlässt. Anmerkungen 1 Heiner Müller: “Ein Brief”, in: Ders.: Theater- Arbeit, Berlin 1975, S. 125. 2 Michael Braun: Hörreste, Sehreste. Das Literarische Fragment bei Büchner, Kafka, Benn und Celan. Köln [etc.] 2002, S. 29. 3 Vgl. Braun 2002, S. 48-51. 4 Vgl. Henri Poschmann (Hg.): Georg Büchner, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, Bd. I, Frankfurt/ Main 2006, S. 675-714. Wenn sich im Folgenden auf Poschmanns Ausgabe bezogen wird, markiert die hinten anstehende römische Ziffer in Klammern die Bezugnahme auf den entsprechenden Band. Zur Problematik der Texteditionen vgl. außerdem: Dedners Nachwort, in: Georg Büchner: Woyzeck. Studienausgabe. Stuttgart 1999, S. 175-210, sowie Braun 2002, S. 95-107. 5 Heinz Kimmerle: Jacques Derrida zur Einführung. Hamburg 2000, S. 48. 6 Jonathan Culler: Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek 1999, S. 96. 7 Zum Begriff des offenen und geschlossenen Dramas vgl. Volker Klotz, Geschlossene und offene Form im Drama, München 1968. Da Klotz den Begriff des offenen Dramas weniger zu prägen als in Abgrenzung zur geschlossenen Form zu definieren in der Lage ist, wäre es sinnvoller, von einer nicht-geschlossenen Form zu sprechen. Wenn im folgenden jedoch direkt auf Klotz (und dessen Terminologie) Bezug genommen wird, soll des besseren Verständnisses wegen trotzdem vom Drama der offenen Form die Rede sein. 8 Diese Arbeit orientiert sich mit Dedners Ausgabe (Büchner 1999) an der allgemein anerkannten Einteilung in H1-4, bei der - im Unterschied zu Poschmanns Einteilung (Poschmann 2006 (I)) - das Quartblatt als H3 bezeichnet wird. 9 Klotz 1968, p. 225. 10 Vgl. Cormac McCarthy, Die Straße, Reinbek 2007 und Denis Johnson, In der Hölle. Blicke in den Abgrund der Welt, Reinbek 2006. 11 Ein dunkles Floß in der Nacht ist der Titel internen (lediglich für die Mitarbeiter des Stückes bestimmten) Textfassung, die Kušej als Arbeitsgrundlage benutzte. Wird sich im Folgenden auf diese Fassung bezogen, wird von ihr lediglich als Interne Textfassung die Rede sein. 12 Vgl. McCarthy 2007, S. 253. 13 Interne Textfassung, Stand: 08.06.2007, Prolog. Da die Interne Textfassung nicht in einer festgelegten Formatierung besteht und daher in den verschiedenen vorliegenden Textdateien (gleichen Inhalts) voneinander abweichende Seitenzahlen aufweist, wird diese im weiteren Verlauf mit den Nummern der entsprechenden Szene zitiert. Zwei Szenen, im Folgenden in Berufung auf die Interne Textfassung als Prolog und Wirklichkeit betitelt, sind dabei der Szenennummer 1 vorgelagert. 14 Zum Begriff des Labyrinths vgl. Hermann Kern, Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds, München 1983. 15 Diese Beobachtung einer differenzlosen Welt wird beispielsweise in der clownesken Szene 7 manifest, in der Woyzeck zusammen mit Andres völlig unsystematisch (und ohne etwaige Ergebnisse zu notieren) den Bühnenraum vermisst. In dieselbe Richtung deutet der Umstand, dass sich das Bühnenbild trotz inhaltlich verordneter Ortswechsel nie ändert, was etwa besonders im chronologisch völlig neu arrangierten Schluss deutlich wird (vgl. Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 19-23), wenn durch Blacks getrennte Szenen, deren jeweilige Örtlichkeiten aufeinander Bezug nehmen, keine Konsequenzen auf den tatsächlich ausgestellten Raum haben (der See müsste sich einmal in der linken hinteren Ecke des Bühnenraums, in der Szene darauf direkt in der Mitte befinden etc.). 16 Klotz 1968, S. 114. 148 Tobias Staab 17 Martina Kitzbichler, Aufbegehren der Natur. Das Schicksal der vergesellschafteten Seele in Georg Büchners Werk, Opladen 1993, S. 147. 18 Die Wirksamkeit des Märchens auf inhaltlicher sowie formaler Ebene zeigt sich in der Relation zu den McCarthys Text abschließenden poetischen Ausführungen über eine vergangene Welt, welche Kušej an den Anfang seiner Inszenierung setzt. Die inhaltlichen Kohärenzen dieser beiden Texte, die sich in der Inszenierung noch über eine weitere Achse in einer zweiten Rede der Großmutter spiegeln, verdeutlichen nicht nur den immer wieder erkannten Effekt einer unendlichen Wiederholung, sondern sorgen zudem für eine feste und durch Büchner selbst abgesicherte Grundlage einer Technik der Eingliederung von externen Texten in die Inszenierung. 19 Vgl. Poschmann 2006 (I), S. 47f. In diesem Kontext erscheint gerade die Situation in Dantons Tod, aus welcher jene Zeilen enthoben und in Woyzecks Mund gelegt wurden, nicht uninteressant. Dantons zur Schau getragene Indifferenz gegenüber den ihn umgebenden Missständen lassen Schlüsse auf das sensible Gemüt eines wachen Geistes zu, welcher seinen Zynismus als Schild, einzig aus Gründen des Selbstschutzes vor sich trägt. Danton (Woyzeck), das wird bereits in diesen wenigen Worten deutlich, erkennt klar und deutlich die Problematik seiner politischen Wirklichkeit und durchschaut zudem seine Mitmenschen, welchen allerdings im Gegenzug das Vermögen fehlt, auf seine Sicht der Dinge einzugehen. 20 Ebd. 21 Kitzbichler 1993, S. 148. 22 Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 11. 23 Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 24. Der Verweis auf die Heilige Familie des christlichen Glaubens gründet auf dem beweglichen Spiel zahlreicher Zeichen und Verweise, sowohl innerhalb des Büchner-Textes, als auch der Inszenierung Kušejs, welches im Rahmen letzterer gerade im Hinblick auf die Figurenkonstellation der Woyzeck-Familie eine entscheidende Verdichtung erfährt. So erscheint es kaum verwunderlich, dass mit dem Verlust der unbefleckten Mutter auch der künftige Sohn Christian abhanden geht (vgl. Ikumi Waragai, Analogien zur Bibel im Werk Büchners. Religiöse Sprache als sozialkritisches Instrument. In: Frankfurt/ Main 1996). 24 Klotz 1968, S. 203. Setzt man den hohen Bekanntheitsgrad und Wiedererkennungswert der Popsongs Smells Like Teen Spirit (Nirvana) und Another Brick In The Wall (Pink Floyd) beim Publikum voraus, so kann eine funktionale Entsprechung zum Volkslied aus Büchners Zeit erkannt werden. Der Charakter des Popsongs als Kollektivgut und die sich dadurch auch inhaltlich ergebenden Konsequenzen für die Selbstwahrnehmung der Figuren als Teil eines solchen Kollektivs wird in dem von Andres an anderer Stelle vorgetragenen Pink Floyd-Stück noch einmal unterstrichen (“All in all you’re just another brick in the wall”). Zur Funktion des Liedes im Drama vgl. Klotz 1968, S. 203-213. 25 Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 13. 26 Klotz 1968, S. 201. 27 Douglas Coupland, Generation X. Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur, Berlin [etc.] 1994. Der Roman Couplands beschreibt in einer weiteren Analogie zur Inszenierung das Zeitverständnis der desillusionierten Generation X als ein “(s)ich einreden, daß die einzige Zeit, die es wert war zu leben, die Vergangenheit war” (Coupland 1994, S. 63). 28 Über den Text des Songs hinaus muss die Assoziation zur Geschichte Kurt Cobains, dem Sänger der Band, beachtet werden, welcher sich nach Jahren der Heroinsucht im April 2004 unter obskuren Umständen das Leben nahm. Er wurde zur Ikone einer sich selbst als verloren empfindenden Jugend; sein Selbstmord erschien vielen als logische Konsequenz seiner Gedichte und Songtexte sowie seiner posthum veröffentlichten Tagebücher. Zum Leben Kurt Cobains vgl. Dave Thompson, Nirvana. Das schnelle Leben des Kurt Cobain, München 1994 und Kurt Cobain, Tagebücher, Frankfurt/ Main 2002. 29 Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 4. 30 Braun 2002, S. 118. 31 Poschmann (II) 1999, S. 378. 32 Silvio Vietta, Neuzeitliche Rationalität und moderne literarische Sprachkritik, München 1981, S. 105. Bewegungen durch Splitter - “Wer das lesen könnt” 149 33 Klotz 1968, S. 182: “[D]ie Sprachfigur lebt ganz aus dem faszinierten Ich, das nicht urteilt, sondern beschwört. Das Faszinierende ist jedoch so übermächtig, daß es das Ich nicht nur zum Objekt macht, sondern noch darüber hinaus die Individualität dieses Ich eingehen läßt in die Gemeinsamkeit aller, die in diesem Moment dem Walten der Natur ausgesetzt sind”. 34 Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 24. Zur Namensanalogie Christus/ Christian im Woyzeck vgl. Waragai 1996, S. 120. Die Tatsache, dass Woyzeck das Kind mit Namen anspricht, deutet auf die Eingliederung der Figur in die Gruppe derer hin, die an der Hoffnung festhalten, das Kind (welches in der Inszenierung zu keinem Zeitpunkt auftaucht und in diesem Sinne wohl als leeres Phantasma einer nicht zu erfüllenden Sehnsucht nach einer Sinn stiftenden Instanz identifiziert werden kann) müsse der Erlöser sein. 35 Interne Textfassung 08.06.2007, Vorbemerkung. Der Verweis auf “unsere Zeit” erscheint ein weiteres Mal signifikant für das Bestreben einer notwendigen Verknüpfung der auf der Bühne dargestellten ‘Zukunft’ mit einer vermeintlichen Gegenwart der Zuschauer. 36 Die Szene, in der die Großmutter das Märchen aus dem Büchner-Text erzählt (direkt nach dem Prolog und vor Szene 1), wird in der Internen Textfassung als Wirklichkeit betitelt. 37 Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 18. 38 Interne Textfassung, Stand: 08.06.2007, Prolog. 39 Culler 1999, S. 96. Culler bezieht sich in diesem Zusammenhang auf eine Überlegung Nietzsches, die die scheinbar gegebene Phänomenalität von Ursache und Wirkung als nachträglich angebrachte Konstruktion erkennt. 40 Interne Textfassung 08.06.2007, Szene 16. 41 Oliver Jahraus, Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen 2004, S. 326. 42 Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/ Main 1983, S. 17. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Ein Lieto fine, ein glückliches Ende, gehörte seit der Entstehung der Gattung Oper in Italien zum festen Bestandteil der Handlungsdramaturgie. Im späten 18. Jahrhundert geriet diese einstige Selbstverständlichkeit mehr und mehr ins Wanken; die Gründe dafür sind in den grundlegenden historisch-politischen Konstellationen der Zeit ebenso zu suchen wie in den globalen Veränderungen der damaligen Theaterlandschaft (u.a. Rezeption der Shakespeare -Tragödien im Schauspiel) . Der Band stellt eine Bestandsaufnahme von Finallösungen in den verschiedenen Erscheinungsformen des Musiktheaters (italienische opera seria, deutsches Singspiel und französische tragédie lyrique) um 1800 dar, bezieht darüber hinaus aber auch das zeitgenössische Oratorium und die Messe mit ein. Ursula Kramer (Hrsg.) Lieto fine? Musik-theatralische Schlussgestaltung um 1800 Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Band 40 2009, 242 Seiten, € [D] 58,00/ SFR 98,00 ISBN 978-3-7720-8319-8 Die Ethik des Botenberichts (in Antike und Gegenwart) Katharina Pewny (Gent) Der Aufsatz “Die Ethik des Botenberichts (in Antike und Gegenwart)” behandelt die Dramaturgie des Botenberichts in aktuellen Aufführungen der internationalen Theater- und Performancekunst. Den antiken Tragödien gemäß, wird der Botenbericht darin eingesetzt, um Leiden, das auf der Bühne nicht dargestellt wird, ästhetisch zu fassen. Der Bogen der Untersuchung wird vom deutschen Sprachraum über den Libanon und Argentinien gespannt. Als theoretische Folie hierzu dient Emmanuel Lévinas’ Ethik, die die Theatersituation als Begegnung mit dem Anderen fassbar macht. Die Überlegungen führen die rezenten theaterwissenschaftlichen Debatten zur Aufführung als gemeinschaftlicher Situation und zur Wiederkehr des Chores in der zeitgenössischen Theaterkunst weiter. Auch reflektieren sie die Ethik und Ästhetik des Botenberichts als künstlerische Entwicklung, die auf das Theater der Partizipation folgt, und (wieder) professionelle Schauspieler und Schauspielerinnen erfordert. Der Botenbericht ist ein dramaturgisches Stilmittel des antiken Tragödientheaters. Auf der Szene der Tragödie erzählten Boten von tragischen Ereignissen, die die Handlung vorantrieben. Darin erschien das Berichten bereits stellenweise als Handlung, die angesichts kriegerischer Auseinandersetzungen und gewaltsamer Tode ethische Aspekte aufweist. Expliziter noch wird die Ethik des Botenberichtes im internationalen (postdramatischen) Gegenwartstheater und in der Performancekunst sichtbar, da die Prekarität des Lebens, und das Sterben, hier zur Erscheinung kommen. Botenberichte bieten dem Anderen (im Sinne des Getöteten, Verstorbenen) gleichermaßen eine Bühne, ohne ihn (oder sie) schauspielerisch zu verkörpern. Behauptet wird in den folgenden Ausführungen weniger eine Kontinuität so unterschiedlicher Theaterformen wie der antiken Tragödien und des postdramatischen Gegenwartstheaters, vielmehr dienen die antiken Botenberichte als Folien, auf deren Grundlage sich Spezifika des Zweiteren zeigen. Das ist die ästhetische Gestaltung der Ethik szenischer Erzählungen vom außerszenischen Töten und Sterben. Gestalteten Spielarten des Theaters der Partizipation (wie beispielsweise Christoph Schlingensief und Rimini Protokoll) die Abkehr vom Theater der Repräsentation im Zeitalter der Postdramatik, so ist die Dramaturgie des Botenberichts eine weitere Antwort auf das Unbehagen und die ästhetischen Grenzen der expliziten Darstellung des Mordens und Sterbens. Die Preisverleihung des renommierten Mühlheimer Dramatikerpreises seit 2007 zeigt die Bandbreite dieser künstlerischen Strategien exemplarisch: Gewann im Jahr 2007 Rimini Protokolls: Karl Marx, das Kapital, erster Band, eine Spielart des partizipativen Theaters, so wurden in den Folgejahren 2008 und 2009 mit Dea Lohers Das letzte Feuer und Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) zwei Theatertexte ausgezeichnet, die die Dramaturgie des Botenberichts gleichsam rund um gewaltvolle Tode (durch Unfälle, Kriege oder Massaker) winden. Mit dem Botenbericht erhält im Übrigen das dramatische Schreiben einer singulären Autorin (eines Autors), die in Rimini Protokolls kollektiven Textherstellungsverfahren keinen Ort hat, erneut einen Platz in der Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 151-165. Gunter Narr Verlag Tübingen 152 Katharina Pewny Theateröffentlichkeit des deutschen Sprachraums. Narrative Passagen in zeitgenössischen Theatertexten, Inszenierungen und Performances, die an die Botenberichte der antiken Tragödien erinnern, sind jedoch kein ausschließlich deutschsprachiges Phänomen. Über den deutschen Sprachraum hinaus sind sie international und interkontinental in Performances und in Theatertexten präsent, wie die Beispiele aus dem Libanon, aus Kanada und aus Argentinien zeigen, die schlussendlich angeführt werden. Ich erläutere Ethiken des Botenberichts im Folgenden erstens anhand der Botenberichte in Euripides’ Bakchen und in Sophokles’ Antigone. Zweitens bespreche ich die Tanzaufführung Eurydikes Schrei des Studio Oyunkulari (2009) und Elfriede Jelineks Theatertext Rechnitz (Der Würgeengel) (2008). Die theoretische Folie hierfür ist Emmanuel Lévinas’ Philosophie der “Spur des Anderen”, die ich drittens ausführe. Viertens zeige ich die Medialität des Botenberichts als Ethik der Diskursproduktion über Migration und die Grenzen Europas in Margareth Obexers Theatertext Das Geisterschiff (2005), um anschließend das Reale als Spur des Anderen in Rabih Mroués Videoperformance Looking for a missing employee und in Dea Lohers Theatertext Das letzte Feuer (2008) zu reflektieren. Schlußendlich wird der Botenbericht als familiäres Erbe in Wajdi Mouawads Verbrennungen (2007) und in Lola Arias’ Performance Mi vida despues (Mein Leben danach) (2008) gezeigt. Das Gewicht liegt hierbei auf den Analysen von Rechnitz (Der Würgeengel) und Looking for a missing employee, die anderen Texte und Aufführungen ergänzen und kontrastieren diese beiden. Sie alle sind aus der Auseinandersetzung mit schwierigen politischen Gegenwarten entstanden. Diese sollen mit dem vorliegenden Artikel weder gleichgesetzt werden, noch soll dabei dem Holocaust eine Mythisierung im Sinne des “einzigen Undarstellbaren” verliehen werden. 1 Daraus ergibt sich die Frage nach der Ethik einer theaterwissenschaftlichen Auseinandersetzung, die sich schon aus fachgeschichtlichen Gründen in Deutschland und in Österreich innerhalb der Genealogie der Väter und Täter befindet, sie wird abschließend formuliert. Intendiert ist - in der Klammer des Botenberichts - eine Diskussion ästhetischer Strategien eines Gegenwartstheaters, dessen Macher (und Macherinnen) sich auf unterschiedliche politische Ereignisse beziehen. Der Botenbericht als unverbrüchliche Realität (bei Euripides und Sophokles) Das dramaturgische Stilmittel des Botenberichts entstammt den antiken Tragödien. Während die Protagonisten und der Chor Dialoge führen oder Monologe halten, ist der Botenbericht eine epische, also eine narrative Form. 2 Er ist entstehungsgeschichtlich mit dem dialogischen Prinzip im Tragödientheater verknüpft, war der zweite Schauspieler doch nicht primär ein Dialogpartner, sondern der Sprecher des Botenberichts. 3 Boten künden in den Tragödien meist von kathastrophischen Ereignissen wie Morden, Selbstmorden oder dem Ausgang von Schlachten. Sie sind einerseits erzählend, andererseits wird die Einführung des Boten als zweitem Schauspieler auch als Schritt in Richtung dialogischer Elemente gedeutet. 4 Einen berühmten Botenbericht hat Euripides, der jüngste der drei überlieferten Tragödiendichter der Antike, in seinen Bakchen verfasst. 5 Der Gott Dionysos, der im Mittelpunkt der Bakchen steht, und die Kulthandlungen zu seinen Ehren sind eng mit der Aufführungspraxis der Tragödien bei den Großen Dionysien verbunden. 6 Sie sind ein Echo der kultisch-rituellen Praxis des Theaters, die wesentlich im Tanz und in der Musik fußt, dies wird in den Bakchen selbst durch Flöten- und Trommelspiel sowie durch tänzerische Passagen des Chores gezeigt. 7 Auch die Stellung des Boten in dieser Tragödie ist eine Die Ethik des Botenberichts 153 metatheatrale Reflexion, denn der Bote ist der einzige, der das Treiben der Mänaden beobachten kann, und somit der einzige Zuschauer des tödlichen Spektakels. Diesen Zuschauerstatus zu erhalten, gelingt König Pentheus nicht, er wird in seinem Versteck in der Baumkrone entdeckt und (rituell) getötet. Der Bote berichtet in den Bakchen, wie König Pentheus erst in einer Baumkrone versteckt die Rituale der Dionysos-Anbeterinnen beobachtet und dann von diesen entdeckt und zerrissen wird. Er ist der einzige, der bei dem Mord zugegen war und davon erzählen kann. Seine Stellung ist nicht nur deshalb herausragend, sondern auch, weil er anscheinend das Treiben der Mänaden unbehelligt beobachten kann. Sein Bericht erfolgt zögerlich, da der Bote befürchtet, den Zorn des alten Herrschers Kadmos auf sich zu ziehen. Eine ähnliche Problematik - das Zögern eines Boten, zu berichten - beschreibt Sophokles in Antigone. Der Handlung dieser Tragödie geht ein Konflikt der Brüder Eteokles und Polyneikes um die Stadt Theben voraus, beide fallen im Krieg gegeneinander, ihr Onkel Kreon erlangt die Herrschaft über Theben. Antigone spielt nach dem tödlichen Bruderzwist. Die Titelheldin, Schwester der beiden Toten, begräbt gegen das Verbot des Königs den Leichnam ihres Bruders Polyneikes. 8 Ihre Tat wird König Kreon von einem Wächter berichtet, dieser wirft ebenso wie der Bote in den Bakchen das Problem auf, durch die Erzählung der Geschehnisse in der Gunst des Herrschers möglicherweise zu sinken. Er debattiert die Frage: Soll ich schweigen oder berichten? Nachdem Antigone wegen der Überschreitung des königlichen Begräbnisverbots zum Tode verurteilt und in eine Felsspalte eingemauert wird, tritt ein weiterer Bote auf. Er erzählt von Antigones Selbstmord in der Felshöhle. Dieser zieht den Selbstmord des Königssohnes Haimon, des Verlobten der Antigone, nach sich, der Bericht seiner Selbsttötung löst den Selbstmord von Haimons Mutter aus, der wiederum via Botenbericht auf die Szene gebracht wird. Zwei Aspekte dieser Botenberichte sind für das Folgende wesentlich: Erstens wird die Realität der Ereignisse, die die Boten behaupten, als solche gesetzt. Sie ist unverbrüchlich, die Erzählung der Boten wird nicht angezweifelt, sondern zieht folgenreiche Konsequenzen nach sich. Drei Tode gewinnen in dem Dialog der Botenberichte in Antigone an Realität. Die Wirklichkeit des Berichteten wird durch die Zeugenschaft des Boten beglaubigt: “Ich, liebe Herrin, war dabei und will es sagen / Und von der Wahrheit auslassen kein Wort! ” 9 Zweitens wird der Botenbericht als ethische Setzung, die den erzählten Inhalt wesentlich konstituiert, problematisiert. Der zweite Aspekt ist in den Botenberichten der Tragödien angelegt und in den Botenberichten des Gegenwartstheaters besonders wesentlich, wie ich im Folgenden zeigen werde. Der Botenbericht als Spur eines Verbrechens (Studio Oyunculari, Elfriede Jelinek) Bei den Wiener Festwochen 2009 zeigt die türkische Kompanie Studio Oyunculari den dritten Teil ihrer Ödipus-Trilogie mit dem Titel Eurydikes Schrei. Darin transformiert die Choreografin Sahika Tekand die sophokleische Antigone in ein Tanzstück. Die Aufführung baut auf dem Wechsel von chorischen Passagen und Protagonistenrede, von Stillstand und tänzerischer Bewegung, und zwischen Licht und Dunkel auf. Sie gewinnt ihre Dynamik aus der synchronen Rhythmik der Bewegungen, des Sprechens und des Lichts, die ihr Tempo zunehmend steigern. Auch in dieser Aufführung zögert der Wächter/ Bote, König Kreon von Antigones Verstoß gegen das Begräbnisverbot zu berichten, um nicht den königlichen Zorn auf sich zu ziehen, um Antigone nicht in Gefahr zu bringen 154 Katharina Pewny und um das Begräbnisritual und damit den inneren Frieden der Stadt nicht zu gefährden. Der Bote debattiert - und dies ist ein Zusatz zu der Textvorlage des Sophokles - mit dem Chor die ethische Frage: Mache ich mich schuldig, wenn ich berichte, wer den Leichnam begrub? Die Frage “Mache ich mich schuldig, wenn ich spreche? ” problematisiert den Botenbericht als Handlung, sie reflektiert seine Performativität als Herstellung der Realität auf der Szene. 10 Der Charakter des Botenberichts als ethisches Tun mit politischen Konsequenzen, der in den Tragödien bereits angelegt ist, tritt hier deutlich hervor. Der Bote, der bereits in der Analyse der Bakchen als Zuschauer ersichtlich war, ist ein Agent der Handlung, weil er das Gesehene in Erzählung verwandelt. Er kann nicht an der Stelle des getöteten Zeugen im Sinne Primo Levis stehen 11 , ist jedoch Augenzeuge im Sinne dessen, der auf der Handlungsebene bei Verbrechen zugegen war. Der Chor erörtert in Eurydikes Schrei nach dem Zaudern des Boten ausführlich die Frage, welche politischen Konsequenzen der Bericht von Antigones Verstoß für die Bewahrung oder Gefährdung des inneren Friedens der Stadt und ihrer Bürger auslösen kann. Ähnlich und radikaler noch verfährt Elfriede Jelinek in Rechnitz (Der Würgeengel). Im Unterschied zu der eben skizzierten Tanzaufführung, in der der Bote durch Sprechen potenziell schuldig wird, stellt Jelinek die Frage nach der Ethik des Schweigens der Boten, die als Augenzeugen des Massakers auftreten. 12 Rechnitz wird im Oktober 2008 in Jossi Wielers Inszenierung an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt und 2009 mit dem Mühlheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet. Jelinek bezieht sich mit dem Stücktitel Rechnitz (Der Würgeengel) auf die Ermordung von 180 jüdischen Zwangsarbeitern während einer “festlichen” Zusammenkunft von Nationalsozialisten am 24. März 1945 auf dem Schloss der Gräfin Margit Batthyány und auf die seitdem vergebliche Suche nach den Leichnamen in dem burgenländischen Ort Rechnitz. Damit sind Jelineks Text und seine Inszenierungen an der Schnittstelle von “history” und “memory” angesiedelt, denn da die medialen Auseinandersetzungen um das Massaker von Rechnitz in Österreich gegenwärtig geführt werden, trägt er als öffentlicher Diskurs dazu bei, Geschichte in kollektive Erinnerung zu verwandeln. Der gesamte Text ist ein Botenbericht. Zum Beginn stellt die Autorin drei Kategorien von Boten und Botinnen vor. Der “Ausnahmebote” spricht beispielsweise von seinem Text, von dem er sich “nicht ‘alles’ merken kann” (18), und von der Frau, die “mir meinen Text eingesagt hat” (18). Der Bote solle die Geschichte berichten, die er selbst “nur durch Botenberichte kenne” (21), und “Jeder Bote … erzählt etwas andres” (78). Die Jelinek’schen Boten und Botinnen sprechen gleichsam um das Massaker herum, sie erzählen es nicht direkt. Sie ersetzen die Narration der Ereignisse durch den Diskurs über den Botenbericht, der die Theatralität des Theatertextes reflektiert. 13 Das Zögern, Zaudern und Verschweigen der Jelinek’schen Boten steht in deutlichem Gegensatz zu den Worten des Boten in Antigone, die die Ereignisse beglaubigen: “Ich, liebe Herrin, war dabei und will es sagen / Und von der Wahrheit auslassen kein Wort! ” Das Massaker von Rechnitz wird durch keine Zeugen beglaubigt, es erhält einen prekären (ungesicherten) Realitätsstatus. 14 Die Boten der Tragödien sind Augenzeugen dessen, was sie berichten. Deshalb sind die antiken Botenberichte Folien, die Jelineks Anlage der Boten als Verweigernde der Augenzeugenschaft hervorheben. Der Botenbericht ist bei Jelinek weniger eine Erzählung, sondern eher die “Spur eines perfekten Verbrechens”. Mit dem Begriff der “Spur des Verbrechens” komme ich zu Emmanuel Lévinas und skizziere im nächsten Schritt sein ethisches Modell, das ich auf den Botenbericht anwende. Die Ethik des Botenberichts 155 Die “Spur des Anderen” (Lévinas) Emmanuel Lévinas schrieb als jüdischer Philosoph vor dem Hintergrund des Holocaust. Er entwarf die Begegnung des “Einen” mit dem “Anderen” als ethische Grundsituation und als Subjekt konstitutierendes Paradigma. Jedes Subjekt entstehe, so Lévinas, durch die Begegnung mit dem Anderen und dadurch, dass wir uns nolens volens dem “Anspruch des Anderen” gegenüber vorfinden. Bei Lévinas bleibt offen, was der “Andere” ist, er ist eine transzendentale Kategorie und trägt bisweilen gott-ähnliche Züge, Lévinas spricht aber auch über den Anderen im Zuge der politischen Greul des 20. Jahrhunderts: “Faktisch muss man die eigentliche Identität des menschlichen Ich von der Verantwortlichkeit her benennen, das heißt ausgehend von diesem Setzen oder diesem Ab-Setzen, das gerade in der Verantwortung für den Anderen besteht.” 