Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2010
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BalmeInhalt Christopher Balme (München) Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Aufsätze: Patrice Pavis (Paris) Intercultural Theatre today (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Christel Weiler (Berlin) Sehnsucht nach Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Robert Cardullo (Izmir) Shaw, The Philanderer, and the (Un)Making of Shavian Drama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Myrna-Alice Prinz-Kiesbüye / Yvonne Schmidt (Bern) Theater für alle, aber nicht von allen? Spannungsfelder und Perspektiven der Theatervermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Katarina Kleinschmidt (Berlin) Über herausgehobene Momente im Tanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Artikelserie: Theater und Emotion Julian Klein (Berlin) Emotionstheater? Anmerkungen zum Spielgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Relektüre Peter W. Marx (Bern) Welt-Suche: Auf den Spuren von Hans Blumenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Rezensionen: Susanne Hartwig, Klaus Pörtl (Hg.). La voz de los dramaturgos. El teatro español y latinoamericano actual (Wilfried Floeck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Wolf Gerhard Schmidt. Zwischen Antimoderne und Postmoderne. Das deutsche Drama und Theater der Nachkriegszeit im internationalen Kontext (Michael Bachmann) . . . . . . . . . . . 105 Erika Fischer-Lichte. Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches (Sabine Sörgel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Dennis Kennedy, The Spectator and the Spectacle. Audiences in Modernity and Postmodernity (Peter W. Marx) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Karsten Lichau, Viktoria Tkaczyk, Rebecca Wolf (Hg.): Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur (Benjamin Wihstutz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Umschlagabbildung: “Menschen! Formen” / Theater HORA (Zürich) in Kooperation mit Sommerblut Kulturfestival (Köln), Regie: Michael Elber, Musikalische Leitung: Carl Ludwig Hübsch, UA 21.05.2010 Freies Werkstatt Theater Köln. Abb. (v.l.): Freya Flügge, Judith Wilhelmy, Lorraine Meier, Christiane Grieb, Ingmar Krinjar, Peter Keller, Matthias Grandjean, Mirco Monshausen, Nico Randel. Foto: Michael Bause. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2010 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · Tübingen Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, im Magnettonverfahren oder ähnlichem Wege bleiben vorbehalten. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Jede im Bereich eines gewerblichen Unternehmens hergestellte oder benützte Kopie dient gewerblichen Zwecken gem. § 54 (2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft, Goethestraße 49, 80336 München, von der die einzelnen Zahlungsmodalitäten zu erfragen sind. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: NagelSatz, Reutlingen Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 0930-5874 Editorial Mit dem vorliegenden Heft feiert Forum Modernes Theater sein 25-jähriges Jubiläum. Im heutigen krisengeschüttelten und von neuen technologischen Entwicklungen verunsicherten Verlags- und Publikationswesen ist dieser Geburtstag keine Selbstverständlichkeit. Dank der Initiative und des unermüdlichen Einsatzes des Begründers Günter Ahrends (Bochum) in Zusammenarbeit mit dem ersten Herausgebergremium konnte sich die Zeitschrift als viel beachtetes peer-reviewed journal zu einer Zeit etablieren, als der Begriff des peer-review in geisteswissenschaftlichen Kreisen im doppelten Wortsinn ein Fremdwort war. Dank der konsequenten Anwendung des peer-review-Verfahrens konnten strenge Maßstäbe gesetzt werden, so dass Forum Modernes Theater durch die European Science Foundation ein begehrtes A-Rating bekommen hat. Es gilt nun dieses Kapital nicht nur zu konsolidieren, sondern auch auszubauen, da inzwischen eine gesonderte Ausweisung von Publikationen im peerreview-Verfahren von allen maßgeblichen wissenschaftlichen Förder-Organisationen (DFG, ERC usw.) verlangt wird. Auch wenn die vorliegenden Beiträge nicht eigens für das Heft - gleichsam zur Feier des Jahres - ausgewählt wurden, so markieren sie in ihrer Gesamtwirkung doch recht deutlich die Distanz, die die Zeitschrift und mit ihr das Fach Theaterwissenschaft im letzten Vierteljahrhundert zurückgelegt hat. Betrachten wir die ersten Hefte, die 1986 erschienen, so fällt ins Auge, dass das Theater des Titels seinerzeit als selbstverständliche Vermittlungsinstanz von dramatischer Literatur unterschiedlichster Provenienz verstanden wurde. Darin unterschied sich die Zeitschrift nicht wesentlich von dem Theater selbst, egal ob in deutschsprachigen oder in anderen westeuropäischen bzw. nordamerikanischen Erscheinungsformen. Die hier gesammelten Aufsätze machen deutlich, dass am Anfang des zweiten Jahrzehntes des 21. Jahrhunderts diese Gewissheit über Wesen und Funktion des Theaters nun rapide abnimmt. Je vielfältiger die Erscheinungsformen des Theaters werden, umso unklarer werden die Konturen seiner Ausprägungen. Es ist daher nicht rein zufällig, dass sich zwei Artikel mit der Zukunft des Theaters beschäftigen. In ihrem Beitrag mit dem Titel “Sehnsucht nach Zukunft” geht Christel Weiler der Frage nach, “wie sich in verschiedenen Bereichen des theatralen Feldes gegenwärtig Jugend und Theater zueinander und beide gemeinsam zum Thema Zukunft verhalten.” Die von Weiler untersuchten Beispiele reichen von einem Projekt mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund am Berliner HAU bis zu dem viel beachten Dokumentarfilm und Tanzprojekt Rhythm is it, das in Zusammenarbeit mit der Berliner Philharmonie entstand. Sowohl der Film als auch das ihm zugrunde liegende Tanzprojekt verfolgen ein explizit pädagogisches Programm - der Untertitel des Film lautet “You can change your life in a dance class” -, so dass es im weitesten Sinne zur Kategorie der Theatervermittlung gehört, diesem ‘Wundermittel’ für alle schwelenden ‘Beziehungsprobleme’ zwischen Kunst und Öffentlichkeit, wie Myrna-Alice Prinz-Kiesbüye und Yvonne Schmidt es in ihrem Beitrag “Theater für alle, aber nicht von allen? Spannungsfelder und Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 3-4. Gunter Narr Verlag Tübingen 4 Christopher Balme Perspektiven der Theatervermittlung” treffend-ironisch formulieren. Das Thema der Kulturbzw. Theatervermittlung ist insofern stark zukunftsgerichtet, als die Kulturpolitik und damit der Hauptsponsor des Theaterwesens im deutschsprachigen Raum ‘Vermittlung’ als Lösung für die meisten anstehenden Legitimationsprobleme für kulturelle Institutionen entdeckt hat und unermüdlich propagiert. Vermittlung soll dafür sorgen, ein “Publikum der Zukunft” zu gewinnen. Die Autorinnen deuten darauf hin, dass die Propagierung der Vermittlung in ihren inzwischen recht komplex gewordenen Ebenen eine Krise der Kunstinstitutionen bloß legen. Die neue Diskussion über Vermittlung legt nahe, dass die Institutionen selbst - die eigentlichen Vermittlungsinstanzen von Kunst - nun der Vermittlung bedürfen: wir befinden uns gleichsam auf einer Ebene der Vermittlung der Vermittlung. In beiden Aufsätzen ist die Frage der kulturellen Differenz zentral, die im Überblicksartikel zum interkulturellen Theater von Patrice Pavis im Mittelpunkt steht. Es ist besonders erfreulich, dass Pavis, der Anfang der 1990er Jahre zu den wichtigsten Theoretikern des interkulturellen Theaters gehörte, die gegenwärtige Lage erneut betrachtet. Sein Resümee knüpft insofern an die bereits genannten Artikel an, als Interkulturalität weniger als theaterästhetisches Beschreibungsproblem, sondern als politisches Handlungsdesiderat betrachtet wird: “The question is: can intercultural theatre transform itself into a theatre of urban cultures in the suburbs of our larger French and European cities? ” Hier sind wir wieder bei dem “Publikum der Zukunft” angelangt. Die weiteren Artikel repräsentieren die zunehmende Bandbreite des Fachs und des editorischen Spektrums. Ausgehend von Deleuzes Bildtheorie untersucht Katarina Kleinschmidt das erneute Interesse an der Pose, einem Moment der Bildwerdung im Tanz. Die Fortsetzung der Artikelserie Theater und Emotion mit dem Beitrag von Julian Klein, “Emotionstheater? Anmerkungen zum Spielgefühl” zeigt, dass die Zeitschrift auch einen Dialog mit künstlerischen Positionsbestimmungen sucht, und ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal der Theaterwissenschaft im Feld der geisteswissenschaftlichen Fächer markiert. Robert Cardullos Auseinandersetzung mit George Bernard Shaws vergessenes Frühwerk The Philanderer knüpft an die Anfänge der Zeitschrift an und erinnert uns daran, dass die Analyse von Dramen auch zum Arbeitsfeld der Theaterwissenschaft gehört. Besonders erfreulich finde ich den Beitrag in unserer neuen Rubrik Relektüre von Peter W. Marx, der sich mit dem Diskurs zur Welt im Werk Hans Blumenbergs auseinandersetzt und unseren Blick auf einen anregenden Denker lenkt. Zum Schluss möchte ich daran erinnern, dass mit diesem Heft gleichzeitig ein Sonderheft zur Situation der Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum mit aktuellen Angaben zu den Instituten erscheinen wird. München 2010 Christopher Balme Intercultural Theatre today (2010) Patrice Pavis (Paris) What does the term ‘intercultural theatre’ mean today? The question seems paradoxical, or even provocative, as all kinds of cultural exchanges regulate our daily life and any artistic adventure goes back to the most varied sources and audiences. And indeed, we have moved a long way from the intercultural experiences of the 1980s of a Peter Brook or an Ariane Mnouchkine. Interculturalism, a fairly new term (1970s) which was once a contested notion, has become a very common thing. It might be therefore worthwhile to examine what this notion refers to and to find out if it can be of any use to describe today’s theatre and performance. I) CRISIS OR NORMALIZATION? 1) Recent historical landmarks The fall of the Berlin wall and of communism in 1989 represents a turning point for intercultural thinking. It means the questioning, or even the disappearance of the universal principle, as well as of proletarian internationalism, which functioned as the finest jewel of socialism. It puts an end to an ideology which maintained by force the different states of Eastern Europe under its protective wing (in the Soviet Union or in Yugoslavia). Intercultural theatre becomes the best suited formula in a world with no open conflict between nations or between classes, the best adapted and available solution to the law of the international market and to the progressive disappearance of borders and nationstates 1 . In the last ten years, borders of all kinds seem to escape any control: since 1989 the political and geographical borders are fluid; after 9/ 11 terrorism escapes surveillance; since 2008 capitalism itself seems out of control. In the 1970s and 1980s, interculturalism was rather welcomed by all political powers, right or left, because it seemed willing to establish a bridge between separate cultures or ethnic groups which used to ignore or fight one another. After 9/ 11, however, a certain fear of lesser-known cultures sometimes leads to a suspicion of intercultural performance. This might be a sign that the metaphor of the exchange between cultures, between past and present, no longer functions very well and that one should at least reconsider its theory. The theory and practice of intercultural theatre of the eighties seem to be left behind by current theatre and performance. As if they could no longer be thought of in terms of national or cultural identity. So what happened in these last twenty years, while politicians kept advocating intercultural cooperation? 2) “Theatre as foreign to society” According to Robert Abirached, theatre has become foreign to contemporary society (at least in France): “Until about 1970, the audience was aware of its unity. It was a national audience. The National Popular Theatre was the theatre of the nation, a nation whose objectives, references, collective symbols were common to all. This culture was common to the people and the bourgeoisie. This society exploded, for many reasons: there was an increasingly brutal differentiation between Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 5-15. Gunter Narr Verlag Tübingen 6 Patrice Pavis suburb and city centre, between populations coming from outside with their own culture and French and European culture. Instead of a coherent audience, we had a multiplication of micro-societies, which created their own theatre 2 “. The intercultural theatre of the last forty years is a possible answer to the fragmentation of audiences and genres. Indeed, it attempts to broaden the national and political perspective by approaching “foreign” cultures. These cultures are mixed according to a central vision, that of a (usually Western) director. Interculturalism-one tends to forget italso functions the other way round: whenever a non-European culture uses European classics, it still maintains its own culture of stage traditions. So one should also open the debate to the way all these cultures/ nations/ theatres handle European or American authors and themes, with what presuppositions, intentions, and with what prejudices and prohibitions. Surprisingly, in Europe and everywhere else, Western intercultural theatre did not become a new genre which would federate all other genres, and, paradoxically, it even transformed itself into a globalized theatre. 3) Crisis of national identity This deep transformation can be largely explained by a change of cultural as well as national identities. With the end of the two competing political and geographical blocks, with the domination of a global, supranational economy, the different nations, minorities and identities seem to “reawaken”, they grasp that no central power can control them any long. But at the same time, they lose their economic and symbolic power, since they now depend on a global economy. The slow, but inexorable disintegration of the nationstates (at least as far as real power is concerned) confirms the disappearance of isolated cultures, bound to nation-states and geared to large distinct entities. From that moment on, the intercultural becomes the general rule, it is no longer controllable or manageable by nation-states and by intellectuals who claim (in vain) to represent them. In the same manner of the evolution of the world population and of the migrations (according to Appadurai), cultures and TV viewers are deterritorialized 3 . Instead of distinct entities, we now have different “communities of sentiments 4 “. Confronted with this loss of identity, two opposing reactions are frequent: either a sudden tough line insisting on identity, a strained resistance, critical of any change, an attitude which becomes quickly reactionary or even racist and which seeks to re-establish at any cost the national identity; or, on the contrary, a postmodern casualness, an economic laissez-faire, an acceptance of the change of times, an ironical rejection of any resistance and of any theoretical explanation, and finally an acceptance of the commodification of culture. II POLITICAL AND THEORETICAL CRISIS 1) Crisis of political correctness An original sin weighs heavy on intercultural theatre and this argument is relentlessly used by the self-declared defenders of the non- Euro-American cultures treated by Western directors: interculturalism is seen to exploit shamelessly foreign cultures, to behave like a colonizer 5 . We all remember the furious attacks of Rustom Bharucha against Peter Brook’s orientalism or against the Western theorists of the intercultural movement. We heard repeatedly the same accusations of colonialism on the part of the West against these defenceless countries: directors are accused of plundering themes and styles with Intercultural Theatre today (2010) 7 no consideration for the true cultural identities of these cultures. These attacks might have tempered the artists’ enthusiasm, but they obviously did not stop an irrepressible move. They might partially explain the relative failure and decline of this current of contemporary theatre production. And, admittedly, Dennis Kennedy is right to say that the intercultural movement was not able to position itself between the traditional productions of the classics and the deconstructions (inspired by Derrida). Deconstruction, such as practised by the French director Antoine Vitez for instance, viewed cultural and festive theatre performances as moralizing and naive, only appropriate for a harmless festival or for an evening gathering of boy-scouts around a bonfire… But “times are a changing” (as Bob Dylan used to say! ): mise-en-scène no longer attempts to signify metaphorically a country or a period through another culture far away in time and space. It no longer feels the need to invigorate its domestic theatre with exotic, more or less aphrodisiac products which so deeply inspired Antonin Artaud. It no longer dares to claim, as Mnouchkine did, approvingly but naively, that “theatre is Oriental”. Whereas artists often have a natural relationship to other cultures, devoid of complexes, intellectuals and well-meaning spectators are terrified by the possible faux pas in the representation and appreciation of the Other and of this other culture. 2) Crisis of theory The theory of cultural exchanges and of interculturalism goes through a crisis, because the model of exchange, of communication and of translation, and also of “the gift”, in the anthropological sense, and of sharing, no longer functions appropriately to describe these hybrid works. These works no longer need to define themselves as a confluence of cultures, as if it were an obvious goal. Indeed, what would be the point of an intercultural theory if cultures are already intertwined? The usual distinction between interand intracultural is not always easy to establish. The distinction between cross-cultural and intercultural (or transcultural) is useful, but also purely theoretical: ‘cross’ is supposed to suggest the mixture, hybridity (as in ‘crossbreeding’), whereas ‘inter’ or ‘trans’ is supposed to refer to the universal similarity, in the sense of Grotowski, Barba, or Brook. These three directors, for instance, have been criticized for their exploration of theatrical universals, which supposedly exist in any culture. They have been attacked because of their lack of concrete political or historical analysis. Brook has been accused of having an essentialist vision of the human being, which was reduced to some human link, an essence perceptible in whatever context. Barba is said to be searching within the pre-expressive for supra or even pre-cultural properties, which are common to all existing forms of performance and dance. This kind of reproach is not unjustified, but it applies much less to the more recent productions of Barba, Mnouchkine or Brook, and of many others. The example of Peter Brook’s last production, Eleven and Twelve, as we shall see below, points to the dilemma of intercultural theatre, to its two temptations: either to present a universal, or even universalist, vision of the human being, and bring down the wrath of the eulogists of cultural difference upon oneself; or, on the contrary, to insist on the specific character of each culture, to refuse any fusion and any synthesis, and consequently to move towards an extreme case of particularism, which quickly degenerates into multiculturalism, or even sectarian communitarianism. As Ernesto Laclau has shown, leftist parties and democratic reflection have wavered for a long time between these two positions: “democratic discourse was centred on equality beyond difference. This is true for 8 Patrice Pavis Rousseau’s notion of “volonté générale” (general will) as well as for the Jacobinism of the class which is supposed to bring emancipation according to Marxism. Today, on the contrary, democracy is bound to the recognition of pluralism and difference. Intercultural theatre cannot escape such a debate. It cannot avoid the question of its socio-economic basis and the political and economic analysis of the transformations created by globalization. Before we embark on this analysis, however we must acknowledge the great diversity of interculturalism and of the related genres. 