15 Verantwortung für den Anderen zu übernehmen, bedeutet für Emmanuel Lévinas, dessen Präsenz anzuerkennen, ohne sich diesem identifikatorisch gleichmachen zu wollen, zeitgenössisch formuliert, ohne ihn vereinnahmen zu wollen. Anschaulich vergleicht er die Begegnung des Einen mit dem Anderen mit der Situation, zugleich mit einer anderen Person zu einer Tür zu kommen und dem Anderen mit den Worten “Nach Ihnen, mein Herr! ” den Vortritt zu lassen. 16 So tritt der Eine im wörtlichen Sinn hinter den Anderen zurück. Die Ansprüche des Anderen treten in den Vorder-, die des Einen in den Hintergrund. 17 Viele Theateraufführungen sind, so meine These, Begegnungen (des Publikums) mit diesem Anderen, oder mit seiner Auslöschung. Die Theatermacher und Theatermacherinnen, deren Produktionen ich hier bespreche, reagieren alle auf den “Anspruch des Anderen”, indem sie schwierige politische Ereignisse zum Thema machen. Sie konfrontieren ihr Publikum mit den Diskursen darüber, und durch die Botenberichte mit der Problematik ihrer Darstellung. Da sich (bei Lévinas) jedes Subjekt dem Anspruch des Anderen gegenüber konstituiert, ist die Übertragung auf Theateraufführungen, die Inszenierung des Anderen als Geste dem Publikum gegenüber zu sehen, sie befindet sich auf einer phänomenologischen, nicht auf einer rezeptionsanalytischen Ebene. 18 In manchen Aufführungen des (postdramatischen) Gegenwartstheaters, in denen - oftmals aufgrund der Kritik der Theatermacher und Theatermacherinnen am Theater der Repräsentation - der Andere nicht durch Schauspieler verkörpert wird, entstehen aus der Dramaturgie der Botenberichte diese Spuren seiner Auslöschung. 19 Diese kann entweder in der Fiktion oder aber, so wie bei Jelinek, aus einer konkreten historischen Referenz angesiedelt sein. Jelinek beschreibt in Rechnitz (Der Würgeengel) nicht nur Prozesse der Auslöschung der Spur(en) des Anderen, sondern ihr Theatertext ist selbst eine solche Spur. Die Rede der Jelinek’schen Boten, die berichten, dass sie nichts über das Massaker zu berichten haben, das Anspielen des Botenberichts und die Verweigerung der Zeugenschaft durch die Boten sind die Spuren des Verbrechens an dem Anderen, in dem Sinn von Emmanuel Lévinas, der formuliert: “… Die Spur deutet nur noch auf die Spur eines Verschwindens”. 20 Diese Spur der Spur des (Verschwindens des) Anderen ist erstens sprachlich verfasst. Sie führt zu Euripides’ Bakchen, deren Botenbericht Jelinek teils wörtlich zitiert. Damit spielt sie auf das Zerreißen eines Menschen durch andere Menschen sowie auf einen fragmentierten Leichnam, der nicht gänzlich begraben werden kann, an. Zweitens sind Ausschnitte aus Carl Maria von Webers Freischütz, die Jossi Wieler in der Inszenierung hinzufügt, Spuren, die gejagte Menschen mit gejagtem Wild gleichsetzen. Zusätzlich zu dem musikalischen Element ruft Jossi Wieler 156 Katharina Pewny den Hörsinn implizit auf, indem er die Boten vor roten Kopfhörern positioniert, die an altmodische Telefonschaltungen ebenso denken lassen wie an die Kopfhörer der Dolmetscher in den Nürnberger Prozessen. Sätze wie “Sie hören unsere tägliche Sendung von der Banalität des Bösen” unterstreichen diesen Eindruck. 21 Sie verweisen auf menschliche Stimmen und damit auf die sinnliche Realisation der abstrakten Ordnung der Sprache. Die “Spur des Anderen”, die Jelinek und Wieler mit Rechnitz (Der Würgeengel) auf die Bühne bringen, erreicht das Publikum durch unterschiedliche Theaterzeichen, die auf seine Abwesenheit hin deuten. Der Andere spricht weder (für sich selbst), noch wird er von einem Schauspieler verkörpert. Die Inszenierung (und Jelineks Text) sind vielmehr als Anordnung zu sehen, die gerade im Erbe des Holocaust betont, wie inadäquat es wäre, ihn szenisch zur Erscheinung zu bringen. Hier ist wiederum mit Primo Levi an die Unmöglichkeit einer Zeugenschaft zu erinnern, wenn die Zeugen die bereits Getöteten sind. Die Ausstreichung des Anderen durch das Massaker von Rechnitz spricht aus noch den kleinsten Winkeln von Jelineks Text, denn die Opfer werden von ihr weder benannt noch als Individuen beschrieben. Konsequenterweise können die Opfer in Rechnitz nicht erscheinen, weil (mit Lévinas gesprochen) ihr Anspruch von der Gesellschaft nicht anerkannt wird: Die Leugnung des Massakers durch die Boten und Botinnen entzieht ihnen jegliche gefüllte Existenz. Unter Zuhilfenahme von T.S. Eliots Gedicht The Hollow Men (1925) legt Jelinek jedoch eine Spur zu den Opfern. Eliot beschreibt in dem Gedicht “hohle Männer”, die “mit Stroh gefüllt” sind, und deren “trockene Stimmen flüstern”. Die Stimmen werden dem Publikum nicht zu Gehör gebracht, sondern es wird nur von ihnen erzählt. Die “hohlen Männer” werden in Rechnitz als “durch Arbeit vernichtet” bezeichnet (39), und sie erscheinen als Opfer des Massakers (15, 29, 76). Das Hohle ist hier eine Spur des Anderen, eine Spur, eine Form, die keine Fülle im Sinne der Materialität besitzt - sie ist hohl. Sie kann die Begegnung mit dem Anderen nicht inszenieren, sie zeugt vielmehr von der Unmöglichkeit der Begegnung mit ihm. Gleichzeitig vereitelt sie das “perfekte Verbrechen”, das sich dadurch auszeichnet, dass es seine Spur restlos zu verwischen vermag, buchstäblich. Dieser Befund kann sich nur auf eine ästhetische Strategie beziehen, die selbstverständlich die historische Realität des Mordens nicht wettmachen kann. Die Medialität der “Spur des Anderen” in der neuen Dramatik und Performancekunst Elfriede Jelineks Theatertext Rechnitz (Der Würgeengel) ist einer von vielen Botenberichten in Aufführungen des Gegenwartstheaters, die sich explizit auf Medienberichte von politischen Ereignissen beziehen, ohne diese in einer ästhetischen Form, die sich der szenischen Abbildung bedient, darzustellen. Die Dramaturgie der Erzählung vom Morden und Sterben, die den antiken Botenberichten ähnelt, ist eine zeitgenössische Spielart des epischen Theaters. Sie folgt theatergeschichtlich auf die Experimente mit dem partizipativen Theater, die beispielsweise Christoph Schlingensief, She She Pop, aber auch Rimini Protokoll in den vergangenen fünfzehn Jahren gestaltet haben. Der Botenbericht ist eine dramaturgische Antwort auf die Frage, die beispielsweise den Theaterautor und Regisseur René Pollesch umtreibt: Wie kann der “Andere” im Theater Raum gewinnen, ohne durch eine identifizierende, jeden Subjektstatus ausstreichende Darstellung oder durch den potenziell voyeuristischen Blick eines mitteleuropäischen, bürgerlichen Publikums in seiner Würde verletzt zu werden? Diese Frage beantwortet auch die Dramatikerin und preisgekrönte Hörspielautorin Die Ethik des Botenberichts 157 Abb. 1: Szenenbild Das Geisterschiff von Margareth Obexer (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Judith Schlosser) Margareth Obexer in Das Geisterschiff (Uraufführung der Hörspielfassung Norddeutscher Rundfunk 2005, Uraufführung auf der Bühne am Theater Basel im März 2010) mit der Dramaturgie des Botenberichts. 22 Das Geisterschiff ist exemplarisch für Theatertexte jüngerer Dramatiker und Dramatikerinnen, die Migrationsbewegungen in globalisierten Ökonomien mit nicht-repräsentativen Theatermitteln thematisieren. Vergleichbar verfährt beispielsweise Johannes Schrettle in Dein Projekt liebt Dich, in dem mitteleuropäische Jugendliche Drogen schmuggeln und aus Europa auswandern, um auf einer Insel ein “Projekt”, ein Netzwerk zur Unterstützung von Migranten und Migrantinnen, zu eröffnen. Schrettle setzt zwar keinen Botenbericht ein, doch seine drei Protagonisten werden aktiv, um der Realität der gefahrvollen Migration und den Grenzen der “Fortress Europe” etwas entgegen zu setzen. 23 Auch die Nachwuchsautorin Tina Müller verfährt in Türkisch Gold ähnlich wie Schrettle, indem sie die türkischstämmige Jugendliche von den Freunden und Freundinnen, die in der jeweiligen Szene über sie sprechen, spielen lässt. Durch diese innerszenische Verschiebung wird die Projektion deutscher (oder schweizerischer) Jugendlicher auf ihre türkische Mitschülerin plakativ deutlich. Margareth Obexer fächert Dynamiken der Diskursproduktion über Europas “Andere” in ihrem Theatertext Das Geisterschiff noch differenzierter auf. Das “Geisterschiff” ist ein Flüchtlingsschiff, das (laut Medienberichten) im Jahr 1996 vor der sizilianischen Küste sank, wobei fast dreihundert afrikanische Flüchtlinge starben. Die Dramatikerin schreibt Das Geisterschiff als Suche nach Zeugen des Ertrinkens, beziehungsweise nach Spuren der Ertrunkenen. Wissenschaftler und Journalistinnen begeben sich in Portoceleste, einem sizilianischen Fischerort, auf die Suche nach den Fischern, die - laut Medienberichten - Leichenteile in ihren Netzen gefunden haben. Die Fischer verweigern - ebenso wie die Boten bei Jelinek - die Zeugenschaft der Spuren der Flüchtlinge. Fischer Volpe spricht nicht mehr öffentlich über die Knochen, die er und andere Fischer in ihren Netzen fanden. Als zwei Radiojournalisten ihn interviewen, sagt er: “Vielleicht dachte ich nur, dass es Knochen waren, im Schock … wenn Sie ständig Knochen im Kopf haben, sehen Sie Knochen, ohne dass es Knochen sind. … Als wir noch unter uns waren, hatte jeder ein paar Knochen gefunden … Erst als es öffentlich wurde, begann man, zu schweigen. Von da an war sich keiner mehr sicher, ob es Knochen waren.” (GS 42f) Der Botenstatus wird von Obexer im Unterschied zu Jelinek, die die Botenposition der Zeugen des Mordens versammelt, durch die Reflexion des europäischen Diskurses über 158 Katharina Pewny das versunkene Schiff vervielfacht. Die Fischer sind darin Boten erster Ordnung, Zeugen noch nicht einmal des Ertrinkens, sondern der Funde von Leichenteilen, die die Augenzeugenschaft zunehmend verweigern. Ihr Schweigen verdeckt die Spur der Auslöschung des Anderen, des Todes der Ertrunkenen, die sie zuvor im Meer fanden. Die Journalisten und Wissenschaftlerinnen, Boten zweiter Ordnung, berichten in ihren Veröffentlichungen, was die Boten erster Ordnung erzählen - und was sie verschweigen, sie zeichnen die Spuren der Auslöschung der Spuren nach. Der Theatertext ist die dritte Ebene der Botenberichte, die Dramatikerin ist eine Botin dritter Ordnung. Diese Verdreifachung der Botenpositionen stellt die wissenschaftliche, die journalistische und damit auch die dramatische Diskursproduktion in den Fokus. Deutlich wird hiermit, dass authentische Geschichten von Migration und Tod im Theater und in anderen Medien im Modus eines Sprechens, das a priori medialisiert ist, erzählt werden können. So bleibt unklar, welchen Grad an Fiktion das historische Ereignis des versunkenen “Geisterschiffs” besitzt. Der Realitätsstatus der Ereignisse ist durch das Erzählen - resp. Verschweigen - im Medium der Sprache in der Schwebe gehalten. Obexer spart den Vorgang des Sinkens des Schiffes und des Ertrinkens aus, so wie Jelinek das Morden in Rechnitz aus der Erzählung des Textes ausspart. Die Medialität von Obexers Text Das Geisterschiff ist durch den Radiojournalismus geprägt. Das Hörspiel-Format, in dem der Text erstmals veröffentlicht wurde, verflicht die außerszenische mit der innerszenischen Realität. Schlussendlich sind die tragischen, beziehungsweise gewaltsamen Geschehnisse - soweit sie sich auf Medienberichte über “Rechnitz” und über die ertrunkenen Flüchtlinge beziehen - Obexers (und Jelineks) Zuschauern, Hörern und Lesern potenziell bereits aus der medialen Berichterstattung bekannt. Das Geisterschiff ähnelt Rechnitz (Der Würgeengel) in der vehementen Verdeutlichung der Ethik jeder Erzählung (auf dem Theater) und damit der Realitätskonstruktion als Handlung. Obexers Ethik des Botenberichts geht über die Jelinek’sche allerdings hinaus, weil sie den Fokus nicht nur auf die persönliche Zeugenschaft, sondern auf die Diskursproduktion über den “Anderen” legt, die Wissenschaft, Medien und Kunst betreiben. Die “Spur des Anderen” zum Realen Eingangs wurde der Botenbericht als internationales Theaterphänomen bezeichnet. In Argentinien, im Libanon und in Europa inszenieren Choreografinnen, Dramatiker und Performer mit den Mitteln des Botenberichts den Tod und das Verschwinden (von Menschen). So wie das Sterben auf der Bühne nicht statthat, so bleiben die Leichname, und damit das Reale (im psychoanalytischen Sinn Jacques Lacans) als letztlich nicht repräsentierbarer, sondern bloß erfahrbarer Bereich des Lebens, darin unzugänglich. Unterschiedliche künstlerische Traditionen prägen die Performances, die ich im Folgenden bespreche. Nicht nur die Botenbereichte der antiken Tragödien, sondern beispielsweise die orale Tradition des Meddah begründet ihre dramaturgische Gestaltung. Die Performance Looking for a missing employee des libanesischen Performers und Videokünstlers Rabih Mroué (2003) interessiert in diesem Kontext, da er sie explizit als “trace” (Spur) eines Verschwundenen versteht. Mroué präsentiert auf einem Bildschirm unzählige Zeitungsausschnitte, die er seit 1996 über vermisste Personen (im Libanon) gesammelt hat. Nach zahllosen Berichten über verschwundene Personen konzentriert sich Rabih Mroué auf die Geschichte des Regierungsbeamten Ra’afat Sleiman, dessen Ehefrau in den Zeitungen al-Nahar und al-Safir am 30.09.1996 sein Verschwin- Die Ethik des Botenberichts 159 Abb. 2: Szenenbild aus Rabih Mroué Looking for a Missing Employee. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Rabih Mroué) den meldet. Dies führt er mittels der Erzählung von Botenberichten zweiter Ordnung, also der medialen Berichterstattung, durch. In den Zeitungsausschnitten berichten und schreiben Sleimans Angehörige und Bekannte über dessen Verschwinden, sie sind Boten erster Ordnung. Auf einem zweiten Bildschirm ist Mroué selbst zu sehen, der von einem Sitz in den Publikumsreihen aus spricht, auf einem dritten Bildschirm notiert ein Performer die inhaltlichen Handlungsstränge der Erzählung. Die Performance setzt die orientalische Tradition des Meddah fort. Meddah ist im arabischen Raum eine Bezeichnung für Sänger, die Episoden aus dem iranischen Epos “Shahnama” oder aus “Tausendundeine Nacht” und ab dem 11. Jahrhundert auch Szenen aus dem Alltagsleben erzählen. 24 Meddah sind wandernde Märchenerzähler, die im türkischen und im arabischen Raum an öffentlichen Orten (in Kaffeehäusern oder auf Plätzen) auftreten und ihr Publikum mit Geschichten unterhalten, die immer neu und anders verwoben werden können. Der Begriff bezeichnet zugleich die Sänger und das Genre. 25 Meddah tragen lokale Traditionen in sich, sie zirkulieren im Zuge von Migrationsbewegungen und verändern sich im Laufe der Entwicklungen von Kommunikationstechnologien und Medien. Ähnlich wie Märchen handeln Meddah nicht nur vom Wandern zwischen zwei Welten, beispielsweise zwischen Armut und Reichtum, sondern sie wandern selbst von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent. 26 Rabih Mroués anfangs nachvollziehbarer Bericht über den “verschwundenen Arbeitnehmer” ist selbst ein Meddah (in der Bedeutung Narration), er entfaltet im Laufe der dreistündigen Performance unzählige Verästelungen und Neben-Geschichten, in denen die Hörer und Hörerinnen zunehmend die Orientierung verlieren. Diese wird zwar zuerst durch die Notation der roten Fäden auf dem dritten Bildschirm gestützt, zunehmend wird sie jedoch auch dort unübersichtlich. 160 Katharina Pewny Abb. 3: Szenenbild aus Rabih Mroué Looking for a Missing Employee. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Houssam Mcheimech) Mroué vermengt die Dramaturgie des Meddah mit der medialen Berichterstattung: Einem Meddah (in der Bedeutung Sänger) und einem TV-Nachrichtensprecher gleich spricht der Performer aus dem Bildschirm heraus. In dieser Performance ist der unklare Realitätsstatus der Geschehnisse (im Unterschied zu Jelinek und Obexer) nicht in der Thematisierung des Erzählens selbst angesiedelt, sondern in der Unklarheit über die Wahrheit der persönlichen und medialen Berichterstattung: Offen bleibt bis zum Ende, auf welcher Realitäts- oder Fiktionsebene die Performance angesiedelt ist. Gegen Ende der dreistündigen Performance schaltet Mroué das Licht und die Bildschirme ab, im Dunkel erklingt 5 Minuten lang ein Ausschnitt von Frederic Chopins Walzer No. 7. Danach nimmt die Geschichte eine tragische Wendung, denn Mroué legt einen Zeitungsartikel über Rafa’at Sleimans Tod vor. Ähnlich wie Jelinek und Obexer nimmt Mroué keine narrative Schließung vor, die Leiche des verschwundenen, getöteten Anderen wird nicht vollständig gefunden oder auf der Bühne (auf dem Bildschirm) gezeigt. Teile seines Leichnams werden gefunden, der Kopf und der Oberkörper bleiben jedoch verschwunden. Das sind die Körperteile, die, so der Meddah, zu einem gültigen Begräbnisritual vonnöten sind. “Ra’afat’s body was cut with an electric disksaw. We were only able to find his thighs and pelvis, his chest and head were missing. When we went to see the body on the carriage at the morgue, it was a horrible sight. It seemed that Ra’afat’s bones were cut, in the same manner that chicken is cut. It was horrible. Even my aunt Zeinab, Ra’afat’s mother, refused to stay still unless she saw his body. They told her to come and see me. I held her, sat her down, and calmed her. She asked me to tell her what I saw. I told her everything, and she said, enough, I believe you.” 27 Rabih Mroué schleicht, während der Musikeinspielung unsichtbar im Dunkel, aus dem Zuschauerraum hinaus. Er performt den Botenbericht von dem unvollständigen Leichnam ausschließlich vom Bildschirm aus. Sein Platz in den Publikumsreihen ist nach der Musikeinspielung leer, alleine sein Kopf und sein Oberkörper bleiben auf dem Bildschirm sichtbar. Das sind just die fehlenden Körperteile, die für ein gültiges Begräbnisritual vonnöten sind. Der Ausschaltung des Sehsinns und der Schärfung der akustischen Wahrnehmung, die in der Musikeinspielung an der dramaturgischen Stelle des Todes des Anderen “sitzen”, fügt Mroué sein eigenes Verschwinden als “bodily act” hinzu. Auch die viel gespielte Dramatikerin Dea Loher setzt den Botenbericht in ihrem Theatertext Das letzte Feuer, mit dem sie den renommierten Mühlheimer Dramatikerpreis 2008 gewann, ein. 28 Das letzte Feuer, von Andreas Kriegenburg 2008 am Thalia Theater inszeniert, dreht sich buchstäblich um den leeren Ort des Unfalltods des Jungen Edgar, denn Anne Ehrlichs Bühne ist eine Drehbühne, deren unsichtbare Achse Edgars Tod ist. Das Bühnenbild sind Wohnräume, die sich um die Achse der Drehbühne und damit um Edgars Tod drehen. Darin sind Verwandte und Nachbarinnen gruppiert, die eine schuldhafte Verstrickung in seinen Unfall empfinden. Sie alle waren jedoch nicht anwesend, als Edgar starb, Dea Loher schreibt dem Kriegs- Die Ethik des Botenberichts 161 flüchtling Rabe die alleinige Augenzeugenschaft seines Todes zu. Rabe schweigt nahezu die gesamte Inszenierung lang über die “Urszene” des kindlichen Sterbens, die die Aufführung begründet. In einer dramatischen Szene kurz vor dem Ende erzählt Rabe, alleine auf der Bühne bis auf die Mutter des Verstorbenen, die allerdings schläft, dem Publikum vom Hergang des Unfalls. In seine Erzählung, die als Erzählung von Edgars Tod beginnt, schiebt sich jedoch ein Erlebnis aus dem Krieg, in dem ein verletztes Kind in seinen Armen stirbt. Loher problematisiert in Das letzte Feuer, das in Rabes Selbstverbrennung am Ende gipfelt, den Botenbericht angesichts gewaltvoller Tode. Doch während Jelinek, Obexer und Mroué die Diskursproduktion über Gewalt im Sinne der verweigerten Augenzeugenschaft und der Medialität des Sprechens “über” den Anderen und seine Auslöschung fokussieren, legt Loher das Augenmerk auf den schmerzlichen Aspekt von Augenzeugenschaft, die mit potenziell eigenen Kriegserlebnissen verknüpft sein kann. Der Zeugen-, der Täter- und der Opferstatus kulminieren in dem Raben, dem Vogel, der vom Unglück kündet. Er wird sich am Ende selbst verbrennen, in dem “letzten Feuer”. Rabes Zugang zur Wirklichkeit und zu anderen Menschen ist schon zuvor, wenn er mit verbundenen Händen die Brustprothesen von Karoline berührt, als verletzter gezeigt. Looking for a missing employee und Das letzte Feuer führen eindringlich vor, dass - und wie - das Erzählen von Toten, aber auch schon die Nähe zwischen Menschen in traumatischen Situationen immer nur vermittelt stattfinden kann. Die abwesenden, fragmentierten und verletzten (toten und lebendigen) Körper sind, ebenso wie die Sprache, bevorzugte Austragungsorte des Ringens um das Erzählen und um die Emotionen, die dieses begleiten. 29 Alle bisher behandelten Beispiele verbindet jedoch, dass die Narration von den Verschwundenen, Getöteten, als Desiderat erscheint. Der Botenbericht als familiäres Erbe Auch der kanadisch-libanesische Autor Wajdi Mouawad legt den Botenbericht seinem Theatertext Verbrennungen als dramaturgisches Stilmittel zugrunde. Sein Botenbericht ähnelt den Botenberichten des antiken Tragödientheaters, er ist performativ in dem Sinn, dass er den Ereignissen, die berichtet werden, Wirklichkeit verleiht. Im Theatertext und in Stefan Bachmanns Regie von Verbrennungen (Burgtheater 2007) rekonstruieren die Kinder einer militanten Freiheitskämpferin im Libanon das Leben ihrer verstorbenen Mutter, indem sie Personen aufsuchen, die die Aktionen und die Gefangenschaft der Mutter bezeugen. Dies unternehmen sie, nachdem die verstorbene Mutter sie in einem Brief nachdrücklich dazu auffordert. Mouawad spielt die Tragödien-Tradition durch das Ödipus-Motiv der Zeugung von Kindern durch Mutter und Sohn an. Die Kinder des Ödipus sind (in der mythischen Tragödientradition) Antigone und Ismene, so wie die bereits erwähnten Brüder Eteokles und Polyneikes, die einen tödlichen Kampf um das königliche Theben ausfechten. Verbrennungen verleiht dem Leben und dem Tod der Verstorbenen Realität, weil sie in dem Gedächtnis der Boten als Zeugen Raum einnehmen. Die Narration über die abwesende Mutter glückt, allerdings um den Preis einer tragischen Enthüllung am Ende der Aufführung: Als die Geschwister das Leben der Mutter vollständig rekonstruiert haben, erkennen sie, dass ihr Bruder auch ihr Vater ist. Hier greift Mouawad offensichtlich auf den Ödipus-Mythos zurück - im Unterschied zur Geschichte des Ödipus ist der Vater und Bruder allerdings der ehemalige Gefängniswärter und Vergewaltiger der Mutter/ Freiheitskämpferin. Mit diesem - im Sinne der unauflöslichen Verstrickung - tragischen Ende führt der Autor (auf der Handlungsebene) eine im Sinne der Lévinas’schen Ethik gelungene Antwort des Einen auf den Anspruch des Anderen vor: Die 162 Katharina Pewny Kinder erfüllen den Anspruch der Mutter, indem sie ihre Geschichte rekonstruieren, die dadurch sowohl auf der Ebene des szenischen Geschehens als auch den Zuschauern gegenüber als Realität anerkannt wird. Das Publikum wird zu Augen- und Ohrenzeugen der Geschehnisse, die die Mutter selbst nicht von der Erfahrung in eine Narration transformieren konnte. Die Dramaturgie der geglückten Augenzeugenschaft im Angesicht des Traumatischen macht die Texttheatralität fruchtbar, weil sie die innerszenische und die außerszenische Achse vereint. Die Zuschauer und Zuschauerinnen geraten in die Position der Augenzeugen der künstlerischen Diskurse über die gewaltvollen Geschehnisse. Diese konstituiert sich, indem sie sich dem “Anspruch des Anderen” gegenüber vorfinden, den die Theatermacher und Theatermacherinnen gestalten. Das familiäre Erbe, rekonstruiert durch Botenberichte, führt die Regisseurin Lola Arias live vor. In ihrer Produktion Mi vida despues (Mein Leben danach) treten Kinder von Eltern auf, die während der argentinischen Militärjunta der 1980er lebten und darin aktiv oder davon betroffen waren. 30 Die teils verschwundenen, teils verstorbenen Eltern werden mit eingeblendeten Fotos, durch Kleidungsstücke, die wie leere Hüllen über einer Reihe an Stühlen hängen, und durch die Inszenierung von Ähnlichkeit mit ihren Kindern verlebendigt. Arias’ Dramaturgie der verfremdeten Erzählung von Betroffenen erinnert nicht von ungefähr an Rimini Protokolls Theater mit “Experten in eigener Sache”, hat die Regisseurin doch zuvor mit Stefan Kaegi (von Rimini Protokoll) gemeinsam Airport Kids inszeniert. Fällt bei Rimini Protokoll die Differenz von Boten und Protagonisten aus, da die “Experten der Wirklichkeit” fast ausschließlich als sie “selbst” auftreten, so ist die Ähnlichkeit der Boten und der (verschwundenen) Protagonisten - die im Schauspieltheater nicht gegeben sein muss - in Mi vida despues angespielt, aber nicht ausgespielt, denn Kinder berichten von ihren Eltern. So markiert die Inszenierung eine Schnittstelle der scheinbaren Authentizität und des Botenberichts. Bemerkenswert ist auch, daß in den beiden Aufführungen, die Familien als dramaturgische rote Fäden einsetzen - also Verbrennungen und Mi vida despues - die Narration glückt. In den Tragödien erscheinen Familienbande oftmals als Ursprung von Konflikten. In der gewandelten Form der zeitgenössischen Botenberichte sind diese zwar noch immer Orte der Gewalt, dennoch glückt in ihnen auch die Transformation von Verletzungen. Zusammenfassend ist zu konstatieren: Botenberichte des Gegenwartstheaters führen die Frage nach der Ethik des Erzählens vom Morden und Sterben, die in antiken Tragödien bereits angelegt ist, explizit fort. Dadurch wird, so es um die “alten” Theaterthemen Mord und Tod geht, die politische Dimension der Augenzeugenschaft von Unrecht auf der Ebene der Theaterform/ Dramaturgie reflektiert. Die Meta-Ebene der Theaterform, oder der dramatischen Konvention, entspricht der Meta-Ebene der Diskurse über politisch motivierte Greultaten und Unrechtsverhältnisse. Theateraufführungen sind Begegnungen mit dem (verschwundenen, getöteten) Anderen, indem sie - via Botenbericht - die medialisierte Spur seines Verschwindens, oder sein Sterbens, legen. Zur Spur, die die Boten/ Zeugen schon oder nicht beglaubigen, tritt die Spur der Auslöschung der Spur hinzu. Die Position der Zuschauer und Zuschauerinnen konstituiert sich auf einer phänomenologischen Ebene in den genannten Aufführungen vis á vis mit dem Anspruch des Anderen. In nahezu allen angeführten Beispielen sind die nicht gänzlich gefundenen Leichname (Jelinek, Mroué, Obexer), ist das Sterben (Loher) bzw. die Behandlung des Leichnams (Sophokles’ Antigone), die Grenzen des Fiktiven, bzw. der Ausgangspunkt der Konflikte oder der Erzählungen. Dadurch entgehen sie der Falle der Repräsentation des Die Ethik des Botenberichts 163 Anderen, die ihm potenziell nicht Genüge tut. Die Aufführungen, die ich besprochen habe, werfen bei allen den Differenzen ihrer ästhetischen Verfahren und der historischen Ereignisse, aus denen sie erwachsen sind, die Frage der Verantwortung dem Anderen gegenüber auf, die ich von Lévinas’ Ethik übernehme. Sie werben jedoch nicht für spezifische moralische Modelle im Sinne von Handlungsanweisungen. Insofern legen sie in ihren episch-narrativen Elementen nicht nur “Spuren des Anderen”, sondern sind selbst solche Spuren. Ob auch eine theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Theatertexten und Aufführungen, die vom Holocaust ausgehen, die Qualität einer solchen Spur erlangen kann, ist in diesem Rahmen nicht zu beurteilen. Die Frage nach der Ethik der wissenschaftlichen Tätigkeit schwingt jedoch implizit mit, auch, weil die Involvierung des Fachs in den Nationalsozialismus bereits notwendige Auseinandersetzungen hervorrief, die jedoch keinesfalls als abgeschlossen betrachtet werden können, sondern sich nicht zuletzt aus dem künstlerischen Material heraus immer wieder stellen. 