3) Transformations of intercultural experiences The denomination ‘intercultural theatre’ is falling out of use. The term ‘intercultural performance’ would be more suitable to signal from the outset the opening to very different ‘cultural performances’. Intercultural performance can be distinguished from the following genres, of which it is often a variant or a specialization: * Multilingual theatre, in such multilingual zones as Catalonia or Luxemburg, relies on the bior multilingual competence of the audience in order to constantly change the language. A comedic performer and stand-up comedian like Fellag (from Algeria) constantly moves from French to Arabic or Berber, depending on the cultural allusions or untranslatable idiomatic expressions or puns. * Theatre in the original language (as in film) is often given subtitles, or rather surtitles, which allows for an original and appropriate reception, while letting the audience hear the original text with the albeit restricting option to read it. * Syncretic theatre uses textual, musical, and visual material which it borrows from several cultures, particularly indigenous cultures which are thus mixed with European forms, and often deal with problems of colonialism or neo-colonialism. * Postcolonial theatre connects the dramatic world and writing, for instance of Derek Walcott or Wole Soyinka, with the language and the culture of the former colonizer, but also enriches this language and culture. The mise-en-scène borrows from performing techniques of the original culture by confronting them with the more European practices of the former colonizer. * Creolized theatre and (more often) creolized poetry look for the encounter, the difference, the relationship, of writing “in presence of all languages of the world” (Edouard Glissant), so as to better fight the standardizing globalization. They refer above all to the language, enriched in a Tout-monde (all-world), which, however chaotic and unpredictable, is far from multiculturalism. * Multicultural theatre, in the strict and political sense of the word, does not exist, because it would deny the salutary contacts and exchanges between different cultures. In the same manner, a communitarist theatre, which would lock itself in just one culture, religion or community, would only have an internal and closed visibility. * In contrast, a community theatre is working for a local or regional community in the broad sense of the term, not for a community sealed within itself. * Minority theatre is not necessarily intercultural. It aims at ethnic or linguistic minorities, without trying or desiring to isolate itself from the multicultural society in which it develops. Some playwrights come from the African-American or African-British or Asian-American minorities: e.g. in England, Roy Williams with his play Joe Guy (2007) or in the United States Sung Rno with w(A)ve. Intercultural Theatre today (2010) 9 * Theatre for tourists, which is obviously not presented as such, exists in countries dependant on tourism and which wish to offer Western tourists an accessible, exotic and presentable image of their native culture 6 . * Festival theatre is directed at an international and often expert audience. It seeks to adapt itself to the fashions and expectations of the time, to make its culture accessible to an international audience by all sorts of compromises. * Cosmopolitan theatre, as it is called in accordance with the research of Appadurai, Reinelt 7 or Rebellato, tries to differentiate oneself from a performance which is more globalized than intercultural. Supposedly, it is “distinct from the ethics governing globalization.” 8 All these categories which have something in common with the intercultural movement are often interconnected and the list is open. All feel the impact of globalization. So does intercultural performance amount to a globalized theatre? III FROM INTERCULTURAL THEATRE TO GLOBALIZED PERFORMANCE: RECENT EXAMPLES If it is true that culture is a reality which seems to dwindle irremediably before one’s very eyes, how could intercultural theatre itself not be in complete and constant mutation or even disintegration? But are we confronted with shows which have become incomprehensible, or with shows which may no longer be considered politically correct? Let us put aside cases of extreme commodification: they have been thoroughly studied by Dan Rebellato in his analysis of megamusicals (like Cats) and of what he calls ‘McTheatre’. Beginning with three recent typical cases of globalized interculturalism, let us examine whether the genre of intercultural performance has renewed itself and in what directions it has evolved in the last ten years. Can we still talk about ‘intercultural performance’, and can it renew itself, in spite of the socio-economic constraints of globalization ? 1) Historical discrepancy and rewriting: Michel Vinaver and Oriza Hirata For the first time in his career, Vinaver allowed another author to adapt, and even rewrite one of his plays: the Japanese playwright Oriza Hirata adapted Vinaver’s play Par-dessus bord (Overboard) into a Japanese context, but the transposition was not purely linguistic and geographical, from France to Japan. The shift was from a family-owned French toilet paper company in the 1960s to a Japanese multinational producer of toilet bowls, which has just been bought by a French company. The comic dimension of the work is produced not only by the difference of method between the classical European use of toilet paper and the Japanese practice of water and warm air flow. It arises, as in Vinaver’s original play, from the discrepancy between the trivial, scatological aspect of toilet paper and the reality of economic mutations. Both the socio-economic issue and the intercultural dimension have been considerably modified. By historicizing Vinaver’s play, by transposing it to contemporary Japan, the director Arnaud Meunier invents a new form of theatre which is at the same time political and intercultural. The meeting of two writings and styles, a rare occasion in intercultural experiences, considerably enriches this genre, which is too often limited to the confrontation of acting styles. The assembling of themes and dialogues is already accomplished in the adaptation. There is no more need to confront and assemble different national 10 Patrice Pavis styles, different performing traditions. What is more important is the difference of work culture and ethics. The acting style of the Japanese actors is Western: they sometimes speak in French and their French colleagues try their Japanese. But this does not make a fusion French-Japanese performance, even if the director defines his style as ‘fusional’. Not only is there no cultural fusion, but the point of the play of Vinaver-Hirata is that there is no possible synthesis and meeting in the economic field as well as in the life style and affectivity. More than the idea of an impossible fusion in this new type of interculturalism, we can observe the very rare convergence between a deep economic concern and an epidermal sensibility to cultural difference, even if this can only be experienced at the level of human skin, with or without toilet paper. 2) Deterritorialization of the ethnoscape: Robert Lepage’s The Blue Dragon Robert Lepage’s theatre offers numerous examples of globalized theatre, not only by its mode of production, of rehearsal and its global and international functioning, but because of its themes. The Blue Dragon, a kind of continuation, twenty years later, of The Dragon’s trilogy, offers all the ingredients of intercultural theatre: it tells the story of Pierre, a Québécois who came to China to study calligraphy and painting, and of Claire, his former friend , who visits him and would like to adopt a Chinese child. Xiao Ling, Pierre’s new girl-friend, is now expecting Pierre’s child… The characters travel between the cultures, but they do not embody them and they do not attempt to synthesize them. The rather stereotypical Chinese cultural elements are like the projection of their and our imagination. This cultural model, Québécois or Chinese, has nothing fixed and identitybound, and no identifiable local substance; on the contrary, it has a volatile shape. It seems to correspond to Appadurai’s definition of today’s non-substantial, volatile cultural elements: “Culture thus shifts from being some sort of inert, local substance to being a rather more volatile form of difference.” 9 This culture constructs what Appadurai calls an ‘ethnoscape’: “the landscape of persons who constitute the shifting world in which we live: tourists, immigrants, refugees, exiles, guest workers, and other moving groups and individuals constitute an essential feature of the world and appear to affect the politics of (and between) nations to a hitherto unprecedented degree.” 10 The three characters of The Blue dragon, in the same manner as the inhabitants of our real world according to Appadurai, are no longer the prisoners of a fixed national identity, they are above it, in the air, constantly displaced, free as a bird, changing their identity according to their current needs. The epilogue of their story has three possible endings, which are acted out successively, thus indicating that there is no longer any concluding, moralizing narrative and that all depends on the audience’s choice. So the ménage à trois functions well, although in a void, as if one no longer could connect their story with the reality, a globalized and optional reality. The narrative of their meetings is fluid, like these migratory flows of today which, according to Appadurai, move in a delocalized ‘transnation’, thus replacing the geographical and cultural identities of sixty years ago. 3) Performing identity: Guillermo Gomez-Pena: Ethno-Techno In his whole activity as a performer, Gomez- Pena tackles the problem of national and ethnic identity. As a Mexican living in the United States, he knows perfectly well the difficulties of the Chicanos to integrate into Intercultural Theatre today (2010) 11 North American society. The performer naturally endeavours to test the limits of “intercultural political correctness”. His own body (or here the Club Girl’s) is the battlefield, the field of provocation which he uses in order to observe the inscription of the different identities, particularly ethnic, racial, sexual and political, on his own body. By exaggerating the grotesque effects of all these identity markers, he challenges the dominant ‘good taste’, while revealing the constructed character of identities. Performance art becomes the best way to denounce the idealization of anthropological theatre. Each sketch of Ethno-Techno deals with a specific difficulty of establishing and grasping identity; it questions any retention of cultural harmony or of stable identity, of any idealized understanding between peoples or groups. For instance in The Kabuki club girl, we have a rapid succession of colour photos centred on the face, on the half open dress and on the attitudes of what seems to be a Japanese Geisha; at the same time music (percussion) gives every filmic shot a strong impulse. This alternating montage underscores the violence perpetrated on the Kabuki Club Girl who is humiliated by the camera - i.e. by our gazetaking shot after shot, forcing her to uncover hidden parts of her body. In between these (actually very beautiful) shots in red, the film inserts black and white photos of a Western fashion show in front of an obviously fascinated African audience in their own country. Locked in their minibus, where they change clothes, the white models get ready, eat a biscuit, under the greedy and curious gaze of the African people. The models only exist in the gaze of the other, in the same manner as the Japanese Girl has to tease the customers by breaking the cultural code of the Japanese Geisha: a slack body attitude, a half open traditional dress. The incompatibility of two worlds, or rather three worlds, Japanese, African and Euro-American, the shock of colours, of musical rhythms, all this refers to an impossible synthesis, harmony or reconciliation between different cultures. This visual provocation presents more than a long theoretical discourse on globalization. Thanks to this type of performance, Gomez-Pena gives a new life and a new impulse to a ‘correct’, but frightened intercultural theatre. The actor’s body is the location where the violence of mercantile relationships can be made visible. Resistance to cultural identity and promotion of the aesthetic: Robert Wilson , Akram Khan. Let me take two examples of another use of different foreign cultures, not in the sense of exchange of identities, but as a means to an aesthetic re-creation, or rather a new creation: Robert Wilson (with the example of Puccini’s opera Madame Butterfly) and Akram Khan (with a contemporary choreography inspired by Indian traditional dance Kathak). Bob Wilson’s productions around the whole world are definitely a good example of a globalized management of theatre. The different components of his productions, often elaborated in different locations, are exchangeable, assembled and disassembled according to the theatres and performers, loaned out, subcontracted by collaborators who prepare materials in advance before the final gaze, assemblage and final word of the Master. However, the mastering of all the stage elements does not aim at confronting cultural systems, or at respecting any assumed authenticity in the representation of cultural allusions. The only thing that counts for Wilson is the purely aesthetic precision and abstraction, the process of refining and concentrating the artistic matter. In this respect, and as we see in Wilson’s Madame Butterfly, one certainly can discover here and there the influence of a given civilization or even of a work typical of a given geographic area, but the important and essential issue is not in the system of cultural quotations or in the exact- 12 Patrice Pavis ness of the comparisons. Hence this fruitful paradox: Wilson can be at the same time located in the continuity of American contemporary art (like minimal art, abstract expressionism, pop art, painting of Rothko) and in the sensibility of Buddhist art of the Far East. The result thus is purely aesthetic, with no concession made to any ethnic belonging or any anthropological exactness. The question of identity, of a cultural specificity, does not apply, because Wilson has knowingly put aside any fidelity to any existing cultures. (Although, this might be characteristic of a postmodern North American attitude, perhaps? ). This implies a perfectly mastered use of gestures, a hieratic, simple but coherent acting style, which does not distract the spectator from the voices, the music, and the scenography. Any sense of cultural belonging (Japan, Italy, the geographical origin of the singers, etc.) is seen as irrelevant, as only distracting from music, painting, from l’art pour l’art. This “postnational order” (to use Appadurai’s term) now appears almost everywhere, and particularly in the political system of the United States; it can be sensed, so to speak, in this kind of international art, which is intentionally detached from any recognizable ethnic belonging. The price to pay for this cultural erasure is a drifting away from any psychological or social verisimilitude, which, in a way, diminishes considerably the pleasure taken in the story-telling and the reality effects, as if they could alienate us from the pure vocal, musical, gestural and scenographical performance. The method is different in the choreography of Akram Khan, a dancer and choreographer based in London. Khan uses as a base his own traditional Indian dance, Kathak, and invents his own choreography for a group of five dancers (including himself), using a musical adaptation with a slightly rhythmical pattern. By putting his dancers in a space conceived by the sculptor Anish Kappour, Khan stretches the codified movements of the Kathak tradition by using short repetitive patterns. The overall choreography keeps the same rhythmic pattern, while allowing the bodies of the performers to inscribe themselves clearly and synchronically in the space. More than a transfer of an Indian tradition towards a Western dance pattern, we have here an extension of the principle of composition, sometimes using simultaneous repetition, sometimes a slight asynchronous moment with the same sequence. The Indian basic pattern remains the point of departure for the music and the repetitive choreographic figures. 5) Return to a simple narrative: Peter Brook Brook’s latest production, Eleven and Twelve, reveals the considerable evolution of intercultural theatre since the beginnings of interculturalism in the 1970s and it proves, if need be, that globalization does not necessarily mean the impossibility of a return to what he calls a poor, immediate and rough theatre, as Brook practiced it, particularly before his time in France at the International Centre for Theatre Research and before his travels to Africa at the beginning of the 1970s. The play, inspired by the narrative of the African writer Amadou Hampâté Bâ, Vie et enseignement de Tierno Bokar (The Life and teaching of Tiernio Bokar), tells the story of this real person, a Sufi master, of whom the author became a disciple. The play shows two religious individuals in conflict because of futile theological arguments. When confronted with the French colonial administration, they will finally be reconciled. Bokar is a wise man of the Moslem faith, and not the other way around. Beyond any religious affiliation, the exchange is human and tolerant. The narrator tells and dramatizes a few scenes from the life of the wise African, where common sense and tolerance go hand in hand. Intercultural Theatre today (2010) 13 It is only in their opposition that the cultural traditions can be defined. Everything in the acting, in the characterization, in the use of the body, helps us distinguish, sometimes as in a caricature, the colonizers from the colonized, European arrogance from African common sense. Two types of culture, two ways of governing and of seeing life are contrasted: not only physical appearance, but the way of holding one’s body. This kind of interculturalism “light” renounced the idea of explaining the main cultural traditions as for instance in Brook’s dramatization of The Mahabharata (1985). It consists merely of a few cultural leftovers concentrated on a few objects, or of a beautiful light which reminds us of Africa, or of several different English accents. These details correspond to the representation of Africa in the old days. They have little in common with our current life, with the lives we can immediately perceive outside when we leave the Théâtre des Bouffes du Nord: here we could immediately experience other ways of living, other transplanted cultures, a whole new politics of migrations and of the circulation of minorities, whose mobility has been examined by Arjun Appadurai and Marc Augé, a mobility in space more than a mobility in time. In his reference to Africa, Brook avoids any kind of exotic performance thanks to his use of actors of different origins, thanks to a very warm way of lighting the show, and to simple and poor objects. Africa and religion, it is suggested, are universal. The important issue remains the human encounter, which was and remains a fundamental feature of intercultural approach. A return to origins? CONCLUDING REMARKS 1) In the 1970s, when it was thriving, intercultural theatre, was taught its first lesson and given its first prescriptions. Since then, the nature and the conception of this theatre, clumsily called ‘intercultural’, have considerably evolved. Times have radically changed. The effects of globalization on our way of doing and understanding theatre are increasingly evident. Hence the renewal, or the complete mutation of interculturalism; hence our growing consideration for the phenomena of globalization, our will to think of theatre according to the world which produces and receives it, taking into account its socioeconomic and ethical dimensions. 2) The reflexion on globalization and its impact on theatre allowed us to modify our vision of intercultural performance, which used to be too dependent on the essentialist and often normative conceptions of the 1970s, a vision too obsessed with the legitimacy of representing another culture. 3) The main difficulty today seems to be to find the connection between the work of sociologists and economists on globalization, for instance of Appadurai, and the renewed possibilities of interculturalism in the arts. What could for instance be the link, in current theatre production, to the new mode of consumption, what Appadurai calls the ‘aesthetics of the ephemeral’, to current theatre production? 4) The examples shown here obviously do not cover the whole scope of intercultural performance. In a way, they are already out of fashion, because they no longer correspond to the evolution of society (at least French or European society). This is so, because intercultural performance is a notion which stems from the 1960s, from the utopia of social mixture, of hybridization, of social progress, of sharing rather than plundering. Many sociologists and anthropologists like Arjun Appadurai or Marc Augé no longer speak of cultures in contact or of exchange between cultures, 14 Patrice Pavis and prefer to use the adjective ‘cultural’, in order to indicate the volatility of the notion of stable culture. Nowadays we more often find cultural components suspended in the air, components, which no longer rely on ancestral traditions or on a location and a time where these cultures would have been kept. In the France of the suburbs, cités (deprived estates) and even of towns, there is hardly any intermixture of cultures, or only at the fantastical level of a few subsidized theatres which might invite the population of migrants or of the French “issus de l’immigration’ (descendants of immigrants) to take part in a writing workshop or in a public performance (for instance in Stains, Gennevilliers, Nanterre). So we end up with this sad paradox: the call for a dialogue of cultures is often nothing but an empty, demobilizing and apolitical slogan. The question is: can intercultural theatre transform itself into a theatre of urban cultures in the suburbs of our larger French and European cities? 5) Whatever the answer is, we have come a long way from the “classical” interculturalism of the 1980s. We no longer believe in an authentic national identity, in a culture which would belong to a single nation or people, which would be embodied by an organic Intellectual who would speak in its name. We now have to conceptualize national or cultural belonging differently, we have to reveal its inconsistency, its myth, its mystification. In short, we have to water down our country wine and our ‘us us us’ culture with some postmodern or relativistic water. The “diasporic public spheres” Appadurai talks about, with their mixed, multi-ethnic and multiple identities, are no longer based on fixed identities, on defined belongings, but on clusters, on regroupings of practices. We can no longer hope to have the cultures meet. At best we can regroup these clusters. This new situation finds a certain correspondence in the way mise-en-scène in the last twenty years seems to be functioning. Indeed, mise-enscène in this lapse of time, in response to this cultural confrontation, is already a mix and a cluster of practices from and for the stage. For instance, the dramatic text is already intertextual, it is written and performed for and in concrete bodies; each gesture is already quoting other gestures; music is a crucible for other types of music; bodies are mixed, hybrid in their appearance. So theatre, whether called intercultural or not, is made of composite materials, is made of body and mind. This is the reason why the intercultural mix happens almost automatically. All theatre production is an intercultural production, which makes its analysis so difficult. 