31 Anmerkungen 1 Sie alle beziehen sich im weitesten Sinn auf Traumata im Sinne der Historie, deren Darstellung als unmöglich erscheint. Keineswegs soll jedoch der Holocaust, auf den sich Jelineks Text bezieht, anderen Verletzungen von Humanität gleichgesetzt werden. Zu der Schwierigkeit der Universalisierung oder Relativierung eines diesbezüglichen Traumabegriffs im Lichte der kulturwissenschaftlichen Diskurse im deutschsprachigen Raum vgl. Birgit R. Erdle, “Die Verführung der Parallelen. Zu Übertragungsverhältnissen zwischen Ereignis, Ort und Zitat”, in: Elisabeth Bronfen [et al.] (Hg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 27-51. 2 Vgl. Siegfried Melchinger, Das Theater der Tragödie. Aischylos, Sophokles, Euripides auf der Bühne ihrer Zeit, München 1974, S. 61. 3 Vgl. Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 44f. 4 Hierzu vgl. ausführlich: James Barrett, Staged Narrative. Poetics and the Messenger in Greek Tragedy, Berkeley [etc.] 2002, pp. 102-131. 5 Euripides, Die Bakchen. Übers. v. Oskar Werner, Stuttgart 1974. 6 Zur Metatheatralität der Bakchen vgl. Helen P. Foley, Poetry and Sacrifice in Euripides, Ithaka/ NY. 1985. 7 Darüber hinaus sind die Bakchen ein Beispiel für einen tragischen Diskurs, der die Wiederkehr verdrängter Triebe, beispielsweise des Erotischen, betreibt. Vgl. Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 184f. 8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel versteht Antigone als Beispiel für einen Konflikt zwischen Familie und Staat. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Zweiter Theil, Stuttgart 1928, S 133-134. Die Religion der geistigen Individualität. S. 133f. Judith Butler kritisiert dieses Konzept, weil sie Familie als durchdrungen vom Politischen und nicht trennbar von diesem sieht. Vgl. Judith Butler, Antigones Verlangen, Frankfurt a.M. 2001, S. 14. 9 Sophokles: “Antigone”, in: Ders.: Dramen, hg. u. übers. v. Wilhelm Willige. München, Zürich 1985. S. 194-275. Antigone. S. 213. 10 An dieser Stelle ist John Langshaw Austins sprachphilosophischer Performativitätsbegriff bedeutsam. Dieser besagt, dass mittels des Sprechakts (“speech act”) gehandelt werden kann. Zur genauen Erläuterung desselben und seiner Bedeutung für die Kunst und Kultur(wissenschaft) vgl.: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a.M. 2002. 11 Der Begriff des Augenzeugen, den ich hier bemühe, unterscheidet sich von Zeugenschaft und ihrem Paradox, den beispielsweise Primo Levi in seinen autobiografischen Erzählungen des Holocaust entwickelt hat. Levi schreibt 164 Katharina Pewny und spricht über das “Paradox der Zeugenschaft” das darin besteht, dass die eigentlichen Zeugen diejenigen sind, die ermordet wurden. Primo Levi, If This Is A Man. The Truce. Transl. by Stuart Wolff, London 1959, pp. 461ff. 12 Elfriede Jelinek, Rechnitz (Der Würgeengel), Reinbek b. Hamburg 2008. Die folgenden Stückzitate bezeichnen die Seitenzahlen aus diesem Manuskript des Rowohlt Theaterverlags. 13 Den Begriff “Texttheatralität”, der die implizite Performativität von Theatertexten bezeichnet, hat Gerda Poschmann ausgeführt. Vgl. Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997. S. 41-43. 14 Zu der Verwandlung von “history” in “memory” durch öffentliche Diskurse vgl. Alessandro Cavalli, “Memory and Identity: How Memory Is Reconstructed After Catastrophic Events”, in: Jörn Rüsen (Edd.): Meaning & Representation in History, New York/ Oxford 2008, pp. 169-183. 15 Emmanuel Lévinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Wien 1982, S. 78. 16 Vgl. ebd., S. 68. 17 In diesem Zusammenhang entwickelt Lévinas auch die Unterscheidung von Begierden (die befriedigt werden können) und Begehren als nicht stillbarem Sehnen, das ins Unendliche geht. Vgl. Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/ München 1987, S. 201f. 18 Damit ist keine Aussage über die wahrscheinlich unterschiedliche Bedeutung einer Theateraufführung wie Rechnitz (Der Würgeengel) für Überlebende und ihre Nachkommen und für die Nachkommen von Tätern getroffen. 19 Dies untersuche ich ausführlich in meiner Habilitationsschrift Das Theater des Prekären. Ethik und Ästhetik des Theaters, des Tanzes und der Performancekunst, Graz 2009, Publikation in Vorbereitung. 20 Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg 1987, S. 48. Vgl. auch: Birgit R. Erdle, Antlitz - Mord - Gesetz. Figuren des Andern bei Gertrud Kolmar und Emmanuel Lévinas, Wien 1994. 21 Jelinek spielt mit der Wendung “Banalität des Bösen” auf Hannah Arendts gleichnamiges Buch an; vgl. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Leipzig 1990. 22 Obexer, Margareth, Das Geisterschiff. Theaterstück. Stuttgart 2005. 23 Andere Autorinnen, wie etwa Anne Habermehl in Letztes Territorium (Thalia Theater 2008), wählen dagegen den Weg der schauspielerischen Verkörperung von Migranten. In Corinna Sommerhäusers Inszenierung steht die migrierte Person, die als dunkelhäutig dargestellt wird, einem ansonsten weiß besetzten Ensemble und großteils ebensolchem Publikum gegenüber. Dadurch entsteht der Eindruck eines individuellen Schicksals, und die politischen Strukturen von Migration und Asylrecht geraten in den Hintergrund. 24 Vgl.: “Meddah”, in: C. E. Bosworth at al (Hg.), The Enzyklopedia of Islam, Vol V., Leiden 1986, S. 951ff, S. 951. 25 Ebd., S. 952. 26 Vgl. Linda Dégh, Narrative in Society: A Performer-Centered Study of Narration, Helsinki 1995, S. 103. 27 Rabih Mroué, Looking for a missing employee. Unveröff. Manuskript, o.O., o. J., S. 27. 28 Dea Loher, Das letzte Feuer, in: Theater heute 3/ 2008, S. 2-16. 29 Zur Narration des Traumatischen vgl. Cathy Caruth, Trauma, Narrative, and History, Baltimore 1996. Die Autorin betont, auf Sigmund Freud rekurrierend, dass Affekte, die durch ein Trauma ausgelöst werden können, nicht direkt produziert werden können. Daher liegt eine Schwierigkeit der künstlerischen Darstellung in der Darstellung seiner Effekte, nicht primär in der Darstellung des Ereignisses selbst. 30 Seit 2008 tourt die Produktion in Groningen, Graz, Hamburg, München und Berlin. Mehr zu Lola Arias’ Projekten ist auf ihrer mehrsprachigen Homepage zu finden: http: / / www. lolaarias.com.ar/ . 31 Ab den 1930er Jahren findet eine inhaltliche Zäsur der in ihrer Entstehung begriffenen Die Ethik des Botenberichts 165 deutschsprachigen Theaterwissenschaft statt, die nun - vornehmlich auf Täterseite - massiv in den Nationalsozialismus verstrickt ist. Vgl. Erika Fischer-Lichte, “Theatergeschichte und Wissenschaftsgeschichte. Eine bedenkenswerte Konstellation. Rede zur Eröffnung des Erstens Kongresses der Gesellschaft für Theaterwissenschaft e. V. in Leipzig”, in: Erika Fischer-Lichte [et al.] (Hg.): Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen 1994. S. 13ff. Eine weitere Ebene ist die intergenerationelle Auseinandersetzung mit familiären Biografien, die mittlerweile auf autiobiografischer Ebene von der Generation der Enkel nationalsozialistischer Täter und Täterinnen geführt wird. Zu einhergehenden Problematiken zwischen (Ver)Schweigen der Verbrechen und unangemessener Aneignung von Opferperspektiven vgl. exemplarisch: Claudia Brunner, Uwe von Seltmann, Schweigen die Täter, reden die Enkel, Frankfurt a.M. 2006. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Die bewährten Lehrbücher rekonstruieren die europäische Dramengeschichte von der griechischen Tragödie bis zu Heiner Müller. Jedem Kapitel ist ein Abschnitt über Entwicklungsstand, Situation und Funktion des Theaters in der betreffenden Gesellschaft vorangestellt. Einem kurzen Überblick schließen sich jeweils exemplarische Analysen von Dramen repräsentativer Autoren an. Erika Fischer-Lichte Geschichte des Dramas Band 1: Von der Antike bis zur deutschen Klassik UTB S 3. Aufl. 2010, 412 Seiten, €[D] 19,90/ SFr 35,90 ISBN 978-3-8252-1565-1 Band 2: Von der Romantik bis zur Gegenwart UTB S 3. Aufl. 2010, VI, 306 Seiten, €[D] 19,90/ SFr 33,80 ISBN 978-3-8252-1566-8 Guest Editorial Emotionen sind etwas Alltägliches, sie sind omnipräsent und ubiquitär. Sie kommen zu jeder Zeit und in jeder Kultur vor, wenn auch mit erheblichen Differenzen und Akzentuierungen. Wir können Gefühle gestalten und stilisieren, wir können sie unterdrücken oder auch stimulieren und bewusst erzeugen, doch können wir nicht nicht-fühlen. Wir haben Gefühle und sind uns zugleich in ihnen gegeben, wir sind Subjekt und Objekt unserer Emotionen in einem. In Emotionen erfahren wir in komplexer, leiblicher Weise unser Inder-Welt-Sein und unsere soziale Einbindung, unsere Interaktion mit anderen Menschen und unsere Abhängigkeit von ihnen. Insofern sind Emotionen als konstitutive Erfahrung sowohl von Subjektivität als auch von Gesellschaftlichkeit ernst zu nehmen. Doch zu betonen, dass Gefühle fundamental und existentiell für menschliches Leben und soziale Gemeinschaft sind, bedeutet nicht, Gefühle als “natürliche” Gegebenheiten zu verstehen. In Analogie zur Sprachlichkeit des Menschen, die als grundlegendes Vermögen nur wenig über jeweils konkrete Einzelsprachen oder gar über flüchtige und singuläre Redeereignisse zu sagen erlaubt und diese schon gar nicht determiniert, ist auch hinsichtlich der Affektivität des Menschen festzuhalten, dass es offensichtlich zu unserer biologischen und neurobiologischen Ausstattung gehört, fühlen zu können - wenn nicht gar zu müssen. Wie jedoch Gefühle erlernt, geformt, gestaltet und moduliert werden, wie sie codiert, diskursiviert und tradiert werden, welchen Stellenwert sie für eine Kultur insgesamt wie auch für einzelne ihrer Mitglieder und für soziale, geschlechtliche, ethnische, nationale und regionale Distinktionen ebenso wie für kognitive Prozesse und moralische Vorstellungen spielen, all dies kann mit physiologisch-biologischen Modellen allein nicht erklärt werden. Emotionen haben in den letzten Jahren zweifellos Konjunktur: nicht nur die Populärkultur entdeckt die “emotionale Intelligenz”, auch die seriösen Wissenschaften beschäftigen sich disziplinübergreifend, häufig auch in innovativen interdisziplinären Kooperationen mit Fragen der Affektdarstellung wie -wahrnehmung sowie deren Konsequenzen. Und in so unterschiedlichen Bereichen wie dem Privatleben, bei massenmedial inszenierten öffentlichen Events oder auch bei Managemententscheidungen zählt es inzwischen zum guten Ton, das eigene Gefühl, die erlebte Intensität zum Gradmesser der Orientierung und Beurteilung zu nehmen. Das Theater kann auf die gegenwärtige Konjunktur von Emotionen ganz entspannt reagieren. Es muss diese Mode nicht mitmachen, weil es seit seinen Anfängen als Spezialist für Gefühle gelten kann. Zumindest das abendländische Theater kann mit Fug und Recht als Gefühlsmaschinerie bezeichnet werden. Emotionen sind dabei sowohl Gegenstand von Repräsentation und Darstellung als auch intendierte Wirkungsabsicht. In produktionsästhetischer Perspektive geht es um die Frage, welche Gefühle von einem Schauspieler oder einer Schauspielerin auf welche Weise dargestellt werden können bzw. dürfen; problematisiert werden in diesem Zusammenhang spezifische Inhalte aber auch bestimmte Formen der Darstellung. In rezeptionsästhetischer Perspektive wird gefragt, Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 167-168. Gunter Narr Verlag Tübingen 168 Doris Kolesch welche Gefühle in welcher Form beim Zuschauer einer theatralen Aufführung erzeugt werden können und dürfen. Von der Katharsis-Theorie und der antiken Rhetorik, die den Redner in kritische Analogie zum Schauspieler setzt und zur affektiven Überwältigung des Publikums empfiehlt, die zu erzeugenden Emotionen zunächst im Rhetor oder im Schauspieler selbst zu erregen, über die 1727 veröffentlichte Schrift Dissertatio de Actione Scenica des Jesuitenpaters Franciscus Lang, welche die Schauspielkunst bestimmt als “schickliche Biegsamkeit des ganzen Körpers und der Stimme, die geeignet ist, Affekte zu erregen”, 1 über die Debatten im 18. und 19. Jahrhundert über den kalten Schauspieler oder das natürliche Gefühl bis hin zur gegenwärtig entgrenzten post-postdramatischen Theaterszene sind Theater und Emotion auf engste miteinander verknüpft. Die in diesem Heft beginnende Artikelserie “Theater und Emotion” möchte das vielfältige Wechsel- und Spannungsverhältnis von Theater und Emotion aus gegenwärtiger Perspektive befragen und beleuchten. Wie verhält sich das Theater zu den allgegenwärtigen emotionalen Inszenierungs- und Vermarktungsstrategien der Massenmedien und der Populärkultur? Welche Chancen bietet die Künstlichkeit von im Theater gezeigten Emotionen für die Reflexion der Künstlichkeit vermeintlich authentischer, “echter” Emotionen? Welche affektiven Erlebnisse und Erfahrungen verspricht sich das Publikum vom Besuch einer Theateraufführung? Unterscheidet sich die Emotionsdarstellung wie -wahrnehmung im Film von der im Theater und wenn ja, wodurch und inwiefern? Solche und andere Fragen können in dieser Artikelserie gestellt werden. Den Beginn macht der Beitrag von Jenny Schrödl, die jüngst eine Dissertationsschrift zu Situationen vokaler Intensität im Gegenwartstheater vorgelegt hat. Ihr Artikel “Stimme und Emotion” sucht dabei den grundlegenden Zusammenhang von Stimmlichkeit und Emotionalität im Theater zu ergründen und wesentliche Aspekte der emotionalen Wirksamkeit von Theaterstimmen darzulegen. Als weitere Etappen der Artikelserie sind die Überlegungen eines Grenzgängers zwischen Theaterpraxis und Theatertheorie - Julian Klein - vorgesehen, der sich im Rahmen seiner künstlerischen Tätigkeit der Erforschung von Emotionen widmet, sowie der Beitrag von Chris Salter, eines ebenfalls als Doppelbegabung von Künstler und Wissenschaftler agierenden Kollegen, der das Spannungsverhältnis von Technologie und Emotionalität im Gegenwartstheater thematisiert. Doch möchten die Herausgeber und Herausgeberinnen von Forum Modernes Theater ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Artikelserie “Theater und Emotion” nicht als fest gefügte, abgeschlossene Reihe konzipiert ist, sondern dass interessierte Leserinnen und Leser nachdrücklich eingeladen sind, sich an einer hoffentlich vielstimmige Debatte über Theater und Emotion zu beteiligen. Herzlich willkommen und neugierig erwartet werden entsprechend Beiträge, die als Repliken, Weiterführungen oder Kommentare zu den von den Herausgebern angefragten Beiträgen entstanden sind oder die das Thema der Artikelserie zum Anlass nehmen, die diesbezüglichen eigenen Überlegungen zu Papier zu bringen. In diesem Sinne würden wir uns über eine hitzige, heftige, von Begeisterung, Leidenschaft und Engagement geprägte Debatte freuen. Berlin, im Juni 2010 Doris Kolesch Anmerkung 1 Franciscus Lang, Dissertatio de Actione Scenica cum Figuris eandem explicantibus, et Obervationibus quibusdam de arte comica / Abhandlung über die Schauspielkunst, übers. und hrsg. von Alexander Rudin, Nachdruck der Ausgabe Ingolstadt 1727, Bern [etc.] 1975, S. 163. Stimme und Emotion. Affektive Wirksamkeiten im postdramatischen Theater Jenny Schrödl (Berlin) Obgleich Stimmen und Emotionen in enger Verbindung stehen, ist dieser Relation bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurden. Mit Stimmen vermögen wir Emotionen darzustellen und hervorzubringen, ebenso wie wir auf die Stimmen von anderen Menschen affektiv reagieren. Gerade das postdramatische Theater macht von dem Potential, mit stimmlichen Verlautbarungen Emotionen bei den Zuhörenden hervorzurufen, auf unterschiedlichste Weisen Gebrauch, etwa mit dem Einsatz von eigentümlichen, von besonders markanten, ungewöhnlichen und einzigartigen Stimmen. Interessant erscheint am Fall dieser Stimmen, dass sie die Zuhörenden in affektive Konfliktlagen zu versetzen vermögen. Der Beitrag widmet sich dem Verhältnis von Stimme und Emotion im postdramatischen Theater und sucht über die Herausstellung von eigentümlichen Stimmen einer besonderen Art der Stimm- und Gefühlsinszenierung auf die Spur zu kommen. Gegliedert ist der Aufsatz in drei Teile: 1) allgemeine Darstellung der Verbindung von Stimme und Emotion; 2) postdramatische Theaterstimmen und ihre emotionalen Wirksamkeiten und 3) affektive Kräfte von eigentümlichen Stimmen. In Bezug auf den Stimmeinsatz des postdramatischen Theaters lässt sich ein veränderter Umgang und ein Funktionswandel konstatieren: Über ihre semantisch-expressive Funktion hinaus kommt der (Sprech-)Stimme forciert eine performative Funktion zu. Sie konstituiert in ihrem Erscheinen Wirklichkeiten und verfügt über Dimensionen der Materialität, der Ereignishaftigkeit sowie der Wahrnehmung. Postdramatisches Theater behandelt Stimmen nicht mehr allein als Medien dramatischer Sprache und psychologischer Figuren, sondern stellt sie als sinnlichmaterielle Phänomene aus, welche Sprache und personelle Darstellung irritieren oder stören können. Damit werden gleichsam Potentiale sinnlicher Wahrnehmungen und Erfahrungen für das Publikum geschaffen. In dem Zusammenhang spielt die Produktion und Wahrnehmung von Emotionen bzw. Gefühlen 1 über stimmliche Phänomene eine herausragende Rolle. Wenn beispielsweise chorische Stimmen (bei Volker Lösch oder Christoph Marthaler) laut werden, Schauspieler sich beim Schreien oder Flüstern verausgaben (bei Frank Castorf oder René Pollesch), elektronisch verstärkte Stimmen den Raum durchqueren, ohne dass gleich erkennbar ist, wer genau spricht (bei Luk Perceval oder Dimiter Gotscheff) - dann rufen die Erscheinungen stets auch affektive Wirksamkeiten beim Publikum hervor. Im komplexen Feld stimmlich evozierter Emotionen im Theater erscheint der Einsatz von “eigentümlichen Stimmen” 2 besonders interessant. Diese markanten, ungewöhnlichen und einzigartigen Stimmen provozieren nämlich nicht nur starke, sondern zudem gemischte Gefühle und versetzen so die Zuhörenden in Konfliktlagen zwischen diversen, auch einander widersprechenden Empfindungen sowie zwischen der Anziehungs- und Abstoßungskraft der Stimme. Während die Theaterpraxis demnach eine enge Verknüpfung zwischen Stimmlichkeit und Emotionalität vornimmt, ist bezüglich der wissenschaftlichen Reflexionen über Stimmen und Emotionen auffällig, dass selten auf die Verbindung der beiden Phänomene und Kategorien eingegangen wird. Zwar Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 169-182. Gunter Narr Verlag Tübingen 170 Jenny Schrödl beschäftigt sich die Psychologie schon seit längerem mit der Frage der Darstellung von Gefühlen über die Stimme, 3 ebenso wie sich in Theater-, Film- und Kunstwissenschaften punktuell mit historischen wie zeitgenössischen Stimm- und Emotionsinszenierungen auseinandergesetzt wird, 4 zu theoriefähigen Konzepten und/ oder einer besonderen Akzentuierung der Verbindung zwischen Stimme und Emotion verdichten sich diese aber nicht. Dies mag auch insofern verwundern, als beide Kategorien quasi unabhängig voneinander derzeit eine hohe Konjunktur in den akademischen Debatten erfahren. 5 Vor diesem Hintergrund möchte ich in diesem Beitrag den Versuch unternehmen, ein Feld der Beziehungen von Stimme und Emotion zu eröffnen, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. In einem ersten Schritt wird es mir um die Entfaltung diverser grundlegender Aspekte bezüglich stimmlich inszenierter und evozierter Emotionen gehen. Die Stimmen im postdramatischen Theater und ihre emotionalen Wirkungspotentiale stehen in einem zweiten Schritt im Mittelpunkt meiner Auseinandersetzung. Schließlich werde ich mich in einem dritten Schritt mit den eigentümlichen Stimmen beschäftigen und damit versuchen, exemplarisch einer bestimmten Art der Stimm- und Gefühlsinszenierung im postdramatischen Theater auf die Spur zu kommen. Stimmemotion: Verschiedene Aspekte einer Verbindung Hinsichtlich der Relation von Stimmlichkeit und Emotionalität lassen sich zunächst zwei Perspektiven unterscheiden: Zum einen ist die Stimme an eine Person gebunden, ja sie gilt in unserer Kultur geradezu als ‘akustischer Personalausweis’, als unverwechselbares Indiz eines Individuums. Über die Sprechstimme vermitteln sich neben Alter, Geschlecht oder Herkunft auch die emotionale Verfasstheit und Gestimmtheit eines Menschen. Gefühle und Empfindungen wie Trauer, Schmerz, Aggression, Freude, Furcht, Fröhlichkeit oder Begehren einer sprechenden Person können mit stimmlichen Verlautbarungen dargestellt und zugleich hervorgebracht werden, wobei die Darstellungsweisen auf Sets von wiederholbaren Zeichen und Akten beruhen, die im Kontext einer jeweiligen Zeit und Kultur stehen. Beispielsweise gilt in der zeitgenössischen, westlichen Kultur eine Sprechweise mit hoher Tonlage, großer Variabilität, erhöhter Lautstärke und schnellem Sprechtempo als Indiz für Freude und eine tiefe Tonlage, geringe Variabilität, leise Lautstärke und langsames Sprechtempo als Zeichen für Traurigkeit. 6 Zum anderen ist die Stimme als Auslöser von Emotionen zu verstehen - der menschlichen Stimme wird im Allgemeinen die Fähigkeit zugesprochen, Gefühle und Empfindungen bei anderen Menschen hervorzurufen oder anzuregen. Auf diesen engen Zusammenhang von Stimmlichkeit, Emotionalität und Hören hat u.a. Roland Barthes verwiesen, wenn er schreibt: “Es gibt keine menschliche Stimme auf der Welt, die nicht Objekt des Begehrens wäre - oder des Abscheus: Es gibt keine neutrale Stimme”. 7 Im Spektrum von Lust und Unlust, von Begehren und Abscheu vermögen Stimmen unterschiedlichste Gefühle und Empfindungen hervorzurufen wie etwa Begeisterung, Freude, Unheimlichkeit oder Gereiztheit. Dass wir von Stimmen affektiv betroffen werden können, liegt nach Gernot Böhme daran, “dass wir in unserer eigenen leiblichen Präsenz im Raum durch die Stimmen, die wir hören, modifiziert werden”. 8 Insofern wir leiblich in den Raum hinaus spüren, tangieren uns andere Phänomene wie die Stimme und verändern unter Umständen unsere leibliche und affektive Befindlichkeit, “indem man sich eng oder weit fühlt, gedrückt oder gehoben und noch vieles mehr” 9 . Stimme und Emotion 171 Beide Komponenten, die stimmliche Verlautbarung der Gefühle des sprechenden Subjekts und die stimmliche Evokation von Emotionen beim zuhörenden Subjekt, stehen freilich in komplexen Zusammenhängen. So kann beispielsweise das über die Stimme veräußerte Gefühl des oder der Sprechers/ in auf Zuhörende übertragen werden. Die von stimmlichen Verlautbarungen evozierten Emotionen beim Hörenden müssen aber nicht notwendigerweise identisch sein mit denen des oder der Sprechenden - gefühlsbetonte Stimmaufführungen vermögen möglicherweise andere, auch gegenteilige oder gar keine Empfindungen bei Zuhörenden hervorzurufen. Nicht zuletzt bedarf es keinesfalls einer Gefühlsinszenierung von Seiten des oder der Sprechenden; durch bestimmte akustische Reize können vielmehr beim Zuhörenden Emotionen hervorgebracht und evoziert werden, ohne dass der oder die Sprecher/ in überhaupt etwas Bestimmtes fühlen muss bzw. vorgibt zu fühlen. Diese verschiedenen Möglichkeiten der Verbindung von Stimme und Emotion im Spannungsfeld zwischen Erzeugung und Wahrnehmung verdeutlichen bereits die hohe Komplexität des Themas, welches kaum durch einzelne Perspektiven und Ansätze zu erfassen ist. Im Zusammenhang mit Gefühlsdarstellungen, -evokationen und -wahrnehmungen über Stimmen erscheinen mindestens drei Aspekte zentral: 1. Emotionen sind generell nie etwas rein Innerliches oder Subjektives, sondern sie stehen im Zusammenhang mit einer dem betroffenen Subjekt äußerlichen Situation. Die Kritik am sogenannten ‘Innenweltdogma’ von Gefühlen spielt(e) vor allem in der Phänomenologie eine entscheidende Rolle. 10 In diesem Sinne formuliert etwa Hartmut Böhme: Gefühle sind, wiewohl subjektiv gespürt, durchaus objektiv. [...] Gefühle sind Atmosphären, die dem Ich entgegentreten, geradezu entgegenschlagen, von denen es angesogen, überwältigt, niedergeschlagen, bedrückt, mitgerissen, emporgehoben, angesteckt, durchdrungen, überströmt u.ä. wird. 11 Das heißt, die Affekte und Empfindungen, die Stimmen beim Hörenden auszulösen vermögen, sind nicht allein dem Hörenden zuzuschreiben, sondern sie sind, in Doris Koleschs Worten, “Effekte komplexer Prozesse des - bewussten oder unbewussten - Wahrnehmens und Darstellens, des Zeigens, Beobachtens und Interpretierens”, 12 also der Interaktion zwischen Sprechenden und Hörenden. Selbstverständlich lösen gleiche oder ähnliche Stimmen nicht bei jedem Menschen das Gleiche aus. Je nach Dispositionen und Konstitutionen des wahrnehmenden Subjekts (Bildung, Verfasstheit, Einstellung oder Haltung) unterscheiden sich analoge Situationen zwischen verschiedenen Wahrnehmenden - in diesem Sinne sind die Situationen je subjektiv und individuell geprägt. Dennoch stehen Stimmen und ihre emotionalen Präsentationen und Wirkungen immer auch in einer Abhängigkeit zur jeweiligen Zeit und Kultur, was die intersubjektive Teilbarkeit und Verhandelbarkeit einer Erfahrung bedingt und ermöglicht. Vor diesem Hintergrund lässt sich also festhalten, dass stimmlich präsentierte und wahrgenommene Emotionen sich weder ausschließlich als subjektive/ innerliche Vorgänge noch ausschließlich als objektive/ äußerliche Phänomene begreifen lassen. Sie sind vielmehr Zwischengeschehnisse, die in der Interaktion zwischen Menschen oder zwischen Menschen und Umwelt entstehen. 2. Mit welchen Gefühlen und Affekten wir auf Gehörtes (re-)agieren und wie wir stimmlich Emotionen darstellen und hervorbringen, ist kulturell und sozial konstituiert. Was wir als angenehmen oder unangenehmen Klang, als nervige oder anziehende Stimme empfinden, variiert kulturell und historisch. Affektives Verhalten wird gelehrt und erlernt und zwar nach Kolesch nicht nur “vermittels kognitiver und sprachlicher Prozesse, sondern 172 Jenny Schrödl insbesondere auch in - häufig unbewusst bleibenden - gesellschaftlichen Interaktionen und körperlichen Vollzügen”. 