6) What if the intercultural were in fact only an interartistic practice, a form of interdisciplinarity, a crossing, a confrontation and an addition of arts, of techniques, of acting modes? Take for example the integration of hip hop in contemporary dance, take this fusion of Baroque music, of classical dance and hip hop in the choreographic work of Dominique Hervieux and José Montalvo: Are these cultures? Certainly not in the ethnological sense of the term, but definitely in the sense of high culture which ends up integrating a popular, marginal, parodical culture. Or maybe it is the other way round? Interdisciplinarity itself contains different disciplines, which themselves are composed of different (foreign) cultures and of several cultural levels. 7) Let’s bet that intercultural theatre, if it wants to live on or even merely continue to exist, will have to recover, or even discover, its sense of humour; that it will have to learn not to take itself too seri- Intercultural Theatre today (2010) 15 ously, to be able to laugh about itself, about its limitations and its failures, its future and its origins, however sacred they might be; that it will remember that it is, after all, only theatre art 11 … Notes 1 See Arjun Appadurai. Modernity at large. Cultural dimensions of Globalization, University of Minnesota Press, 1996. 2 Robert Abirached, “Le théâtre étranger à notre société”, Forum du Théâtre européen. 2008, Nice, Du Théâtre, n°17, Juin 2009, p.241. 3 Appadurai 1996, p.4. 4 Appadurai 1996, p.8. 5 For instance, according to Dan Rebellato, “theatre scholars have tended to consider it an instance of ‘interculturalism’: the contested and controversial history of Western theatre’s attempt to co-opt (usually) Asian forms to invigorate its own culture.” (Theatre and Globalization. London, 2009, p.3.) 6 See Dennis Kennedy, op. cit., Ch. 5, “the Spectator as tourist”. See also : Christopher B. Balme. Pacific Performances. Theatricality and Cross-Cultural Encounters in the South Seas. London, 2007. In particular, Chapter 7: ‘As You Always Imagined it’: The Pacific as Tourist Spectacle. 7 Janelle Reinelt, “What is Political Theatre Today? ”, STR Lecture report, Wickham Lectures, 2008. 8 Rebellato 2009, p.71. 9 Appadurai 1996, p.60. 10 Op. cit., p.33. 11 My thanks to Les Essif for checking the English of this lecture delivered at the University of Tennessee in February 2010. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de NEUERSCHEINUNG OKTOBER 2010 JETZT BESTELLEN! Friedemann Kreuder Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts 2010, 175 Seiten, €[D] 39,90/ SFr 56,90 ISBN 978-3-7720-8345-7 Die Studie zielt, ausgehend von den Theaterarbeiten des Wiener Bernardon-Darstellers Joseph Felix von Kurz, auf die Erforschung der Poetik und Ästhetik anderen Theaters im deutschsprachigen Raum, das in der Theaterhistoriographie weitgehend unterrepräsentiert geblieben und unter dieser Fragestellung noch nicht untersucht worden ist, vorwiegend unter dem Aspekt seiner Gleichzeitigkeit mit dem bürgerlichen Theater. Es geht hier um Spannungen „anderen“ Theaters zum bürgerlichen Modell in erster Linie im Sinne von künstlerisch produktiven Interdependenzen. Die traditionellen Verfahrensweisen commedia dell’arte-inspirierter Theaterformen unterlagen im neuen Kontext des bürgerlichen Zeitalters einem Bedeutungswandel, ihnen eignete das Potential der Thematisierung alternativer Modelle von bürgerlicher Identität mit theatralen Mitteln. 085410 Auslieferung Oktober 2010.indd 2 23.09.10 14: 13 Sehnsucht nach Zukunft Christel Weiler (Berlin) Ausgangspunkt ist zunächst die Annahme, dass das Theater auf mehreren Ebenen als zukunftgenerierende Institution gesehen werden kann: Der Vorgang des Probens und Inszenierens selbst lässt sich beschreiben als Prozess der Hervorbringung eines künftigen Ereignisses; der Vorgang der Wahrnehmung und der Bedeutungszuschreibung ist charakterisiert durch Vorwegnahmen und Erwartungen; schließlich und endlich wird in zu inszenierenden Texten auf einer inhaltlichen Ebene die Frage verhandelt, wie Zukunft zu gestalten ist und welches Verhältnis wir dazu einnehmen. Insbesondere mit Blick auf ein jugendliches Publikum und ebensolche Akteure scheinen Fragen nach der Zukunft von zusätzlicher Relevanz. An drei konkreten Beispielen: dem dramatischen Text Vaterlos von Claudius Lünstedt, der Inszenierung von Warngedicht durch das Berliner Regieteam Yig it und Prlic´ , sowie der filmischen Dokumentation (Rhythm is it) einer choreographischen Probenarbeit zu Sacre du printemps werden deshalb unterschiedliche Konzepte und Haltungen zum Thema “Jugend und Zukunft” vorgestellt und diskutiert. Die Ausgangsfrage für die folgenden Reflexionen lautete: wie verhält sich Theater - im weitesten Sinne - zu Zukunft. Nicht zuletzt weil Theater als Kunstform zu den Zeitkünsten gerechnet wird, finden sich darauf eine Menge Antworten, jeweils auch in Abhängigkeit davon, wie Zukunft als Phänomen gefasst wird. Diese Antworten lassen sich im Wesentlichen drei größeren Komplexen zuordnen, die Theater ausmachen: dem Probenprozess, dem Vorgang der Wahrnehmung des Theaterereignisses und selbstverständlich der inhaltlichen Dimension einer Inszenierung bzw. ihrer diskursiven Ebene. 1) Zukünftigkeit in der Zeitlichkeit des Probenprozesses und Ereignischarakter einer Aufführung Der gesamte Probenprozess ist ein Ort der Zukunftsproduktion insofern, als dort mittels der Proben und Inszenierungsvorgänge ein künftiges Ereignis vorbereitet wird. Sehr verkürzt lässt sich mit Blick auf die Hervorbringung dieses künftigen Geschehens sagen: die Theaterleute gehen aus von einem Text, einer Idee, der/ die häufig gemeinsam bearbeitet wird. Sie durchlaufen zusammen und jeder für sich einen Prozess des Ausdenkens, Ausprobierens, Gestaltens, Verhandelns, Entwerfens, Zusammenfügens, um an dessen Ende das, was geschaffen wurde, in einen neuen Zustand zu überführen. Dieser neue Zustand des Geschaffenen wird immer wieder Aufführung genannt. Er zeichnet sich dadurch aus, dass man versucht, etwas, nämlich die nun fertige Inszenierung, d.h. ein Konzept, eine Vorstellung von etwas wiederholt in einer immer wieder ähnlichen oder gleichen Qualität vor einem immer wieder anderen Publikum zur Ansicht zu bringen. Dies macht den Ereignischarakter der Aufführung im Theater aus: sie ist einerseits auf eine ganze Reihe von klaren Vorstellungen bezüglich ihres Ablaufs gegründet, durch den Vorgang der Wiederholung hindurch ist sie jedoch stets auch offen für Unerwartetes. Das Überführen der Inszenierung in ein Ereignis ist nie ganz gesichert. Es ist zwar geplant und geprobt, aber es wird auch stets wieder in neue Zusammenhänge gebracht, die es in Frage Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 17-32. Gunter Narr Verlag Tübingen 18 Christel Weiler stellen bzw. seine Realisierung als Ereignis immer wieder neu konfigurieren. Letzteres gilt in zweierlei Hinsicht: Der rein technische Ablauf einer Aufführung ist immer prekär, d.h. prinzipiell zwischen Gelingen und Scheitern angesiedelt. In der Abhängigkeit von materialen und medialen Gegebenheiten gestaltet sich für jede Aufführung ein potentielles Risiko, das kaum zu umgehen ist. Auf der Ebene des Ästhetischen bzw. als ästhetisches Ereignis wiederum kann die Aufführung in ihrem Gelingen immer nur in Relation zu den anwesenden Zuschauern gedacht werden. Was ihren Wert als ästhetisches Ereignis ausmacht, wird - pointiert formuliert - stets von Zuschauer zu Zuschauer und von Aufführung zu Aufführung neu bestimmt. Jede Aufführung schafft sich so als gelingendes ästhetisches Ereignis im Zusammenspiel von Bühnengeschehen und Zuschauerpräsenz immer wieder aufs Neue. 2) Zukunft als Thema Eine weitere Weise, wie sich Theater zu Künftigem und zu Zukunft verhalten kann, besteht darin, beides zum Gegenstand theatraler Phantasie und Reflexion zu erheben. Auch hier finden wir mehrere Möglichkeiten. Zukunft kann Thema auf der Bühne sein: in Tschechows Dramen zum Beispiel spielt sie in den Reden der Protagonisten häufig eine herausragende Rolle - so in den Drei Schwestern oder auch in Onkel Wanja, um die nicht erfüllte Gegenwart deutlich zu machen. Des Weiteren kann die dramatische oder theatrale Handlung in eine imaginierte Zukunft verlagert sein - denkbar wären Bühnenbearbeitungen des Romans Fahrenheit 471 von Ray Bradbury. Interessanterweise jedoch verbinden sich Theater und science fiction nicht allzu oft. So scheint sich auch das visionäre Verhältnis des Theaters zu Künftigem eher in Manifesten und Entwürfen zu artikulieren, denn in konkreten Ausgestaltungen auf der Bühne. Theaterhistorisch lässt sich das beispielsweise an den Raumphantasien Adolphe Appias ablesen, die zu seinen Lebzeiten keine Realisierung erlebten, aber im Nachhinein als Vorläufer der Visionen von Robert Wilson gewertet werden. 3) Zeitlichkeit der Wahrnehmung In einem sehr konkreten Sinne reicht Kommendes jedoch für jeden Zuschauer in den Akt der momentanen Wahrnehmung hinein: wir schauen und hören und eilen in Gedanken voraus angesichts dessen, was gerade vor unseren Augen und Ohren geschieht, um dann durch die Ereignisse auf der Bühne wieder eingeholt zu werden. Wir produzieren Erwartungen und bemerken sie erst dann, wenn sie enttäuscht werden; wir verstehen eine Rede oder Handlung erst dann, wenn sie abgeschlossen ist, also von ihrem Ende her. Das Theater macht uns also häufig klar, dass wir Gegenwärtiges erst in seiner vollen Bedeutung erfassen können, wenn es an (s)ein Ende gekommen ist (teleologische Konzepte). Aber es kann uns auch verdeutlichen, dass Künftiges schon in der Gegenwart angekommen ist und es keinen Sinn macht, von Ersterem etwas anderes zu erwarten als eben das, was bereits vorhanden ist (Konzepte der Immanenz). Im Theater ist der Vorgang der Wahrnehmung als solcher bereits ein Spiel in und mit der Zeit, mit Vergangenem, Präsentem und Künftigem - unabhängig davon, was an Gehalt auf der Bühne vorgestellt und verhandelt wird. Zeitlichkeit der wiederholten Inszenierung Eine weitere Dimension von Künftigem oder Zukunft erschließt sich mit Blick auf die Zeitlichkeit des Theaters selbst. Jede Auf- Sehnsucht nach Zukunft 19 führung hat nur eine begrenzte “Lebenszeit” oder anders ausgedrückt: nur eine knappe Zukunft. Sie reicht von einem einmaligen Ereignis, das keine Wiederholung kennt bis hin zu “Kultveranstaltungen” wie beispielsweise Marthalers Murx, eine Inszenierung, welche zwischen 1993 und 2007 auf den Brettern der Berliner Volksbühne in mehr als 200 Aufführungen zu sehen war (und interessanterweise den “Stillstand” der Zeit zum Thema hatte). An Murx war beispielhaft zu beobachten, wie sich Akteure und Publikum mit der Zeit wandelten und welch immer anderen Stellenwert eine Inszenierung im gemeinsamen Gedächtnis einer Gemeinschaft einnehmen kann: die Inszenierung wurde über einen relativ langen Zeitraum zu einem Teil der schauspielerischen Lebenspraxis, die Schauspieler wurden mit der Inszenierung älter und so veränderten sich Inszenierung und Schauspieler wechselseitig. Was die Seite des Publikums anbelangt, so gewann Murx im Lauf der Jahre immer neue Zuschauer, während sich gleichzeitig eine Art Gemeinde um das Ereignis herum bildete, die ein Vergnügen daran fand, die sattsam bekannten Witze, grotesken Situationen und seltsamen Gesänge immer wieder vorgetragen zu bekommen. Doch selbst diese relativ lang erscheinende Zeit wiederholter Aufführungen einer Inszenierung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Position des Theaters im kollektiven Gedächtnis nur eine vergleichsweise marginale sein kann. Man könnte sogar provozierend sagen: das Theater hat nicht zuletzt deshalb in unsrer Kultur einen hohen Stellenwert, weil wir es immer wieder neu herstellen. Im Feld des kulturellen historischen Bewusstseins besetzt es den Platz des fortwährenden Vergessens, weil es lediglich imstande ist, eine nahe Zukunft oder eine kurze Geschichte zu schaffen. Die Zukünftigkeit des Theaters - so können wir zusammenfassend sagen - zeigt sich also im Prozess seiner Herstellung, als Thema im theatralen Geschehen, in den Erwartungen und Annahmen der Zuschauer und in seinem Verhältnis zum kollektiven Gedächtnis. In meinen folgenden Überlegungen will ich eine weitere Spur verfolgen. Sie bedenkt die oben genannten Voraussetzungen, konkretisiert sie jedoch in einer thematischen, für die Gegenwart aktuellen Dimension. Ich will der Frage nachgehen, wie sich in verschiedenen Bereichen des theatralen Feldes gegenwärtig Jugend und Theater zueinander und beide gemeinsam zum Thema Zukunft verhalten. 1 Dabei habe ich drei Beispiele recht unterschiedlicher Art vor Augen: den Dokumentarfilm Rhythm is it, eine Inszenierung der Berliner Regisseure Tamer Yig it und Branka Prlic´ und einen dramatischen Text des Autors Claudius Lünstedt. Bei dem Film Rhythm is it handelt es sich um die groß angelegte Dokumentation eines “sozial-ästhetischen”, Musik, Theater und Tanz umfassenden pädagogischen Projekts der Berliner Philharmoniker mit Kindern und Jugendlichen aus so genannten Berliner “Problembezirken” 2 ; die Inszenierung Warngedicht, die zuerst am Berliner Theater Hebbel am Ufer 3 zu sehen war, stellt eindrucksvoll vier Jugendliche “mit Migrationshintergrund” in ihr Zentrum 3 ; in Claudius Lünstedts dramatischem Text Vaterlos schließlich gelangt - gebunden an die Beziehungen von drei Jugendlichen - auf sehr komplexe Weise eine Verflechtung von Mythos und Zukunft zur Anschauung. Jugend und Zukunft Die Auswahl dieser drei Beispiele hat ihre eigene Geschichte, die nicht unerwähnt bleiben soll. Von einem Kollegen gefragt, was ich mit der Zukunft des Theaters verbinde - ihm war eigentlich daran gelegen zu erfahren, ob das deutsche Regietheater in seinen letzten Zügen liegt - fielen mir ausschließlich die oben genannten Projekte, bzw. Texte ein. 20 Christel Weiler Hinzu kam noch Tim Etchells Arbeit That Night Follows Day, ein Theaterabend, in dem Kinder und Jugendliche nichts anderes tun, als in Variationen zu artikulieren, worin sie ihren Eltern folgen, bzw. was diese ihnen mit auf den Lebensweg geben. 4 Aus recht unterschiedlichen Gründen hatten alle diese Arbeiten etwas Faszinierendes für mich. Sei es, dass sie das transformierende Potential des Theaters in den Vordergrund rückten, sei es, dass sie berührend poetische Momente erkennen ließen oder gegenwärtige gesellschaftliche Probleme in einen neuen Horizont rückten. Die spontane Aufzählung dieser Arbeiten von und mit Kindern und Jugendlichen - dies wurde mir im Nachhinein deutlich - ist jedoch nicht allein diesen Qualitäten geschuldet. Vielmehr verdankt sie sich der Tatsache, dass sich mit Blick auf Kinder und Jugendliche die Frage nach der Zukunft automatisch stellt: sie sind diejenigen, in deren Händen die künftige Gestaltung von Gesellschaft und Kultur liegen wird, sie werden es schließlich sein, die das künftige Klima einer Gesellschaft bestimmen. Bezogen auf die persönlichen Biographien sehen wir die Jugend als eine Lebensphase des Übergangs. Das Voranschreiten der Jugend bringen wir in Verbindung mit der künftigen Übernahme von Verantwortung und Sorge um sich selbst, mit der in Aussicht stehenden eigenständigen Gestaltung des Lebens, vielleicht mit dem späteren Gründen einer Familie - in jedem Fall also mit dem zeitlichen Weiterführen von Gegebenem und Vorhandenem, aber auch mit der Neuordnung und Umgestaltung von Welt. Nicht zuletzt deshalb gilt uns die Jugendzeit als eine Periode der Gefährdung, welcher mit Blick auf die Zukunft besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Gerade weil Künftiges in hohem Maße davon abhängt, was im Bereich von Bildung und Erziehung für Jugendliche geleistet wird, wie gut es gelingt, Kinder und Jugendliche in bestehende Strukturen zu integrieren und ihre Bereitschaft und Fähigkeiten zu fördern, dafür Verantwortung zu übernehmen, muss es auch für das Theater von Interesse sein, dazu Stellung zu beziehen, bzw. sich zu diesen Anforderungen zu verhalten. 5 In meinen drei Beispielen wird es also darum gehen, darzulegen, wie das Theater als Institution mit dazu beiträgt, einerseits den Diskurs über Jugend und Zukunft herauszubilden, aber andererseits auch darin wirksam sein kann, Künftiges mit Jugendlichen selbst in die Wege zu leiten. Es wird zu zeigen sein, dass Theater in der konkreten Arbeit mit Jugendlichen Spuren legen kann, die ins Neue, noch Ungewisse führen und ein wichtiges Potential für die Zukunft bergen. In diesem Bildungs-Prozess kann dem Theater eine wichtige Rolle und Funktion zukommen. Zwei dieser Arbeiten - der Film und die Inszenierung - sind direkt in Beziehung zu setzen zu dem gegenwärtigen politischen Bemühen bzw. der damit verbundenen Debatte um die Verbesserung der Bildungschancen von Jugendlichen. 6 Sie eröffnen also auch Dimensionen soziologischer Fragestellung. Dem gegenüber bietet der dramatische Text von Claudius Lünstedt zunächst einmal zahlreiche Möglichkeitsräume für künftiges Inszenieren. Doch nicht nur das: in Vaterlos wird die allen dramatischen Texten zugrunde liegende Eigenheit zum Thema gemacht. Es geht um nichts weniger als um verschiedene Möglichkeiten der Zukunftsgestaltung. Deshalb möchte ich die Diskussion damit beginnen. Vaterlos 7 Bereits mit der Angabe der Zeit, in der sich die Leserin das folgende Geschehen vorstellen soll, verweist der Autor kurz und knapp darauf, dass Zukunft im Blick ist. “Die nächsten sieben Tage” heißt es nach der Nennung der Protagonisten (Felix, seine Mutter, Abadi, Lela, Organ, der Förster, der Aufseher) und der Bezeichnung des Ortes (Stadt am Meer Sehnsucht nach Zukunft 21 mit Waldzugang). In diesen nächsten sieben Tagen wird es ebenso signifikante Örtlichkeiten wie auch unterschiedliche Tages- und Nachtzeiten geben, die für den Fortgang des Geschehens relevant sind. 8 Während jedoch die biblischen ersten “sieben Tage”, von denen wir wissen, die Erschaffung der Welt in sich bargen, soll es in Lünstedts “nächsten sieben Tagen” zunächst um Untergang gehen. Felix, der Held des Dramas, ist auf der Suche nach seinem Vater. Da er keinen leibhaftigen Vater kennt, glaubt er, dass sein Vater auf der Sonne lebt. Auch seine Mutter lokalisiert ihn “im Himmel”, sein Freund Abadi bestreitet ihn gänzlich und seine Freundin Lela hält dies alles für Unfug. Felix jedoch macht es sich zur Aufgabe, seinen Vater zu finden. Während gleich zu Beginn des Textes im Spiel artikulierte Zukunfts- und Reisewünsche der beiden anderen jungen Leute darauf zielen, den Nanga Parbat zu besteigen oder Forscherin in Japan zu werden, sagt Felix: “Ich packe meinen Koffer und flieg zur Sonne. Da wohnt mein Vater.” 9 Abadi hält dies für eine Lüge und Lela sieht darin einen Ausdruck von Übertreibung. Felix aber meint es ernst: “Ich packe meinen Koffer und flieg zur Sonne. Da wohnt mein Vater. Hab ich ihn gefunden schicken wir euch die ewige Nacht…. Ich bin Phaeton. Sohn der Sonne.” 10 Hier deutet sich bereits an, dass mit der irdischen Suche nach dem Vater ein mythischer Auftrag verbunden ist, der - darin dem Mythos folgend 11 - schließlich ins Verderben führen wird. Bei Ovid ist der Vater suchende Junge ein Sohn Klymenes, den sie dem Sonnengott geboren hat. Sol leugnet nicht die Vaterschaft, im Gegenteil. Er heißt seinen Sohn willkommen und um jeden Zweifel im Herzen des Sohnes an der legitimen Nachfolge auszuräumen, gesteht er ihm die Erfüllung eines jeden Wunsches zu. Der Sohn fordert nichts weniger, als den Sonnenwagen mit den geflügelten Rossen lenken zu dürfen. Sol versucht mit allen Mitteln, ihm dies auszureden, er weiß um die Gefahren dieses Unternehmens und auch darum, dass sein Sohn diese schwierige Aufgabe nie wird bewältigen können. Als Phaeton jedoch darauf besteht, gibt ihm der Vater gute Ratschläge, wie der Wagen sicher zu lenken sei, was es zu vermeiden und zu beachten gilt. Von da an nimmt das Unglück seinen Lauf. Phaeton stürzt mit seinem Unvermögen nicht nur sich selbst, sondern den gesamten Erdball in ein flammendes Verderben und hinterlässt eine schreckliche Spur der Verwüstung. Was in Lünstedts Text den Jungen treibt, seinen Vater zu suchen, ist ein in seinen Augen unverbrüchliches Recht. Er fordert Aufklärung von der Mutter und konfrontiert sie mit der Aussage: “Ich habe das Recht einen Vater zu haben.” 12 Dieses Recht ist verbunden mit dem Wunsch nach Zugehörigkeit: “Lass mich zum Himmel gehören.” 13 Die wie auch immer motivierte Antwort der Mutter auf die Frage nach dem Vater, er sei im Himmel, wird von Felix wörtlich genommen. In Ermangelung desselben schafft er sich also einen eigenen Vater aus Versatzstücken, einen, der zugleich im Himmel ist und auf der Sonne lebt, in einem Schloss hinter Indien. Entsprechend nennt sich Felix nicht Felix, sondern Phaeton, wie der gleichnamige Sohn der Sonne aus Ovids Metamorphosen. In der Suche nach dem Vater (oder anders gesagt: nach Zugehörigkeit, nach Orientierung, nach einem brauchbaren Gesetz) - hier als Aufgabe für die Zukunft formuliert - verbinden sich also Figuren und Bilder der antiken (Phaeton und Sol) und christlichen Mythologie (der Vater im Himmel als Ziel der Heimkehr Christus) mit Gebilden der Imagination (Schloss hinter Indien). Anders als seine Freunde, vor allem Lela, die darauf besteht, dass “wir realistisch bleiben” 14 , nimmt Felix die Bilder und Redeweisen wörtlich. Er versteht sie nicht in ihrem symbolischen Wert, sondern sie leiten sein Tun und Handeln in einem sehr konkreten Sinn. Das daraus resultierende Verhängnis wird unausweichlich, als die Freunde auf dem Dach der Schule Felix 22 Christel Weiler davon abhalten wollen, zu seinem Vater zu fliegen. Zwischen den beiden Jungen kommt es zu einem Kampf, bei dem Felix Abadi einen Stoß versetzt, so dass dieser vom Dach der Schule stürzt. Felix ruft ihm hinterher: “Flieg Engel flieg. Flieg.” 15 Felix begibt sich in Folge auf die Flucht (oder Wanderschaft? ), wobei ihm unterwegs eine Figur begegnet, die als “Förster ohne Gewehr der aussieht wie ein Reptil” 16 beschrieben wird. Spätestens jetzt sollte deutlich sein, dass Claudius Lünstedts Text auch keine dramatisch psychologische Konzeption zugrunde liegt, sondern dass es sich vielmehr um ein Textgebilde handelt aus mythologischen, christlichen und märchenhaften Motiven sowie Anspielungen zu zentralen Problemen der Gegenwart, die ineinander übergehen bzw. kunstvoll miteinander verflochten sind. Daraus entsteht die Kartographie eines Bewusstseins, das seine Herkunft nicht kennt, sie im Mythos (in der Fiktion) anlagert und deshalb - wie sich zeigen wird, auch nicht im positiven Sinne zukunftsfähig ist. Angesichts des reptilhaften Wächters des Waldes fühlt sich Felix von seinem Vater gerufen und in die Irre geleitet zugleich. Er tötet den Förster und darüber zusammenbrechend adressiert er seinen Vater: Verdammt. Vater. Was soll das. Geh mir gefälligst zur Hand. Sofort. Lässt mich umherirren. Zumindest die Route. Wär das mindeste. Pfade. Schilder. Oder eine simple Leuchte. Wo geht’s lang. Na los. Vater. Sags mir. Verdammt. Soll ich kommen oder nicht. Hast du mich gerufen oder nicht. Was. Wie. Etwas lauter bitte. 17 Auch wenn Lela versucht, ihren Freund zu schützen - für Felix den Mörder gibt es kein Entkommen. Der Aufseher 18 nimmt ihn fest und bringt ihn in Haft. Dort spricht Felix mit seinem imaginierten Vater. In diesem Monolog verdeutlicht der Autor, dass das Wissen um das künftige Scheitern mindestens eine der Triebfedern ist, die das Handeln des Jungen bestimmen. Mit Felix ist eine paradoxe Figur geschaffen, die zwar nicht ihre Herkunft kennt, wohl aber den Mythos und seinen Ausgang reproduziert. Nichts hält den Protagonisten davon ab, seine eigene Zukunft und die der ganzen Welt als Untergang zu begreifen. Im Gegenteil, gerade im Wissen darum, wie der Ausgang sein wird, wird der Mythos noch einmal heraufbeschworen: Weiß Bescheid weiß ich. Dass ich die Rosse nicht führen kann. Weiß ich. Dass mir die Fähigkeit fehlt. Weiß ich. Dass ich in deinen Augen kein Geschenk wünsch sondern Bestrafung verlang. Weiß ich weiß ich weiß dass ichs weiß und wills weil ichs weiß…. Dass die Route auf der mittleren Spur die beste wär. Weiß ich. Dass ich den Himmel verbrenn fahr ich zu hoch die Erde fahr ich zu niedrig weiß ich weiß ich weiß…. Allein verbrenn ich die ganze Welt in ein wüstes Land oh doch sehr wohl. Mit deinem eigenen Wagen. 19 Die vergebliche Suche nach dem Vater ist also für Felix verbunden mit Sehnsucht nach Zukunft, dem Wunsch nach Macht, Zerstörung und Selbstauflösung oder Auslöschung. Aus dem Gefängnis entkommen, wendet er sich noch einmal seinem Vater zu und bittet ihn um den letzten Gefallen: Bitte Vater. Gib mir einen Schlag. Präzis auf den Kopf. Dass mir wie Abadi das Hirn darin verblutet. Dein Schlag der soll mich endgültig aus dem Wagen katapultieren…. Bitte Vater. Jetzt. Will Feuer speien. Vergiften. Mich selbst sehen. Als einen Kometen der geschwärzt Richtung Erde rast. Einschlägt. Zornglut. So wärs mir am liebsten. Am allerliebsten. Vater. 20 Felix wird allerdings nicht durch seinen Vater umkommen und es wird ihm auch nicht gelingen, sich selbst zu zerstören. Nachdem er bei einem weiteren Zusammentreffen mit diesem auch den Aufseher umgebracht und ihm seine Dienstwaffe entwendet hat, setzt er alles in Brand. Am Ende begegnet er Lela, mit der er sich gemeinsam das Leben nehmen will. Sie wird es aber schließlich sein, die ihn Sehnsucht nach Zukunft 23 Abb. 1: FELIX-Phaeton mit dem Feuerschweif. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Erik Bergmann) im Spiel tötet und als einzige Figur übrig bleibt. 21 Aus dem Untergang von Felix mitsamt der Welt, die ihm den Vater verweigert, ihn verfolgt und in Haft nimmt, erwächst ein neuer Aufbruch. In Claudius Lünstedts dramatischem Text ist Lela somit die Figur, die Aussicht auf Zukunft hat bzw. eine weiter tragende zukunftgenerierende Kraft verkörpert. Lünstedt konzipiert sie als eine, deren beide Eltern im Labor arbeiten. Sie sind Forscher, die das Fremde erkunden und ihr Antwort auf Fragen geben können, die sie sich selbst nicht beantworten kann. “Meine Eltern arbeiten im Labor. Frag ich morgen mal nach. Ohne Vater. Ob so was geht.” 22 Von Felix erwartet sie nicht nur, dass er realistisch bleibt, sondern auch, dass er sich zähmt, dass er so ist, wie sie und Abadi. 23 Sie übernimmt die Ansicht ihrer Eltern, dass Felix mit seinem Verhalten einen Mangel kompensiert. 24 Ihr Verhältnis zu ihm ist durchweg ambivalent. Einerseits erhebt sie einen bestimmten Anspruch auf ihn - “du gehörst mir”, sagt sie 25 - andererseits stößt sie ihn von sich, als er sie küssen will. Durch bestimmte Andeutungen im Text entsteht der Eindruck, dass sie ihn unwissentlich verraten haben könnte, so dass der Aufseher auf seine Spur kommt. In der letzten Begegnung mit Felix macht sie ihm klar, dass ein gemeinsames Auslöschen keine Lösung darstellt. Es gelingt ihr, Felix die Dienstwaffe abzunehmen und sie auf ihn zu richten. Analog zu Felix, der im Wissen um den Ausgang des Mythos diesen noch einmal ausagiert, zitiert sie ein Spiel mit tödlichem Ausgang und wiederholt es zugleich: Einstmals hat ein Hausvater ein Schwein geschlachtet. Das haben seine Kinder gesehen. Als sie nun nachmittags miteinander spielen wollten hat das eine Kind zum andern gesagt, du sollst das Schweinchen sein und ich der Metzger … Du Schwein ich Metzger. Ja oder Nein. Wenn ja antwortest du mit nein wenn nein mit ja. 26 Ob das folgende Nein von Felix die Antwort auf diese Frage ist oder anders zu verstehen ist - er sagt zunächst: Nix da. Was willst du. Und sie antwortet mit: Bleibts dabei. 27 - spielt keine Rolle für den Ausgang. Lela erschießt ihren Freund aus der Nähe. Am siebten Tag wird sie das Spiel des Anfangs wieder aufnehmen. Die Reihe ist jetzt definitiv an ihr: “Doch. Bin dran. - Kurze Stille - Ich packe meinen Koffer und werd Forscherin in Japan. Tokio. Zurück komm ich dann nicht mehr.” 28 Ihr Überlebenswille trägt schließlich den Sieg davon. Die Komplexität des Textes ist mit der Betrachtung der beiden Figuren Lela und Felix längst nicht erschöpft. 29 Der Fokus auf die beiden sollte aber ausreichend sein, um deutlich zu machen, dass ein Nachdenken über Jugend und Zukunft Fragen nach biologischer und kultureller Herkunft ebenso einschließt wie eine Reflexion auf die Ursachen und Ausführungen jugendlicher Gewalt, die sich in Lünstedts Text als Ausdruck einer nicht zu bewältigenden Energie darstellt. Schuldzuschreibungen der üblichen Art - wie 24 Christel Weiler Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu, mangelnde Ausbildung - werden damit zunächst belanglos und irrelevant. Gleichzeitig werden im Text implizit Fragen aufgegriffen, auf die noch keine definitiven Antworten zu geben sind. Auf einer alltagspraktischen Ebene wird künftig die Frage nach dem Vater neuer Antworten bedürfen für all jene Kinder, die auf nicht konventionelle Weise bzw. gentechnologisch gezeugt wurden. Die Bestimmung von Herkunft und Zugehörigkeit wird auch dann für Fragen nach Identität weiterhin im Zentrum stehen. Ihr Gelingen scheint für die Gestaltung von Zukunft unabdingbar. Für das Theater bzw. kommende Transformationen dieses Materials stellt sich mit Vaterlos eine ganze Reihe von Herausforderungen. Ohne Zweifel ist seine literarische Qualität gerade in seiner Komplexität begründet. Eine Reduktion auf die narrative Komponente ohne gleichzeitig den Ebenen Rechnung zu tragen, die ihn mit Symbolik und Zeichenhaftigkeit aufladen können, verfehlt den Text gänzlich. Er breitet weitaus mehr ein diskursives Geflecht aus, innerhalb dessen sich sowohl Fragen als auch Antworten hinsichtlich der Gestaltung von Zukunft auf unterschiedliche Weise hervorbringen lassen, denn lediglich eine unglücklich verlaufende dramatische Handlung, die sich mit einfachen Mitteln auf die Bühne übersetzen ließe. Warngedicht Tamer Yig its gemeinsam mit Branka Prlic´ geschaffene Inszenierung Warngedicht basiert nicht auf einer dramatischen Vorlage, wie sie oben dargestellt wurde. Vielmehr wurde die textliche Komponente der Arbeit - auf die ich mich im Folgenden auch hauptsächlich konzentrieren möchte - im Wechselspiel von Akteuren und dem Regieteam hergestellt und durch Texte von Tamer Yig it selbst komplettiert. Warngedicht ist also weniger als theatraler Metadiskurs über Jugend und Jungsein zu verstehen, sondern selbst zumindest partiell ein von Jugendlichen - drei männlichen Akteuren und einer weiblichen Performerin - hervorgebrachtes Ereignis, in dem diese zum großen Teil “ihre eigene Sprache” sprechen. 30 Gleich zu Beginn der Aufführung wird mit der Projektion eines Textes auf zwei herunter gelassene Jalousien ein möglicher gesellschaftlicher Rahmen aufgezeigt, in dem sich Warngedicht entfaltet. In großen Lettern geschrieben, können die Zuschauer lesen: Ich muss mir die ganze Zeit anhören, wie Scheiße mein Leben ist und was für Arschlochfreunde ich habe. Du hast ja deine Heimat, hast es dir darin gemütlich gemacht. Wir stehen vor dem Wort MIGRATION. Scheiß Leere. Kaputt kaputt. Wie lange noch? Unsere Kunst klebt am Fleisch der Strasse. Ich scheiß auf Idole und die Hunde deiner Art werden dran glauben. Damit wird angezeigt, dass Fragen nach Herkunft und Zughörigkeit für das Folgende eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Es gibt ein Ich und ein entgegen gesetztes Du, ein Wir und ein beschimpftes Gegenüber. Der Adressat dieser Rede ist jedoch unklar: handelt es sich um die Zuschauer, um andere Jugendliche, um die eigenen Eltern? Oder um alle zugleich? Was im Folgenden gezeigt und verhandelt wird, lässt eher letzteres vermuten. In einer lose zusammengefügten Abfolge kleiner szenischer Einheiten sprechen die vier Jugendlichen entweder alleine für sich, miteinander oder mit fiktiven Eltern, Freunden und Lehrern über ihre Sehnsüchte, Sorgen und Nöte, also auch über andere Jugendliche, über die Eltern und Lehrer und deren Schikane bzw. unverständlichen Handlungen, die ihnen das Leben schwer machen. Es geht um den Alltag, der aufgeladen ist mit Problemen in der Schule, mit den Eltern und den Freunden, es geht um Freundschaften und Sexualität, um Fragen nach Herkunft und Zugehörigkeit, um Ansprüche an sich selbst und Sehnsucht nach Zukunft 25 Abb. 2: Das Team von Warngedicht. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Çig dem Bag riaçik) andere. Immer wieder werden die Szenen durch musikalische Einschübe, durch auf die Wände des Theaterraumes projizierte kommentierende Textfragmente oder Videoeinspielungen unterbrochen. In dieser theatralen Montage, als die Warngedicht bezeichnet werden kann, zeigt sich Jungsein als Geste der Auflehnung und des Widerstandes, im Austragen von inneren und äußeren Konflikte, aber auch in Selbstzweifeln und Versagensängsten mit Blick auf die Zukunft. Zugleich präsentieren sich die vier Jugendlichen 31 mit Witz, vielfältigen Talenten zur Selbstdarstellung und einem Sinn für Poesie. Einige Aspekte von Jungsein möchte ich im Folgenden näher betrachten: sie entfalten sich in Szenen, in denen die Jugendlichen selbstreflexiv ihre eigene Zukunft in den Blick nehmen und problematisieren; in solchen, in denen sie verdeutlichen, welche zukunftfördernde oder -verhindernde Rolle Lehrer und Eltern im Alltag spielen und nicht zuletzt in jenen, in denen im Miteinander dieser Jugendlichen selbst ein utopisches Potential aufscheint. In Warngedicht sind es zunächst ganz unterschiedliche Haltungen zu Zukunft, die sich bei den Jugendlichen ausmachen lassen: eine, die davon ausgeht, dass der Blick nach vorne, verbunden mit einem eigenen starken Willen, zu Erfolg führt; eine, die nicht imstande ist, ein Ziel zu formulieren, die sich getrieben weiß; eine, die getragen ist von Angst und das Kommende fürchtet; eine, die sich zumindest klar darüber ist, was sie nicht will; eine, die sich an filmischen Vorbildern orientiert und schließlich eine, die allem und jedem mit aggressiver Selbstbehauptung entgegen tritt. Dabei können durchaus widersprüchliche Haltungen in einer Person aufscheinen. Gleich zu Beginn wird der im Hinblick auf Fragen nach der Zukunft für Jugendliche wohl wichtigste Lebensbereich ins Visier genommen - die Schule. Die Einstellungen dazu sind sehr verschieden. Für einen der drei Jungen - er nennt sich selbst “Tony Monta- 26 Christel Weiler no” - scheint das Pünktlichsein eine unüberwindbare Forderung zu sein. Ihn plagt eine Müdigkeit, die sein Leben bestimmt: Diejenigen, die etwas zu tun haben, sind schon längst weg. Mir bleibt die Müdigkeit. Früher konnte ich sofort aufstehen, nachdem ich wach wurde. Aber jetzt, wenn ich morgens mit meinen müden Augen aufwache, bleibe ich gerne noch eine Stunde im Bett. In die Schule gehen ist ihm jeden Tag gleichbedeutend mit dem Fällen einer neuen Entscheidung. Geh ich, geh ich nicht, ja oder nein? Er hat ein großes Vorbild: Tony Montano, den Helden aus Brian de Palmas Gangsterfilm Scarface. Er möchte werden wie dieser: “Ich möchte auch ein Held werden.” Aber mit Blick auf das Schicksal seines Vorbildes fragt er sich: “Muss ein Held immer früh sterben? ” Alternativ sieht er die Möglichkeit, Trainer eines Sportvereins zu werden, allerdings weiß er, dass man dann immer pünktlich sein muss - und dies scheint, zumindest jetzt, auch in Zukunft unmöglich. Nahezu als seinen Gegenspieler könnte man einen weiteren Jungen begreifen - er wird meines Erachtens nie mit irgendeinem Namen genannt - der von sich behauptet, dass er gerne zur Schule geht und dass ihm das Lernen Spaß macht. Er berichtet davon, dass er nun schon sechs Jahre in Deutschland lebt und nicht verstehen kann, warum seine Altersgenossen nur untätig rumhängen. Hier in diesem Land haben sie so viele Möglichkeiten - und was tun sie? Sie tun gar nichts. Sie müssten sich nur so ein bisschen anstrengen, dann könnten sie so vieles schaffen. Aber sie tun gar nichts. Sie denken, es liegt ihnen alles zu Füßen. Nein, das tut es nicht. Für alles muss man etwas tun. Das kann ich grade zu gut sagen. Seine erste Zeit in Berlin beschreibt er als eine harte Zeit, in der er sich nur ein Ziel gesetzt hatte: “Ich wollte unbedingt aufs Gymnasium gehen und ich habe es auch geschafft.” Es ist eine nahezu erwachsene Rationalität, die sich durch ihn zur Geltung bringt, eine Auffassung, die um Schwierigkeiten weiß, aber davon überzeugt ist, dass man nur wollen muss, um das zu erreichen, was man sich vorstellt und wünscht. Dass dies freilich nicht immer leicht ist, weiß er auch: “Berlin ist eine ziemlich radikale Stadt. Wenn man sich da treiben lässt, kann man leicht untergehen.” Wie abhängig man bezüglich der eigenen Zukunft jedoch von anderen sein kann wird deutlich, wenn “Knut” von seinen Erfahrungen mit der Schule berichtet: In den ersten zwei Jahren war es ganz gut in der Schule. Ich hatte einen richtig guten Lehrer, mit dem habe ich mich auch gut verstanden, der hat sich um mich gekümmert, hat jedem zugehört. Ich hab meine Hausaufgaben gemacht und alles lief gut. Ich dachte, es könnte ruhig so weitergehen. Die verdammte Zukunft sieht rosig aus. Eines Tages verkündet der Direktor der Schule, dass “euer Lehrer” nicht mehr kommt. Für Knut ist es nicht “euer Lehrer”, sondern “sein Lehrer”, der nicht mehr da sein wird und ohne den künftig die Schule eine andere sein wird. Als er schließlich in einer Klasse mit “sechs Mohammeds” landet, ist für ihn die Schule “gelaufen”. Irgendwann wird er sagen: “Ich schaff es nicht. Ich werde es nicht schaffen…. Ich habe keinen Bock. Ich weiß nicht, woher das Gefühl kommt. Keinen Bock zu haben. Kein Ziel. Keinen Wunsch.” Für die Gestaltung von Zukunft - so ist zu vermuten - sind dies nicht gerade die besten Grundlagen. Auch “Tony Montano” zeigt eindrücklich, welche Macht Lehrer haben, wenn es um die Zukunftsaussichten von Jugendlichen geht. Der Junge spielt einen imaginierten Dialog mit einem seiner Lehrer, in dem er ihn bittet, ihm doch eine gute Note zu geben. Gib mir doch einfach eine Eins, Mann, ich lass dich auch in Ruhe. Mein Bruder tötet mich, wenn er die Sechs sieht. Gib mir doch einfach Sehnsucht nach Zukunft 27 eine Eins. Mann. Hilf mir doch einmal in deinem ganzen Leben. Die angekündigte Morddrohung durch den Bruder mag übertrieben scheinen, sie verdeutlicht jedoch eindrücklich die existenzielle Dimension, in der sich diese Bitte mitsamt der anhängenden Problematik artikuliert. Interessanterweise ist es auch in dieser Arbeit die weibliche Protagonistin, die mit aggressiver Selbstbehauptung auf die Bühne tritt. Sie spricht von sich als einem Ghetto- Mädchen, äußert sich fortwährend beschimpfend und despektierlich über unterschiedliche Lehrer und Lehrerinnen und erweckt den Eindruck, von ungebändigter Vitalität und Durchsetzungskraft geprägt zu sein. Ihre Auflehnung richtet sich vor allem gegen die Willkür, der sie sich ausgesetzt fühlt: “Die Lehrer kommen wie aus dem Nichts und sagen: Hey, deine Versetzung ist gefährdet.” Angemessen wäre es ihrer Meinung nach, die Schüler mehr zu fördern, ihnen Unterstützung und Gehör zu geben, bzw. ihre anderen Talente auch in Augenschein zu nehmen, wenn es darum geht, sie zu beurteilen. Die Aufführungen von Warngedicht selbst beispielsweise könnten hierzu viele Gelegenheiten bieten. Darüber hinaus zeigt die junge Frau aber auch, dass die nach außen demonstrierte Aggressivität ihr Ziel durchaus auch im eigenen Körper finden kann. In weiteren Szenen sehen wir sie am Boden liegend, offensichtlich mit zu viel Alkohol im Blut - von Totsaufen ist die Rede - und einen Abschiedsmonolog an ihre Mutter formulierend. Vor allem hier wird mehr als deutlich, dass die Widersprüche im Verhalten der Jugendlichen, ihr aggressives Gebaren und ihre provokanten Handlungen auch als Ausdruck einer Suche nach Anerkennung und Respekt durch die Erwachsenen zu werten sind. Ansonsten werden gerade die speziellen Zukunftschancen von Mädchen auch noch einmal in einem anderen Licht dargestellt: am Ende einer kleinen Liebesszene - einer der Jungen und das Mädchen umkreisen sich und singen dabei auf Türkisch ein Liebeslied - trägt der Junge das Mädchen auf seinen Armen davon. “Knut” schaut zu und kommentiert: “Das war’s für sie. Sie wird eh keinen richtigen Job finden. Sie wird heiraten und eine Familie gründen. Das war’s für sie. Und war es das auch für mich? ” Warngedicht breitet also auf theatrale Art eine differenzierte Palette jugendlicher Ausdrucks-, Seinsmöglichkeiten und Perspektiven auf Künftiges aus. Doch auch wenn vier konkrete Protagonisten auf der Bühne ihre “eigene Sprache” sprechen, handelt es sich doch nicht um ein psychologisches Kammerspiel, in dem vier unterschiedliche Einzelbiographien aufgefächert werden. Vielmehr wird gezeigt, in welch brisantem Spektrum Jugendlichkeit sich heute generell abspielen kann, welche Verantwortung den Erwachsenen im Prozess der Identitätsfindung der Jugendlichen zukommt und wie wichtig es ist, ihrerseits diese Zeit des Übergangs mit Verständnis und Zugewandtheit zu begleiten. Die Tatsache, dass die vier Jugendlichen aus türkischen Familien stammen ist nur partiell von Belang. Vieles, was hier zur Sprache kommt, kann auch Gültigkeit in deutschen Familien beanspruchen, bzw. ist für Jugendliche in Großstädten signifikant. Die Verlorenheit und Orientierungslosigkeit, welche die jugendlichen Existenzen markiert, ist nicht der Tatsache geschuldet, dass sie “vor dem Wort Migration” stehen. Sie ist einerseits generationsspezifisch und noch einmal mehr gesellschaftlich bedingt. Der Arbeit von Tamer Yig it und Branka Prlic´ kommt das Verdienst zu, vier Jugendliche aus erkennbar unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen zusammen geführt zu haben, die sich ohne diese Arbeit im Theater wohl kaum jemals begegnet wären. Das Theater wird somit durch Warngedicht zu einem Ort der Darstellung und des Austragens von Widersprüchen, die den gegenwärtigen gesell- 28 Christel Weiler schaftlichen Umgang miteinander prägen, allerdings eher in verdeckter Form. Die in den Aufführungen angedeuteten bzw. partiell offen ausgetragenen Konflikte zwischen den Jugendlichen, die sich auch aus den unterschiedlichen Herkunftsfamilien ergeben, zeigen sehr deutlich, dass es zum einen Fragen der Bildungsvoraussetzungen sind, die über die Gestaltung der Zukunft entscheiden, und dass es zum anderen des Dialogs bedarf, dass es die Bemühung braucht, die Sprache des Anderen zu akzeptieren und verstehen zu wollen, wenn das Zusammenleben in Zukunft von gegenseitigem Respekt geprägt sein soll. Für die vier Jugendlichen selbst ist mit der gemeinsamen Theaterarbeit der erste Schritt in diese Richtung getan. In einer berührenden Szene zu Beginn der Aufführung stehen sie sehr nah beieinander; es ist nicht auszumachen, ob ihre Zugewandtheit gewaltsam sein wird, oder ob es sich um offene Blicke und nahezu zärtliches gegenseitiges Berühren handelt. Alles ist möglich. Rhythm is it Aus dieser filmischen Dokumentation eines groß angelegten pädagogischen Projektes der Berliner Philharmoniker mit 250 Kindern und Jugendlichen zwischen 8 und 20 Jahren aus so genannten “Problembezirken” möchte ich nur eine Episode herausgreifen, die meines Erachtens eindrucksvoll verdeutlicht, welch transformierendes Potential der Theaterarbeit zukommen kann, bzw. welch wichtigen Einfluss auf die Gestaltungsfähigkeit von Zukunft diese Arbeit haben kann. 32 Ich folge zum einen dabei der dramaturgischen Strukturierung des Films in 20 Kapitel, innerhalb derer mehrere Male ein Junge namens Martin auftaucht und seine Beteiligung an diesem Projekt reflektiert. Seine Geschichte kann gesehen werden als einer von mehreren “roten Fäden”, welche die transformierende Wirkung des Vorhabens betonen. Zum anderen möchte ich dieses exemplarische biographische Detail in Beziehung setzen zu den ebenfalls im Film immer wiederkehrenden Reflexionen des Choreographen Royston Maldoom, der mit der pädagogisch-künstlerischen Leitung des Unternehmens betraut war. 33 Das transformierende Potential der künstlerischen Arbeit im Theater - dies wird im Lauf des Films immer wieder betont - ist nichts Selbstverständliches. Vielmehr kann es nur dann wirksam werden, wenn von den Beteiligten bestimmten Anforderungen Genüge getan wird. Diese Anforderungen - man mag sie auch “künstlerisches Ethos” nennen - bestehen in einem ersten Schritt darin, sich zu fokussieren, sich einzulassen, still zu werden und auf den Körper zu hören, also die Sinne wach werden zu lassen. Ohne diese sich selbst disziplinierenden Schritte ist keine künstlerische Arbeit und - so zeigt es der Film - auch keine persönliche Veränderung möglich. Tatsächlich veranschaulicht das Dokument, wie die Arbeit eine neue energetische Qualität stets in jenen Momenten gewinnt, in denen gewohntes Verhalten in den Hintergrund tritt: wenn das Gespräch mit den Freunden verstummt, die Aufmerksamkeit auf das zu Lernende gerichtet ist, die zu erfüllende Aufgabe mit physischer und gedanklicher Beteiligung zugleich in Angriff genommen wird. Die ebenfalls an dem Vorhaben beteiligte Tänzerin Susannah Broughton formuliert es so: “Wenn alle ganz still sind, dann beginnt etwas Neues, dann beginnt Veränderung.” Für den damals 19jährigen Martin bestand die Herausforderung weniger darin, still zu werden und sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Es war die durch den Tanz geforderte Nähe zu Anderen, konkret: die Anweisung, auf die Schultern eines anderen Tänzers zu steigen, sich heben und damit berühren zu lassen, die ihn an eine persönliche Grenze brachte und die er im Lauf der mehrwöchigen Arbeit erfolgreich überwand. Seine anfänglich artikulierte und Sehnsucht nach Zukunft 29 wahrnehmbare Scheu vor Berührung wich einem selbstbewussten Umgang mit der eigenen und der Physis der Anderen. Diese persönliche Veränderung wäre freilich nicht möglich gewesen ohne den bewussten Vorsatz des jungen Mannes, etwas lernen, etwas für sich selbst erreichen zu wollen. Äußerst selbstkritisch bezeichnet er sich anfänglich als einen Einzelgänger, dem es schwer fällt, auf Andere zuzugehen. Er mag nicht einmal anderen die Hand zur Begrüßung reichen, weil ihm dies eine allzu intime Geste ist. Die durch die Theaterarbeit sichtbar werdende Angst vor Berührung ist eine Blockade, die überwunden werden muss, will er dieses Projekt für sich gewinnbringend weiterführen. Damit wird deutlich, dass Transformation nur dann stattfinden kann, wenn man bereit ist, ein Risiko einzugehen, etwas zu wagen, was jenseits einer persönlichen Grenze angesiedelt ist. Anders gesagt: Transformation verlangt einen Selbstentwurf ins Offene hinein und die Zustimmung dazu, dass nicht gleich der erste Versuch von Erfolg gekrönt sein wird, sondern dass das Probieren, das sich Erproben Zeit braucht, um an ein Ziel zu gelangen. Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst kann in diesem Sinne als beispielhaft dafür angesehen werden. Er oder sie ist sich immer selbst Gegenstand und Ziel von Veränderung, auch wenn es um das Gestalten einer Rolle geht. Analog dazu kann für die Kinder und Jugendlichen in diesem Unternehmen tatsächlich der Ausspruch Gültigkeit gewinnen, dass sich ihr Leben verändern kann durch die Teilnahme an einer Tanzklasse. 34 Tanzen oder Schauspielen - beide sind körperliche Vorgänge die begleitet werden von gedanklicher Arbeit, sie sind Ausdruck eines embodied mind 35 . “The physical body expresses where you’re at.” So Susannah Broughton. Veränderung findet also nur statt, wenn beide Bereiche bezogen aufeinander wirken. Royston Maldoom’s pädagogisches Konzept setzt auf Überforderung und Strenge. An den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen beobachtet er, dass der Gedanke, dass man hart arbeiten muss, um etwas zu erreichen […] nicht Teil ihrer Erfahrung oder Erwartung [ist]. Nichts ist schlimmer als etwas auszuprobieren, ein Risiko einzugehen und dann zu scheitern. Da sagt man besser: Ich bin ein Versager, ich lass es, ich versuch es erst gar nicht. Sieht man allerdings, wie sich zum Ende der Probenzeit von fünf Wochen das Verhalten der Kinder und Jugendlichen verändert hat, dann muss man annehmen, dass sie alle einen entscheidenden Schritt nach vorne getan haben. Dies verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, dass die jungen Tänzer sich einerseits gefordert, andererseits aber auch in ihren Möglichkeiten gestärkt und akzeptiert fühlten. Das Beispiel mag banal erscheinen, aber es sind diese alltäglichen Erfahrungen des Gelingens, des persönlichen Erfolges, die jugendliches Selbstvertrauen stärken und es möglich machen, dem Künftigen, Unbekannten offen und furchtlos entgegen zu treten. Zum eigenen Wunsch nach Veränderung, zur Sehnsucht nach Zukunft also, braucht es einen Raum, in dem Entwürfe möglich sind, in dem die Suche nach sich selbst sich entfalten kann. Es bedarf allerdings auch der Unterstützung durch Erwachsene im beschriebenen Sinn, es braucht ihre Forderung ebenso wie ihr Vertrauen. Wenn wir unter diesen Voraussetzungen noch einmal einen Blick auf unsere eingangs formulierte Frage werfen - in welchem Maße sich Theater und Zukunft bezogen auf Jugendliche zueinander verhalten - dann rückt mit dem letzten Beispiel tatsächlich die verändernde Kraft des Theaters ins Zentrum. Theater, bzw. die Arbeit in demselben definiert sich darin als Ort der Begegnung mit anderen, als Ort der Auseinandersetzung im Spiel, als Ort der möglichen persönlichen Veränderung, als fortwährende Einübung in Zukunftsfähigkeit in dem Sinne, 30 Christel Weiler wie dies Royston Maldoom als Wunsch artikuliert: Ich möchte junge Leute mit der Idee vertraut machen, dass das Leben eine immer währende Herausforderung ist. Steht nicht still, nehmt nichts hin, geht weiter. Sucht nach der nächsten Sache, dem nächsten Moment. Ihr müsst es nicht planen, aber seid bereit, seid offen dafür. Vaterlos, Warngedicht und Rhythm is it stellen sich abschließend dar als drei verschiedene Möglichkeiten, das Verhältnis von Jugend und Zukunft in den Blick zu nehmen. Man müsste noch einmal von vorne beginnen, um Überschneidungen und Gemeinsamkeiten heraus zu arbeiten, um vollends zu erhellen, wie vielstimmig dieser Diskurs sich gestaltet. So berühren sich Vaterlos und Rhythm is it in ihrem Bezug zum Mythos 36 , Warngedicht und der Film im Bestreben, Jugendlichen aus Familien von Migranten eine Stimme zu geben, beide darin, die Verantwortlichkeit von Pädagogen und Eltern in den Blick zu nehmen, allen gemeinsam ist eine positive Haltung zur jugendlichen Suche nach Zugehörigkeit und Orientierung. Schließlich und endlich aber überzeugen sie darin, dem Theater bei der Ausbildung von Zukunftsfähigkeit einen zentralen Stellenwert einzuräumen. Das Theater macht es immer wieder möglich, dass wir uns selbst sehen und in einen unbekannten Raum hinein entwerfen. Anmerkungen 1 Natürlich ist dies kein neues Thema für das Theater; weder aus dramengeschichtlicher Perspektive - man denke an Wedekinds Frühlings Erwachen, Horvaths Jugend ohne Gott, Dramen der Expressionisten wie Hasenclevers Der Sohn - noch mit Blick auf Texte neueren Datums wie Feuergesicht von Marius von Mayenburg - noch bezogen auf die Institution selbst, die mittlerweile in Einrichtungen des Kinder- und Jugendtheaters eine ganz eigene Publikumsschicht herangebildet und dieser entsprechende Probleme behandelt, bzw. Darstellungsformen entwickelt hat. Zu letzterem siehe z.B. das Theater an der Parkaue in Berlin, bzw. die folgende Webseite http: / / www.goethe.de/ ges/ soz/ dos/ jug/ sjk/ de 1551893.htm 2 Der Film, auf den sich meine Ausführungen beziehen, stammt aus dem Jahr 2005 und ist auf DVD über den Handel zu beziehen. 3 Die Premiere fand im Oktober 2008 im Hau3, Berlin, statt. 4 Diese Produktion hatte ihre Premiere im Mai 2007 in Brüssel und Birmingham. 5 Siehe zu dieser Thematik die beeindruckende Studie von Bernard Stiegler. Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien. Frankfurt, 2008. 6 Siehe hierzu beispielsweise unter http: / / www. goethe.de/ ges/ soz/ thm/ de91442.htm ein Interview mit Klaus Hurrelmann, dem Leiter der Shell-Studie zur Situation von Jugendlichen. 7 Der Text erschien 2004 im Verlag der Autoren, gemeinsam mit zwei weiteren Stücken des Autors. Im Klappentext wird er kurz auf folgende Weise zusammengefasst: “In VATER- LOS ist der junge Felix auf der Flucht. Er begehrt gegen seine Umwelt auf, glaubt, der Sohn des Sonnengottes zu sein. Felix macht sich auf die Suche nach seinem Vater, findet aber nur Überreste einer patriarchalischen Gesellschaft. Gräulich-absurde Vater-Figuren stellen sich ihm in den Weg und müssen dafür mit dem Leben bezahlen.” Weitere Stücke von Claudius Lünstedt: Krieger im Gelee, Teheran 1386; der Autor wurde 1973 geboren und lebt in Berlin. 8 Die Handlung des Textes erstreckt sich über sieben Tage, die in insgesamt sechzehn kurzen Episoden verlaufen und zu unterschiedlichen Zeiten der jeweiligen Tage spielen. Begonnen wird beispielsweise am ersten Tag nachmittags bei Fernsicht, der vierte Tag spielt in der Nacht, der letzte Tag endet vor Sonnenuntergang. 9 Claudius Lünstedt. Vaterlos. Frankfurt a.M., 2004, S. 93. 10 Lünstedt 2004, S. 95. Sehnsucht nach Zukunft 31 11 Ovid. Metamorphosen. Frankfurt a.M., 1990. Für den Text vorliegend in der Übertragung von Heinrich Voß; daraus: Zweites Buch Phaeton, S. 37-51 12 Lünstedt 2004, S. 97. 13 Lünstedt 2004, S. 98. 14 Lünstedt 2004, S. 93. 15 Lünstedt 2004, S. 100. 16 Lünstedt 2004, S. 101. 17 Lünstedt 2004, S. 103. 18 Die Figur des Aufsehers weist beispielsweise gleichzeitig realistische und mythologische Aspekte auf. Zum einen erfüllt sie die Funktion des Aufsehers: sie soll Felix bewachen, ihn nicht aus den Augen lassen. Zum anderen ist der Aufseher auch ein “Seher” wie Teiresias, der das kommende Feuer des Untergangs am Horizont erblickt. Gleichzeitig sagt er von sich selbst, dass er ungesehen bleiben will. Ähnlich sind die anderen Figuren als in sich widersprüchliche Gebilde konzipiert, wie auch der Titel zweideutig ist. Vaterlos kann “ohne Vater” meinen, und ebenso das Los, ein Vater zu sein, bezeichnen; zusätzlich ließe sich der Titel noch in Beziehung setzen zu Alexander Mitscherlichs These von der “vaterlosen Gesellschaft”. Siehe hierzu Alexander Mitscherlich. Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Frankfurt a.M., 1963 [2003]. 19 Lünstedt 2004, S. 112. 20 Lünstedt 2004, S. 113f. 21 Organ, der Vater von Felix’ Freund Abadi - und als solcher auch Vertreter eines überkommenen patriarchalischen Gesetzes - tötet zuerst Felix’ Mutter und dann auch noch sich selbst. 22 Lünstedt 2004, S. 95. 23 Lünstedt 2004, S. 100. 24 Lünstedt 2004, S. 109. 25 Lünstedt 2004, S. 110. 26 Mit diesem tödlichen Spiel wird auch verwiesen auf Michael Hanekes Film Bennys Video aus dem Jahr 1992, in dem zwei Kinder - ein Junge und ein Mädchen - ein Video mit tödlichem Ausgang nachspielen. Auf dem Video wird die Tötung eines Schweins gezeigt. 27 Lünstedt 2004, S. 129. 28 Lünstedt 2004, S. 130. Das definitive Ende des Textes auf S. 130 besteht allerdings in der Zeile: “Endlich Regen. Starkregen der kein Ende nimmt.” Und in dem Wort “Dunkel”. Damit wird - angeregt durch die vorausgegangenen Anspielungen auf mythische und biblische Zusammenhänge - freilich auch ein Bild von Sintflut assoziierbar. 29 So wäre es weiterhin interessant, Abadi in Relation zu seinem Vater Organ näher zu beleuchten, als auch Organ selbst sowie dessen Verhältnis zum Aufseher oder zur Mutter. Auch die Frage nach der Funktion von Gewalt bei der Konzeption von Zukunft könnte weiter untersucht werden oder etwa die symbolische Dimension der Namen, deren Bedeutungen im Gegensatz zur Konzeption der Figuren stehen: Abadi - äthiopisch: der Tröster, Lela - auf Swahili: die Nacht und Felix - der Glückliche. (Mit Dank an Claudius Lünstedt für den Hinweis.) Wenn man den gesamten Text auf seine semantische Dimension und die damit verbundenen Zeitschichten hin untersucht, erweist er sich als ein feines Gespinst von vielfältigen Verweisen und widersprüchlichen Bedeutungspotentialen. 30 Die Premiere fand am 2. Oktober 2008 im Theater Hebbel am Ufer (Hau3) in Berlin statt. Die Darsteller sind: Almila Bagriaçik, Ömer Tarakcý, Talu Emre Tüntaþ, Haydar Yýlmaz, Stefan Andres. Dank an Tamer Yig it und Branka Prlic´ , die mir freundlicherweise für das Verfassen dieses Textes eine Videoaufzeichnung als Erinnerungsstütze zur Verfügung gestellt haben. Alle Redezitate stammen daher. 31 Tatsächlich gibt es einen fünften - aus Lichtenberg kommenden - Jugendlichen, der aber nur über Videoeinspielungen erscheint. Er nimmt m. E. die Funktion eines romantisierenden Gegenparts ein, idem er “das Ghetto”, als das sich Kreuzberg für ihn darstellt, idealisiert. 32 Es handelt sich hierbei um das erste Education-Projekt der Berliner Philharmoniker. Es fand 2003 in der Arena in Berlin-Treptow statt. Gemeinsam mit 250 Kindern aus 25 Nationen führten die Philharmoniker dort Le Sacre du Printemps auf. Die vorausgegangene choreographische Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen wurde von Royston Maldoom verantwortet. Dieses Projekt hatte über Berlin hinaus vorbildhaften Charakter für zahlreiche 32 Christel Weiler nachfolgende künstlerische Bemühungen im pädagogischen Bereich. 33 Alle Zitate stammen aus der DVD Rhythm is it! Ein Film von Thomas Grube und Enrique Sancez Lansch, Boomtown Media 2005 34 Der Untertitel des Films verkündet dies programmatisch: “You can change your life in a dance class.” 35 Zum Konzept des embodied mind siehe Thomas Csordas. Embodiment and Experience. Cambridge, 1994. 36 Die choreographische Arbeit mündet in eine Aufführung von “Le sacre du printemps” durch die Berliner Philharmoniker. Sowohl von Simon Rattle als auch Roston Maldoom wird sie in Bezug gesetzt zu archaischen Kräften der Erneuerung und dem Darbringen von Opfern. “Shaw, The Philanderer, and the (Un)Making of Shavian Drama Robert Cardullo (Izmir) “Shaw, The Philanderer, and the (Un)Making of Shavian Drama” is an essay that considers this early play by Shaw in the context of the popular theater of the time, and bases its appreciation or advocacy on The Philanderer’s honesty in exploring human relationships - a characteristic that disappears from Shaw’s œuvre as his various philosophies ossify into orthodoxy. The first section supplies historical and background information; the second section summarizes and comments on The Philanderer’s action, scene by scene; and the third section analyzes Shaw’s interest in this play in the dramatic confrontation between realists and idealists, before offering some final parting comments. In sum, the author attempts to reevaluate The Philanderer and to try to understand why it has been neglected, how Shaw himself may have contributed to its neglect, and why, in some ways, this drama may not only be better than it has long been thought to be, but may also be better even than the plays by which Shaw is best known (e.g., Major Barbara, Saint Joan, Heartbreak House). 1. “For the right moment you must wait, as [Quintus] Fabius [Maximus] did most patiently when warring against Hannibal …; but when the time comes, you must strike hard, as Fabius did, or your waiting will be in vain, and fruitless.” - Motto of the Fabian Society. 1 Shaw was thirty-seven years old in 1893 when he started work on The Philanderer, his second play after Widowers’ Houses. In 1893 Shaw was known in London intellectual circles as a respected music critic, an accomplished orator, and a Socialist propagandist. He had written five novels, two of them published, both unsuccessfully. In 1889 he had edited and contributed two essays to the enormously influential Fabian Essays in Socialism, which went through three editions within a year. 2 On July 18, 1890, Shaw delivered his famous lecture on Ibsen to an enthusiastic audience at St. James Restaurant; this lecture was then expanded and published in 1891 as The Quintessence of Ibsenism - the first full-length study of Ibsen in the English language. Shaw’s writing of The Philanderer in 1893 began, as he himself put it, “with a slice of life; most of the first act really occurred.” 3 Here is how it did so: at the age of twenty-nine, Shaw had lost his virginity to an insistent, passionate, strong-willed widow named Mrs. Jenny Patterson, who was twelve years his senior. Mrs. Patterson, one of his mother’s singing students, invited the shy young man over to her London apartment one afternoon for tea. Shaw accepted the invitation, and before the afternoon was over the aggressive woman had almost literally raped him. Shaw did not resist her advances. “I permitted her,” he told Ellen Terry in a letter of October 12, 1896, “being intensely curious on the subject.” 4 When Frank Harris asked him forty years later what his affair with Jenny Patterson was like, Shaw responded in a letter dated June 20, 1930: “If you want to know what it was like, read The Philanderer, and cast her for the part of Julia, and me for that of Charteris.” 5 He also wrote to Hesketh Pearson that “Mrs. Patterson was my model for Julia; and the first act of The Philanderer is founded on a very horrible scene between her and Florence Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 33-44. Gunter Narr Verlag Tübingen 34 Robert Cardullo Farr.” 6 Besides supplying Shaw with the opportunity to break off with Jenny, this incident supplied him with the opening situation for his new play. On June 27, 1893, The Philanderer was completed, four and a half months after Shaw had started work on it. But the four acts of the final version of the play (published in 1898) were originally conceived as three acts; and in 1930 Shaw made minor changes to the play for his Collected Works and recompressed Acts II and III into a single act, thereby turning The Philanderer back into the three-act work it was intended to be. His seriousness about the play is evidenced by the fact that the revisions and alterations to its various drafts are more extensive than those for any of his fifty-two plays, with the possible exception of Heartbreak House. Dealing with the serious literary and academic criticism of The Philanderer is a swift and easy task, because very little exists. Most full-length critical books on Shaw either do not even mention the play or, if they do, it is written off in a few sentences or even phrases. Here are a few of them: “a self-congratulatory piece of autobiography” and “a retrogressive step in Shaw’s career as a dramatist” (Colin Wilson) 7 ; “an apology for his own comprehensive philanderings” (Maurice Valency) 8 ; a “bad” play, “too clever-by-half” (St. John Ervine). 9 Even in the massive field of Shaw scholarship, then, there is no large body of criticism to consult; The Philanderer is only grudgingly accepted into the Shavian canon. This judgment began to be altered in the late 1970s, when there was a resurgence of interest in the play and it was performed at the Roundabout in New York, Britain’s National Theatre, and at the Yale Repertory Theatre. Later, serious studies of The Philanderer started to appear in such books as J. Ellen Gainor’s Shaw’s Daughters (1991) 10 and Peter Gahan’s Shaw Shadows (2004). 11 Nevertheless, the play is still seen as inferior to Shaw’s major works, as a mere preparatory sketch for the larger canvases of his subsequent dramatic masterpieces. The play’s reception demonstrates how critical distortion occurs when critics take an author’s greatest works and set such “masterpieces” up as literary peaks, in relation to which all his other work is viewed as either an ascent toward these heights or a descent from them. Thus, The Philanderer is usually approached simply as an amateurish, rough, flawed version of Man and Superman, The Doctor’s Dilemma, or Getting Married, depending on the individual critic’s bent. Putting a playwright’s work into the perspective of his career as a whole can indeed be valuable and illuminating, but it is not useful or valid to say that Ajax is not a good play because it is not Oedipus, that Little Eyolf is a bad play because it is not Hedda Gabler, or that Andromache is somehow flawed because it is not Phaedra. We all bring expectations and preferences to the theater, critics no less than audiences; this is especially true for a playwright with whose work we are familiar. In fact, to facilitate the clarification and definition of our expectations, we invent adjectival forms of the playwright’s name - Brechtian, Shavian, Shakespearean, Aristophanic, Racinian, Pinteresque, Beckettian. Without realizing it, we start approaching a playwright’s work, not on its own terms, but solely in terms of how much or how little it fits the ideal Shavian, Sophoclean, or Chekhovian model. In Shaw criticism, the holy trinity consists of Major Barbara, Heartbreak House, and Saint Joan, so the critics evaluate and discuss his entire dramatic oeuvre on the basis of how similar or dissimilar any given play is to these works. And since The Philanderer is quite dissimilar to each of the three plays named, it is considered an inferior drama. To be sure, critical perceptions of The Philanderer have been severely altered by what seemed to be Shaw’s own disowning of the play in a letter to Ellen Terry in August of 1896: Shaw, The Philanderer, and the (Un)Making of Shavian Drama 35 To tell you the truth, I have had a shock down here. In the evenings they make me read plays to them; and the other night I had to fall back on my Opus 2, a comedy called The Philanderer, now some years old. It turned out to be a combination of mechanical farce with realistic filth which quite disgusted me; and I felt that if my plays get stale at this rate, I cannot afford to postpone their production longer than I can help. 12 This letter has been quoted dozens of times by disparagers of the play. However, we must bear in mind the context of the letter. Shaw was writing it to persuade Terry to undertake the role of Candida, so what was wrong, in this instance, with talking down one of his other plays that had a tempting part for an actress? On April 19, 1898, The Philanderer was published in Plays Unpleasant. This volume also included Widowers’ Houses and Mrs. Warren’s Profession; on the same day Plays Pleasant was also published, including Arms and the Man, Candida, The Man of Destiny, and You Never Can Tell. Shaw became a literary sensation as a result. The most favorably received play in these two collections was Candida, and the most savagely attacked was Mrs. Warren’s Profession - in relation to which The Philanderer fared only slightly better. The Academy’s critic, for one, charged Shaw with ignoring the emotions of his audience in this work: The Philanderer is professedly the study of a male flirt…. The defect of the play seems most clearly to exhibit Mr. Shaw’s own main defect - the utter want of any real experience in life…. he has not understood, has not sympathised…; it does not move him at all on the side for which theatre mainly exists, that of the human emotion. 