13 Zugleich scheint es aber auch, wie neuere neurowissenschaftliche Untersuchungen belegen, sogenannte emotionale Archetypen im Bereich des Hörbaren zu geben, die im Wesentlichen von Zeit und Kultur unabhängig funktionieren, wie z.B. laute und raue Töne, die zur Drohung o.ä. gebraucht werden und Furcht/ Rückzugsverhalten oder Aggressivität/ Angriffsverhalten auslösen können. 14 Die kulturelle Konstitution von Stimmen und Emotionen verweist auf den komplexen Bereich der Inszenierung, welcher bei Stimmen von Schauspieler/ innen besonders auffällig ist. Zur Inszenierung von Stimmen gehören - gerade im Bereich des Theaters - neben Übungen und Proben eine Reihe von Techniken wie Körpertechniken, rhetorische Verfahren, “theaterspezifische Techniken der Deklamation, Artikulation und Atmung, akustisch-elektronische Techniken wie Mikrophon, Mikroport oder Vocoder aber auch medizinische Operationen oder chemische Verfahren” 15 . In diesem Zusammenhang ist allerdings ebenfalls zu betonen, dass die Stimme nie vollständig gestaltbar, inszenierbar, kontrollierbar und steuerbar ist: Die Stimme ist Sprechenden wie Hörenden stets auch entzogen, sie geht in ihrer Qualität eines Überschusses über Intentionen, Wünsche, Könner- und Kennerschaft von Subjekten hinaus. Sie ist, mit anderen Worten, immer auch ein Ereignis, welches sich eben dadurch definiert, dass es “sich jeder durchgängigen Regie” 16 entzieht. Für die Inszenierung und Evokationen von Emotionen durch die Stimme bedeutet dies, dass es keine vollständige Determiniertheit der affektiven Situationen durch einzelne Subjekte oder durch soziokulturelle Faktoren gibt. Menschen können mit ihren stimmlichen Verlautbarungen Erscheinungen, Wirkungen und Wahrnehmungen strategisch vorbereiten und in bestimmte Bahnen lenken, dennoch können sie weder die Erscheinungen von Stimmen noch ihre sinnlich-affektiven Wirkungen vollständig festlegen oder determinieren. Sie schaffen allein ein Potential, einen Möglichkeitsraum für bestimmte Erfahrungen und Wirksamkeiten. 3. Emotionen stehen in komplexen Zusammenspielen mit dem Leib/ Körper einerseits und mit dem Geist/ Kognitiven andererseits. In der abendländischen Geschichte hat das hierarchisierte Drei-Schichten-Modell von Leib - Seele - Geist eine lange Tradition, wobei scharf zwischen Leib/ Seele und zwischen Seele/ Geist unterschieden wurde. 17 Emotionen selbst erhalten in dieser Ordnung einen ambivalenten Status, sie sind etwas, das man zwar hat und das offensichtlich zum Leben gehört, gleichzeitig stellen sie eine Gefahr dar und müssen beherrscht und handhabbar gemacht werden. Die ‘Entleiblichung’ und ‘Entmächtigung’ der Gefühle vollzieht sich nach Böhme in komplexen Prozessen der Introjektion: Die Macht der Gefühle wurde entmythologisiert; sie wurden zu seelischen Regungen verinnerlicht, die Seele selbst aber - umso mehr die Vernunft - wurde prinzipiell autonom und folglich dazu aufgerufen, die Regie für die Gefühle zu übernehmen. 18 In den heutigen Debatten um Gefühle wird hingegen stärker der Zusammenhang, statt der hierarchisierte Dualismus, von Emotionen mit körperlichen und geistigen Prozessen hervorgehoben. Im Sinne der phänomenologischen Tradition zeichnen sich Gefühle gerade durch ein leibliches Betroffensein von ihnen aus. Auch die Neurowissenschaften stellen den Zusammenhang von Körper und Gefühlen heraus, wenn etwa Antonio R. Damasio behauptet, gewisse Körperzustände seien nicht die Symptome eines Gefühls, sondern umgekehrt die “Körperzustände” seien es, die “die Empfindungen verursachen” 19 . In ähnlicher Weise der Herstellung eines Zusammenhangs wird mit der Relation Stimme und Emotion 173 von Emotion und Rationalität verfahren. So behauptet Ronald de Sousa beispielsweise, dass Gefühle unsere begrenzten rationalen Vermögen unterstützen und überhaupt erst in bestimmte Bahnen lenken, indem sie etwa unsere Aufmerksamkeit ausrichten, Wertigkeiten vornehmen und Relevanzen setzen. 20 Im Zusammenhang mit stimmlich produzierten und erfahrenen Emotionen heißt dies einerseits, dass Stimmen stets leiblich-körperlich produziert werden, und andererseits, dass das, was wir hören, immer leiblich-körperlich gespürt und empfunden wird. Die Stimme stiftet gar, wie Dieter Mersch es ausdrückt, einen direkten körperlichen Kontakt zwischen Sprechenden und Hörenden. “Der Kontakt hat, qua Berührung, einen leiblichen Impuls. Es ist mitunter dieser leibliche Impuls, der entscheidet, ob ich zuhöre, ob ich das Gesagte aufnehme, mich innerlich abwende oder gar den anderen abweise”. 21 Ebenso geht die stimmliche Produktion mit rationalen Prozessen einher, so wie wir mit Affekten und Emotionen Haltungen zu (stimmlichen) Geschehnissen einnehmen, sie bewerten und beurteilen. Theaterstimmen und emotionale Wirksamkeiten Wie eingangs angedeutet, lässt sich bezüglich der Stimmästhetik des postdramatischen Theaters eine Verschiebung der Inszenierungs- und Präsentationsweisen von Stimmen feststellen, auch als Resultat verschiedenster künstlerischer Bemühungen seit den historischen Avantgarden und den 1960er Jahren. Im Vordergrund steht nicht mehr allein das, was verlautbart wird, und somit die Artikulation von Sprache und Rede, die Darstellung von Figuren, die Erzählung und Repräsentation einer Geschichte. Man konzentriert sich vielmehr darauf, wie etwas verlautbart wird, und setzt so den Fokus auf die Ausstellung der Stimme und den Vollzug des Sprechens selbst, auf die Hervorbringung von materiellen Erscheinungen von Stimmen im Hier und Jetzt einer Aufführung. Die Stimme als theatrales Element erhält auf diese Weise einen autonomen Status diesseits von Sprache und Subjekt, diesseits von semantischen, expressiven und instrumentellen Funktionen. 22 Kennzeichnend für zeitgenössische Stimmästhetik ist zudem eine Heterogenität von stimmlichen Artikulationsweisen und experimentellen Erkundungen, wobei man vier Formen des Stimmeinsatzes unterscheiden kann: Körper-Stimmen, solistische Stimmen, chorische Stimmen und elektronische Stimmen. 23 Einen zentralen Stellenwert nimmt im postdramatischen Theater die Ausstellung der Körperlichkeit der Stimme und des Sprechens ein, welche sich in diversen Formen zeigen kann, etwa durch Schreien, Flüstern, Anstrengung, Atmen, Keuchen, Husten, Schnaufen, Lachen, Weinen oder Klagen. Zudem erhalten im postdramatischen Theater solistische Stimmen besonderes Gewicht: Zu denken wäre hier etwa an das verausgabende Sprechen von Solisten in Laurent Chétouanes Inszenierungen, an den Einsatz von Laiendarsteller/ innen und unprofessionellen Stimmen bei Rimini Protokoll oder Christoph Schlingensief, an die Polyphonie der einzelnen Stimme, die durch intervokale Techniken erreicht wird, sowie an die Einsätze von eigentümlichen, besonders markanten Stimmen von professionellen Sprecher/ innen. Neben den solistischen bekommen vor allem chorische Stimmen eine tragende Rolle im postdramatischen Theater wie in Inszenierungen von Frank Castorf, Volker Lösch, Christoph Marthaler, Einar Schleef, Jossi Wieler oder Robert Wilson. Und nicht zuletzt erfahren elektronisch verstärkte, veränderte, verzerrte oder vervielfältigte Stimmen einen erhöhten Einsatz, beispielsweise bei Dimiter Gotscheff, Luk Perceval Réne Pollesch oder der Wooster Group. 174 Jenny Schrödl Wesentlicher Aspekt der Stimmästhetik des postdramatischen Theaters ist vor diesem Hintergrund eine Dekonstruktion von traditionellen Idealen und Vorstellungen der (theatralen) Stimme und des Sprechens (Wohlklang, Verständlichkeit, Repräsentation von Rollen), wie sie sich in Deutschland seit Mitte des 18. Jahrhunderts etabliert haben. Gleichfalls löst sich postdramatische Stimmästhetik nicht vollständig von den Vorgaben des dramatischen Theaters und mithin von traditionellen Rede- und Sprechstilen auf der Bühne. Das heißt auch, dass sich in gegenwärtigen Aufführungen nicht ausschließlich experimentelle Stimmeinsätze finden, sondern solche existieren vielmehr neben traditionellen Formen wie deutlicher Aussprache und wohlklingender Rede. Erreicht wird damit eine Vielfalt an Formen stimmlicher Verlautbarung, die gleichfalls Vorstellungen davon aufweichen und erweitern, was traditionell als menschliche Stimme galt und gilt. So lassen sich Übergänge zwischen Stimme und Geräusch ebenso finden wie Übergänge zwischen Sprech- und Singstimmen, zwischen Live-Stimmen und mediatisierten Stimmen sowie zwischen Ein- und Mehrstimmigkeiten. Mit der Veränderung der theaterästhetischen Funktionen und der Erweiterung des Spektrums des Stimmlichen im postdramatischen Theater geht eine modifizierte Erfahrungs- und Wirkungsästhetik der Stimme einher. Theaterstimmen sind nicht mehr primär darauf ausgerichtet, von Seiten der Zuschauenden/ -hörenden verstanden oder in Hinblick auf eine darzustellende Figur erkannt zu werden, sondern mit ihnen werden vielmehr ästhetische Erfahrungsräume und sinnlich-affektive Betroffenheiten provoziert, die oftmals ihren Ausgangspunkt in der Irritation von Verstehensvorgängen sowie von habitualisierten Wahrnehmungs- und Hörmodi nehmen. Charakteristisch erscheint eine intensive, sinnlich-affektive Kraft und Betroffenheit von und durch Stimmen, die zumeist mit einer Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf das stimmliche Geschehen, auf die Art und Weise der Artikulation im Hier und Jetzt einer Aufführung einhergeht und eine Gewärtigung von Selbst und Anderen einschließt. Die Verbindung zwischen Bühne und Publikum, zwischen stimmlich Verlautbarenden und Hörenden wird auf diese Weise explizit zum Thema. In diesem Zusammenhang spielt auch die Evokation und Hervorbringung von Emotionen und Empfindungen beim Publikum eine entscheidende Rolle. Mit verschiedensten stimmlichen Verlautbarungen werden Potentiale geschaffen, affektive Wirksamkeiten bei den Zuhörenden hervorzurufen. Zu denken wäre beispielsweise an die chorischen Auftritte bei Einar Schleef, Christoph Marthaler oder Volker Lösch, bei denen mit Stimmen dichte Atmosphären hervorgebracht werden. Ebenso ist an die Einsätze von mikrophonverstärkten Stimmen zu erinnern, etwa bei René Pollesch, Luk Perceval oder Dimiter Gotscheff, mit denen in Form von akustischen Großaufnahmen Effekte der Nähe und Intimität zwischen Sprechenden und Hörenden evoziert werden. Auch das körperbetonte Sprechen und Verlautbaren, im Schreien, Weinen, Verausgaben oder Klagen, birgt verschiedene Potentiale emotionaler Wirksamkeiten, die vom Mitleiden an der Qual oder dem Schmerz des anderen Menschen über anziehend faszinierende bis hin zu beunruhigenden und abstoßenden Anmutungen reichen. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Vielfalt und Heterogenität von dargestellten und evozierten Emotionen zu betonen. Affektive Stimmdarstellungen und -erfahrungen umfassen nicht nur die sogenannten ‘großen Gefühle’ 24 , sondern vielmehr auch die subtileren, weil zumeist nicht klar abgrenzbaren und bestimmbaren, affektiven Formen wie Stimmungen, Atmosphären und Empfindungen. 25 In der Stimmforschung (hier insbesondere zur Sing- und Opernstimme) hat der Topos des Begehrens und des Erotischen einen großen Stellenwert. In diesem Sinne Stimme und Emotion 175 besprechen beispielsweise Daniel Charles, Roland Barthes, Michel Poizat, Elisabeth Wood, Tiina Rosenberg oder Clemens Risi mit ganz unterschiedlichen Theorien, Akzenten und Ausrichtungen die Gesangsstimme im Kontext mit der Evokation von Anziehungskraft, Genuss und Erotik. 26 Im Zusammenhang von Stimme und Emotion im postdramatischen Theater ist allerdings hervorzuheben, dass die Ausrichtung auf das Erotisch-Anziehende von Singwie Sprechstimmen eine Verkürzung und Vereinseitigung des Komplexes darstellt. Wie gerade die Erfahrung innerhalb verschiedenster theatraler Arbeiten zeigt, können mit Stimmen eine Vielzahl von Affekten hervorgerufen werden (wie auch dargestellt und gezeigt werden), die nicht nur anziehende Kräfte beinhalten, sondern durchaus ebenfalls abstoßende (wie im Schrecken, Schock, in der Unsicherheit, Überforderung oder Überreizung). Die Heterogenität und Komplexität von evozierten Emotionen im Theater lässt sich anhand von einem Beispiel illustrieren. In René Polleschs Inszenierung Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels (2001) spielen die stimmlichen Verlautbarungen der drei Schauspielerinnen (Christine Groß, Nina Kronjäger, Claudia Splitt) und die Evokation von Emotionen beim Publikum eine entscheidende Rolle. Auf Hockern oder auf dem Boden sitzend, liefern sich die drei Akteurinnen einen fulminanten Schlagabtausch nach dem anderen. Mit hoher Geschwindigkeit fliegen Wörter, Sätze und Geräusche hin und her, ein Wort ergibt das nächste, eine Stimme löst die nächste pausenlos ab, während beständig Wörter lauthals in den Raum geschrien werden. Auf diese Weise sprechen die Schauspielerinnen die gesamte Zeit in der etwa einstündigen Inszenierung; derartige Sprechsituationen werden nur kurz unterbrochen durch sogenannte Clips, in denen die Akteurinnen zu körperlichen Aktionen übergehen, pantomimische Nummern o.ä. aufführen. Der Stimmeinsatz der drei Schauspielerinnen ist durch folgende Elemente geprägt: durch eine hohe Sprechgeschwindigkeit, die vor allem durch die fehlende Pausensetzung zwischen den einzelnen Redebeiträgen entsteht. Zudem nutzen die Schauspielerinnen eine spezifische Sprechmelodie, welche sich durch erhöhten Tonfall und ansteigende Intonation auszeichnet und jeden Satz wechselweise wie eine Frage, einen Ausruf oder eine Erkenntnis erscheinen lässt. Schließlich ist der Stimmeinsatz geprägt durch wiederholt ausgestoßene Schreie - ein Wort oder Halbsatz wird unvermittelt heraus geschrien, ohne dass es dafür einen nachvollziehbaren Grund gebe. Diese drei Elemente (Sprechgeschwindigkeit, Sprechmelodie, Schrei) führen nun dazu, dass für die Zuhörenden eine alleinige Fokussierung auf das Gesagte und auf die inhaltliche Komplexität des Textes durchkreuzt wird und die Wahrnehmung vielmehr auf die Art und Weise des Sprechens gelenkt wird. Damit verbunden vermögen die stimmlichen Verlautbarungen von Groß, Kronjäger und Splitt im Laufe der Aufführung starke Emotionen und Empfindungen beim Publikum hervorzubringen, welche ich im Folgenden kurz ausführen möchte. Zu erwähnen ist zunächst das Gefühl der Unsicherheit, das eine/ n beim Hören der Schauspielerinnen befallen kann. Akustisch nicht genau zu verstehen und nachvollziehen zu können, wovon die Rede ist, kann ebenso irritieren wie der Moment, in dem ich nicht erkenne, wer eigentlich spricht. Letzteres kommt u.a. durch die Angleichung und Entindividualisierung der Stimmen zustande - alle drei Schauspielerinnen sprechen im ähnlichen Duktus, womit eine sofortige Identifikation von Stimme und Sprecherin unterminiert wird. Verunsicherung ist ein stark empfundenes und gleichfalls wissenschaftlich un(an)erkanntes Gefühl, es wird nicht einmal als eigenständige Emotion begriffen. 27 Ein Grund dafür mag in der uneindeutigen Verfasstheit liegen, die diese 176 Jenny Schrödl Empfindung mit sich bringt - sie tendiert dazu, sich mit anderen Gefühlen zu vermischen, und wird daher eher als Komponente von abgrenzbareren und eindeutigeren Gefühlen verstanden. So kann Verunsicherung beispielsweise im Zusammenhang mit Angst auftreten, man ist dann beunruhigt oder fühlt sich bedroht, aber auch mit Hoffnung und Interesse. Diese Vielseitigkeit der Verunsicherung wird auch in Insourcing des Zuhause virulent: Das Sprechen und die stimmlichen Artikulationen der Schauspielerinnen kann den einen Zuhörer so sehr verwirren, dass er frustriert und enttäuscht wird. Bei einer anderen Zuhörerin kann indes die von den Verlautbarungen ausgelöste Irritation zum Anreiz werden, sie kann ihr Interesse und ihre Neugier anstacheln. Eine weitere Empfindung, die bei Polleschs Inszenierung eine Rolle spielt, ist der Schrecken oder der Schock. Vor allem die Schreie der Schauspielerinnen können die Zuhörenden erschrecken und eine kurze Schockerfahrung freisetzen. Verbunden ist diese Empfindung mit einer schwer beherrschbaren körperlichen (Re-)Aktion und einer gesteigerten Erregtheit: man fährt oder zuckt zusammen und ist - bestenfalls - gleich hernach aufgeregt, hellwach. Und selbst wenn man nach einiger Zeit in Insourcing des Zuhause das Prinzip verstanden hat, also weiß, dass die Schauspielerinnen immer wieder schreien werden, verlieren die Schreie bis zum Ende kaum etwas von ihrer Kraft. Dies liegt unter anderem an ihrem Überraschungseffekt, da sie trotz ihrer Wiederholung im Moment ihres Auftauchens unvorhersehbar sind. Das Publikum weiß demgemäß nur, dass die Schreie auftauchen werden, aber eben nicht, wann geschrien und wer von den Schauspielerinnen schreien wird. Das Moment des Plötzlichen, Unvorhersehbaren gehört - ebenso wie die starke Intensität des Erlebens - wesentlich zum Schrecken und wird bei Pollesch durch die unregelmäßige Setzung der Schreie evoziert. 28 Ein weiterer Aspekt affektiver Wirksamkeit des Sprechens und der Stimmen ist die zum Schrecken/ Schock nahezu gegenteilige Empfindung des Komischen und Lustigen. Die komische Wirkung trägt in der Inszenierung dementsprechend nicht nur zur allgemeinen Aufheiterung bei, sondern sie führt auch zur physisch-psychischen Entspannung jeder/ s Einzelnen. In zahlreichen Situationen von Insourcing des Zuhause wird gelacht, wobei dieses Lachen vom ausufernden Lachkrampf über kurze Lacher bis hin zum müden Lächeln reichen kann. Die Komik entsteht oftmals im Zusammenhang mit einem Sprachwitz, indem überraschend scheinbar beziehungslose Diskurse zusammengebracht werden. Auch die Übertragung einer abstrakten und quasi neutralen Wissenschaftssprache in die Ich-Form und die damit einhergehende verulkende Abwertung wissenschaftlicher Sprache und Diskurse trägt immer wieder zum Lachen und zur Erheiterung bei. Neben Komik, Schrecken und Verunsicherung spielt nicht zuletzt auch das Empfinden einer gewissen Gereiztheit, Überforderung und Erschöpfung beim Hören der Stimmen eine nicht unwesentliche Rolle. Nach Andrzej Wirth wird der pausenlose Redefluss bei Pollesch sogar zu einer an den Boxkampf erinnernden Kraftprobe für Akteurinnen und Publikum zugleich. 29 Sowohl in einzelnen Sprechszenen als auch zum Ende der Aufführung hin überfällt die Zuhörenden unter Umständen das Gefühl, nicht mehr zuhören zu können, sich weder auf die Stimmen noch auf das Gesprochene konzentrieren zu können. Dies wird durch die Sprechgeschwindigkeit, aber auch durch die Sprechmelodie und Schreie der Schauspielerinnen erreicht sowie durch die zeitliche Dauer, in der sich die Sprechsituationen bewegen. Die permanente stimmliche Beschallung, die übrigens nicht nur die Stimmen umfasst, sondern auch die lautstarke Musik, die in den Clips gespielt wird, kann nicht nur dazu Stimme und Emotion 177 führen, dass man sich der auditiven Flut im positiv gemeinten rauschhaften Sinne hingibt, sondern sie kann auch zur Überreizung der Sinne beitragen und mithin eine eher negativ zu verstehende Überreizung und Erschöpfung implizieren, die ebenso ein Wegdriften oder Abschalten der Aufmerksamkeit vom Geschehen umfassen kann. Affektive Kräfte von eigentümlichen Stimmen Eine besondere Rolle nehmen im postdramatischen Theater eigentümliche Stimmen von Schauspieler/ innen und Virtuos/ inn/ en ein, etwa von David Bennent, Sophie Rois, Volker Spengler, Graham Valentine oder André Wilms. Kennzeichnend für diese Stimmen ist ihre besondere Auffälligkeit; sie treten durch ein bestimmtes Merkmal (durch eine gewisse Klangfarbe oder Tonhöhe, durch eine Brüchigkeit, eine körperliche Spur oder einen Widerspruch zur visuellen Erscheinung) prägnant hervor, so dass sie sofort bemerkbar und (wieder-)erkennbar sind. Das besondere Merkmal der eigentümlichen Stimme ist schwerlich reflexiv zu fassen, ist kaum mit allgemeinen Kategorien zu beschreiben und ist dennoch forciert wahrnehmbar und intensiv erlebbar - es gleicht einer Qualität des materiellen Überschusses der Stimme, welcher nicht vollständig von Subjekten kontrolliert, inszeniert und handhabbar gemacht werden kann, sondern sich in der Begegnung zwischen verlautenden und wahrnehmenden Subjekten ereignet. Dies soll nicht heißen, dass das Eigentümliche der Stimme der artikulierenden Person quasi natürlich gegeben ist oder diesem nur widerfährt. Ereignis und Inszenierung schließen sich nicht aus, insoweit vermag das Eigentümliche der Stimmen durchaus antrainiert und stilisiert sein sowie das Ereignen der Stimme vorbereitet und in bestimmten Bahnen gelenkt werden kann. Neben der besonderen Auffälligkeit solcher Stimmen charakterisiert sie eine Singularität - sie sind einzigartig und gehören eben zu einer bestimmten Person und sind auf diese Weise nicht wiederholbar, ersetzbar oder von einer anderen Person kopierbar, darin ähneln sie der individuellen Stimme. In ihrer Auffälligkeit und Prägnanz unterscheiden sich eigentümliche Stimmen dennoch von individuellen Stimmen bzw. gehen über diese hinaus: Während jede Stimme über eine individuelle, singuläre Nuance verfügt, die sich aus persönlicher Klangfarbe, Resonanz, Tonhöhe, Modulation, Melodie sowie Besonderheiten bei der Bildung bestimmter Laute zusammensetzt, ist damit noch nicht gesagt, ob diese Stimme in besonderer Weise hervortritt und bemerkbar wird. Zumeist bedarf es wiederholten und geübten Hörens, um die je spezifische Stimme zu erkennen und einer bestimmten Person zuzuordnen. Den eigentümlichen Stimmen eignet hingegen eine besondere Prägnanz und Eindringlichkeit - bei ihrem Erklingen beanspruchen sie eine sofortige Auffälligkeit und Aufmerksamkeit, sie prägen sich sogleich ins Gedächtnis der Zuhörenden ein. Die Gründe dafür, im Theater solch eigentümliche Stimmen einzusetzen, sind freilich vielfältig. Heiner Goebbels beispielsweise, für den “die Arbeit mit eigentümlichen Stimmen” eine “unbewusste gemeinsame Formel” für seine künstlerischen Arbeiten darstellt, 30 gibt zwei Gründe für den privilegierten Einsatz solcher Stimmen an: Zum einen sei die eigentümliche Stimme nicht ersetzbar, auch nicht umbesetzbar, sondern singulär - er wendet sich damit gegen ein traditionelles Stimm- und Schauspielideal, der Stimme das Eigene zu nehmen. 31 Zum anderen eigne sich die eigentümliche Stimme nach Goebbels besonders dafür, das große klangliche Spektrum der menschlichen Stimme hörbar zu machen: 178 Jenny Schrödl ein jäher, unwiederholbarer Ausdruck, ein riskanter Sprung, die gebrochene Stimme, der unverwechselbare Akzent; Flüstern, Zögern, Lachen und Seufzen, Räuspern und Ächzen am Rande des Geräuschs; die Fistelstimme oder die Fragilität ihres Überschlagens ebenso wie ein kraftvoller, ungeschönter Ruf oder die kunstvolle Verzierung. 32 Daran lässt sich der Gedanke anschließen, dass es beim Einsatz und bei der Ausstellung von eigentümlichen Stimmen nicht nur um die Entfaltung eines vielfältigen Klangspektrums der menschlichen Stimme geht, sondern auch um die forcierte Präsentation stimmlicher Materialität, ihrer Klanglichkeit, Körperlichkeit und Fluidität. Dem Einsatz von eigentümlichen Stimmen im Theater liegen also verschiedene Antriebe zu Grunde, wobei ein weiterer entscheidender Beweggrund, so meine These, in dem Potential dieser Stimmen liegt, die Zuhörenden emotional zu tangieren und zu bewegen. Denn hervorstechend an diesem Stimmtypus ist nicht nur eine forcierte Auffälligkeit, Bemerkbarkeit und (Wieder-) Erkennbarkeit von Seiten der Zuhörenden, sondern vor allem ein mit ihrem Erscheinen einhergehendes Auslösen starker Empfindungen und Emotionen bei den Zuhörenden. Das, was sich durch eigentümliche Stimmen in und an einem Menschen ereignet, scheint erst einmal ein Spektrum von Empfindungen und Gefühlen zu umfassen. Betrachtet man zum Beispiel Sophie Rois’ Auftritte, dann wird deutlich, dass kaum eine Kritik - sei es für Theateraufführungen, Fernsehfilme oder Lesungen - ohne eine Bemerkung über ihre Stimme und die damit verbundenen emotionalen Wirkungen auf den oder die jeweilige/ n Hörer/ in auskommt. Ihre Stimme wird als rau, brüchig, geräuschvoll, heiser etc. beschrieben und ihre affektive Wirkung als eindringlich, mitreißend, anziehend, störend oder befremdend. Es geht in dem Zusammenhang aber nicht nur um starke affektive Eindrücke, sondern präziser um gemischte Empfindungen und Gefühle. Rois’ Stimme evoziert massive Anziehungskräfte, denen gleichzeitig Abstoßungskräfte eigen sind. Sie provoziert also gemischte Empfindungen wie Gefallen und gleichzeitig Missfallen, Irritation und zugleich Interesse (o.a.). Sabine Schouten bezeichnet Rois’ Stimme dementsprechend als “zugleich aufwühlend und befremdend”. 33 Man könnte auch sagen, dass solch eigentümliche Stimmen wie die von Rois die Zuhörenden in eine Konfliktlage bringen und zwar im doppelten Sinne: Einerseits durchlebt der oder die Zuhörende verschiedene, auch divergierende Empfindungen und Gefühle am eigenen Leib. Der oder die Zuhörende fühlt sich zwischen verschiedenen emotionalen Empfindungen und Bewertungen hin- und hergerissen, was aber sogleich ihre starke Intensität und Bemerkbarkeit im Hier und Jetzt der jeweiligen Situation unterstützt. Andererseits erlebt der oder die Zuhörende einen Konflikt zwischen der Anziehungskraft und der Abstoßungskraft der jeweiligen Stimme, ein Konflikt zwischen dem Verfallen an und dem Abgrenzen von der Stimme. Mit anderen Worten: die eigentümliche Stimme birgt ein Potential für den oder die Zuhörende/ n, sich dieser vollkommen hinzugeben und sich mithin im Fremden, Uneigenen aufzulösen. Zugleich appelliert diese Stimme an eine Distanznahme von ihr und einen Rückzug ins Eigene durch den oder die Zuhörende/ n. Mit diesen Stimmen werden Zuhörende also aufgefordert, sich ihnen weder gänzlich hinzugeben noch vollständig zu ihnen in Distanz zu treten. Weder rein abstoßende noch rein verschmelzende Bewegungen sind hier gefordert, sondern das Einlassen auf ein konfliktreiches Dazwischen, auf das Durchleben von Unterschiedlichem bzw. von Differenz. Aber woher kommt das Affizierungspotential dieser eigentümlichen Stimmen? Die Bedingungen der Möglichkeit, andere Menschen in der beschriebenen Weise zu tangieren, ihre Befindlichkeiten zu modifizie- Stimme und Emotion 179 ren und sie in eine emotionale Konfliktlage zu bringen, liegen meines Erachtens zunächst in einer Ambivalenz oder gar Vielstimmigkeit der Stimmen selbst begründet. Rois’ Stimme etwa bewegt sich zwischen verschiedenen akustischen Parametern und Registern. Ihre Klangfarbe ist rau und die Tonlage relativ tief, was in unserem Kulturkreis zumeist als angenehm empfunden wird. Gleichzeitig erscheint die Stimme von Rois jedoch brüchig, heiser oder schrill, was wiederum eher als unangenehm empfunden wird. Die beiden Komponenten von Rois’ Stimme sind zugleich geschlechtlich besetzt und entfalten gemeinsam ein geschlechtliches Zwischen. Rois’ Stimme tendiert zum Kippen von einem eher männlich konnotierten ins weiblich konnotierte Register, hält sich als Klangerscheinung in einem Zwischenbereich auf. Diese vermeintlich gegensätzlichen Anmutungen des Stimmklangs können beim Hörenden ein Wechselbad der Eindrücke hinterlassen und ambivalente Empfindungen hervorrufen. Ein weiteres Beispiel für die ambivalente Erscheinung von eigentümlichen Stimmen ist Graham Valentines vokaler Einsatz, etwa bei einem Monolog in Christoph Marthalers Maeterlinck (2007). In der Szene steht Valentine im hinteren Teil der Bühne, die als eine Nähstube des 19. Jahrhunderts ausgestattet ist. Sein Monolog ist zunächst geprägt durch den unvermittelten Wechsel zwischen verschiedenen Sprachen: formuliert er eben noch Sätze auf Französisch, so geht Valentine plötzlich ins Englische über, dann wiederum ins Flämische usw. Während er so spricht, wird keine Übersetzung auf dem Screen sichtbar. Anstelle dessen sind die unterschiedlichen klanglichen Erscheinungsweisen der Sprachen präsent sowie auch die stimmliche Verlautbarung selbst hier eine forcierte Ausstellung erfährt: In seinem Monolog geht Valentine ins Singen über, wobei es sich so anhört, als singe er mit zwei Stimmen, kommt dann wieder ins Sprechen, ändert allerdings die Register, spricht mal mit hoher Kopfstimme, mal mit tieferer Bauchstimme. Schließlich endet seine Artikulation mit stark körperbetontem Sprechen, es werden kaum mehr Laute oder Sprachen hörbar, sondern vielmehr ein nonverbales Geräuscharsenal, das aus Gurgeln, Prusten, Spucken und Lallen besteht. Valentines Stimme bewegt sich auf diese Weise in verschiedenen Zwischenräumen - zwischen Sprech- und Singstimme, zwischen hohem und tiefem Register, zwischen Sprache und Geräusch - und erzeugt so eine Vielstimmigkeit der einzelnen Stimme, welche ebenso anziehende wie abstoßende Empfindungen beim Publikum provoziert. Das Affizierungspotential der eigentümliche Stimme hat aber noch (mindestens) eine andere Bedingung, die ich als Hingabe an die Stimme, an ihre Setzung oder an ihr Ereignen/ Erscheinen von Seiten des verlautenden Subjekts bezeichnen möchte. Wie bereits angesprochen, eignet den eigentümlichen Stimmen ein singulärer Rest, ein Überschuss, der über die Verfügungsgewalt, die Könner- und Kennerschaft des verlautenden Subjekts hinausgeht. Zugleich zeichnet sie aber auch eine Beherrschung und Inszenierung durch die verlautenden Subjekte aus. Mit anderen Worten: Bei der eigentümlichen Stimme befinden sich die sie artikulierenden Subjekte selbst in einer Konfliktlage. Diese spannt sich zwischen der Hin- und Aufgabe an die Stimme/ Situation einerseits und der Kontrolle und Verfügung über die Stimme/ Situation andererseits auf. Das, was uns also an solch eigentümlichen Stimmen affiziert und emotional tangiert, ist (neben ihrer ambivalenten Erscheinung) demnach der doppelte Anspruch von Aussetzung/ (Hin-)Gabe an uns und von Kontrolle/ Macht über uns durch die Erscheinung der Stimme. Anmerkungen 1 Begrifflich unterscheide ich hier nicht zwischen Emotion und Gefühl, sondern verwende diese synonym, wie es auch der Wort- 180 Jenny Schrödl geschichte zu entnehmen ist; vgl. Doris Kolesch, Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs XIV., Frankfurt a.M. / New York 2006, S. 28. Darüber hinaus differenziere ich die Termini Emotion/ Gefühl, Empfindung, Stimmung und Atmosphäre graduell, insofern sie sich in zeitlichen und modalen Komponenten sowie in den Verhältnissen von Aktivität und Passivität wie von Subjekt und Objekt voneinander unterscheiden können. 2 Den Terminus der “eigentümlichen Stimme” entlehne ich den Überlegungen zum Einsatz der Stimme im Musiktheater von Heiner Goebbels. Vgl. Heiner Goebbels, “Mindestens schwer verzweifelt. Ein Essay über den Umgang mit der Stimme im zeitgenössischen Musiktheater”, in: www.heinergoebbels. com, Archive_Texts_Texts by HG, S. 1-5. (18.12.2009) 3 Vgl. Klaus R. Scherer (Hrsg.), Vokale Kommunikation. Nonverbale Aspekte des Sprachverhaltens, Weinheim/ Basel 1982; Bernd Tischer, Die vokale Kommunikation von Gefühlen, Weinheim 1993. 4 Vgl. z.B.: Gernot Böhme, “Die Stimme im leiblichen Raum”, in: Doris Kolesch [et al.] (Hrsg.), Stimm-Welten. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven, Bielefeld 2009, S. 23-32; Adolf Dresen, “Das rhetorische Defizit - über das schwierige Verhältnis von affectus et intellectus”, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hrsg.), Stimmen - Klänge - Töne. Synergien im szenischen Spiel, Tübingen 2002, S. 375-392; Joseph Imorde, “Die Stimme des Predigers - Quasi Vox Omnipotentis Dei”, in: Clemens Risi, Jens Roselt (Hrsg.), Koordinaten der Leidenschaft. Kulturelle Aufführungen von Gefühlen, Berlin 2009, S. 78-88; Hermann Kappelhoff, “Die Ikone spricht”, in: Doris Kolesch, Jenny Schrödl (Hrsg.), Kunst-Stimmen, Berlin 2004, S. 162- 177; Doris Kolesch, “Gesten der Stimme. Zur Wirksamkeit theatraler Situationen am Beispiel von Emanuelle Enchanted und In Real Time”, in: Bayerdörfer 2002, S. 153-163; Jens Roselt, “Monströse Gefühle. Die Kunst der Klage”, in: Kolesch [et al.] 2009, S. 157-169; Katharina Rost, “Lauschangriffe. Das Leiden anderer spüren”, in: Kolesch [et al] 2009, S. 171-187; Jenny Schrödl, “Erfahrungsräume. Zur Einführung in das Kapitel”, in: Kolesch [et al] 2009, S. 145-156. 5 Das Interesse an der Sprechstimme ist im Laufe des letzten Jahrzehnts in den Geistes-, Kultur- und Kunstwissenschaften stetig gewachsen. Doris Kolesch und Sybille Krämer behaupten in dem Zusammenhang gar, dass die Stimme “den Nukleus dessen [bildet], worum Geistes-, Human- und Kunstwissenschaften kreisen”. (Doris Kolesch, Sybille Krämer, “Stimmen im Konzert der Disziplinen. Zur Einführung in diesen Band”, in: Dies. (Hrsg.), Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt/ M. 2006, S. 7-15, hier S. 7.) Für die Renaissance der Stimme geben die Autorinnen verschiedene Gründe an, wozu die Allgegenwart von Technologien und von mediatisierten Stimmen in unserer Kultur, das Interesse an Kategorien der Körperlichkeit, Präsenz, Ereignishaftigkeit und Wahrnehmung in den Wissenschaften ebenso gehören wie die Praktiken der Künste. (Vgl. Kolesch/ Krämer 2006, S. 9.) In vergleichbarer Weise wie die Stimme (wenn auch in ungleich größerem Maße) rückt das Feld der Emotionen/ Gefühle in den Mittelpunkt akademischen Interesses der letzten Jahre und zwar im gesamten Bereich der Human-, Natur-, Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften. Im Bereich der Theater- und Kunstwissenschaften speist sich das Interesse aus den vielfältigen künstlerischen Inszenierungen und Aufführungen von Emotionen, die freilich im Theater und in anderen Künsten eine lange Tradition und einen besonderen Stellenwert innehaben, wobei sie produktions-, werk- und rezeptionsästhetisch von Belang sind. (Vgl. Brigitte Scheer, “Gefühl”, in: Karlheinz Barck [et al.] (Hrsg), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 2, Stuttgart/ Weimar 2001, S. 629-660; Doris Kolesch, “Gefühl”, in: Erika Fischer-Lichte [et al.] (Hrsg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/ Weimar 2005, S. 119-125.) In den aktuellen kunst- und theaterwissenschaftlichen Auseinandersetzungen spielt über emotionale Darstellungen hinaus vor allem die Evokation und Produktion von Gefühlen, Empfindungen und Stimmungen beim Publikum eine wesentliche Rolle. Mithin richtet sich die Aufmerk- Stimme und Emotion 181 samkeit forciert auf das Spannungsfeld von Erzeugung und Wahrnehmung von Emotionen, auf die “Wechselwirkungen zwischen RezipientIn und Kunstwerk”. (Mieke Bal, “Einleitung: Affekt als kulturelle Kraft”, in: Antje Krause-Wahl [et al.] (Hrsg.), Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse, Bielefeld 2006, S. 7-19, hier S. 7.) So gehen beispielsweise Clemens Risi und Jens Roselt für ihren Sammelband Koordinaten der Leidenschaft von der Leitthese aus, “dass Gefühle Aufführungscharakter haben, das heißt, sie werden in konkreten Wahrnehmungs- und Erfahrungssituationen evoziert”. (Clemens Risi, Jens Roselt, “Einleitung”, in: Risi/ Roselt 2009, S. 7-19, hier S. 8.) 6 Vgl. Klaus R. Scherer, “Die vokale Kommunikation emotionaler Erregung”, in: Scherer 1982, S. 287-306, hier S. 300. 7 Roland Barthes, “Die Musik, die Stimme, die Sprache”, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt/ M. 1990, S. 279-285, hier S. 280. 8 G. Böhme 2009, S. 30. 9 G. Böhme 2009, S. 31. 10 Vgl. z.B.: Hermann Schmitz, Der Gefühlsraum, Bonn 2005; Bernhard Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt/ M. 2002; Hartmut Böhme, “Gefühl”, in: Christoph Wulf (Hrsg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/ Basel 1997, S. 525-548. 11 H. Böhme 1997, S. 535f. 12 Kolesch 2006, S. 32. 13 Kolesch 2006, S. 32. 14 So beschrieb es der Neurowissenschaftler Eckart Altenmüller in seinem Vortrag im Rahmen des Workshops “Hinhören - Weghören - Überhören”, der am 13.02.2009 am Institut für Theaterwissenschaft der FU-Berlin stattfand und der vom Projekt B10 des SFB 447 durchgeführt wurde. 15 Doris Kolesch, “Stimmlichkeit”, in: Fischer- Lichte [et al.] 2005, S. 317-320, hier S. 319. 16 Martin Seel, “Ereignis. Eine kleine Phänomenologie”, in: Nikolaus Müller-Schöll (Hrsg.), Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld 2003, S. 37-47, hier S. 40. 17 Vgl. H. Böhme 1997, S. 531. 18 H. Böhme 1997, S. 531. 19 Antonio Damasco, Descartes Irrtum, München 2002, S. 204. 20 Ronald de Sousa, Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt/ M. 1997. 21 Dieter Mersch, “Präsenz und Ethizität der Stimme”, in: Kolesch/ Kärmer 2006, S. 211- 236, hier S. 212. 22 Vgl. u.a.: Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/ M. 2004, S. 219-227; Helga Finter, “Die soufflierte Stimme. Klang- Theatralik bei Schönberg, Artaud, Jandl, Wilson und anderen”, in: Theater heute 1 (1982), S. 45-51; Kolesch 2005, S. 317-320; Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt/ M. 1999, S. 274-283; Patrick Primavesi, “Geräusch, Apparat, Landschaft: Die Stimme auf der Bühne als theatraler Prozeß”, in: Forum Modernes Theater 14 (1999), S. 144-172. 23 Vgl. Kolesch 2005, S. 318f. 24 Gemeint sind damit Emotionen (wie Freude, Hass, Liebe, Wut, Trauer oder Furcht), die in sowohl klassischen als modernen Auffassungen als Basisemotionen gehandelt werden. Kennzeichnend für sie ist eine heftige Empfindung, relativ kurze Dauer und Objektbzw. Kontextgebundenheit, wobei sie in sich recht abgrenzbar zu anderen Gefühlen sind und gleichsam die Basis für andere, vermeintlich schwächere Formen bilden. In dem Zusammenhang ist dennoch zu betonen, dass in den Auffassungen und Listungen der Emotionen sich nicht zwei finden lassen, “die identisch wären, so dass den Listen sowie den Versuchen, einzelne ‘Basisemotionen’ zu erklären, etwas Willkürliches anhaftet.” Vgl. Christiane Voss, Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien, Berlin/ New York 2004, S. 13. 25 Unter Atmosphären werden derartige affektive Anmutungen begriffen, die sich zwischen einer Umgebung einerseits und einem wahrnehmenden Subjekt andererseits herstellen. Unter Stimmung werden stärker kontinuierliche affektive Zustände eines Subjekts begriffen, die zumeist keinen Gegenstandsbezug aufweisen. Mit Empfindung bezeichnet man oftmals die leiblich-körperliche Dimension des Fühlens. 182 Jenny Schrödl 26 Vgl. Daniel Charles, “Zur Erotik der Stimme oder vom Erotismus, als Musik betrachtet”, in: Ders., John Cage oder die Musik ist los, Berlin 1979, S. 139-161; Michel Poizat, The Angel’s Cry. Beyond the Pleasure Principle, Ithaka 1992; Clemens Risi, “Hören und Gehört Werden als körperlicher Akt. Zur feedback-Schleife in der Oper und der Erotik der Sängerstimme”, in: Erika Fischer-Lichte [et al.] (Hrsg.), Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin 2006, S. 98-113; Tiina Rosenberg, “Stimmen der Queer-Diven: Hosenrollen in der Oper und Zarah Leander auf der Schlagerbühne”, in: Kolesch [et al.] 2009, S. 189-211; Elisabeth Wood, “Sapphonics”, in: Philip Brett [et al.] (Edd.), Queering the Pitch. The New Gay and Lesbian Musicology, New York/ London 1994, S. 27-66. 27 Vgl. Anne Hamker, Emotion und ästhetische Erfahrung. Zur Rezeptionsästhetik der Video- Installation “Buried Secrets” von Bill Viola, Münster 2003, S. 66. 28 Vgl. Hans Richard Brittnacher, “Schrecken/ Schock”, in: Achim Trebeß (Hg.), Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, Stuttgart/ Weimar 2006, S. 340-341. 29 Andrzej Wirth, “René Pollesch. Generationsagitpoptheater für Stadtindianer”, in: Anja Dürrschmidt, Barbara Engelhardt (Hrsg.), Werk-Stück. Regisseure im Portrait, Berlin 2003, S. 126-131, hier S. 127. 30 Vgl. Goebbels 2009, S. 1. 31 Goebbels 2009, S. 2. 32 Goebbels 2009, S. 2. 33 Sabine Schouten, Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin 2007, S. 142. Carl Niessen: Handbuch der Theater-Wissenschaft Christopher Balme (München) Angesichts der immer noch sehr überschaubaren institutionellen Verankerung des Fachs Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum - es gibt ca. ein Dutzend eigenständiger Institute, die meisten davon mit nur einer oder zwei Professuren - ist die Zahl der Einführungen in das oder Bestandsaufnahmen des Fachs beachtlich. Inzwischen liegen vier Einführungen vor (und eine weitere befindet sich in Vorbereitung), sodass eine Einführung auf drei Institute kommt. Die Studierendenzahlen stehen bekanntlich im umgekehrten Verhältnis zur Zahl der Institute, so dass eine Pluralität an Ansätzen durchaus wünschenswert ist. Abgesehen von nachvollziehbaren verlegerischen Interessen an der Herstellung von Einführungen (Stichwort: Bachelor- Wissen) besteht anscheinend ein großer Bedarf an fachlicher Orientierung, Selbstvergewisserung und -reflexion. Dabei handelt es sich keineswegs um ein neues, der postmodernen Unübersichtlichkeit bzw. Quick-Fix- Ökonomie geschuldetes Phänomen, sondern war früher auch nicht anderes, wie ein kurzer Blick in die lange Gründungszeit des Fachs zeigt. Artur Kutschers Grundriss der Theaterwissenschaft erschien in erster Auflage 1931, während Carl Niessen 1949 den ersten Band seines Handbuchs der Theater-Wissenschaft vorlegte. Schließlich folgte der frisch entnazifizierte Heinz Kindermann 1953 mit seiner Bestandsaufnahme Aufgaben und Grenzen der Theaterwissenschaft (1953). Thema der vorliegenden Relektüre ist der zweite Titel in dieser Genealogie der theaterwissenschaftlichen Anfänge: Niessens Handbuch, das allein aufgrund seines Umfangs und eklektizistischer Materialbasis ein Unikum geblieben ist. 1 Zunächst stellt sich die Frage, warum man dieses Buch neu ‘lesen’ muss, zumal es ob seines Ausmaßes faktisch unlesbar ist. Unlesbar ist es nicht nur aufgrund des fast 2000 Seiten umfassenden Umfangs und seines fragmentarischen Charakters (das Projekt war ursprünglich auf zehn Bände konzipiert! ). Problematisch ist also nicht lediglich die Fülle, sondern und vor allem die Art des Materials und dessen Aufbereitung. Die vorliegenden drei Bände spiegeln die Sammelleidenschaft des Autors wieder, die immerhin der Universität Köln eine der umfangreichsten theatergeschichtlichen Sammlungen Europas vermacht hat. Die folgenden Überlegungen verstehen sich nicht als Plädoyer für eine Neuauflage. Das Handbuch kann ausschließlich als Fall für die Wissenschaftsgeschichte betrachtet werden und in diesem wissenschaftsgeschichtlichen Kontext schlage ich deshalb meine ‘Relektüre’ vor. Meine These lautet, dass das Buch Spuren eines disziplingeschichtlichen Bruchs in den Kunstwissenschaften in Deutschland dokumentiert, der in anderen Fächern viel früher einsetzt. Niessens ‘Fragment’ ist Symptom einer breit angelegten Bewegung, die man als globale und/ oder integrative Kunstwissenschaft bezeichnen könnte. Viel interessanter als das Buch selbst ist dieser unterbrochene Weg, dessen Anfänge eine weitgehend in Vergessenheit geratene Entwicklung darstellen, an die erst in der jüngsten Zeit wieder angeknüpft worden ist. 2 Die ersten beiden Bände des Handbuchs, die insgesamt über 1.000 Seiten Text umfassen, enthalten beinahe ausschließlich Beispiele aus ethnographischen Quellen. Diese Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 183-189. Gunter Narr Verlag Tübingen Relektüre 184 Relektüre ‘völkerkundliche’ Orientierung steht ganz im Banne fachlicher Querelen, wie Niessen auf der letzen Seite des ersten Bandes unmissverständlich zum Ausdruck bringt: Es steht zu hoffen, daß insbesondere die breite völkerkundliche Untermauerung, welche wir der Theaterwissenschaft geben, so skizzenhaft sie zunächst sein mag, verschiedenen Literaturhistorikern ein Licht aufsteckt, daß man nicht in Nebenstunden der deutschen Literaturgeschichte die universelle Theaterwissenschaft darstellen kann. Zur umfassenden und weltumspannenden Theaterwissenschaft ist die Völkerkunde als Start besser denn die Literaturwissenschaft. (Niessen 1949, 594.) Die der Theaterwissenschaft angebotene “breite völkerkundliche Untermauerung” exemplifiziert Niessen in erster Linie anhand der Darstellung von Tänzen, rituellen Praktiken und jeder Art mimischer Darbietungen. Er breitet eine Sammlung an ethnologischem Material, Zitaten aus seriösen wie populärwissenschaftlichen völkerkundlichen Werken im Zusammenspiel mit europäischen Dramatikern und Dichtern aus, die ebenso überwältigend wie unstrukturiert erscheint. Die ethnologische Orientierung spiegelt sich auch in dem von ihm gesammelten und im Kölner Theatermuseum präsentierten ethnographischen Material. Vor diesem Hintergrund betont Niessen, wie Mechthild Kirsch ausführt, “immer wieder den internationalen Anspruch der Theaterwissenschaft”. 3 Mit den unmittelbaren Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und wohl auch seinen eigenen Annäherungsversuchen an die nationalsozialistischen Machthaber noch in frischer Erinnerung reklamiert Niessen für das Fach nicht weniger als eine völkerverbindende und friedensstiftende Verständigungsfunktion: [D]ie Theaterwissenschaft vermag wie wenige andere Disziplinen Verstehen der anderen Völker zu wecken. Sie vermag deutlich zu machen, wie verwandt der Kern aller Menschen ist, wie sie aus gleichen Sehnsüchten leben, gleichen Kunsttrieben folgen, Schönheit und Menschlichkeit suchen sollten, statt einander zu quälen, Blut zu vergießen und unwiederbringlich zu zerstören, was unantastbares Erbgut aller Lebenswürdigen sein sollte, d.h. der Menschen wahrer Kultur. (Niessen 1949, XXIII) Angesichts solcher hehren, ‘völkerverbindenden’ Zielsetzungen mag es verwundern, dass Niessen das eher unrühmliche Verdienst zukommt, als Vordenker der nationalsozialistischen Thingspielbewegung seinen Platz in der Theatergeschichte gefunden zu haben. 4 Auch wenn man zunächst Niessens problematische ideologische Orientierung beiseite lässt, mutet seine “weltumspannende” theaterwissenschaftliche Perspektive heute etwas befremdlich aufgrund ihrer kulturkomparatistischen Ausrichtung an. Auf einer willkürlich herausgegriffenen Seite von Niessens Handbuch (Niessen 1949, 548) finden wir z.B. im Zusammenhang mit den Begriffen Mimikry und Mimesis Belege aus der römischen Kriegsführung, Grabbes Historienstück Hannibal, Vergleichsbeispiele bei den Thessaliern, den Sioux- und Choktaw-Indianern sowie den Polynesiern (Samoa und Tonga), die schließlich zum Phänomen des travestissement in einem Maskenspiel des französischen Hofs des 18. Jahrhunderts überleiten. Aus diesem beinahe postmodern anmutenden Hang zur gewagten Analogisierung zieht Niessen selbst die Konsequenz und plädiert für eine Erweiterung des theaterwissenschaftlichen Forschungsfeldes: So werden wir umgekehrt bemüht sein müssen, der Totalität der Betrachtung wegen, manches zu beachten, was man gemeinhin kaum zum Theater zählt: diese Bemühung reicht von der Theatralisierung des Festlebens wie Einzüge, Trionfi, Turniere und mimisch gefüllte Feuerspektakel bis zur Zirkuspantomime, ganz zu schweigen von den Kleinkünsten des Theaters, Puppen- und Schattenspiel. (1949: 549) Relektüre 185 Aus heutiger Sicht ist diese kultur-, zeit- und kunstübergreifende Kombination unterschiedlichster Quellen und Ausdrucksformen kaum mit dem Fach, wie es heute im deutschsprachigen Raum gelehrt wird, in Verbindung zu bringen. Allerdings macht das letzte Zitat deutlich, dass die Theaterwissenschaft neuerdings an dieses Forschungsprogramm wieder langsam anknüpft. Niessen rückt das Fach nämlich einerseits in die Nähe der in den sechziger Jahren von Richard Schechner geprägten und heute stark ethnologisch ausgerichteten Performance Studies, andererseits definiert er ein Forschungsfeld, das dreißig Jahre später unter dem Begriff ‘Theatralität’ wieder in den Mittelpunkt fachtheoretischer Erörterungen gerät und das Arbeitsfeld der Theaterwissenschaft erheblich erweitert hat. Das heißt, dass die Theaterwissenschaft wieder an die von Niessen propagierte Fachperspektive anschließt, allerdings nicht unmittelbar, sondern erst über den angloamerikanischen Umweg von Performance Studies, New Historicism und Cultural Studies. Warum bedurfte es einer solch lang andauernden Verzögerung? Oder sollte man nicht vielmehr von einer Unterbrechung sprechen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir wissenschaftsgeschichtliche Ausgrabungen betreiben und uns in die Zeit kurz vor 1900 begeben. Egal wann und wie man die genauen Anfänge der Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum datiert, lassen sich zwei recht unterschiedliche Ansätze in den ersten drei Dekaden des Jahrhunderts ausmachen: ein ästhetischer und ein kulturwissenschaftlicher, die einerseits durch Max Herrmann und andererseits durch Carl Niessen und Artur Kutscher vertreten wurden. 5 Die Ansätze Herrmanns sind bekannt und setzten sich durch. Zu seinem fachgeschichtlichen Vermächtnis gehört in erster Linie die Bestimmung der Aufführung als ästhetisches Gebilde mit Werkcharakter, vergleichbar dem Kunstwerk der Kunstgeschichte. Hinzu kommen Untersuchungen zu speziellen Unterbereichen des Theaters wie etwa Bühnenbild, Regie, Schauspielkunst und Dramatik. 6 Herrmanns Projekt einer eigenständigen Theaterwissenschaft richtete sich bekanntlich gegen die Philologie. Um das Theater als autonome Kunstform zu begründen, lehnte er sich an eine phänomenologisch und wahrnehmungsbzw. gestaltpsychologisch ausgerichtete Kunstphilosophie an, wie er in seinem in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 1931 veröffentlichten und heute im Zeichen des spatial turn viel zitierten Aufsatz “Das theatralische Raumerlebnis” unter Beweis stellt. 7 In ihrer Grundtendenz grenzen alle Arbeiten Herrmanns, seien sie historisch oder theoretisch-ästhetisch ausgerichtet, das Theater und seine Grundelemente von anderen Kunstformen ab, um einen singulären und ‘eurozentrierten’ Forschungsgegenstand von anderen Disziplinen zu demarkieren. In dieser Abgrenzung und Fokussierung auf das abendländische Erbe entspricht Herrmanns Ansatz analogen Entwicklungen in den Kunst- und Musikwissenschaften ab ca. 1930, die ebenfalls zunächst kultur- und kunstübergreifende Ansätze verfolgten, nur um diese um die gleiche Zeit endgültig aufzugeben. Aby Warburgs Ansatz zu einer anthropologischen Kunstgeschichte ist nur das bekannteste Beispiel dieser unterbrochenen (aber heute in Ansätzen wieder aufgenommenen) Traditionslinie. Der zweite und, wissenschaftsgeschichtlich gesehen, unterlegene Ansatz beschritt einen umgekehrten Weg. Anstatt das Theater als ästhetisches Phänomen zu isolieren, interessierte man sich für das, was man heute den theateranthropologischen Grundimpuls nennen könnte. 8 Nicht nur waren die Tänze und theateranalogen Praktiken der ‘Naturvölker’ in diesem Ansatz von zentralem Interesse, sondern die Verflechtung mit anderen Kunstformen eine selbstverständliche Grundannahme. So enthält ein Gründungswerk einer sich formierenden ‘Weltkunstgeschich- 186 Relektüre te’, Ernst Grosses in mehrere Sprachen übersetzte Anfänge der Kunst (1894), ausführliche Kapitel sowohl zum Tanz als auch zur Musik. Grosse, der Kurator der Freiburger Städtischen Sammlungen und Privatdozent für Völkerkunde an der Universität Freiburg war, ging es in erster Linie darum, “primitive Kunst” in eine allgemeine Kunstwissenschaft zu integrieren. Auch wenn (oder vielleicht weil) er vor allem Fachmann für ostasiatische Kunst war, machte er sich für einen ethnologischen Blick auf die Kunst stark: Alle Anderen [soziologischen Disziplinen] haben erkannt, welche mächtige und unentbehrliche Helferin der Kulturwissenschaft in der Ethnologie erwachsen ist; nur die Kunstwissenschaft verschmäht es noch immer, die rohen Erzeugnisse der primitiven Völker, welche die Ethnologie vor ihr ausbreitet, eines Blickes zu würdigen. (18-19) In der Tat bildete die Faszination mit ‘Ursprüngen’ und ‘Anfängen’ einerseits und die Suche nach mythischen und rituellen Grundstrukturen andererseits die Grundlage für eine neue Wissenschaft, die in manchen Ausprägungen kunst-, aber in allen Fällen kulturübergreifend konzipiert war. Wissenschaftsgeschichtlich lassen sich drei Hauptimpulse ausmachen: Neufassung der Antike im Lichte ethnologischer Forschung; die damit verbundene durch die neue Disziplin der vergleichenden Religionswissenschaft beeinflusste Mythenforschung 9 sowie als deutscher Sonderweg die Völkerpsychologie. Scheiterte letztere nach wenigen Jahrzehnten an den eigenen wissenschaftstheoretischen Aporien, blieb das Interesse an einer vergleichenden ethnologisch fundierten Antiken- und Ritualforschung bis in die heutige Zeit virulent. Auch wenn viele Thesen und Grundannahmen der um Jane Ellen Harrison und Gilbert Murray versammelten Forscher der sogenannten Cambridge Ritualists inzwischen widerlegt oder zumindest stark relativiert worden sind, so übt die Vorstellung einer atavistischen und an Stammesriten der Südseeinsulanern orientierten griechischen Ritualkultur auf Forscher und Künstler gleichermaßen eine Faszination aus. Dank der täglich einströmenden neuen ethnographischen Daten über ‘Naturvölker’ gelangte man zur Einsicht, dass man nun neue ‘Quellen’ zur Verfügung habe, mit denen man die Wiege der abendländischen, aber darüber hinaus auch die menschliche Kultur schlechthin besser verstehen konnte. Bereits überholt aber keineswegs verschwunden zu dieser Zeit war der aus dem 18. Jahrhundert stammende entwicklungsgeschichtliche Ansatz, der Kulturen in unterschiedlichen ‘Entwicklungsstadien’ und ‘Stufenleitern’ (Grosse) auf dem Wege zur zivilisatorischen ‘Vollendung’ modellierte. Materielle und zum Teil auch ideologische Grundlage aller drei Strömungen war die vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich beschleunigende koloniale Expansion Europas, die bald eine europäische Fahne auf jeden Landstrich hineingepflanzt hat. Das, was heutige Historiker die erste Phase der Globalisierung nennen (die Zeit etwa von 1850-1914) und damit vor allem politische Expansion und einen hohen Grad an ökonomischer Verflechtung meinen, der erst nach 1989 wieder erreicht wurde, wirkte sich auch auf die sich herausbildenden Kunstwissenschaften (Kunstgeschichte, Musik- und Theaterwissenschaft) unmittelbar aus. Hinzu kamen archäologische Funde wie etwa die Höhlen von Altamira und die Entdeckung von immer mehr Höhlenzeichnungen, so dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Explosion an Publikationen zu den ‘Anfängen’ und ‘Ursprüngen’ der Kunst und zur Theorie eines homo aestheticus sich breit machte. Im Bereich des Theaters war die Mimustheorie des Altphilologen Hermann Reich von zentraler Bedeutung. In seiner voluminösen Untersuchung Der Mimus: Ein literaturentwicklungsgeschichtlicher Versuch (1903) wird die Genese eines antiliterarischen, Relektüre 187 körperbetont-derben Volkstheaters postuliert. Der Rückgriff auf Reichs zum Teil höchst spekulative Thesen diente in erster Linie wissenschaftstheoretischen Zwecken. Mit Hilfe der Mimusthese eröffnete sich ein Forschungsgebiet, das in keiner Weise von den Philologien beansprucht wurde und vom zeitlichen Horizont her das Interessensgebiet der Altphilologie sogar prädatierte. 