13 Shaw would hear this charge again and again - that he was heartless, cold-blooded, inhuman, unrealistic, merely delighting in paradox. But, in his “Author’s Apology” (1902) for Mrs. Warren’s Profession, he pointed out that his plays seemed paradoxical and inhuman not in relation to real life, but only in relation to the sentimental, romantic, idealized theatrical notions of human behavior that “do not exist off the stage.” 14 Shaw went on declare “that the real secret of the cynicism and inhumanity of which shallower critics accuse me is the unexpectedness with which my characters behave like human beings, instead of conforming to the romantic logic of the stage.” II. If you marry, you will regret it; if you do not marry, you will also regret it; … Believe a girl, you will regret it; if you do not believe her, you will also regret it; If you hang yourself, you will regret it; if you do not hang yourself, you will regret it; … This … is the sum of all practical wisdom. Kierkegaard, Either/ Or, 1843. 15 The world of The Philanderer is that of the middle and upper-middle class, and the opening presents a light scene of lovemaking between Grace and Charteris, two intelligent people. This first scene appears to be one of very sophisticated high comedy with an emphasis on verbal wit. As the scene gathers momentum, it is interrupted by Julia, and a scene of sharp contrast follows, one that seems almost farcical on account of its total reversal of the expected male-female roles of pursuer and pursued. As this scene approaches its climax, it too is interrupted by the entrance of Craven and Cuthbertson, two long-lost friends. The Ibsenite Realist, Charteris, is now surrounded by Idealists: a Romantic Idealist, Julia, who believes in the ideal of “depth of feeling” as the guarantee that she is a special human being with a “soul”; a Military Idealist, Craven, who sees society as one large barracks and the observing of social conventions and proprieties as the equivalent of “following orders”; and a 36 Robert Cardullo Theatrical Idealist, Cuthbertson, who believes that life should aspire to the ideals of a sentimental play. Charteris makes a partial revelation about the preceding action to Craven and Cuthbertson, followed by a full revelation to Cuthbertson, providing in effect a succinct outline of Act I: CHARTERIS. Julia wants to marry me: I want to marry Grace. I came here tonight to sweetheart Grace. Enter Julia. Alarums and excursions. Exit Grace. Enter you and Craven. Subterfuge and excuses. Exeunt Craven and Julia. And here we are. 16 In Act II the action moves into a polyphonic series of duologues, and the love triangle expands to a quartet. The opening scene introduces Sylvia, Julia’s younger sister (a female Realist), and Dr. Paramore (a male Idealist). It is possible that Sylvia is actually a “closet Idealist”; her ardent feminism may well be just another ideal, for she still defines herself as an “unwomanly woman” rather than as an individual human being. To her mind, to be treated as a “man” means that she is accepted as a human being. Paramore is a Scientific Idealist who, generally, perceives other human beings in the same way that he views microbes in his laboratory. Interestingly, although he is in many ways unsentimental and probably an atheist, he still believes in the sentimental ideal of romantic love. Enter Cuthbertson, and we see that the two Idealists are at perfect ease with each other. We then discover that Paramore is in love with Julia but doesn’t think he has a chance. With the entrance of Craven and the exit of Paramore, the two men - fathers both (Craven to Julia, Cuthbertson to Grace) - talk “man to man,” and, by adopting the familiar attitude of male cynicism, briefly enter into the world of the Realist without realizing they are doing so. Although both of them believe absolutely in the romantic ideal of the institution of marriage, Craven confides to Cuthbertson, “Well, Jo, I may as well make a clean breast of it - everybody knew it. I married for money.” Cuthbertson responds encouragingly, “And why not, Dan? Why not? We cant get on without it, you know” (41). This moment is complicated by the fact that Cuthbertson married the woman with whom Craven was in love, but it is still the only moment in the play where these two characters let the masks fall away; it is also the only scene in which they are together onstage alone. With all social pretense gone, they speak to each other as two men in a bar would. Enter Charteris, who explains his dilemma frankly to Craven and Cuthbertson, hoping for some advice from two “men of the world.” But suddenly, they are fathers again, and each is shocked that Charteris wants to talk “man to man” about the communications he has received from both Grace and Julia since he saw them in Act I. Cuthbertson and Craven can respond only with fatherly sentiment, as the latter does here: CRAVEN. Charteris: no woman writes such a letter to a man unless he has made advances to her. CHARTERIS (mournfully). How little you know the world, Colonel! The New Woman is not like that. CRAVEN. I can only give you old-fashioned advice, my boy; and that is that it’s well to be off with the Old Woman before youre on with the New. (43) Julia arrives, and Cuthbertson and Craven go to lunch while Julia finds a pretense to lag behind. Once again the play approaches farcical dimensions as Charteris tries frantically to get out of the clutches of Julia, upsetting all our theatrical expectations of malefemale role models. The scene culminates in a line spoken by almost every heroine of nineteenth-century melodrama, but now it is the man who protests: “Unhand me, Julia. If you dont let me go, I’ll scream for help” (43). Here, again, a scene building to a climax is Shaw, The Philanderer, and the (Un)Making of Shavian Drama 37 interrupted, and the final confrontation between Charteris and Julia is postponed by the reappearance of Cuthbertson, who reminds Julia that her “lunch will be cold” (44). Sylvia and Charteris are subsequently left alone. They are at ease with each other, and for once Charteris can have a “man to man” talk with someone: SYLVIA (thoughtfully)…. I dont think you care a bit more for one woman than for another. CHARTERIS. You mean I dont care a bit less for one woman than another. SYLVIA. That makes it worse. But what I mean is that you never bother about their being only women; you talk to them just as you do to me or any other fellow. Thats the secret of your success. You cant think how sick they get of being treated with the respect due to their sex. (44) This characteristic of his is the key to Charteris’s successful philandering, but it also makes him prey to a woman like Julia, who sees him as the ultimate challenge. Julia is convinced that Charteris’s advanced theories about male-female relationships and his objections to romantic love are due to the fact that he simply hasn’t yet found the right woman - a woman, like her, of sincerity and depth of feeling. But, no matter who the woman may be, Charteris appears to be uncompromising in his refusal to act upon romantic, sentimental, and idealized assumptions as if they were real. The point is not that he is heartless, cruel, unfeeling - Charteris does have emotions, and he does love Grace - but that he refuses to make his intellect subservient to his emotions, i.e., he refuses to become a character in a popular sentimental drama. Grace soon arrives and Sylvia leaves. The scene that follows is a very sophisticated intellectual chess game during which Grace counters Charteris move for move. Although neither one is posing, Charteris does at times slip into the clichéd speech of the romantic lover - partly as a game but also partly to test Grace, to see if she really is the New Woman. Ironically, the more Grace refuses to marry Charteris, the more he is attracted to her, to the “newness” in her womanliness: GRACE. Oh, Leonard, does your happiness really depend on me? CHARTERIS (tenderly) Absolutely. (She beams with delight. A sudden revulsion comes to him at the sight: he recoils, dropping her hands and crying) Ah no: why should I lie to you? My happiness depends on nobody but myself. I can do without you. GRACE (nerving herself). So you shall. Thank you for the truth. Now I will tell you the truth…. I love you…. but I’m an advanced woman. I’m what my father calls the New Woman. I quite agree with all your ideas. CHARTERIS (scandalised). That’s a nice thing for a respectable woman to say! You ought to be ashamed of yourself. GRACE. I am quite in earnest about them too, though you are not. That is why I will never marry a man I love too much. It would give him a terrible advantage over me: I should be utterly in his power. Thats what the New Woman is like…. And so we must part. (45-46) The second act of The Philanderer thus ends with the posing of the paradox that a true marriage is possible only between people who do not love each other. Act III begins on a note of gloom with a discussion of Craven’s supposed terminal illness-“Paramore’s Disease” (44, 47) - and the change in eating and drinking habits he has been forced to accept. Then comes the revelation that Paramore’s Disease has been disproved and that Craven is a perfectly healthy man. (Paramore’s Disease, incidentally, is supposed to be a disease of the liver - traditionally the seat of the passions.) Craven’s continued insistence on vegetarianism and abstinence, not because he now has to live in such a way but on moral principle, gives us a key to the Idealist mentality: 38 Robert Cardullo CUTHBERTSON (chuckling). Aha! you made a virtue of it, did you, Dan? CRAVEN (warmly). I made a virtue of necessity, Jo. No one can blame me. (47) No one will blame him, indeed, because society operates on this principle of convincing people that what they have to do is what they ought to do. Paramore and Charteris are now by themselves for the first time, and Charteris tries to get Paramore to propose to Julia. This little moment contains another insight into the Idealist, who looks at everything in abstract terms. Paramore is angry that Craven’s life is no longer in danger, because it has struck a blow to the progress of medical science: CHARTERIS…. Didn’t you congratulate him? PARAMORE (scandalised). Congratulate him! Congratulate a man on the worst blow pathological science has received for the last three hundred years! CHARTERIS. No, no, no. Congratulate him on having his life saved. (50) Grace enters and takes Paramore aside to chat, followed by the entrance of Julia, who, jealous to see Grace speaking with Paramore, throws a fit. The men leave and the stage is now set for the great confrontation scene in the play, an agon between the Realist Woman and the Idealist Woman: GRACE…. How I hate to be a woman when I see, by you, what wretched childish creatures we are! Those two men would cut you dead and have you turned out of the Club if you were a man, and had behaved in such a way before them. But because you are only a woman, they are forbearing! sympathetic! gallant! Oh, if you had a scrap of self-respect, their indulgence would make you creep all over. I understand now why Charteris has no respect for women. JULIA. How dare you say that! GRACE. Dare! I love him. And I have refused his offer to marry me. JULIA (incredulous but hopeful). You have refused! GRACE. Yes; because I will not give myself to any man who has learnt how to treat women from you and your like. I can do without his love, but not without his respect; and it is your fault that I cannot have both. Take his love then; … Run to him, and beg him to take you back. (52) Julia concludes with “Thank Heaven, I have a heart: that is why you can hurt me as I cannot hurt you” (52), after which Grace turns away from her contemptuously. The masks have been ripped away during the above exchange, and we are completely immersed in the world of sexual power politics. Julia shows that she is far from the naïve romantic she has seemed to be. She is not a Nora, for she is fuly conscious of her ability to use her sexuality to manipulate men in order to get what she wants. Grace, for her part, loses her temper without realizing it, in her own way thereby sinking just as low as she thinks Julia has sunk. Perhaps she too, like Craven, has made a virtue of necessity since she doesn’t have Julia’s innate sex appeal. They are both stripped naked, in any event: two women fighting over a man just as shamelessly as a pair of animals fighting over a piece of meat. In its dissection of character and laying bare of human emotion, this scene is far from being merely cleverly comic. When Craven enters, the masks are flung back on. Julia rushes to him, crying “Daddy! ” (52). Since Charteris, now rejected by Grace, is not as attractive to Julia as he had been, she soon rushes off to Paramore’s house, where all will gather for the last act, while Charteris tries to delay their arrival in the hope that Paramore will have enough time to propose to Julia. Though we get further insight into the characters in Act IV, especially Julia and Charteris, the key to sustaining the action here is suspense: the suspense of waiting for the answer to the question “How is the play going to end? ” or “Who will marry whom? ” Shaw, The Philanderer, and the (Un)Making of Shavian Drama 39 And this is by no means certain at the end of Act III. Grace seems to be out of the picture as a mate for Charteris, which somewhat increases Julia’s chances, but Paramore is suddenly much more attractive to Julia now that Grace has shown an interest in him. Moreover, it is not at all certain that Grace will not change her mind about Charteris’s proposal, and she insists at the end of Act III that she, too, is going to Paramore’s house to see what will happen in the end. In the course of Act IV, Julia has a dramatic anagnorisis, as we see from the following exchange: PARAMORE. As it is, I can only admire you, and feel how pleasant it is to have you here. JULIA (bitterly). And pet me, and say pretty things to me! I wonder you dont offer me a saucer of milk at once…. you seem to regard me very much as if I were a Persian cat…. You are all alike, every one of you. Even my father only makes a pet of me. (55) This is not an act on Julia’s part, even though she is toying with the idea of marrying Paramore; she is having an extended recognition. As Act IV progresses, she realizes that what Charteris says of her is true, that she is a slave to her feelings or passions, and this is not a noble or wonderful thing to be. Julia has a recognition comparable to Nora’s, but she undergoes the further recognition that she can do nothing about it. Paramore himself talks his way through every cliché of romantic love - in each of which, unlike Charteris, he fervently believes. But his words only further Julia’s recognition of how foolish she is when she gives herself over to her own emotions: “(earnestly). Believe me: it is not merely your beauty that attracts me: I know other beautiful women. It is your heart, your sincerity, your sterling reality, your great gifts of character…” (55). With the arrival of Craven, Paramore hustles his future father-in-law offstage to formally ask for his daughter’s hand, while Charteris and Julia are left alone for their last confrontation. And here, all the themes of the play converge: JULIA (earnestly). It is you who are the vivisector - a far crueller, more wanton vivisector than he [Paramore]. CHARTERIS. Yes; but then I learn so much more from my experiments than he does! And the victims learn as much as I do. Thats where my moral superiority comes in. (57) Charteris is right, and he is helping here to solidify Julia’s anagnorisis. Ultimately, our understanding of Charteris is an ironic one. We wonder if his uncompromising refusal to sink to Julia’s level has in fact made him sink just as low, if his advanced ideas have become just another set of Ideals. As a result, the ending of The Philanderer is very serious, indeed: JULIA (exhausted, allowing herself to take it). You are right. I am a worthless woman. CHARTERIS (triumphant, and gaily remonstrating). Oh, why? JULIA. Because I am not brave enough to kill you. GRACE (taking her in her arms as she sinks, almost fainting, away from him). Oh, no. Never make a hero of a philanderer. (Charteris, amused and untouched, shakes his head laughingly. The rest look at Julia with concern, and even a little awe, feeling for the first time the presence of a keen sorrow.) (61) This conclusion is close to tragic. It is the equivalent, from a reverse angle, of Nora’s returning to Torvald, not out of a concession to audience taste and Idealism, but because she realizes that her romantic sentimentality is not an illusion or something that she can disown but what she is at the very core of her being, and that, although it would be theoretically wonderful to be liberated and inde- 40 Robert Cardullo pendent, she cannot live without an equally sentimental Torvald - just as Julia requires a Paramore for her own emotional survival. For his part, the advanced Ibsenite philosopher, Leonard Charteris - Shaw’s Gregers Werle, a distant cousin of Brand and Rubek - has actually not progressed one step from Jack Horner or any other Restoration rake. As for the New Woman, Grace Tranfield is hardly a flattering portrait, especially when, toward the end of the play, she approaches self-loathing. A glimmer of hope seems to be presented in the uncorrupted Sylvia, but that may be only because she has not yet been tainted by the cynicism of worldly experience. III. Technically, I do not find myself able to proceed otherwise than as former playwrights have done…. My stories are the old stories; my characters are the familiar harlequin and columbine, clown and pantaloon…; my jests are the ones in vogue when I was a boy, by which time my grandfather was tired of them. Shaw, Preface, Three Plays for Puritans, 1901. 17 It has long been assumed that the basis of Shaw’s method, in The Philanderer as in other plays of his, was the shattering or at least the disregard of popular theatrical conventions of his time. Actually, the opposite is true: Shaw’s major plays are the very apotheosis of nineteenth-century dramatic technique and the popular performance tradition. Just as surely as the effectiveness onstage of Celina, Black-Ey’d Susan, The Colleen Bawn, and The Ticket-of-Leave Man depended upon a set of assumptions and conventions implicitly accepted by the audience, just so do Mrs. Warren’s Profession, Candida, Caesar and Cleopatra, and Major Barbara depend almost entirely for their theatrical effectiveness on this exact same set of conventions and assumptions. By injecting into his plays challenging intellectual content, by clouding and thus complicating the moral perspective (i.e., by making the immoral, or even the moral, amoral), and by feeding on the irony between real life and the theater’s idealized version of it, Shaw was able to employ the mechanics of the well-made play and the time-tested structural pattern of melodrama with freedom and dexterity. A simple summary of the action in Arms and the Man, You Never Can Tell, or Man and Superman (minus the third act) would show Shaw’s skill in plot construction. He did not reject the traditions of the pièce à thèse, the pièce bien-faite, or popular melodrama, but instead employed them in their most extreme and radical forms. He was thus dead serious when he declared, “A really good Adelphi [Theatre] melodrama is of first-rate literary importance, because it only needs elaboration to become a masterpiece.” 18 While Shaw often seems to be parodying the popular theater or contravening melodrama, in fact he is shamelessly exploiting every theatrical trick and melodramatic convention known. The basic situation of The Philanderer, for example, was familiar to any nineteenthcentury theater audience: A. (Julia) loves and wants to marry B. (Charteris), who loves and wants to marry C. (Grace), while D. (Paramore) loves and wants to marry A. This initial dramatic premise is the springboard for the action of the play, and that action achieves its fruition in the conflicts between the various characters. But the outcome of the play is determined by the beliefs and ideas of those characters, not by the providential design of melodrama. For in melodrama characters are slaves to their moral classification; in Shaw, as Brecht pointed out, “The opinions of his characters constitute their fates.” 19 If The Philanderer were true to classic comic form, its “fate” would be to end with a pair of marriages (Julia-Charteris and Grace-Paramore). But there is no such reconciliation or synthesis in the play, as there is, say, in Major Shaw, The Philanderer, and the (Un)Making of Shavian Drama 41 Barbara. True, there is a marriage agreed upon at the end, but it is only one that ironically fulfills the dialectical thrust of the drama. Shaw’s plays are all structured dialectically. A thesis is stated; counter to this thesis is presented another one, an obstacle to and contradiction of the original thesis. The Philanderer posits two antithetical approaches to the modern institution of marriage: marriage with love and marriage without love. Each thesis produces unpleasant or even disasterous consequences, and both are found insufficient. The Philanderer therefore does not produce a reconciliation in the end, and this play, like Mrs. Warren’s Profession, Caesar and Cleopatra, The Doctor’s Dilemma, Pygmalion, Heartbreak House, and Saint Joan, is not structurally a comedy. It does not bring order out of chaos or reconcile two opposites; the synthesis must be provided by the audience. The original (and rejected) final act of the play did provide the only possible synthesis - love without marriage. Charteris and Julia, of course, are the two characters who represent the dialectical extremes, in this case of human personality: Charteris feels only intellectually and Julia thinks only feelingly. The dynamic that these two figures represent could be expressed in a number of different ways: the tension between Apollo and Dionysus, Logos in conflict with Eros, the Ethical Man versus the Aesthetic Man, the struggle between the Ego and the Id. Any one of these approaches could be fruitful if applied to The Philanderer - when all is said and done, one dialectic is as good as another. But a good way in which to approach the play is to use the vocabulary that Shaw himself employed (and which is employed, as well, in part II of this essay) in The Quintessence of Ibsenism to describe these two types of personality: Realism versus Idealism. An Idealist is one who cannot look life in the face, and instead puts a mask (an Ideal) over every potentially unpleasant reality. Thus marriage, in reality a simple property relationship originally devised as a means of effectively propagating the species, to the Idealist becomes a sacred or holy institution through which man and woman find their ultimate fulfillment as human beings. Similarly, because it was unpleasant or even terrifying to face the inevitable reality of death, the Idealists invented the notion of an afterlife, and so on and so forth. The rare person, Shaw’s one in a thousand, is the Realist, the man or woman who dares to rip the mask away, look reality squarely in the face, and call things by their proper names. A Realist is by nature an Ironist. The ultimate, true Realist is incapable of not seeing anything unironically - indeed, this is the tragedy of the Ironist. The true Realist must be able to preserve an ironic understanding of even his own sense of irony. Indeed, he can turn even it into yet another Ideal, which truly makes him one man in a thousand. Idealists, by contrast, are incapable of an ironic understanding of life. An Idealist will therefore wage wars to end wars and build bombs to preserve the peace. It is important not to view these categories as permanent classifications or static conditions. Shaw is presenting an evolutionary principle of human society wherein Realists and Idealists are not so much opposites as ideologies that are at different levels of development. Most important of all, we must realize that the Realist, after ripping away the mask from a given Ideal, will eventually substitute another Ideal for the one he has destroyed. Progress does obtain, however, because, as Shaw writes in The Quintessence of Ibsenism, “every new ideal is less of an illusion than the one it has supplanted.” 20 Now this model of Realism versus Idealism fits certain plays by Ibsen very well and others not at all, but The Quintessence of Ibsenism is much more valuable for understanding Shaw than it is in understanding Ibsen. On a very basic level, the cast of characters in The Philanderer can be broken down as 42 Robert Cardullo follows: Realists - Charteris, Grace, Sylvia; Idealists - Julia, Paramore, Cuthbertson, Craven. Cuthbertson and Craven are modeled on the portrait of the Idealist in The Quintessence of Ibsenism. Cuthbertson has had an absolutely wretched failure of a marriage and is now separated, but still he would defend marriage to the death as an institution. Craven, who was in love with the woman whom Cuthbertson married, gave her up, thereby sacrificing what he considered his happiness for the romantic ideal of doing what was best for her; eventually he married, not for love, but for money. Grace, a widow, was an Idealist when she married, but the experience of marriage made her a Realist; like Charteris, she has torn the mask off the institution and now sees marriage not as the ultimate fulfillment of the human personality, through love, but as a conventional social arrangement and property relationship - not at all the correct arrangement or relationship for one person who loves another, because it will degrade them both as human beings. Julia herself believes fervently in the romantic ideal of marriage and the sentimental ideal of deep, intense feeling as the ultimate proof of a sincere, noble, and higher form of being. The proper mode for the Idealist is comedy, for the Realist tragedy. And the Realist- Idealist extremes of character that are yoked to the central action of this play may partially explain the seeming incongruity of its structure. To wit: The Philanderer seems like a different play when Charteris and Grace (two Realists) are onstage together, as opposed to when Charteris and Julia (Realist and Idealist) are together onstage. The conflict in The Philanderer, in fact, is precisely the one between Idealist and Realist, and it takes the specific form of a struggle between passion and intellect. The action of the play is an attempt to reconcile this opposition. The plot forces the characters into a series of choices - Charteris decides to reject Julia, Grace decides to reject Charteris, Julia decides to reject Charteris, Juia decides to marry Paramore. Each choice centers around circumstances reflecting the opposition between passion and intellect and the characters’ understanding of those circumstances. Since each decision made alters the previous set of circumstances and the characters’ understanding of them, it further complicates the next decision that has to be made, and in this way each decision becomes more complex and more important. For example, Julia’s final decision to marry Paramore is determined by a causal chain of prior decisive actions in the play - Charteris has rejected her once, Grace has rejected Charteris, Charteris has rejected Julia again, Paramore has shown an interest in her, Grace is showing an interest in Paramore, then Paramore declares his love and asks Julia to marry him. The “given” of the play is that marriage is an outmoded institution. The hypothesis of The Philanderer is that educated, modern, enlightened people can nevertheless find fulfillment through the existing institution of marriage. As each possible match is suggested and debated and each decision made, various aspects of the hypothesis are explored and tested until the play ultimately proves the hypothesis false. Intelligent, advanced, civilized human beings cannot marry and at the same time remain intelligent, advanced, civilized human beings. The Philanderer’s ending is by far its most challenging moment, and it should not be pushed aside or allowed to “take care of itself” in any production. It demands clear choices by the actors and a distinct point of view on the part of the director. The audience must take this conclusion seriously and not just as mere Shavian perversity or paradox. To be part of a satisfying theatrical experience, it must present a clear challenge to audience members, and one that they will actually confront once they are outside the theater. The ending is neither happy nor funny, neither a paradox nor a “cop-out” on Shaw’s Shaw, The Philanderer, and the (Un)Making of Shavian Drama 43 part. It would have been much easier to unite the pairs of lovers at the end, as Shaw would later often do, and as traditional comic form demands. As it stands, the play’s rhythm modulates between an idealized vision of life (comedy) and an ironic vision of life (tragedy). Then it ends on a tragic note. In The Philanderer, then, Shaw would allow himself to explore the basis of his understanding of life and human relationships much more honestly than he would in his later plays, when his ideas about Creative Evolution had ossified into an orthodoxy. It is itself a human, or dramatic, tragedy to see Shaw, the great iconoclast, the great Realist, thus transform himself into as much of an Idealist as any such character in his plays. Nietzsche asked to be saved from his disciples, and Shaw could well have taken this as a bit of advice, because he became his own worst disciple. 21 At a certain point, in fact, Shaw’s ideas become empty and mean nothing, because he invests nothing of himself in his work. His devastating wit and incredible intellect become an insulation. And they ultimately turn against him when we begin to realize that Shaw is clever enough to build convincing arguments for absolutely anything. Shaw’s saint and soldier, Greek professor, and munitions maker can all convince us with equal dexterity that their vision of the world is right. As Don Juan himself admits in a Shaw play, “Yes, it is mere talk… nothing but words which I or anyone else can turn inside out like a glove. 22 Part of Shaw’s displeasure with The Philanderer in his later years was surely that it did not neatly fit into his theory of Creative Evolution in the way that, say, Man and Superman did. In the earlier play, Shaw was “shooting from the hip,” if you will, for he had not yet developed the vocabulary of Creative Evolution and the Übermensch. The confessedly autobiographical nature of The Philanderer was also an embarrassment to him. Those who claim that the play is a selfflattering vindication of Shaw’s own philandering have not read it very closely. The character of Charteris is a severe self-criticism, whether it was conscious or not. The play remains dark and unpleasant for all its wit and humor; it strenuously questions the possibility of progressive human evolution in a way that reminds one of the following words by Ibsen: “Everyone wants their own special revolutions, always in external things. What is really needed is a revolution of the human spirit.” 23 When The Philanderer was finally published in 1898, Shaw had already passed the point where he could have written it. The play is alive and attractive precisely because of its roughness, its hardiness, its sincerity; its complex, problematic nature makes it both profound and heartfelt. But, no, this play does not contain the dramatic algebra of Saint Joan: Shaw had not yet canonized himself. NOTES 1 Fabius cited in Max Beer. A History of British Socialism. (1919), Vol. 2. London 2002, 274. 2 George Bernard Shaw, ed. Fabian Essays in Socialism. London, 1889. 3 Archibald Henderson. “George Bernard Shaw Self-Revealed.” Fortnightly Review 109 (1926): 439. 4 Christopher St. John, ed. Ellen Terry and Bernard Shaw: A Correspondence. New York, 1932. 90. 5 Shaw quoted in Frank Harris. Bernard Shaw. New York, 1931. 30. 6 Shaw cited in Hesketh Pearson. George Bernard Shaw. London, 1942. 123. 7 Colin Wilson. Bernard Shaw: A Reassessment. London, 1969. 84, 115. 8 Maurice Valency. The Cart and the Trumpet: The Plays of Bernard Shaw. New York, 1973. 89. 9 St. John Ervine. Bernard Shaw: His Life, Work and Friends. New York, 1956. 108. 10 J. Ellen Gainor. Shaw’s Daughters: Dramatic and Narrative Constructions of Gender. Ann Arbor, 1991. 48-59 et passim. 44 Robert Cardullo 11 Peter Gahan. Shaw Shadows: Rereading the Texts of Bernard Shaw. Gainesville, 2004. 157-188. 12 St. John 1932, 38. 13 J. Murray. Review of The Philanderer. The Academy: A Weekly Review of Literature, Science, and Art, 4 June 1898: 614. 14 George Bernard Shaw. “The Author’s Apology.” Mrs. Warren’s Profession. London, 1906. xxiii. 15 Søren Kierkegaard. Either/ Or: A Fragment of Life. London, 1992. 54. 16 George Bernard Shaw. “The Philanderer.” The Complete Plays of Bernard Shaw. London, 1931. 38. Hereafter cited by page number in the text. 17 George Bernard Shaw. “Preface.” Three Plays for Puritans. London, 1931. xxxv. 18 George Bernard Shaw. Dramatic Opinions and Essays. Vol. 1. New York, 1906. 72. 19 Bertolt Brecht. “Three Cheers for Shaw.” Brecht on Theatre. New York, 1964. 11. 20 George Bernard Shaw. “The Quintessence of Ibsenism.” The Collected Works of Bernard Shaw, Vol. 19. New York, 1932. 45. 21 Friedrich William Nietzsche. Nietzsche: A Self- Portrait from His Letters. Cambridge, 1971. 46. 22 George Bernard Shaw, Don Juan in Hell (Act 3, Scene 2), from Man and Superman, in The Complete Plays of Bernard Shaw. London, 1931. 386. 23 Henrik Ibsen, Letter to Georg Brandes dated December 20, 1870, in Ibsen: Letters and Speeches. Ed. Evert Sprinchorn. New York, 1964. 106-107. Theater für alle, aber nicht von allen? Spannungsfelder und Perspektiven der Theatervermittlung Myrna-Alice Prinz-Kiesbüye und Yvonne Schmidt (Bern) Theatervermittlung ist kein einheitlich definierter Begriff. Praktiken, die unter diesem Label laufen sind entsprechend vielfältig und die Grenzen zu Pädagogik, Marketing oder Kunsttheater uneindeutig. Anhand theoretischer Überlegungen von Carmen Mörsch zu den unterschiedlichen Funktionen von Vermittlung wird im Artikel zunächst das Feld der Theatervermittlung abgesteckt. Sodann werden aktuelle Vermittlungsbeispiele aus der Schweiz näher analysiert und auf ihre Spannungsfelder und Potentiale befragt. Gessnerallee Backstage wird dabei als Vermittlungsprojekt mit hauptsächlich reproduktiver Funktion angeführt - es geht dabei vor allem um die Entwicklung neuer Publika. Durch einen Blick auf Theater mit nicht-professionellen Darstellenden wird die Perspektive erweitert. Anhand von Beispielen aus dem Bereich des Theaters mit Behinderten, welches eine grosse Nähe zur sozialen Wirklichkeit aufweist, wird der Vermittlungsdiskurs in einen weiteren Kontext gestellt: Inwiefern kann auch hier von Vermittlung die Rede sein und welche Auswirkungen kann diese Theaterform auf das Theatersystem haben? Es wird konstatiert, dass Vermittlung zuweilen auch die Frage aufwirft, was als legitimes Kunsttheater gelten kann. Vermittlung als wechselseitiger Prozess verstanden kann somit stets die Chance oder das Risiko für die Theaterinstitutionen bergen, sich zu verändern. Läuft der Kunst das Publikum davon? Gibt es vielleicht zu viel, als dass wir uns noch ernsthaft mit ihr auseinandersetzen könnten? Oder hat die Kunst die Öffentlichkeit abgehängt? Auf jeden Fall sieht es ganz so aus, als hätte die Beziehung zwischen Kunst und jenen, für die sie gemacht ist, eine Therapie nötig. Ansätze dazu gibt es unzählige, alle laufen sie unter dem Titel ‘Kulturvermittlung’. 1 Pius Knüsel, der Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, diagnostiziert ein Beziehungsproblem zwischen Kunst und Öffentlichkeit, das durch das Wundermittel der Kulturvermittlung geheilt werden könne. Der schillernde Begriff der Kulturvermittlung bietet sich dabei als ideale Projektionsfläche für vielfältige Wünsche und Versprechen unterschiedlicher Akteure an: Kulturvermittlung schützt beispielsweise vor der Überalterung des Publikums, macht fit für die Wissensgesellschaft und ganz nebenbei können dadurch die Subventionen für kulturelle Institutionen legitimiert werden. Der aktuelle Vermittlungsboom - zumindest das vermehrte Reden darüber - ist in der Schweiz vor dem Hintergrund des neuen Kulturförderungsgesetzes auf Bundesebene zu verorten. 2 Die Pro Helvetia wird darin zur Förderung von Vermittlung beauftragt. Ihre provisorische Vermittlungsdefinition lautet: Unter Kulturvermittlung versteht die Pro Helvetia Aktivitäten, die darauf abzielen, mehr und unterschiedliche Menschen mit Kunst in Berührung zu bringen und der Kunst eine grössere Relevanz im Leben von mehr Menschen zu verschaffen. 3 Einerseits wird damit eine quantitative Dimension in den Blick genommen, die auf die Erweiterung und Entwicklung eines Publikums abzielt und einem kulturpolitischen Paradigmenwechsel von der traditionellen Angebotsorientierung hin zur Nachfrageorientierung Rechnung trägt. Andererseits schwingt in der implizierten Frage, inwiefern Kunst für die Gesellschaft relevanter werden kann, eine qualitative Dimension mit. Doch welcher Kunstbegriff ist hier überhaupt im Spiel bzw. steht auf dem Spiel? Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 45-63. Gunter Narr Verlag Tübingen 46 Myrna-Alice Prinz-Kiesbüye / Yvonne Schmidt Mit Blick auf das zeitgenössische Theaterschaffen 4 kann eine Wechselwirkung zwischen künstlerischer Praxis und sozialer Wirklichkeit beobachtet werden: nicht-professionelle Akteure werden auf die Bühnen des Kunsttheaters geholt und Alltagsräume zur Bühne gemacht. Auf unterschiedliche Weise wird in den Bürgerchören eines Volker Lösch, Performance Wettbewerben wie unart oder Inszenierungen im Rahmen der Heimspiel-Initiative verschiedenen Gruppen - häufig solchen, die als marginalisiert markiert sind - auf großen Bühnen hoch institutionalisierter Theater Sichtbarkeit verschafft. Die britische Gruppe Wrights & Sights hingegen will durch die performative Praxis des Gehens im öffentlichen Raum Erkenntnisse generieren und das Theaterhaus Gessnerallee hat sich vorgenommen, Zürich in 12 Installationen, Performances und Rundgängen inmitten der Stadt und in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung zu retten. Durch solche sozialen Kunsttheaterprojekte verschwimmen nicht nur die Grenzen zwischen Theater und Performance, zwischen Theater und Nicht-Theater, sondern auch die lange Zeit als unverrückbar geltenden Grenzen zwischen der Hochkultur des professionellen Theaters und der Soziokultur theaterpädagogischer Arbeit. 5 Dieses Spannungsverhältnis zwischen der “Pädagogisierung des Kunsttheaters” einerseits und der “Ästhetisierung des Pädagogischen” 6 andererseits geht nicht ohne Grabenkämpfe über die Bühnen. Sobald es um Theater mit nicht-professionellen Darstellenden geht, spielt daher stets die Frage des “Labels” eine wesentliche Rolle, wie Jens Roselt bereits vor einigen Jahren konstatierte: Immer häufiger sieht man (bzw. sehe ich) auf Bühnen Ensembles, die auf Profis ganz verzichten, in denen also Darsteller auftreten, die erkennbar keine körperliche und stimmliche Ausbildung für das Theater haben. Schnell werden diese Ensembles durch die sozialen Gruppen definiert, denen ihre Akteure angehören. Zu denken ist an die Arbeit mit geistig und körperlich Behinderten, das Theater mit Alten, Obdachlosen oder Strafgefangenen. Der Vielfalt an Projekten, Ambitionen, Motivationen und Ergebnissen wird eine solche theoretische Stigmatisierung nicht gerecht. 7 Nicht-professionelle Darstellende treten in differenzierten professionellen Kontexten auf. Die von Rimini Protokoll eng gefasste Begriffsdefinition von “Experten des Alltags” 8 erscheint deshalb unzureichend, um das Phänomen fernab von Rimini Prokoll zu beschreiben. Während nicht-professionelle Darstellende in Rimini-Produktionen - von Kreuzworträtsel Boxenstopp bis Call Cutta - auf der Skala von Michael Kirby 9 tendenziell im Bereich des “Not Acting” angesiedelt sind, sind in avancierten Jugendclubs, Freilichttheater-Produktionen in der Schweiz oder auch im Theater mit behinderten Darstellenden die nicht-professionellen Akteure in einer großen Bandbreite der Darstellung, vom Mitwirken in einem Chor 10 bis hin zum komplexen Schauspiel zu erleben. Diese Wechselwirkung zwischen einer Entgrenzung des Kunsttheaters und einer Ästhetisierung des Alltags werfen auf den aktuellen Diskurs der Vermittlung ein anderes Licht. Die Trennungen zwischen Kunst, Vermittlung und Pädagogik werden neu ausgelotet und es stellt sich die Frage, ob der Vermittlungsbegriff auch in anderen Zusammenhängen produktiv gemacht werden könnte, wo er bisher nicht auftaucht. Im Folgenden werden Spannungsfelder, aber auch Perspektiven im Feld der Theatervermittlung aufgezeigt. Aktuelle Vermittlungsdiskurse Aus der Perspektive der Institutionen betrachtet, sind gemäss Carmen Mörsch derzeit vier Diskurse der Kunstvermittlung am Werk: Theater für alle, aber nicht von allen? 47 Der affirmative, reproduktive, dekonstruktive und transformative. 11 Sie sind als interdependent zu verstehen und folgen keiner Hierarchie oder chronologisch-historischen Entwicklung. Die Einteilung hilft, um sich einen Überblick im heterogenen Feld der Vermittlung - nicht nur im Bereich von Museen und Ausstellungsinstitutionen - zu verschaffen. 12 Im Folgenden orientieren wir uns daher entlang der vier genannten Diskurse, um das spezifische Feld der Theatervermittlung zu skizzieren. Zu den häufigsten Vermittlungsangeboten an institutionalisierten Theatern zählen Einführungen und Publikumsgespräche, die sich an eine bereits interessierte Öffentlichkeit richten. In Einführungen vor Aufführungen werden festgelegte Inhalte von autorisierten Sprechern - in der Regel übernehmen Dramaturgen und Dramaturginnen diese Aufgabe - übermittelt. Die Weitergabe von Wissen ist einseitig; eine Infragestellung der Inhalte ist nicht beabsichtigt. Bei Publikumsgesprächen ist die Interaktion zwar konstitutiver Bestandteil, jedoch ist auch hier meist klar definiert, wer lehrt und wer lernt, wer über Wissen verfügt und wer es entgegennimmt. Diesen Praktiken kann daher eine affirmative Funktion zugeschrieben werden. Eng damit verknüpft sind Vermittlungsangebote mit reproduktiver Funktion. “Der affirmative und der reproduktive Diskurs sind in Bezug auf das von ihnen transportierte Bildungsverständnis beide nicht selbstreflexiv in dem Sinne, dass sie dieses auf seine Machtstrukturen hin befragen.” 