10 In jüngster Zeit hat sich Julie Stone Peters mit den ‘Anfängen’ der Theaterwissenschaft um 1900 beschäftigt. Ihr geht es darum, ein weitgehend vergessenes, bis in die Aufklärung zurückreichendes theaterhistoriographisches Projekt, das sie “the larger narrative of global theater history” nennt (Peters 2009: 68), erneut unter die Lupe zu nehmen. Sie weist nach, dass bereits im späten 18. Jahrhundert Theaterhistoriker wie Pietro Napoli Signorelli (Storia critica de’ teatri antichi e moderni (1777-1813) die Reiseberichte über Südseetänze und -pantomimen eines Kapitän Cook in seine ‘kritische Geschichte’ einbezogen: From this perspective, the twentieth-century ritualist idea is merely a late revision of a set of much older ideas about primitive performance produced by the conjunction of modern (imperial, commercial, anthropological) travel and the Enlightenment human sciences. 11 Peters argumentiert, dass das theaterhistoriographische Projekt Bestandteil einer größeren und komplexeren Entwicklung war, die Ethnographie, Reiseberichte, Weltausstellungen (wo das Primitive live studiert werden konnte) und koloniale Expansion zusammenband: To look at all of these is to grant performance studies a much longer prehistory than it is usually given. It is to recognize that theater studies historically had a wider disciplinary lens than we commonly imagine - that it was not, after all, merely a discipline for the measurement of angle wings but was in fact, for most of its modern history, situated in the broader study of human performance. It is to see the origins of the idea of global performance (in the aspirations of eighteenth-century universal theater history, in nineteenthcentury primitive aesthetics, in the World’s Fairs), and the early formation of a set of performance practices that ultimately gave the global mass-culture entertainment industry both its rhetoric and the labor on which it depended. 12 Von Brander Matthews’ The Development of the Drama (1903) über Harrisons Themis (1912) bis hin zu Karl Mantzius’ sechsbändiger History of Theatrical Art in Ancient and Modern Times (1904-09) versuchten alle Forscher Parallelen zwischen einer “zivilisierten” griechischen Antike und der Ritualkultur der ‘Primitiven’ herzustellen: “the wall that stadial aesthetic theory had painstakingly constructed between primitive artifact and civilized art began to crumble”. 13 Damit entsteht ein zeit- und raumumspannendes Forschungsfeld, das bei allen aus heutiger Sicht problematischen Grundannahmen erneute Aufmerksamkeit verdient. Dass sich aber das Fach Theaterwissenschaft letztlich mehr auf die “Messung von Winkelrahmen” konzentrierte und damit eine Richtung einschlug, von der es sich erst in den 1990er Jahren zu erholen begann, gehört zu den folgenschweren fachgeschichtlichen Entwicklungen. Die Perspektive einer globalen Performance Studies avant la lettre, die Peters auftut, bietet letztlich einen Kontext, in dem wir Niessens Handbuch zumindest besser verstehen können, auch wenn wir es nicht unbedingt Erstsemestern als Pflichtlektüre empfehlen müssen. Es ist wohl kein Zufall, dass wir nun erst in der zweiten Phase der Globalisierung, die nach 1989 einsetzt, an das um 1900 entwickelte Potential wieder anschließen. Das bedeutet aber, dass wir die von Niessen angedachte “weltumspannende” und “völkerverbindende” Theaterwissenschaft langsam in unseren Lehrplänen und Forschungsstrategien zu verankern beginnen sollten. 188 Relektüre Es gibt meines Wissens keine einzige Professur der Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum, die der Denomination nach für außereuropäische Theaterformen zuständig ist. Das bedeutet nicht, dass es keine Kolleginnen und Kollegen gibt, die sich damit in Lehre und Forschung befassen. Wenn man aber die Theaterwissenschaft mit benachbarten Kunstwissenschaften vergleicht, so wird die eurozentristische Grundorientierung deutlich. Für den neuen Lehrstuhl an der Universität Heidelberg in Global Art History (dem dortigen Exzellenzcluster Asia and Europe sei Dank) gibt es wahrlich kein Äquivalent, von den bestehenden und länger etablierten Angeboten in ostasiatischer und islamischer Kunstgeschichte ganz zu schweigen. Allerdings ist das seit 2008 bestehende, von Erika Fischer-Lichte geleitete internationale geisteswissenschaftliche Forschungskolleg ‘Verflechtungen von Theaterkulturen’ vielleicht ein erstes Zeichen, dass sich auf dem Gebiet einer “völkerverbindenden” Theaterwissenschaft etwas tut, auch wenn deutschsprachige Theaterwissenschaftler als Fellows aus nahe liegenden Gründen bislang kaum vertreten sind. Es bleibt daher abzuwarten, ob sich das internationale, hauptsächlich von auswärtigen Fellows getragene Forschungsprogramm in der universitären Lehre hierzulande niederschlagen wird. Wenn wir eine Re-Lektüre von Niessens Handbuch unternehmen, so aus zwei Perspektiven. Das Werk ist symptomatisch für einen wissenschaftsgeschichtlichen Bruch, dessen interdisziplinäre Erforschung zusammen mit der Kunst- und Musikwissenschaft ein Desiderat bleibt. Die andere Perspektive betrifft die Zukunft des Fachs Theaterwissenschaft selbst. Auch wenn Niessen dem Fach heute in methodischer Hinsicht wenig zu bieten hat, ist sein Versuch, kulturelle Diversität zu erfassen, ein Signal, das es verdient, gehört zu werden, ansonsten läuft das Fach im deutschsprachigen Raum Gefahr, den Anschluss an internationale Entwicklungen zu verlieren. Anmerkungen 1 Carl Niessen, Handbuch der Theater-Wissenschaft. 3 Bände. Teil I Daseinsrecht und Methode, Ursprung und Wert der dramatischen Kunst (1949). Teil II Ursprung des asiatischen und griechischen Dramas aus dem Toten- und Ahnenkult (1953). Teil III Drama, Mimus und Tänze in Asien (1958), Emsdetten: Lechte, 1949-1958. 2 An dieser Stelle muss ich anmerken, dass ich nicht der erste bin, der einer erneuten Beschäftigung mit Niessens Handbuch das Wort redet. Lutz Ellrich hat jüngst eine exzellente “ethnologische Relektüre” vorgelegt. Ihm verdanke ich manche Anregung, auch wenn mein Ansatz ein anderer ist. Vgl. Lutz Ellrich, “Carl Niessens Handbuch der Theater-Wissenschaft: Versuch einer ethnologischen Relektüre”, in: Maske und Kothurn 55: 1-2 (2009), S. 175-192. 3 Mechthild Kirsch, “Die Anfänge der Theaterwissenschaft in Köln: Carl Niessen und die ‘totale Theaterwissenschaft’”, in: Max Herrmann und die Anfänge der deutschsprachigen Theaterwissenschaft. Hg. v. Gesellschaft für Theatergeschichte e.V. Ausstellungsführer der Universitätsbibliothek der FU Berlin, 1992, S. 32. 4 Von Niessen stammt der Begriff ‘Thingspiel’; an der Implementierung war er allerdings nicht beteiligt. Zu Niessens ‘komplizierter’ und konfliktträchtiger Beziehung zum NS- Regime, vgl. Gerd Simons Dokumentation http: / / homepages.uni-tuebingen.de/ gerd. simon/ ChrNiessen.pdf 5 Zu diesem ‘Streit’ vgl. das Vorwort zur Neuauflage von Artur Kutschers Grundriß der Theaterwissenschaft, München: Kurt Desch, 2 1949, o.S.; Kutscher reklamiert hier für sich gegen Max Herrmann das Verdienst, den Begriff ‘Theaterwissenschaft’ erfunden zu haben. 6 Vgl. neben Herrmanns eigenen Publikationen das Verzeichnis der von Herrmann betreuten Dissertationen, in: Stefan Corssen, Max Herr- Relektüre 189 mann und die Anfänge der Theaterwissenschaft, Tübingen: Niemeyer, 1998, 177-183. 7 Max Herrmann, “Das theatralische Raumerlebnis”, in: Vierter Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Beilage zur Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 25 (1931), Band II, S. 152-163. Vgl. hier Herrmanns Hinweis auf seinen Berliner Kollegen, den Psychologen Kurt Lewin. 8 Die Theateranthropologie nimmt verschiedene Formen an. Dabei muss man zwischen einer im weitesten Sinne ethnologischen Ausrichtung und dem Ansatz etwa eines Eugenio Barba, der sich von der Ethnologie abgrenzt, unterscheiden. Für Barba ist weniger die kulturelle Differenz als vielmehr die Ebene des Prä-Expressiven von Interesse. Darunter versteht er diejenigen Körpertechniken, die noch keine kulturelle Semantisierung und damit Spezifizierung erfahren haben. Ihn interessieren daher physiologische Faktoren wie Gewicht, Balance, Position der Wirbelsäule, die Richtung der Augen usw., die dazu beitragen, prä-expressive ‘Spannungen’ und damit eine andersartige Qualität von Energie zu erzeugen, die man auch als Präsenz bezeichnen könnte. 9 Grundlegend waren Andrew Lang: Myth, Ritual, and Religion (1887) und natürlich J.G. Frazer’s Golden Bough (1890ff.). 10 Zum Einfluss von Reich auf die deutsche Theaterwissenschaft vgl. meinen Aufsatz, “‘verwandt der Kern aller Menschen’: Zur Annäherung von Theaterwissenschaft und Kulturanthropologie”, in: Bettina Schmidt / Mark Münzel (Hg.), Ethnologie und Inszenierung: Ansätze zur Theaterethnologie, (Curupier. 5.) Marburg: Curupira 1998, S. 19-44, sowie Ellrich, 2009, S. 178-79. 11 Julie Stone Peters, “Drama, Primitive Ritual, Ethnographic Spectacle: Genealogies of World Performance (ca. 1890-1910)”, Modern Language Quarterly 70.1 (2009), S. 67-96, hier S. 69. 12 Peters 2009, S. 69. 13 Peters 2009, S. 74. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Die Verbindung von Theater und Fest hat eine lange und wirkmächtige Tradition, die von den antiken Theaterfesten bis zu den Festspielen und Festivals der Gegenwart reicht und innerhalb derer Kultur, Politik und Religion auf immer neue Weise interagieren. Um das sich stetig wandelnde und doch spezif ische Verhältnis von Theater und Fest näher zu bestimmen, haben sich ihm internationale Spezialisten aus Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften mittels der Parameter Sakralität, Medialität und Öffentlichkeit erneut genähert. Der Band Staging Festivity. Theater und Fest in Europa stellt in Fallstudien zu Antike, Mittelalter, Früher Neuzeit, Moderne und Gegenwart ihre aus den unterschiedlichen Fachperspektiven gewonnenen neuen Forschungsergebnisse vor. So eröffnet der Band vielfältige und überraschende neue Zugänge zu Theater und Fest als Praktiken des öffentlichen Lebens, die mittels einer programmatisch erzeugten Emotionalität Identitäten und Gemeinschaften her vorbringen, reflektieren oder konterkarieren. Erika Fischer-Lichte Matthias Warstat (Hrsg.) Staging Festivity Theater und Fest in Europa Theatralität Band 10 2009, 328 Seiten, €[D] 54,00/ SFr 91,00 ISBN 978-3-7720-8318-1 056109 Auslieferung Mai 2009.indd 13 09.06.2009 7: 39: 31 Uhr Rezensionen Julia Pfahl. Zwischen den Kulturen - zwischen den Künsten. Medial-hybride Theaterinszenierungen in Québec. Bielefeld: Transcript Verlag, 2008, 387 pages. Quoting the radio journalist Rolf Hemke’s dictum that ‘The future of theatre will be Canadian’ (p.11), Julia Pfahl’s book puts forward a highly interesting and timely proposition with regard to a model of theatre making in line with the spirit of the times. The book does that by discussing a particular strand of contemporary performance practice in Quebec characterized by a range of diverse and innovative approaches towards miseen-scene, stunning aesthetics and a quintessential medial hybridity accomplished within the framing medium of theatre. To attain her goal, Pfahl starts by developing a well articulated theoretical frameset rooted in theatre and media studies, with a swiftly integrated cultural studies perspective, which provides a critical model that will be, in the second part of the book, applied to that strand of the francophone theatre scene of Quebec, known as the theatre of research (‘Québécois théâtre de recherche’), i.e. theatrical works by Robert Lepage, Giles Maheu, Marie Brassard and Denis Marleau. The main theoretical hypothesis of the book - as substantiated throughout chapters 1 to 4 (pp.11 to 126) is that cultural hybridity provokes medial hybridity, which leads to the development of an explicitly intermedial theatre praxis. The constant tensions within the Quebecois culture - situated for centuries under the colonizing influence of American, British and French cultures - lead, after the state’s emancipation, to the development of a fertile creative socio-cultural space characterized by cultural instability, hybridity, and a constant need for external and internal validation, which became the ideal ground for fruitful intermedial experiments and the aesthetic development of new spectacular forms and theatrical models. To demonstrate the application of this theoretical proposition, Julia Pfahl undergoes a series of effective case studies, elaborated with scientific precision and accuracy. The most extensive attention is dedicated to the solo work of well known Quebecois theatremaker Robert Lepage, known to have been the one to bring the recurring question of the Quebecois identity, oscillating constantly between diverse cultural influences, between specificity and otherness, nationalism and globalising tendencies to the forefront of international attention (via his widely acclaimed theatre productions). The question of the unstable Quebecois identity is transferred on stage - as it is discussed in details in the chapter “Le medium sera le message” (pp. 127-215) - via a rich and innovative visual vocabulary that surpasses linguistic barriers and favours intercultural reception and is connected to the integration of various media (ranging from film, to video, internet, graphic design, use of subtitles, projections, body language, etc.) within the frame of theatre. Specific to Lepage’s intermedial approach towards theatre making is a constant play with subverting theatrical as well as cultural conventions and stereotypes and an unsettling of spectatorial habitudes and expectations. The chapter discusses in-depth only the solo original work of the Quebecois theatre maker, letting aside other major (ensemble) productions that deal more explicitly and/ or extensively with notions of interculturality (i.e. The Trilogy of the Dragons, 7 Streams of the River Ota) and does so in search of the particular, yet constantly evolving model of theatre making that connects intercultural issues and the hybrid Quebecois identity to the most innovative spectacular solutions, of intermedial nature. The work analyzed spans over a period of three decades. Vinci (1986), Les Aiguilles et L’Opium (1991), Elsinore (1997), La Face cachée de la lune (2000) and Le projet Andersen (2005) are each discussed in detail in search for the above described model of theatre making, with its specifics and developing elements from one solo to the other. The second case study - the work of director, scenographer, author, actor and choreographer Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 191-192. Gunter Narr Verlag Tübingen 192 Rezensionen Gilles Maheu and his company Carbonne 14 - focuses on what formally constitutes the signature mark of Maheu’s theatre praxis: the explorative/ experimental nature of bodywork mixed with technical/ visual media images, which are situated in contrast with the physical presence of the performer. The Chapter “Der Körper als Medium” (pp. 217-262) discusses the ways in which the fusionist tendencies and the aesthetic developments of this particular type of theatre - that mixes not only text and live actors, but also multimedia and interdisciplinary ‘performers’ and is conceptually sourced in post-dramatic text, dance, acrobatics, pantomime, and mediated image in all forms - results in a striking polyphonic physical expression on stage, intrinsically connected to the explored notions of cultural hybridity. The works discussed in-depth - Rivage à l’abandon (1990) and Peau, chair et os (1991) - are part of a trilogy based on Heiner Müller texts, that proposes a mythical voyage and confrontation with cultures, via an intermedial spectacle that results in a hyperphysical and highly visual style of theatre, highly engaging for a contemporary audience. Marie Brassard’s recent theatre work constitutes the third case study for Julia Pfahl’s book. Brassard, a former long-term collaborator of Robert Lepage, is a performer, playwright and more recently a theatre director which gained international attention with a series of amazing solos in which she promotes an innovative visual theatre, using mime, dance, music, lighting and most importantly the mediated synthetic reproduction, in real-time, of voice in live performance, as ways of dislocating linear narrative and creating a surprising alienation effect that enhances the audience’s perception. The chapter “Die Stimme als ‘Extension of Men’”(pp. 263-311) looks at the three solos - Jimmy, créature du rêve (2001), Darkness (2003) and Peepshow (2005) - that turned Brassard into an internationally acclaimed theatre maker, and focuses on the innovative potential that the synthetic transformations/ manipulations of the voice in real-time, during performance, have upon the formal development of another type of intermedial theatre practice. Needles to say that the subjects of each solo are connected, through the topics chosen as well as through a particular use of conventions and stereotypes, to the typically Quebecois ongoing issues of cultural hybridity and unstable identity as well as to the ways in which the intermedial approach towards performance making, turns the performance space into a sound-space with highly visual qualities. The last case study proposed by the book looks at the theatre practice of Denis Marleau and his company Theatre Ubu. Secondly most recognized world-wide after Robert Lepage, Marleau puts forward an intermedial conception of theatre making somewhat similar to Lepage’s, but with the formal difference that here the utilisation of video technology becomes a substantial part of the live performance, and with the conceptual difference that the dramatic and/ or literary text is the initial source of inspiration, leading to a highly conceptual as well as diversely spectacular theatrical reflection. The Chapter “Penser le théâtre plutôt que d’y jouer” (pp. 313-358) analyzes Les trois derniers jours de Fernando Pessoa (1997) an adaptation of Antonio Tabucchi’s novel with the same name (1994) and Les Aveugles: une fantasmagorie technologique (2002) a contemporary staging of Maurice Maeterlink’s pre-surrealist theatre play (1890). Marleau’s search for the ‘total theatre’ translates in a highly stylised and intellectual spectacle, where the written word is the source of a complex artistic universe, formally characterized by vocal virtuosity, physical precision and a stunning artistic imagery realised with multi-medial as well as intermedial means, which aims to provoke disturbance and bewilderment first and only then engagement for the audience. As the book aptly demonstrates, all four case studies in discussion are examples of post-dramatic artistic phenomena capable of opening a new field of research in theatre studies as well as providing a new model of theatre making, relevant for the future. If all media are seen as mediating between the inside and the outside, between reality and perception, then a potential way forward for theatre practice - as suggested by the book - is in the exploration of those particular medial features that can take further structurally and functionally the cultural landscape of the new millennium and reflect them in meaningful and effective ways. Scarborough A RISTITA I. A LBACAN Rezensionen 193 Kati Röttger und Alexander Jackob (Hg.). Theater und Bild. Inszenierungen des Sehens. Bielefeld: transcript Verlag, 2009, 322 Seiten. Im Zuge des Iconic Turn hat die Erforschung von Bildern stark zugenommen. In den Schriften von Gottfried Boehm, W.J.T. Mitchell, Georges Didi- Huberman und anderen ist die Rede von der Malerei, vom Film und den digitalen Medien. Selten jedoch vom Theater. Nach wie vor scheint die systematische Auseinandersetzung mit dem Theaterbild zu fehlen, abgesehen von vereinzelten Recherchen in der Theaterwissenschaft, die sich beispielsweise dem Tableau Vivant oder den Raumgestaltungen der Moderne widmen. Dabei ist es evident, dass auch das Theater in seiner Geschichte und Gegenwart immer wieder als Ort der Bilder, der Körper- und Szenenbilder, der Sprach- und intermedialen Bilder fungierte. Mit ihrem Sammelband Theater und Bild stellen die Herausgeber Kati Röttger und Alexander Jackob nun erstmals einen weit angelegten Brückenschlag zwischen den Bildwissenschaften und der Theatertheorie und -geschichte her. Der Band versammelt 16 Beiträge von AutorInnen aus verschiedenen Disziplinen, die sich dem Verhältnis von Theater und Bild aus historischen, philosophischen und theoretischen Perspektiven widmen. WissenschaftlerInnen aus den Bereichen Theater-, Film-, Medienwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte analysieren in historischen Einzelstudien und systematisch-übergreifenden Untersuchungen Fragen des Sehens und des Bildes in den darstellenden Künsten. Der Sammelband bringt in seinen vier Teilen (Ordnungen des Sehens, Intermedialität und Bildinszenierungen, Bild/ Körper und Bild/ Impuls und Geschichte der visuellen Kultur) zahlreiche Aspekte, Diskurse und Themen des Bildlichen im Theater zur Sprache. Den Beiträgen ist eine ausführliche Einleitung der Herausgeber vorangestellt, die die Vielfalt der Themen und Untersuchungsgegenstände in einen größeren Zusammenhang bringt und Konvergenzen herstellt. Bereits zu Beginn des Bandes machen die Autoren deutlich, wie man im weiteren Sinne von Bildern im Theater sprechen kann. Schließlich handelt es sich - anders als beim statischen Gemälde - um eine flüchtige Bildhaftigkeit, um ein Entstehen und Vergehen im Aufführungsgeschehen. Bei Fragen des Bildes im Theater kann es also keinesfalls um einen eng geführten Bildbegriff gehen, sondern vielmehr um einen offenen, durch Bewegung und Medialität bedingten. Der Begriff des Bildes könne, so die Herausgeber, als eine Überschrift zu einem ganzen Phänomenbereich gefasst werden, dessen Vielseitigkeit sich zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen, zwischen physikalischen und mentalen Prozessen abspielt und erst durch eine konkrete Annäherung unter bestimmten Bezugsgrößen wie Bild und Blick, Bild und Vorstellung usw. Gestalt annimmt (S. 26). Im heterogenen Medium Theater treten Bilder notwendigerweise “im Wechselspiel mit anderen […] Erfahrungswelten wie Sprache und Musik auf”, so die Autoren, daher verschwänden sie manchmal fast vollständig im Bühnengeschehen, obwohl sie dem Theater eine besondere Realität und Erinnerungskraft verliehen und sich oftmals durch einen spürbaren zeitlichen Stillstand kennzeichneten (S. 7). Ganz gleich ob wir dabei an das Theater der Arenabühne, an die Performance-Kunst oder an ein mobiles Theater denken, das sich durch die Stadt bewegt - diese besondere Sichtwerdung der Dinge im Bild, einschließlich der Körper- oder auch Raumbilder, vollzieht sich immer wieder im besonderen Blickgeschehen zwischen szenischen Orten und Zuschauern (S. 9). Das überzeugende Argument dieses “Blick- und Bildtauschs” (S. 8/ 9) bildet hierbei die Einführung eines besonderen Erfahrungsbegriffs und Modus der Sinnerzeugung, die vorwiegend auf der Verbindung bildtheoretischer Konzepte mit der Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys basieren. Merleau-Pontys Theorie einer Verflochtenheit von Leib und Welt, von Blick und Ding, wird für die Autoren zu einem der Bezugspunkte für Fragen des Sehens und Erkennens im Theater. Was dem Theater potentiell gegeben sei, so die Autoren, sei das “im physischen Akt des Sehens […] selbst zum Denken [K]ommen” durch die Reflexion von Einstellungen, Perspektiven und Vor- Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 193-194. Gunter Narr Verlag Tübingen 194 Rezensionen Urteilen, deren Voraussetzung die leibliche Anwesenheit des Zuschauers sei (S. 15). Im Verlauf des Bandes werden, so lässt sich zusammenfassen, vor allem drei Formen und Diskurse der Bildlichkeit identifiziert: erstens eine philosophische, die den Zusammenhang von Theatralität, Sehen und Erkenntnis beschreibt (Einführung, sowie Kap. 1.4), zweitens die Bildlichkeit als eine phänomenale im Aufführungsgeschehen, die sich symbolisch, semantisch, intermedial oder rhythmisch zeigt. Von diesem Typus handeln die meisten Aufsätze. Günther Heeg beschreibt in Bild/ Bewegung. Das Theater der Visualität beispielsweise den Zusammenhang von Mortifikation und Verlebendigung in einem historischen Bogen, der vom antiken bis zum postdramatischen Theater reicht, namentlich den Arbeiten von Wanda Golonka und der Socìetas Raffaello Sanzio. Meike Wagner und Martin Schulz besprechen Prozesse der Bildwerdung des Körpers als komplexe Gerinnungsbilder eines Ablaufs. Der dritte Typ der Bildlichkeit ist ein wahrnehmungstheoretischer bis kritischer, der das Theater als Ort der Demaskierung skopischer Regime kennzeichnet. Diese Bildlichkeit kann durch die Verschiebung von Bedeutung und das Offenlegen medialer Strategien Wahrnehmungsgewissheiten destabilisieren und Machtverhältnisse enttarnen. Gerade das Theater als audiovisuelles Sammelmedium, als Ort der Mehransichtigkeit und des Blicktauschs, der Betonung des Hier und Jetzt und der Integration vielfältiger Bild-Technologien, könne Prozesse der Sichtbarkeit und Blickordnungen distanzierend erfahrbar machen und kritisieren (vgl. S. 38). Besonders anschaulich wird dies im Artikel Bilder-Schlachten im Bambiland von Röttger, der offen legt, wie die Schlingensief-Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück über den Irak-Krieg durch Strategien des Iconoclash ein kollektives Bildgedächtnis destabilisiert und dem Zuschauer wörtlich die Augen für mediale und politische Strategien öffnet. Auch die Artikel von Anja Müller-Wood und Christopher Balme wenden sich bestimmten Bildsprachen zu: der Wortkulisse des englischen, neuzeitlichen Dramas, das mentale Bild- und Machtpraktiken nutzt; Balme dem postmodernen Musiktheater, das auf ganz eigene Weise die Subtilität, den intertextuellen “Anspielungsreichtum und die spielerische Unbestimmtheit” der Bilder jenseits semiotischer Festschreibungen ins Spiel bringt (S. 274ff). Der Band Theater und Bild ist nicht nur anschlussfähig an die Bilddebatten der Kunstgeschichte, Philosophie und anderer Disziplinen, sondern bearbeitet in seinen thematischen Bezugnahmen immer auch theaterwissenschaftliche Kernfragen der Ko-Präsenz der Zuschauer, Performativität und Methoden des Faches selbst. Besonders hervorzuheben ist die gelungene interdisziplinäre Verbindung von theoretischen und historischen Perspektiven, die mit Ulrike Hass’ Beitrag sogar eine interkulturelle Perspektive auf Schrift und Bild im ostasiatischen Raum umfasst. Leider werden in manchen Beiträgen Visualität und Bild nicht trennscharf, sondern fast synonym verwendet, was in einigen Fällen zu einer Verallgemeinerung von Sichtbarkeit führt. Dennoch überwiegt der Eindruck der pointenreich und dicht gewobenen Argumentation der Aufsätze. Fehlte es bisher an einem allgemeinen Verständnis von Bildern als “Akte, als Vollzüge im Raum des Theaters” (Jackob, S. 100), so verdankt sich dem Sammelband eine ertragreiche Neubefragung des Bildbegriffs, da er die Diskussion zum Bild im Theater nicht nur bündelt und somit übersichtlich macht. Dieser Blick zeigt vielmehr, wie viel eine Verknüpfung von Theater und Bild sowohl für das Verstehen von Bildern als auch von Theater erbringen kann. Basel M AREN B UTTE Heidy Greco-Kaufmann. Zou der Eere Gottes, vfferbuwung dess mentschen vnd der statt Lucern lob. Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Theatrum Helveticum 11. Zürich: Chronos, 2 Bd., 672 und 402 Seiten, inkl. CD-ROM. Das seit Bestehen der Theaterwissenschaft und spätestens seit den 1980er Jahren wortreich umspielte Gespenst des Transitorischen scheint, wo theoretisch paradoxerweise gefestigt, auf der Ebene Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 194-196. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 195 positivistischer Forschung noch immer angsteinflößend wie eh und je. Umso mehr gilt dies für die theaterhistorische Aufarbeitung von Epochen wie dem Spätmittelalter, dessen Quellenlage ohnehin vieles schemenhaft entschwinden lässt, da sich die Flüchtigkeit des Ereignisses um den Grad seiner Historizität exponiert. Allein schon angesichts dieses Tatbestands gebührt dem Werk Heidy Greco-Kaufmanns Anerkennung, denn die Autorin scheut sich nicht, Theatralität in ihrer Gesamtheit, also im Sinne literaler, fester ebenso wie im Sinne ihrer unsteten Formen, zu begreifen und begegnet der Gefahr des Flüchtigen mit einem enormen Quellenfundus, welchen sie in einem zweiten Band ihrem historischen Abriss anhängt. So ist es möglich, Phänomene der Inszenierung von Herrschaft, Prangerstrafen, Harnisch- und Waffenschauen, Ritterturniere, die Auftritte von Artisten, Narren, Spielleuten und Gauklern, lokale Bräuche wie den Museggumgang, Schützenfeste oder die fastnächtliche Zentralfigur Bruder Fritschi ohne Abstriche in der Dichte der Betrachtung den bekannten Osterspielen und der vielfach behandelten Aufführung von 1583 zur Seite zu stellen. Dass Greco-Kaufmann ihren Abriss dabei lokal eingrenzt, ist angesichts der Bedeutung Luzerns für die spätmittelalterliche Theatralität kein Nachteil: Mit ihren spezifischen Ereignissen taugt die Stadt Luzern nahezu zum Paradigma der allgemeinen Entwicklung szenischer Vorgänge im deutschsprachigen Raum. Zusätzlich dazu hat das Forschungsgebiet Luzern den Vorteil, dass in dieser Stadt ein äußerst traditionsbewusster Stadtschreiber und selbst theaterpraktisch aktiver Spielleiter namens Renward Cysat gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhundert einen einmaligen Fundus von Zeugnissen nicht nur literaler, sondern aller für ihn greifbaren szenischen Vorgänge seiner Stadt zu erstellen versuchte und dies mit einer Methodik, die man schon beinahe als dem New Historicism verpflichtet glauben könnte. Cysat ist durch seine Collectanea Chronica und denkwürdige Sachen pro Chronica Lucernensi et Helvetiae zum guten Engel dieser Studie geworden und seine Betrachtungen ermöglichen, neben den vielzähligen weiteren von Greco-Kaufmann erschlossenen und unter Anwendung des größten editorischen Feingefühls publizierten Quellen, der Autorin in ihren Darlegungen einen Grad der historisch verbürgten Plastizität, welchen man für die szenischen Vorgänge in anderen Städten des Spätmittelalters wohl niemals erreichen könnte. Die zeitliche Begrenzung wird vom Beginn der Luzerner Aufzeichnungen im frühen 14. Jahrhundert bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts gesetzt, wobei Greco-Kaufmann aus guten Gründen einzig die Reformation mit den konfessionell geprägten theatralen Bemühungen der Jesuiten als so einschneidendes Ereignis betrachtet, dass sie ihre Untersuchung der historischen Zäsur entsprechend in zwei Teile gliedert. Ein weiteres Gliederungsprinzip ist die Unterteilung in verschiedene Arten von szenischen Vorgängen, die in den methodischen Vorüberlegungen dem Theatralitätskonzept Andreas Kottes folgend, nach ihrem “Grad der Heraushebung aus der Lebenswirklichkeit, Artifizialität, intendierte Öffentlichkeit, Gelenktheit und beabsichtigte Wirkung” (38) konzentrisch um die literarischen Spiele als festeste Theaterform herum angesiedelt werden. Jenseits dieser Kategorisierungen argumentiert Greco- Kaufmann jedoch stets gleichzeitig diachron wie synchron, so dass weder der Blick für die historische Entwicklung einzelner Phänomene noch ihre gegenseitige überzeitliche Bedingtheit aus dem Fokus gerät. Wie nebenbei trifft die Studie dabei Aussagen, deren Erkenntniswert die Sicht der folgenden Forschung nachdrücklich prägen dürften. Eines dieser Ergebnisse soll hier besondere Erwähnung finden: Dem nach seinem ehemaligen Aufbewahrungsort benannten Donaueschinger Passionsspiel liegt ein Bühnenplan bei, der seit jeher ein umstrittenes Objekt der Forschung gewesen ist; meist galt er als Plan eines Villinger Spiels, ansatzweise, jedoch bisher ohne schlüssige Darlegung, wurde er auch als Plan einer Luzerner Aufführung gesehen. Die Verortung auf dem berühmten Weinmarkt vermochte jedoch nicht gelingen. Greco- Kaufmann kann nun durch eine innovative wie logische Argumentation den bis 1481/ 82 noch nicht bebauten Kapellplatz vor der Luzerner Peterskirche als Ort der skizzierten Aufführung bestimmen. Kernpunkt der Argumentation ist dabei, dass die drei eingezeichneten Tore des Plans nicht, wie bisher angenommen, als linear hintereinander stehend begriffen werden, sondern als 196 Rezensionen Dreiteilung des Plans an sich, welche aufgrund des Papierformats vorgenommen wurde - in Anbetracht der Kosten von Schreibmaterialien eine äußerst einleuchtende Begründung. Mit dieser Vorüberlegung funktioniert die Verortung einwandfrei und bildet die Grundlage zu einer Rekonstruktion des Spielablaufs, welche hinsichtlich der spätmittelalterlichen theatralen Praxis und dem Einfluss bürgerlich geprägter Gruppierungen wie der Bruderschaft zur Dornenkrone, genauso wie bezüglich des Zusammenhangs von stadtspezifischer Raumsemantik und Spielablauf ergiebig ist. Passagen wie diese wirken auf den Leser ebenso intellektuell anregend wie plastisch unterhaltsam. Hier wird die Autorin, wie im Großteil ihres Werks nicht zuletzt auch aufgrund der vielen illustrierenden wie interferierenden Abbildungen, ihrem postulierten Anspruch gerecht, den Spagat zwischen Fach- und Laienpublikum zu meistern. Insgesamt handelt es sich bei Greco-Kaufmanns Untersuchung um ein gelungenes, unterhaltsames und wissenschaftlich ergiebiges Werk, welches sich weder scheuen muss noch scheut, die verwendeten Archivbestände in Buchform wie auch anhand einer beigefügten CD-ROM dem Leser offen vor Augen zu legen, so dass man nicht nur mit Genuss liest, sondern ebenso anhand der Quellen den historischen Abriss nachvollziehen und hinsichtlich der eigenen Interessen weiterdenken kann. Gießen M ATTHIAS D ÄUMER Christina Thurner, Beredte Körper - bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten. Bielefeld: Transcript, 2009, 229 Seiten. Der Aufschwung der Tanzwissensschaft, der sich seit einigen Jahren abzeichnet, hat das Konzept der Bewegung erneut in den Blickpunkt gerückt, und die Dimension semiotischer Bewegungsanalyse um wichtige Fragen nach der körperlich-motorischen und sensorischen Dimension von Bewegung bereichert. Fasste der Begriff der Bewegung im theater- und tanzwissenschaftlichem Verständnis immer schon das Wechselspiel äußerer Bewegung und inneren Bewegt-Seins, wie es aus der rhetorischen Lehre überliefert ist und die Darstellungstheorie des 18. Jahrhunderts prägt, so zeichnet sich in jüngeren Publikationen eine wissens- und diskursgeschichtliche Dimension des Bewegungsbegriffs ab, die geeignet ist, am Problem der Darstellung von Bewegung zugleich ganz verschiedene Wissenskulturen in den Blick zu nehmen. So kann etwa die Qualität der Bewegung als Gestik und Mimik im Sinne der Anthropologie (des Darstellers) der raum-zeitliche Bestimmung von Bewegung, wie sie die newtonsche Physik formuliert, zur Seite gestellt werden. Das rhetorische Konzept der Bewegung, das movere, wird wiederum in seiner Ausdifferenzierung in die Psychologie (der Emotionen) und die Körpertechnik (etwa als Bewegungsgesetze in der Tanz- und Schauspielkunst) erkenntlich. Gemeinsam ist diesen Wissenskulturen das Problem der Beobachtung von Bewegung, genauer die Relativität der Beobachterposition. Just diese Unschärfe des Wissens über Bewegung steht im Kern der historischen Semantik und der Wissensgeschichte, die sich unter dem Konzept der Bewegung abzeichnet. In doppelter Hinsicht - als Phänomen der Bewegungskunst ‘Tanz’ und als Diskurs über die Wirkung und Rezeption von Kunst überhaupt stellt Christina Thurner das Konzept der “doppelten Bewegung” in den Mittelpunkt ihrer Studie Beredte Körper - bewegte Seelen. Mit dem Konzept der doppelten Bewegung differenziert sie das Wechselverhältnis von körperlicher und innerer (seelischer) Bewegung aus, welches als commercium mentis et corporis die ästhetischen Debatten um die Darstellung von Emotionen zur Zeit der Ballettreform und der Formulierung von Schauspieltheorien im 18. Jahrhundert prägt. Damit nimmt sie erneut die Debatte um den ‘heißen’ und ‘kalten’ Schauspieler und die Suche nach einer ‘natürlichen Gestalt’ und Ausdruckssprache auf, wie sie bereits etwa in Günter Heegs Studie über das Phantasma der natürlichen Gestalt zum Thema wird. In diesem Sinne liegt ein Teil ihrer Arbeit darin, den Unmittelbarkeits- und Naturdiskurs, wie ihn Heeg für den Charakterdarsteller ausmacht, im Feld des Tanzes aufzuzeigen. Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 196-198. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 197 Jedoch erschöpft sich ihrer Studie nicht darin, die Zuschreibung des Tanzes als Körpersprache, die “direkt zum Herzen ‘spricht’” (15), in ihrer kulturellen und historischen Bedingtheit darzulegen. Vielmehr geht sie davon aus, dass bereits die schriftliche Form des Diskurses einen entscheidenden Anteil daran hat, dass überhaupt von Unmittelbarkeit (der Bühnenpräsentation) die Rede sein kann. Thurners methodische Vorgehensweise leistet hier eine Medienreflexion der Bewegungsanalyse, Bewegung ist ihr (auch) Denkbewegung und Bewegung ‘im Text’. Dezidiert beschränkt sie sich daher darauf, die einschlägigen Tanztraktate und die Abhandlungen über die Gestik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts einer erneuten Lektüre zu unterziehen und die historische Aufführungspraxis vorerst hinten an zustellen. Denn, so die Autorin, es sei davon auszugehen, dass es sich bei diesen Traktaten um poetische Texte handele, welche den Wandel der Bühnendarstellungen und der Sichtbarkeiten emotionaler Regungen vorwegnähmen. “In den theoretischen Schriften und Tanztrakten wird nämlich […] diskursiv eine neue Ästhetik - samt intendierter Realisierung und Wirkung - geschaffen […] indem Art und Weise des Zeichengebrauchs, Handlungsvollzugs und dessen angestrebte Wahrnehmung gewissermaßen vor-geschrieben werden.” (22) Hier betritt die Autorin tatsächlich methodisches Neuland und geht über die von ihr e r w ä h n t e n V o r a r b e i t e n v o n J e s c h k e (1983/ 1991/ 1992), Schroedter (2004) und Woitas (2004) hinaus. Die Studie entfaltet in drei Hauptteilen die Etablierung und Wandlung des Diskurses der doppelten Bewegung und schlägt dabei einen Bogen vom Ende des 17. Jahrhunderts, der Wandlung des Ballet de Cour hin zum Ballet des Action, über die sensualistische und empfindsame Phase ab Mitte des 18. Jahrhunderts bis hin zu den Virtuosendarstellungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Arbeit ist in drei Abschnitte unterteilt. Der erste Teil zeigt, wie unter Einfluss der Commedia dell’Arte und in Abkehr vom höfischen Ballett das Pantomimische betont wird. Bezeichnend für dieses neue Bewegungskonzept sei die Betonung der actio- und pronuntatio-Lehren der Rhetorik sowie die Rückbesinnung auf das Mimesiskonzept des Aristoteles, die vor allem für den angestrebten emotionalen Nachvollzug der Körperbewegung durch die Seelenbewegung des Zuschauers in Anspruch genommen werde. Der Band bietet hier eine pointierte Lektüre wichtiger Stellen bei Louis de Cahusac, John Weaver, Johann Pasch und Claude François Ménestrier, mithin also eine internationale Perspektive. Der zweite Hauptteil ist der Entwicklung einer Bewegungssprache gewidmet, die der Forderung nach Natürlichkeit entspricht und insbesondere die Gebärden und Ausdrucksbewegungen auf ihre emotionale Bedeutung und Stimmigkeit hin konzipiert. Hier ist vor allem Jean Georges Noverre der Gewährsmann des Arguments. Allerdings kann Thurner auch an Schriften Engels, Lessings und Schillers aufzeigen, wie der Tanz als Modell einer natürlichen Gebärden- und Empfindungssprache konzipiert wird. Die doppelte Bewegung wird in der Ballettreform zum zentralen Ansatzpunkt, um erstens den Tanz als eigenständige Kunst von Handwerk und Zierart zu unterscheiden, zweitens den angestrebten Effekt der Unmittelbarkeit körperlicher Bewegung von seiner Vermittlung zu unterscheiden (vgl. 111) und drittens einer anthropologisch begründeten Verinnerlichung von Emotion und Handlung, der “psycho-physischen Metaphorisierung” (132) von Bewegung, Vorschub zu leisten. Der dritte Teil schließlich nimmt diesen Faden in Hinblick auf die romantische Tanzkritik und ihren Unsagbarkeits-Topos wieder auf. Thurner weist darauf hin, dass neben der Literatur vor allem das Feuilleton jene flüchtige und subjektive Textform darstelle, in welchem sich die Mythologisierung und Verklärung tänzerischer Bewegung etablieren konnte. (vgl. 140) In Hinblick auf die Schriften Théophile Gautiers und den Ballerinenkult, wie er sich exemplarisch an der Pariser Oper um Marie Tagliogni und Fanny Elßler entfaltet, stellt die Autorin dar, wie die romantische Tanzkritik eine “Praktik der idealisierenden Poetisierung”(200) entwickelt. Diese Praktik prägt nach Thurner auch die heutige Tanzkritik, wie sie im abschließenden Kapitel nachweisen kann. Ihr Anliegen, die doppelte Bewegung als Diskurseffekt nach zu zeichnen, der vor allem von Vor-Schriften zum Tanz ausgeht, kann die Autorin einlösen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Selbst- Bestimmung der Kunstform Tanz zwischen konzeptuellem und mimetischem Ansatz. Der Studie 198 Rezensionen wäre im Hinblick auf die Darstellungstheorie im 18. Jahrhundert der Rückgriff auf die von Joseph Roach vorgelegte Diskursanalyse der Leidenschaften zuträglich gewesen, um insbesondere anthropologische und psychologische Konzepte in ihrer Historizität darzustellen. Zudem wünscht man sich in der Lektüre der Trakate von Ménestrier und Noverre den Nachweis der Bewegungsreflexion dichter vom Text und seiner Metaphorik her entwickelt - ein Verfahren, welches der Autorin in Teil über die romantische Kritik überzeugend gelingt. Insgesamt stellt Beredte Körper - bewegte Seelen einen wichtigen Beitrag zur Theorie und Analyse von Bewegung dar, der auch Leser jenseits der Tanzwissenschaft interessieren dürfte. Bayreuth W OLF -D IETER E RNST E.K. Chambers: The Elizabethan Stage. 4 vols. (orig.: 1923). Oxford: Clarendon Press, 2009, ca. 372,00 Die Historiographie nimmt mitunter eigentümliche Wege: So sehr sie sich in Fragen der Analyse und Interpretation von den Fesseln einer engstirnigen Faktenhuberei befreit hat, so sehr ist sie doch gleichzeitig auf das Vorhandensein solcher Sammlungen angewiesen. In diesem Sinne stehen die methodischen Diskussionen, die seit Ende der 1970er Jahre eine gänzliche neue Form der Kulturgeschichtsschreibung hervorgebracht haben, nicht nur in einem dialektischen Verweisungszusammenhang zu jener älteren, aus den Tiefen des 19. Jahrhunderts stammenden Tradition, sondern auch in der Relation einer recht unmittelbaren inneren Abhängigkeit. Edmund Kerchever Chambers (1866-1954) gehört zu jenen in das 20. Jahrhundert hineinragenden Gestalten, der das Unterfangen einer solchen Materialsammlung gleich zwei Mal in seinem Leben auf sich genommen hat: Zunächst erschien 1903 The Medieval Stage, eine zweibändige Sammlung von Daten, Quellen und Verweisen zum mittelalterlichen Theater Englands. 1923 folgte dann das vierbändige Konvolut The Elizabethan Stage, das aufgrund seiner Informationsfülle bis heute eine wichtige Referenz für alle Forscher ist, die sich mit dem englischen Theater des 16. und 17. Jahrhunderts beschäftigen. Chambers geht in seiner Sammlung mit einer umfassenden Systematik vor: Der erste Band beschreibt die Verhältnisse am Hofe sowie die Kontrolle der Theater. Gerade hier wird mitunter die zeitliche Differenz zwischen diesem Werk und einem heutigen Leser sehr deutlich spürbar: Die geistesgeschichtlichen Ausführungen, etwa zum Verhältnis von Reformation und Theater, halten der sehr weit reichenden neueren Forschung in diesem Bereich nicht mehr stand. Gleichwohl beeindrucken die Ausführungen immer noch durch die reine Fülle von Quellen, die Chambers für seine Ausführungen gesichtet hat und die er sorgfältig aufführt. Der zweite Band steht im Zeichen der Theaterpraxis selbst; minutiös listet Chambers hier die einzelnen Truppen auf und hat sogar ein eigenes Kapitel, in dem die ihm bekannten Informationen zu einzelnen Schauspielern zusammengetragen sind. Zusammen mit der Liste aller in London nachgewiesenen Theater liegt hier eine Ressource vor, die für die Theater- und Shakespeare-Forschung äußerst hilfreich ist. Die Bände III und IV schließlich komplettieren das Bild vor allem durch die Auflistung der bekannten Dramatiker und ein Verzeichnis mit kurzen Angaben zu ihren Werken, wobei der Umstand, dass der Band IV neben den anonym überlieferten Werken vor allem aus Anhängen besteht, unterstreicht, wie sehr dieses Werk als eine ‘Werkzeugkiste’ zu verstehen ist: So gibt es 13 verschiedene Anhänge, die von Dokumentensammlungen, über den Kalender des Hofes bis zu Quellen zur Kontrolle der Theater reichen und auch etwa Serlios Trattato sopra la scene (1551) in Auszügen in italienischer Sprache umfassen. So laden die insgesamt sehr schön gestalteten Bände der hier vorliegenden Neuauflage weniger zu einer systematischen Lektüre als zum Nachschlagen und Weiterforschen ein. Und hier erweist sich das Überangebot, das diese Sammlung unterbreitet, als eine Stärke gegenüber anderen Darstellungen. Während etwa die Arbeiten von Andrew Gurr, dessen Werke wie The Shakes- Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 198-199. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 199 pearean Stage, 1574-1642 ( 1 1970/ 4 2009) oder zuletzt Shakespeare’s Opposites: The Admiral’s Company 1594-1625 ( 1 2009), durch ihre gute Lesbarkeit zu Standardwerken geworden sind, ist Chambers sperriger und entzieht sich einer einfachen Lektüre. Gerade darin aber liegt zugleich seine Stärke: Es ist ein ganzes Konvolut von unterschiedlichen Informationen, die dem, der mit einer gezielten Fragestellung sucht, sich öffnet und neue Einsichten erlaubt. The Elizabethan Stage sucht keine Leser, sondern Forscher, die aus der Fülle des zusammengetragenen Materials neue Überlegungen generieren. In diesem Sinne muss man sich aber auch hüten, das eine gegen das andere auszuspielen, sondern vielmehr die unterschiedlichen Annäherungsformen als bereichernde Vielfalt begreifen. So ist es denn dankenswert und verdienstvoll, dass Clarendon Press sich entschlossen den seit langem vergriffenen Chambers, der im antiquarischen Handel teilweise beachtliche Preise erzielte, in einer sehr schön gestalteten und mit dem bislang separat gehandelten Register von Beatrice White versehenen Ausgabe neu aufzulegen. Ob der Verlag hierbei mit der Hoffnung spielte, dass die Bände als Merchandising-Produkt am Erfolg von The Shakespeare Secret (2008; dt. Die Shakespeare Morde) von Jennifer Lee Carrell profitieren kann, ist nicht bekannt: In diesem im anglophonen Raum sehr populären Krimi gelingt es der jungen Theaterregisseurin Kate Stanley mit Hilfe von Chambers-Sammlung eine Serie von Morden und das Geheimnis um das legendäre verschollene Shakespeare-Stück Cardenio zu lüften. (Endlich darf auch mal eine Theaterwissenschaftlerin in die Fußstapfen des Action-Archäologen Indiana Jones treten …) Aber auch für weniger spektakuläre und blutige Recherchen bietet diese Neuauflage eine Möglichkeit zu prüfen, inwiefern sich aus dem Blickwinkel neuerer methodischer Überlegungen eine produktive Auseinandersetzung mit älteren Forschungstraditionen führen lässt. Bern P ETER W. M ARX Anja Klöck. Heisse West- und kalte Ost- Schauspieler? Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland seit 1945. Theater der Zeit. Recherchen 62. Berlin: Verlag Theater der Zeit, 2008, 289 Seiten. Spätestens seit dem Erscheinen von Hans-Thies Lehmanns viel zitierter Schrift Postdramatisches Theater im Jahr 1999 steht die Materialität des Darstellerkörpers im Mittelpunkt der theaterwissenschaftlichen Diskussion. Präsenz statt Repräsentation, Dekomposition des Menschen statt Komposition einer dramatischen Figur, sinnliche Wirkung anstelle von Sinnerzeugung sind Schlüsselbegriffe, die die nunmehr ein Jahrzehnt andauernde Wende der fachlichen Auseinandersetzung von der darstellerischen zur performativen Qualität des Schauspielerkörpers anzeigen. Das Buch von Anja Klöck bildet in diesem Zusammenhang eine auffallende Ausnahme, da es sich wieder Problemen der klassischen Schauspielkunst und Methoden der Menschendarstellung zuwendet. Diese Ausrichtung ist einer klar historisch begründeten Fragestellung zu verdanken, die dem Forschungsprojekt “Systemische Körper? Kulturelle und politische Konstruktionen des Schauspielers in schauspielmethodischen Programmen Deutschlands 1945-1989” voranging und dessen erste Ergebnisse das Buch vorstellt. Ausgehend von dem bedeutenden historischen Schnitt, den das Jahr 1989 für die deutsch-deutsche Geschichte darstellt, liegt der Fokus des Buches auf der Untersuchung der Entstehens- und Überlebensbedingungen der hartnäckigen Mythen vom “kalten”, d.h. eine Rolle analytisch über die Aktionen einer Figur und äußeren Bedingungen des Handelns erarbeitenden, Ost-Schauspieler und vom “heißen”, sich psychologisch von Innen in seine Figur einfühlenden West-Schauspieler. Der Begriff des Mythos ist von der Autorin im Sinne Roland Barthes bewusst eingeführt worden, um auf den Prozess der Naturalisierung hinzuweisen, der dazu geführt hat, dass sich die Rede von heißem und kaltem Schauspieler in Essentialsisierungen niedergeschlagen hat. Dass die alchemistisch anmutenden, kulturelle Differenzen festschreibenden Essentialisierungen “im öffentlichen Diskurs der neunziger Jahre [auch] zu künstlerischen Qualitätsmerkmalen” (S. 7) wurden, kann Anja Klöck an zahlreichen Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 199-201. Gunter Narr Verlag Tübingen 200 Rezensionen Beispielen aus Fachzeitschriften, Presse und auch wissenschaftlichen Arbeiten belegen. Es liegt auf der Hand, dass diese Unterscheidung auf der Annahme eines Methodendualismus beruht, der sich seit 1945 aus einer an Brecht und somit an Techniken der Verfremdung orientierten Schauspielausbildung im Osten und einer an Stanislawski und an Techniken der Einfühlung orientierten Ausbildung im Westen Deutschlands entwickelt haben soll. Die im vorliegenden Buch präsentierten ersten Ergebnisse der dreijährigen Forschungsarbeit geben nicht nur Aufschluss darüber, ob die Polarisierung zwischen “heiß” und “kalt” in ihrer Entstehung tatsächlich als ein Ergebnis des genannten Methodendualismus gewertet werden kann. Gleichzeitig liefern sie, nicht zuletzt dank des Reichtums an vielfältigen Quellen, einen höchst interessanten Einblick in deutsch-deutsche Kultur- und Mentalitätsgeschichte seit 1945. Unterbaut wird dieser Ansatz insbesondere durch die Verknüpfung von vergleichender Diskursgeschichte, Institutionsgeschichte und von Praxis-Geschichten. Entsprechend gliedert sich das Buch in drei Teile. Unter der Überschrift “Gegenwärtige Diskurse” nimmt der erste Teil den “Schauspieler als diskursive Größe nach 1989” unter die Lupe. Mittels einer Re-Lektüre von Denis Diderots schauspieltheoretischem Schlüsseltext “Das Paradox über den Schauspieler” und einer Analyse von dessen Rezeptionsgeschichte in den Nachkriegsjahren wird nachgewiesen, dass die Mythen vom Gefühls- und Verstandesschauspieler historischen Langzeitprozessen geschuldet sind, die nicht zuletzt auch auf unterschiedliche Rezeptionen des Diderotschen Paradoxes zurückgehen. Dadurch kann gleichzeitig aufgezeigt werden, dass die Mythenbildung nicht zuletzt auch eine Folgeerscheinung von ideologisch bestimmten kulturellen Praktiken der Auslegung und Vermittlung dieses Textes ist. Dieses Ergebnis wird im zweiten Teil, “Historisierte Praxen”, konterkariert, ohne allerdings den Anspruch zu erheben, “der Analyse ideologisierter Erzählungen des ersten Teils faktische des zweiten Teils entgegen[zu]setz[en]” (S. 52). Die hier geleistete historiographische Untersuchung von den Schauspielprogrammen, die an wiedereröffneten und neu gegründeten Schauspielschulen zwischen 1945 und 1949 in den verschiedenen Besatzungszonen aufgestellt und pädagogisch umgesetzt wurden, versteht sich explizit nicht als wissenschaftliches Korrektiv zum ersten Teil, sondern als Schritt, der sich erst durch die Fragen aus der Gegenwart heraus als notwendig erweist. Besonders interessant ist die Art des Forschungsfeldes, das zu Beginn des Kapitels skizziert wird. Denn anhand der erfolgten Recherche in den Archiven der Militärregierungen der vier Besatzungszonen stellte sich heraus, dass lediglich zu den Entwicklungen in den sowjetischen und amerikanischen Besatzungszonen Einzelstudien vorliegen, die allerdings keinen systematischen Vergleich zwischen den Kulturprogrammen in Wechselbeziehung zur jeweiligen Besatzungspolitik leisten. Das heißt, hier liegt ein umfangreiches Desiderat vor, das die Autorin denn auch dazu veranlasst, die Vorläufigkeit der präsentierten Ergebnisse zu betonen. Gleichwohl können aufgrund der in den Archiven geleisteten Quellenforschung erste Aussagen zu Tendenzen und Unterschieden zwischen den jeweiligen Lehrplänen und Methoden in Bezug auf Prozesse des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels in jener Zeit getroffen werden. Diese Aussagen basieren auf dem Vergleich von sieben Fallbeispielen: Schauspielschulen in München, Hannover, Berlin Ost und Berlin West, Weimar, Saarbrücken und Hamburg, deren Auswahl nach den Kriterien der staatlich institutionalisierten Einrichtung und dem Fortbestand bis 1989 erfolgte. Ohne hier zu sehr ins Detail gehen zu wollen, kann als aufschlussreichstes Ergebnis festgehalten werden, dass in den vier Jahren der Besatzungszeit kaum von einer Brecht-Orientierung die Rede sein konnte. Für alle Schulen gilt die Aneignung des “Systems Stanislawski”, wenn auch in unterschiedlicher Ausrichtung. Diese historisch begründete Differenzierung der Diskurse, die einen West- und Ostschauspielertypus hervorbringen, wird schließlich im dritten Teil des Buches unter dem Titel “Erinnerungsräume” um eine weitere Facette ergänzt: Mittels Interviews (geführt im Jahr 2007) mit vierzehn ehemaligen Lehrkräften und Studierenden der staatlichen Schauspielabteilungen soll “den unterschiedlichen Erfahrungen und den unterschiedlichen Weisen, über Schauspielausbildung zu reden, Raum [ge]geben [werden]” (S. 127). Mit derselben Rezensionen 201 Sorgfalt, die auch die anderen Teile des Buches auszeichnet, wird die Methodik der Gesprächsführung ausführlich erläutert und begründet. Sie lässt dann auch keinen Zweifel am theaterwissenschaftlichen Ertrag der Berichte und Erinnerungen, die einen vielsagenden Einblick in die inneren, eher heterogenen Strukturen der jeweiligen Schauspielausbildungen an den genannten Schauspielschulen vermitteln. Allerdings nimmt dieser 139 Seiten umfassende Teil beinahe die Hälfte des Buches ein. Vielleicht wäre man dem überzeugenden Konzept der gegenseitigen Durchdringung von Diskursen, Praxen und Institutionalisierungsprozessen, das der Beantwortung der Frage nach dem heißen West- und kalten Ost-Schauspieler zugrundegelegt wurde, noch besser gerecht geworden, wenn man der “Polyphonie der ‘Sprecher” (S. 8/ 9) ein letztes Wort der Autorin hätte folgen lassen, das Diskurs-Geschichte, Praxis-Geschichte und Institutions-Geschichte der Schauspielausbildung zusammenfassend reflektiert. Amsterdam K ATI R ÖTTGER Wilfried Floeck / Sabine Fritz (eds.), La representación de la Conquista en el teatro español desde la Ilustración hasta finales del franquismo, Hildesheim/ Zürich/ New York: Georg Olms Verlag, 2009, 299 Seiten. (Teoría y práctica del teatro, Bd. 18) Das weltgeschichtliche Ereignis der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, die schrittweise Eroberung der Neuen Welt durch Hernán Cortés, Francisco Pizarro und andere Konquistadoren und die damit verbundene Zerstörung der indigenen Hochkulturen der Inkas und Azteken haben vom frühen 16. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart umfassenden Niederschlag in vielen Nationalliteraturen und literarischen Gattungen gefunden. Für die spanische Literatur ist dieser Themenkomplex naturgemäß immer schon besonders relevant gewesen. Allerdings habe sich die Forschung, wie die Herausgeber des vorliegenden Bandes, Wilfried Floeck und Sabine Fritz, in ihrem kurzen Vorwort betonen, bisher hauptsächlich auf die Epoche des Siglo de Oro und den Aufschwung der literarischen Produktion im Umfeld des fünfhundertjährigen Jubiläums der Entdeckung Amerikas durch Europa im Jahr 1992 konzentriert. So erklärt sich die - alles in allem vorbildlich eingelöste - Absicht, die Darstellung der “Conquista” im spanischen Theater bzw. in dramatischen Texten in der bisher noch kaum gewürdigten Zeitspanne von der Aufklärung bis zum Ende der Franco-Diktatur einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Der so entstandene, gattungshistorisch angelegte und im Wesentlichen stoff-, themen- und motivgeschichtlich orientierte Band geht auf ein gleichnamiges Kolloquium zurück, das im Mai 2008 an der Justus-Liebig- Universität Gießen stattfand. Er enthält fünfzehn durchgehend spanischsprachige Beiträge von Hispanisten aus Deutschland, Spanien, den USA und Costa Rica, von denen die meisten bereits zuvor mit einschlägigen oder zumindest thematisch verwandten Arbeiten hervorgetreten sind. Die Beiträge sind so ausgewählt und angeordnet, dass sich tatsächlich ein weitgehend kohärenter und nahezu vollständiger Überblick über die sich wandelnde ästhetische und ideologische Modellierung des “Conquista”-Stoffes im Verlauf von dreihundert Jahren spanischer Theatergeschichte ergibt. Das Spektrum reicht von der Fortsetzung des Barocktheaters im 18. Jahrhundert sowie der gegen dessen Ende dominierenden neoklassizistischen Poetik und der kurzen Mode des empfindsamen Theaters über die Romantik und Postromantik des 19. Jahrhunderts bis hin zu den mehr oder weniger regimetreuen Darstellungen unter der Franco-Diktatur und den ersten Ansätzen eines metahistorischen Dramas Mitte der 1960er Jahre. Lediglich die Avantgarden des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts bleiben ausgespart. Mit Herminia Gil Guerreros Beitrag zu Ramón José Sender und Jorge Chen Shams Fallstudie zu Salvador de Madariaga kommen dagegen die spezifischen Motivationslagen des Exiltheaters gleich zweifach zum Tragen. Daneben finden auch andere interessante Teilaspekte Berücksichtigung, etwa die von Bernardita Llanos Mardones an Beispielen aus Mexiko untersuchte Dramenproduktion in den Kolonien selbst, die von Alberto Pérez-Amador Adam rekonstruierten Überliefe- Forum Modernes Theater, Bd. 24/ 2 (2009), 201-203. Gunter Narr Verlag Tübingen 202 Rezensionen rungswege der Figur des Aztekenherrschers Montezuma II., die erst über die italienische Barockoper nach Spanien und von dort in andere europäische Literaturen gelangte, oder das von Ingrid Simson auf seine ideologischen und dramentechnischen Funktionen hin analysierte Bild der indianischen Frauenfiguren im spanischen Theater des 18. Jahrhunderts. Dass es trotz des beschränkten Korpus von ca. zwei Dutzend Dramen kaum zu Wiederholungen kommt, ist vor allem den unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der Autoren zu verdanken, sodass selbst bei mehrfach thematisierten Werken jeweils andere Aspekte in den Vordergrund treten. So rückt beispielsweise Bernardo María de Calzadas Tragödie Motezuma (sic, 1784) bei Helmut C. Jacobs unter dem übergreifenden Gesichtspunkt des für die aufklärerische Episteme maßgeblichen Gegensatzes zwischen Vernunft und Barbarei in den Mittelpunkt, während sie von Inke Gunia unter der Leitfrage beleuchtet wird, inwiefern sich in der Figur des Konquistadors im spanischen Drama des 18. Jahrhunderts Anzeichen für die Herausbildung eines modernen Subjektverständnisses finden lassen. Auch die Herangehensweise der einzelnen Autoren variiert. Kurt Spang und David T. Gies setzen auf einen breit angelegten Epochenvergleich und gelangen daher auch zu entsprechend allgemeinen Erkenntnissen in Bezug auf die Entwicklung des historischen Dramas zwischen Neoklassizismus und (Post-)Romantik bzw. hinsichtlich der zentralen Gestalt des Hernán Cortés, dessen zwar problematische, aber letztlich doch idealisierte Darstellung in der Aufklärung unter den bürgerlichen Verhältnissen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine radikale Veränderung erfährt. Den Gegenpol dazu nimmt Siegfried Jüttner ein, der sich auf die Interpretation eines einzigen Stückes, Luciano Francisco Comellas Cristóbal Colón (1790), beschränkt, das er dafür einer umso gründlicheren Lektüre unterzieht. Einen besonders aufschlussreichen Zugang wählt Sabine Fritz. Sie konzentriert sich in je zwei Werken aus dem 18. und 19. Jahrhundert auf die unterschiedlichen Darstellungen des Todes des Inkaherrschers Atahualpa, in denen sich die ideologische Ausrichtung des jeweiligen Stückes exemplarisch kristallisiert. Am Interessantesten ist die Lektüre des Bandes zweifellos immer an jenen Stellen, an denen es zu überraschenden Einsichten am konkreten Gegenstand kommt. Das ist etwa der Fall, wenn Siegfried Jüttner den “humanen”, entmythisierten Kolumbus des Spaniers Comella als Korrektiv gegen die Stilisierung des Kolumbus zum “Superhelden der Moderne” im restlichen Europa ins Spiel bringt, wenn Stefan Schreckenberg am Ende seiner Analyse von Pablo Avecillas romantischem Cristóbal Colón (1851) den ungelösten Widerspruch zwischen einer längst ins Leere laufenden nationalpatriotischen und einer protosozialistischen, die Bruderschaft mit der Neuen Welt betonenden Perspektive aufdeckt oder wenn Gero Arnscheidt die affirmativen Züge von Gonzalo Torrente Ballesters Lope de Aguirre (1941) gegen die subversiven abwägt. Entscheidend für die Kohärenz des gesamten Bandes sind jedoch nicht zuletzt die beiden einleitenden Aufsätze von Wilfried Floeck und Manfred Tietz. Floeck schlägt einen weiten historischen Bogen, indem er zunächst die Herausbildung des “triumphalistischen Diskurses” im 16. und 17. Jahrhundert beschreibt, der die Eroberung Mittel- und Südamerikas als einen Akt göttlicher Vorsehung begreift und die christlich-zivilisatorische Mission der Spanier, bei aller Kritik an der “Habgier” der eigenen Leute, als immer schon gerechtfertigt voraussetzt. Damit ist eine Struktur der longue durée, ein über Jahrhunderte hinweg stabiles Diskursgefüge etabliert, das in seinem Ethnozentrismus erst in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts grundsätzlich in Frage gestellt wird. Wie Tietz dann in seinem Beitrag darlegt, erfährt dieser Diskurs im 18. Jahrhundert eine erhebliche Modifikation, insofern nun eine anthropozentrische Weltsicht, ein stärkerer Gegenwartsbezug, und die Aufwertung wirtschaftlicher Fragen wirksam werden. Unter dem Druck der spanienkritischen Schriften von Robertson, Pauw, Raynal und Diderot gewänne gegen Ende des Jahrhunderts jedoch wieder eine apologetische Haltung die Oberhand. Die Tatsache, dass der von Tietz angeführte ökonomische Diskurs im Theater der Zeit kaum Spuren hinterlassen hat, deutet indessen auch die Grenzen dieser ansonsten sehr gelungenen Publikation an. So verweisen einige Autoren durchaus auf die externen und internen Zwänge, denen das Theater als öffentlichstes aller Medien, zumal in Rezensionen 203 Spanien, ausgesetzt ist, und gewiss werden gelegentlich die kulturpolitische Instrumentalisierung, die Zensur, der Publikumsbezug oder der Umstand hervorgehoben, dass das eine oder andere Stück unaufgeführt bzw. unveröffentlicht blieb oder gar nicht für die Bühne geschrieben wurde. Was dabei tendenziell zu kurz kommt, ist jedoch die Frage nach der Spezifik des dramatischen und theatralen Diskurses über die “Conquista”, die Reflexion über die gattungsmäßigen und medialen Bedingungen seiner Ermöglichung - und Verhinderung. Davon unberührt besteht das Hauptverdienst des Bandes darin, die Entwicklung dieses kulturell so bedeutsamen Diskurses im spanischen Theater durch drei Jahrhunderte hindurch zum ersten Mal zusammenhängend aus wechselnden Perspektiven und unter Berücksichtigung der wichtigsten funktionsgeschichtlichen Aspekte dargestellt zu haben. Dass dabei gleichsam unter der Hand eine Geschichte des spanischen Theaters im Spiegel eines konkreten Themen- und Motivkomplexes entsteht, ist ein willkommener Nebeneffekt. Siegen C HRISTIAN VON T SCHILSCHKE Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Der Band untersucht italienische, deutsche, französische, russische, kroatische, polnische sowie englische/ amerikanische Theaterstücke, welche eine oder mehrere reale oder fiktive Künstlerpersönlichkeiten zum zentralen Personal zählen und auf je eigene Weise ästhetische bzw. gesellschaftliche Tendenzen reflektieren. Die Beiträge, die sich auch mit Vorgeschichte und Weiterentwicklungen, Kontinuitäten, Brüchen und Wechselbeziehungen befassen, sind als Materialien zu einer Geschichte des Künstlerdramas angeordnet. Frank Göbler (Hrsg.) Das Künstlerdrama als Spiegel ästhetischer und gesellschaftlicher Tendenzen Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 41 2009, 308 Seiten €[D] 58,00/ SFr 98,00 ISBN 978-3-7720-8345-7 091909 Auslieferung Oktober.indd 35 22.10.09 09: 49 Autorinnen und Autoren Dr. Aristita I. Albacan ist Lecturer für Theatre and Performance an der University of Hull in Scarborough (UK). Sie arbeitet gleichzeitig als Regisseurin. Ihre künstlerische Arbeit erforscht das Verhältnis von Theater und Medien im Gegenwartstheater. Sie wurde 2008 an der Ludwig- Maximilians-Universität in München mit ihrer Dissertation Intermediality and Spectatorship in the Theatre Work of Robert Lepage promoviert. Ihre Forschungschwerpunkte sind Intermedialität und Publikum im Gegenwartstheater, Performance und Neue Medien. (A.Albacan@hull.ac.uk) Prof. Dr. Christopher Balme ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität München und zur Zeit Dekan der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Forum Modernes Theater; ehemaliger Präsident der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Wichtigste Publikationen: Decolonizing the Stage: Theatrical Syncretism and Post-Colonial Drama (1999); Einführung in die Theaterwissenschaft (1999). Das Theater der Anderen (Hg.) (2001); Pacific Performances: Theatricality and Cross- Cultural Encounter in the South Seas (2007); Cambridge Introduction to Theatre Studies (2008). Maren Butte M.A. ist Doktorandin an der Freien Universität Berlin. Sie studierte Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Von 2005 bis 2009 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Nationalen Forschungsschwerpunkt Bildkritik (eikones) an der Universität Basel. (m.butte@web.de) Matthias Däumer M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik (Schwerpunkt Mittelalter/ Frühe Neuzeit) der Justus- Liebig-Universität Gießen und schreibt an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eine Dissertation zum performativen Potential der höfischen Epen. (Matthias.Daeumer@germanistik.uni-giessen.de) Prof. Dr. Wolf-Dieter Ernst ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Schauspieltheorie und -geschichte 18-20. Jahrhundert, Geschichte der Historischen Avantgarden, Mobile Räume und mobile Ästhetik in Theater und Performance. Im Jahr 2009 wurde er mit der Studie Vorschrift und Affekt. Eine Diskursgeschichte der Schauspielausbildung zwischen 1870 und 1930 an der Ludwig- Maximilians-Universität München habilitiert. Zuletzt veröffentlichte er (zus. m. Meike Wagner) Performing the Matrix - Mediating Cultural Performance (2008). Demnächst erscheint die Monografie Der affektive Schauspieler - Studien zum zeitgenössischen Sprechtheater. (w.ernst@uni-bayreuth.de) Prof. Dr. Doris Kolesch ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Autorin des Buches Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik zur Zeit Ludwigs des XIV (2006). Weitere Informationen und Kontakt unter: www.doris-kolesch.de. (mail@doris-kolesch.de) Prof. Dr. Peter W. Marx ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bern. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theater und metropolitane Kultur, Interkulturalität und Shakespeare und das Theater. Seine letzten Veröffentlichungen sind Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900 (2008) und (Hg. gem. mit Stefanie Watzka) Berlin auf dem Weg zur Theaterhauptstadt. (2009). Z. Zt. arbeitet er an einer Monographie Hamlets Reise nach Deutschland. (peter.marx@itw.unibe.ch) 206 Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Katharina Pewny ist Professorin für Performance Studies an der Universität Gent. Sie war Research Fellow an der University of California Los Angeles und an der Freien Universität Berlin und wiss. Mitarbeiterin an der Universität Hamburg und der Kunstuniversität Graz. Sie forscht zu Ethik in Antike und Gegenwart, wobei sie auf Aufführungsanalysen und Dramaturgieforschung spezialisiert ist. Ihre Habilitationsschrift zum Theater des Prekären und die Anthologie Zwischenspiele. Neue Texte, Realitäts- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance erscheinen 2010. (Katharina.Pewny@UGent.be) Dr. David Roesner ist Senior Lecturer an der University of Exeter, UK. Er promovierte 2002 an der Universität Hildesheim mit einer Arbeit über Theater als Musik (2003). Er lehrte an den Universitäten Hildesheim, Mainz und Bern. Zur Zeit arbeitet er gemeinsam mit Matthias Rebstock an einem Forschungsprojekt zu Arbeitsprozessen im komponierten Theater. (d.p.roesner@exeter.ac.uk) Prof. Dr. Kati Röttger ist Professorin für Theaterwissenschaft und seit 2007 Leiterin des Instituts für Theaterwissenschaft an der Universität von Amsterdam. Lehrtätigkeit an der Humboldt- Universität Berlin, der Ludwig-Maximilians- Universität München und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte: Spektakuläre Kultur im 19. Jahrhundert, Intermedialität, Bildpolitik und Visualität. Jüngste Buchveröffentlichung (Hg. zusammen mit Alexander Jackob) Theater und Bild. Inszenierungen des Sehens (2009). (k.e.rottger@uva.nl) Jenny Schrödl M.A. studierte Theaterwissenschaft, Philosophie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 447 “Kulturen des Performativen”, im Projekt “Stimmen als Paradigmen des Performativen” (Leitung: Prof. Dr. Doris Kolesch). 2010 reichte sie ihre Dissertation Vokale Intensitäten. Materialität und ästhetische Erfahrung von Sprechstimmen im postdramatischen Theater an der FU Berlin ein. Sie hat verschiedene Aufsätze zur Stimme veröffentlicht und ist Mitherausgeberin u.a. von: Kunst- Stimmen (Berlin 2004) und Stimm-Welten. Philosophische, Medientheoretische und ästhetische Perspektiven (Bielefeld 2009). (jendl@zedat.fu-berlin.de) Berenika Szymanski M.A. hat Dramaturgie, Slavische Philologie und Interkulturelle Kommunikation an der Bayerischen Theaterakademie August Everding sowie der Ludwig-Maximilians-Universität in München studiert. Zurzeit realisiert sie ihr Promotionsvorhaben in den Fächern Theaterwissenschaft und Geschichte Osteuropas in München. Sie ist Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung und Kollegiatin des Stipendienprogramms “Aufbruch 1989” der Bundesstiftung zur Aufarbeitung. (berenika.szymanski@googlemail.com) Tobias Staab verfolgt sein Doktoratsstudium an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gleichzeitig arbeitet er als Theater- und Musik-Redakteur für diverse Magazine; seit Oktober 2009 ist er Chefredakteur von Super Paper, einer Münchner Stadtzeitung mit Fokus auf Popkultur und zeitgenössische Kunst- und Modeströmungen. Im April 2010 erschien die von ihm mit konzeptionierte wissenschaftliche Publikation zum Münchner Theater- und Performance-Festival SpielArt. (tobias.staab@gmx.de) Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Die erste und einzige umfassende Darstellung von Ecos Leben und seinem Gesamtwerk - hintergründig, spannend, mit neuen Erkenntnissen. Für Eco-Leser ein Muss! Der international hoch angesehene Romanist und profunde Eco- Kenner Michael Nerlich legt mit dieser Biographie die erste und bislang einzige Darstellung von Ecos Leben und Werk vor. Er macht uns vertraut mit den geschichtlichen, philosophischen und kulturellen Entwicklungen der jüngeren italienischen Vergangenheit und zeigt, wie diese im Leben des 1932 geborenen und vom Faschismus traumatisierten Eco, in seinen politischen, philosophischen und künstlerischen Überzeugungen ihren Widerhall finden. Herzstück der Biographie aber ist die so spannende wie kenntnisreiche Interpretation der fünf großen Romane Der Name der Rose, Das Foucaultsche Pendel, Die Insel des vorigen Tages, Baudolino und Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana, die alle - und das ist eine neue Erkenntnis - auch als politische, philosophische und kulturelle Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte gelesen werden können und müssen. Michael Nerlich UMBERTO ECO Die Biographie 2010, XVIII, 350 Seiten, 28 Abb., davon 19 farbig gebunden mit Schutzumschlag Format 13,5 x 21,5 cm €[D] 29,90/ SFr 49,90 ISBN 978-3-7720-8353-2 028310 Auslieferung April 2010.indd 13 27.04.10 16: 05 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Als im Januar 1927 in Köln Harry Domela verhaftet wird, der als vermeintlicher Prinz von Preußen zwei Jahre lang durch verschiedene deutsche Städte gereist war, stand der immer noch jungen Republik schlaglichtartig vor Augen, wie groß die Sehnsucht nach der verloren gegangenen Monarchie in fast allen gesellschaftlichen Schichten noch war. In der Maske des Hochstaplers aber wurden auch die Züge bürgerlicher Selbstinszenierung deutlich: Im Gefüge einer Gesellschaft, die sich durch Binnenmigration und sprunghafte Urbanisierung in ihren Grundfesten änderte, nahmen symbolische Selbstdarstellungen auf der Bühne, aber auch im ‚wirklichen Leben‘ einen zentralen Platz ein. Die vorliegende Arbeit untersucht die unterschiedlichen Formen dieser Selbstinszenierungen, die schwanken zwischen der Sehnsucht nach ländlicher Ursprünglichkeit und weltstädtischer Weitläufigkeit. Vom „Weissen Rössel“ über „Wilhelm Tell“ bis hin zu Phänomenen wie der Revue und dem Warenhaus als sozialer Bühne wird so die kulturelle Ökonomie des Spektakels als Mittel der Selbstdarstellung und Selbsterfindung erkennbar. Peter W. Marx Ein theatralisches Zeitalter Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900 2008, 420 Seiten, €[D] 29,90/ SFr 48,50 ISBN 978-3-7720-8220-7 041108 Auslieferung Ma rz 2008.i27 27 06.03.2008 15: 25: 00 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Als die 1869 verabschiedete Gewerbefreiheit auch die Gründung von Theatern erleichterte, kam es zu einem regelrechten Theaterboom und Berlin begann seinen Aufstieg zur wichtigsten deutschen Theaterstadt. Nahezu gleichzeitig mit dieser Gründungswelle aber setzte eine Flut von Streitschriften ein, die diesen Prozess kritisch begleitete. Die Themen reichten von Fragen der künstlerischen Programmatik über die kulturellen Folgen bis hin zur sozialen Situation der Künstlerinnen und Künstler. Viele dieser Kleinschriften, die gerade wegen ihrer besonderen Form sehr direkt Auskunft über das Theater und die Bedingungen seiner Zeit geben, sind heute kaum noch zugänglich. Der vorliegende Band versammelt eine breite Auswahl dieser Schriften und gibt sie in einer kommentierten Form wieder, so dass sie als lebendige Zeugnisse dem Leser die Dynamik und Vielseitigkeit der Theaterlandschaft bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs vermitteln. Peter W. Marx Stefanie Watzka (Hrsg.) Berlin auf dem Weg zur Theaterhauptstadt Theaterstreitschriften zwischen 1869 und 1914 2009, 408 Seiten, €[D] 68,00/ SFr 115,00 ISBN 978-3-7720-8244-3 021609 Auslieferung April 2009.indd 5 25.03.2009 16: 23: 55 Uhr Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Das Theater erscheint , wie Roland Barthes festgestellt hat, als ein besonders »privilegiertes semiologisches Objekt«. Denn es arbeitet nicht nur wie andere Kunstgattungen z.B. Literatur und Malerei mit einem einzigen Zeichensystem, sondern vereinigt in sich eine Vielzahl heterogener Zeichensysteme (wie Sprache und Gestik, Kostüm und Dekoration, Musik und Beleuchtung), deren jedes nach anderen Prinzipien Bedeutung hervorbringt. Soll das Theater seinerseits als ein spezifisches bedeutungserzeugendes System begriffen und erforscht werden, müssen daher die einzelnen beteiligten Zeichensysteme einerseits in ihrer jeweiligen Eigenar t, andrerseits in ihren Beziehungen zueinander untersucht werden. Der von Coseriu in der Linguistik getroffenen Unterscheidung zwischen den Ebenen des Systems, der Norm und der Rede entsprechend wird diese Untersuchung unter systematischem, historischem und analytischem Aspekt durchgeführt. Erika Fischer-Lichte Semiotik des Theaters Band 1 Das System der theatralischen Zeichen 5., unveränderte Auflage 2007 268 Seiten EUR 14,90/ SFr 26,00 ISBN 978-3-8233-6321-7 Band 2 Vom »künstlichen« zum »natü r lichen« Zeichen Theater des Barock und der Aufklärung 5., unveränderte Auflage 2007 212 Seiten EUR 14,90/ SFr 26,00 ISBN 978-3-8233-6322-4 Band 3 Die Aufführung als Text 5 ., unveränderte Auflage 2009 220 Seiten EUR 14,90/ SFr 26,00 ISBN 978-3-8 233 - 6529- 7 009307 Auslieferung Februar 200744 44 23.04.2007 17: 13: 45 Uhr