13 Im Unterschied zum affirmativen Diskurs, bei dem einem Fachpublikum kanonisierte Bildungsinhalte vermittelt werden, steht beim reproduktiven Diskurs allerdings im Fokus, neue Publika zu erschliessen. Unter dem Vorzeichen von Inklusion und Teilhabe werden bisher vom Theater abwesende Öffentlichkeiten anvisiert. In Spielclubs, Workshops oder so genannten Patenklassen kann Theater praktisch erfahren und können vermeintliche Schwellenängste abgebaut werden. Meist richten sich diese handlungsorientierten Angebote an Kinder und Jugendliche, in der Annahme, dass möglichst früh angesetzt werden muss, um ein Publikum von morgen zu gewinnen. Diese reproduktive Funktion ist in kulturpolitischen Argumentationen besonders dominant und wird auch in wissenschaftlichen Publikationen zum Thema hervorgehoben. 14 Ein Vermittlungsprojekt, das auf eine Erweiterung des Publikums abzielt, sich aber vor allem an Erwachsene richtet, ist das der Theaterattachés. Es wird derzeit mit Unterstützung der Pro Helvetia an drei Theatern in der Schweiz erprobt - der Comédie de Genève, dem Vorstadttheater Basel und dem Schauspielhaus Zürich - und ist im Museumsbereich bereits etabliert. Die Attachés sind mit dem jeweiligen Theater bekannt und erhalten durch ihre Rolle einen vertieften Einblick in Produktionen des Hauses oder andere sie interessierende Aspekte. In weiterer Folge laden sie eigenständig Gäste ein, um gemeinsam mit ihnen das Theater zu entdecken. 15 Im Grunde genommen werden sie dadurch selbst zu Vermittlern oder Multiplikatoren, die dem Theater helfen, in Kontakt mit neuen Publika zu kommen. Je nach Theater werden die Attachés daher auch nach strategischen Gesichtspunkten ausgewählt. So hat das Vorstadttheater Basel bewusst Attachés mit türkischen und kurdischen Migrationshintergrund gesucht, um eine Bevölkerungsgruppe verstärkt anzusprechen, die als abwesend empfunden wird. Aus den spezifischen Zielen der drei Theater erwachsen auch divergierende Umsetzungen. Durch die Attachés sollen am Schauspielhaus Zürich beispielsweise nicht in erster Linie neue Zuschauer, sondern neues Wissen gewonnen werden. Die Attachés werden zu Austauschpartnern des Schauspielhauses, die ihre Bedürfnisse und Wünsche in die Institution einbringen können. Welche Themen beschäftigen sie? Wie wird das Theaterhaus von Aussen wahrgenommen? Ein wechselseitiger 48 Myrna-Alice Prinz-Kiesbüye / Yvonne Schmidt Lernprozess wird initiiert: Einerseits erkunden die Attachés das Theater nach ihren Interessen, andererseits wird ihre Stimme in der Institution ernst genommen. Implizite Wissenshierarchien werden aufgehoben und die Möglichkeit zur Veränderung für alle beteiligten Akteure ist gegeben. Dass bei einem solchem Prozess mit Spannungen und Widerständen zu rechnen ist, liegt auf der Hand. Inwiefern die gesteckten Ziele tatsächlich erreicht werden, ist noch nicht erkennbar, da sich das Projekt in Zürich erst in der Konzeptionsphase befindet. In der spezifischen Ausrichtung lässt sich jedoch neben den deutlichen reproduktiven Anteilen, ein transformatives Potential ausmachen. Vermittlungspraktiken mit transformativer Funktion zielen nicht so sehr darauf ab, Öffentlichkeiten an die Institutionen heranzuführen, sondern gehen davon aus, “dass sie selbst - aufgrund ihrer durch lange Isolation und Selbstreferenzialität entstandenen Defizite - an die sie umgebende Welt - z.B. an ihr lokales Umfeld - herangeführt werden müssen”. 16 Das Wissen unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure fließt in die Institution ein, die als veränderbar und lernend verstanden wird. Das kann auch Auswirkungen auf den Spielplan haben, wie das Projekt Heimspiel zeigt. Die deutsche Kulturstiftung des Bundes fördert im Rahmen des Heimspiel-Fonds seit 2006 Theaterprojekte an deutschen Stadt- und Staatstheatern, “die sich auf künstlerisch herausragende Weise mit der urbanen und sozialen Wirklichkeit der Stadt auseinandersetzen”. 17 Durch den Dialog mit der sie umgebenden Wirklichkeit und Bevölkerung sollen die Theater neue Impulse erhalten und sich für andere Publikumsschichten öffnen. Dabei entstehen ganz unterschiedliche künstlerische Arbeits- und Spielformen. So wurden beispielsweise eine Reihe von Projekten mit dokumentarischem Charakter, in denen nicht-professionelle Darstellende bzw. “Experten des Alltags” auftreten realisiert oder der urbane Raum selbst bespielt wird. Bei den Heimspielen vor heimischen Fans wird letztlich eine ganz grundsätzliche Frage aufgeworfen: Welche Rolle können und sollen öffentliche Theater in der Gesellschaft künftig einnehmen? Im wechselseitigen Austausch mit der Öffentlichkeit wird die gesellschaftliche Relevanz von Theater neu verhandelt. Dieser “schleichende Paradigmenwechsel” 18 stösst wie eingangs erwähnt auch auf Widerstände, da dabei tradierte Vorstellungen von Hochkultur und künstlerischer Autonomie ins Wanken geraten. Die Aufhebung der Trennlinien zwischen theaterpädagogischer Arbeit und professionellem Theater, zwischen Alltag und Kunst lässt gar die Befürchtung einer “‘Entkunstung’ der Kunst” 19 aufkommen. Ob die Initiative des Heimspiel-Fonds nach dem Versiegen der Geldquelle allerdings einen nachhaltigen Einfluss auf die Profile städtischer Theater haben wird, bleibt abzuwarten und ist unter anderem Gegenstand eines bilanzierenden Symposiums, das 2011 in Köln stattfinden wird. Bisher nicht angesprochen wurde die dekonstruktive Vermittlungsfunktion, die im Theater eher selten zu finden ist. Den Institutionen eingeschriebene Machtverhältnisse werden dabei offen gelegt und hinterfragt. Dekonstruktive Vermittlungsformate nehmen oftmals selbst künstlerische Züge an. In performativen Interventionen können beispielsweise Exklusions- und Distinktionsprozesse der Theater verhandelt werden. Ziel ist die Kritik und nicht unbedingt - wie beim transformativen Diskurs angestrebt - die Veränderung der kritisierten Verhältnisse. 20 “Fühl dich zu Hause - und dem Theater den Puls! ” Bei den “klassischen” Theatervermittlungsformaten wie Einführungen, Publikumsgesprächen oder Workshops war bis anhin selten explizit von Vermittlung die Rede. Theater für alle, aber nicht von allen? 49 Durch die kulturpolitische Aufwertung dieser Praxis und den damit verbundenen Chancen auf Fördergelder, gerät der Begriff jedoch zunehmend auch im Bereich des Theaters im Umlauf. 21 Als Golda Eppstein, die schon seit Jahren Theater mit nicht-professionellen Darstellenden macht, mit einem Konzept an das Theaterhaus Gessnerallee Zürich herantrat, war sie zunächst erstaunt, dass alle mit Begeisterung über ihr “Vermittlungsprojekt” sprachen. 22 Ihre Praxis hatte sie bis anhin als Theaterpädagogik gekennzeichnet - der Begriff der Kulturvermittlung war ihr lediglich aus der Integrationsarbeit mit Migranten geläufig. Gessnerallee Backstage, das in der Projektskizze als “wilde Mischung von Theatertraining, Aufführungs- und Probenbesuchen und thematischer Auseinandersetzung mit dem Gesehenen” 23 umschrieben wird, wurde auch von der Pro Helvetia klar als Vermittlungsprojekt gelabelt und im Rahmen des derzeitigen Förderschwerpunkts Vermittlung mit 10'000 Schweizer Franken unterstützt. Dieses Startkapital war für Golda Eppstein unabdingbar, um das Projekt in der Saison 2008/ 09 am Theaterhaus Gessnerallee lancieren zu können, da ihr von Seiten der Gessnerallee keine Stelle oder direkte finanzielle Unterstützung gewährt werden konnten. 24 Eine Haupteinnahmequelle sind die Mitgliederbeiträge, die daher relativ hoch sind: Der wöchentlich zweistündige Kurs kostet für Erwachsene im Monat 180 Schweizer Franken für Normalverdienende und 150 Schweizer Franken für wenig Verdienende. 25 Mit Gessnerallee Backstage möchte Golda Eppstein grundsätzlich theaterinteressierte Menschen erreichen. Nicht nur Menschen, die vorwiegend selber Theaterspielen möchten, sondern auch solche, die angesichts eines breiten und unüberschaubaren Theaterangebots orientierungslos sind. Die eigentlich gerne ins Theater gehen würden, sich aber nicht gut auskennen. Da die meisten Teilnehmenden von Backstage jedoch in erster Linie kommen, um selber Theater zu spielen, muss Golda Eppstein die produktive Verbindung von Spielen und Schauen immer wieder betonen. Denn Backstage will mehr sein als nur ein Theaterkurs: “Als Backstage Mitglied kommst du in den Genuss eines ausgewogenen Menüs, welches ein Theatertraining, Workshops, Begegnungen mit produzierenden Künstlern des Theaterhauses Gessnerallee, Proben- und Aufführungsbesuche beinhaltet.” 26 Der Zugang zum zeitgenössischen Theater und Tanz soll in erster Linie über das eigene Spielen erreicht werden. Die praktische Erfahrung steht für die Projektleiterin daher klar im Zentrum. Sie möchte keine theaterpädagogischen Einführungen anbieten, bei denen die Teilnehmenden auf inhaltlicher Ebene an die Aufführungen herangeführt werden. Das wöchentliche Theatertraining richtet sich deshalb thematisch nach den Interessen der Backstage-Mitglieder und ist nicht vom Programm des Theaterhauses Gessnerallee beeinflusst. Bei diesen Trainingskursen wird auf den Prozess des eigenen Theaterspiels fokussiert - Aufführungen vor öffentlichem Publikum werden nicht angestrebt. Das Theaterhaus Gessnerallee hat an dem Projekt Gessnerallee Backstage vor allem die Möglichkeit interessiert, ein neues Publikum zu gewinnen. Bevölkerungsschichten, die bisher noch keinen Kontakt mit dem Theater hatten, sollen durchs eigene Spiel ihre Berührungsängste vor der professionellen Kunst abbauen können. Für Niels Ewerbeck, den Leiter des Theaterhauses Gessnerallee, steht fest, dass lediglich das Publikum der Vermittlung bedarf, nicht die Kunst. Doch die Kunst selbst kann eigentlich darauf verzichten. Denn im Grunde genommen braucht sie keine Vermittlung, wir brauchen sie. Und wir sollten lernen, die Bälle, die uns die Kunst zuwirft, aufzufangen. 27 Angesichts eines schwindenden Bildungsbürgertums müsse sich Vermittlung um das 50 Myrna-Alice Prinz-Kiesbüye / Yvonne Schmidt Publikum der Zukunft kümmern, ohne dass sich “die” Kunst - hier scheint ein enger Kunstbegriff vorzuherrschen - dafür verändern müsste. Die reproduktive Funktion, die das Projekt für das Theaterhaus Gessnerallee übernehmen kann, wurde auch von der Pro Helvetia erkannt. Die Leiterin der Abteilung Theater der Pro Helvetia, Martha Monstein, hat insbesondere die Frage interessiert, wie Menschen an ein eher experimentelles Theaterprogramm herangeführt werden könnten. Als Pilotprojekt markiert, sollte Backstage hierzu entsprechende Erkenntnisse für die weitere Förder- und Vermittlungspraxis liefern. Die Mitglieder von Gessnerallee Backstage möchten kein neues Publikum generieren. Sie sind gekommen, um Theater zu spielen. Viele berichten von der Schwierigkeit, ein regelmäßiges Angebot auf hohem Niveau für Erwachsene zu finden. Durch die Anbindung an das Theaterhaus Gessnerallee wirkt das Projekt professionell und seriös. Ausserdem ist die Mitgliedschaft zeitlich nicht begrenzt. Die meisten Teilnehmenden haben bereits zu einem früheren Zeitpunkt ihres Lebens Theater gespielt und haben aus ganz unterschiedlichen Gründen wieder das Bedürfnis danach. Ihre Spielerfahrung korreliert jedoch nicht unbedingt mit häufigen Theaterbesuchen. Eine Problematik, die viele Mitglieder ansprechen, ist, dass sie vor Backstage kaum Leute gekannt hätten, die mit ihnen ins Theater gekommen wären. Vor diesem Hintergrund werden die gemeinsamen Theater- und Probenbesuche sowie Künstlergespräche im Rahmen von Backstage als willkommene, aber nicht unabdingbare Zusätze wahrgenommen. Die Theaterbesuche in der Gruppe erfolgen rund einmal im Monat und werden von Golda Eppstein in Zusammenarbeit mit der Dramaturgie-Abteilung geplant. 28 Bevorzugt werden Produktionen, die vor Ort entstehen, da dann die Möglichkeit besteht, schon vorher bei einer Probe dabei zu sein. Allerdings finden Probenbesuche nur selten statt, da die Künstler die Termine kurzfristig wieder absagen oder sich einem Besuch von Anfang an verschließen. Die Teilnehmenden zeigen für dieses Verhalten zwar großes Verständnis, betonen aber auch, wie sehr sie den Austausch schätzen, sofern er denn zustande kommt. Insbesondere Proben zu einem frühen Stadium und nicht erst die Generalprobe können für beide Parteien bei entsprechender Offenheit fruchtbar sein. Publikumsgespräche nach den Vorstellungen finden zwar regelmässig statt, sind jedoch bei den Backstage-Mitgliedern nicht gleichermassen beliebt. Im Unterschied zu den Probenbesuchen fehlt hier der intime Rahmen, da die Gespräche in der Regel öffentlich, d.h. auch für das reguläre Publikum zugänglich sind. Die Problematik der Gespräche liegt in der affirmativen Form: Ein eingeweihtes Publikum redet beispielsweise mit großer Selbstverständlichkeit über die Tradierung von Pathosformeln oder die performative Herstellung von Realitäten. Bei den Backstage-Mitgliedern kommt die Botschaft an, dass sie diese Sprachregister nicht beherrschen und entsprechend fehlt oft der Mut, sich in die Diskussion einzubringen. Wie können inklusive Sprachen für anspruchsvolle Inhalte gefunden werden? Ein erster Schritt läge sicherlich darin, die Problematik zu benennen, sie überhaupt ins Bewusstsein derjenigen zu rücken, die damit Exklusion fördern. Obwohl vordergründig nicht von ihnen beabsichtigt, entdecken die Teilnehmenden durch die gemeinsamen Aufführungsbesuche eine für sie meist unbekannte Theaterform. Sie erhalten dadurch nicht nur Impulse für das eigene Spiel, sondern werden auch zu regelmässigen Gästen des Theaters. Das Ziel der Gewinnung eines neuen Publikums gelingt, denn die meisten Teilnehmenden waren vor Backstage noch nie im Theaterhaus Gessnerallee. So stellt sich die gewünschte Bindung an das Haus her. Jedoch scheint der Theater für alle, aber nicht von allen? 51 Slogan “Fühl dich zu Hause” nur dort zuzutreffen, wo die Bindung über die Theaterbesuche und deren Reflexion hinausgeht. Dies ist beim Backstage-Amateurensemble der Fall, das durch eine eigene Produktion einen Beitrag zum Programm der Gessnerallee leistet. Das Amateurensemble hat sich aus einer Gruppe von Mitgliedern heraus entwikkelt, die irgendwann nicht mehr nur für sich proben, sondern damit auch an die Öffentlichkeit treten wollten. Sie entschieden sich daher eine eigene Produktion unter der Leitung von Golda Eppstein zu entwickeln. Neben dem Spiel ist jeder für einen Bereich nach Wahl wie Technik, Finanzen, Werbung oder ähnliches mitverantwortlich. Dadurch stellt sich auch ein enger Kontakt mit dem Personal des Theaterhauses her. Eine Teilnehmerin beschreibt ihre Erfahrung im Zuge dieser Zusammenarbeit im Interview folgendermassen: Ich schaue die Gessnerallee manchmal wie ein bisschen Heimat an, also wenn du kommst, fühlst du dich wie ein bisschen zuhause. Weil du ja auch mitmachst. Das Amateurensemble ist den Backstage- Mitgliedern unter dem Stichwort Ensemblegruppe geläufig. Im offiziellen Sprachgebrauch wird allerdings auf das Präfix “Amateur” wert gelegt. Im Theaterhaus Gessnerallee zeigt man einerseits Verständnis für das Begehren der Gruppe, andererseits scheint man zu fürchten, das eigene Profil könnte verwässern. Eine Abgrenzung zum professionellen Schaffen muss daher klar markiert werden. Dies geschieht nicht nur auf sprachlicher Ebene, sondern auch räumlich, indem die Produktion auf der Probebühne und nicht auf der “großen Bühne” gezeigt wird. Die Aufführungen, die Ende Mai 2010 stattfanden, waren bereits Wochen vorher ausgebucht. Der Gruppe wurde deshalb eine Zusatzvorstellung gewährt. Obwohl der institutionelle Status des Backstage-Ensembles offenkundig nicht besonders hoch ist, liegt vielleicht genau in den beobachteten Reibungsprozessen die Möglichkeit zur Entfaltung eines transformativen Potentials. Die Okkupation der Bühnen Parallel zu den skizzierten Vermittlungsbestrebungen der Theaterhäuser findet in theaterpädagogischen Praxen eine zunehmende Professionalisierung und Institutionalisierung statt. Immer häufiger stehen ästhetische Paradigmen des Kunsttheaters im Vordergrund. Diese Projekte, meist unter professioneller künstlerischer Leitung, werden jedoch nicht als “Vermittlung” deklariert, obwohl sie oft ein großes Vermittlungspotential aufweisen. Als Beispiel soll im folgenden Theater mit behinderten Darstellern im Fokus stehen. Stärker noch als in anderen Bereichen des Theaterschaffens mit nicht-professionellen Darstellenden besteht insbesondere in der Theaterpraxis mit geistig Behinderten ein Spannungsfeld zwischen Pädagogik und Ästhetik. Zudem ist hier eine zunehmende Professionalisierung seit den 1990er Jahren zu beobachten, welche sich u.a. durch eine wachsende Anzahl von Festivals sowie kunstorientierten Projekten äussert. Ist im skizzierten Vermittlungsdiskurs tendenziell die reproduktive Funktion dominant, so entwikkelt sich im kunstorientierten Theaterschaffen mit behinderten Darstellenden durch die zunehmende Professionalisierung ein transformatives Vermittlungspotential auf mehreren Ebenen, welches auf einer wechselseitigen Annäherung von Theaterpädagogik und Theaterkunst basiert. Diese Annäherung zeigt sich auch im umgekehrten Verhältnis von Produkt und Prozess. Im Kunsttheater, in dem in der Regel im Gegensatz zum pädagogischen oder therapeutischen Theater das aufzuführende Produkt im Sinne der “fertigen Inszenierung” als Endziel im Vordergrund steht, spielt der 52 Myrna-Alice Prinz-Kiesbüye / Yvonne Schmidt kreative Prozess, d.h. Probenprozesse oder auch “kollektive Kreativitätsprozesse”, 29 eine zunehmend wichtigere Rolle. 30 In Lecture Performances, Oral History-Projekten und anderen postdramatischen Theaterformaten sind die Akteure auf der Bühne - unabhängig von ihrer Professionalität - nicht nur Ausführende, sondern eigenverantwortlich am kreativen Prozess beteiligt. Schauspieler inszenieren sich selbst und ihre (Arbeits-) Biografien. Auf den Bühnen der Freien Szene zelebriert beispielsweise She She Pops Vater: Testament die Zur-Schau-Stellung von Vater- Kind-Verhältnissen, 31 nachdem Alvis Hermanis’ dokumentarische Väter-Inszenierung am Zürcher Schauspielhaus und anschliessend auf den Festivalbühnen gefeiert wurde. 32 Im institutionalisierten Theater macht Joachim Meyerhoffs Serie Alle Toten fliegen hoch am Wiener Burgtheater von sich reden, 33 während insbesondere der zeitgenössische Tanz sowie die Performance-Kunst, von der Andcompany & Co. bis Xavier le Roy, Lecture Performances exerziert. Der Entstehungsprozess wird dabei immer schon mitinszeniert. Ist der Probenraum immer gleichzeitig Erinnerungs- und Gedächtnisraum, wie Annemarie Matzke konstatiert, 34 so wird in Formaten mit hohem Anteil an Improvisation erst recht das Verhältnis zwischen den Aggregatzuständen “flüssig” und “fest” 35 neu ausgelotet. So ist Theater immer schon Produkt und Prozess zugleich, indem sich flüssige und feste Elemente übereinander blenden. Je höher der Grad der Improvisation während der Aufführung, je lockerer der Inszenierungsrahmen gespannt ist, desto stärker gehen Produkt und Prozess ineinander auf. Die Theaterwissenschaft bezieht, möglicherweise als Konsequenz dieser Aufwertung des Produktionsprozesses, neben der rezeptionsästhetischen Perspektive auf das “fertige” Endprodukt zunehmend auch Proben- und Kreativitätsprozesse in ihre Untersuchungen mit ein und nimmt somit auch die Sicht der Theaterproduzenten in den Blick. 36 Indem nicht nur die Regie, sondern auch der Schauspieler in den Fokus rückt und der Diskurs über den Schauspieler um den Diskurs vom Schauspieler über sich selbst erweitert wird, werden Hierarchien aufgebrochen. 37 Im “kunstorientierten” Theaterschaffen mit behinderten Darstellern ist anstelle des Prozesses immer mehr das künstlerische Endprodukt in den Vordergrund gerückt. Das Ensemble RambaZamba und das Theater Thikwa in Berlin sowie Theater HORA in Zürich, um nur einige Gruppen im deutschsprachigen Raum zu nennen, arbeiten seit den 90er Jahren unter professionellen Bedingungen mit geistig behinderten Darstellenden, welche durch regelmässige Aufführungspraxis und kontinuierliche stimmliche wie körperliche Trainings unter professioneller Anleitung ihre darstellerischen Fähigkeiten ausbilden. Nicht mehr der (pädagogische oder therapeutische) Prozess, sondern die Aufführung vor einem breiten, kritischen Publikum ist das Ziel. Die Bezeichnungen “Behindertentheater” oder “Zielgruppentheater”, welche eine geschlossene Veranstaltung im privatem Kreis oder sogar den Verzicht auf eine Aufführung implizieren, sind unzutreffend und unter den Theaterschaffenden in diesem Arbeitsfeld verpönt. Diese Akzentverschiebung vom Prozess zum Produkt ist eine Bewegung vom “safe space” der Einrichtungen zum Terrain des “Kunsttheaters”. Theater mit behinderten Darstellenden sucht sich seine Bühne. Doch um in die Spielpläne der institutionalisierten Kunsttheaterszene aufgenommen zu werden, muss sich die Szene selbst institutionalisieren: Durch eine wachsende Anzahl von internationalen Festivals in der deutschsprachigen Theaterlandschaft besetzt diese Szene die mehr oder weniger hoch subventionierten Häuser, so auch in der Schweiz: Vom Theaterhaus Gessnerallee, zum Theater Basel bis zum Schiffbau des Zürcher Schauspielhauses. Während das professionelle Theater im Becken der Theaterpädagogen fischt, Theater für alle, aber nicht von allen? 53 schafft sich das Theater mit behinderten Darstellenden mit unterschiedlichen Strategien auf dessen Bühnen Raum. Dieses institutionelle Transformationspotential und die damit einhergehenden Problematiken zeigt ein Blick auf die Schweizer Festivalszene. Vier Festivals in Basel, Bern, Genf und Zürich zeigen in der Schweiz seit einigen Jahren mit Erfolg Gastspiele “Von solchen und Anderen”. 38 Neben zwei kleineren Tanzfestivals in Bern und in Genf wurden zunächst Wildwuchs 39 in Basel und dann Okkupation 40 in Zürich gegründet. Mit zwei gegensätzlichen Strategien besetzen sie die Bühnen: Als Vorreiter wurde Wildwuchs 2001 in Basel unter der Trägerschaft von örtlichen Vereinen ins Leben gerufen, und ist inzwischen vom lokalen Ereignis in der Kaserne Basel, einem Ort für experimentelle Kunst, zum internationalen Gastspiel-Festival auf den gesamten Stadtraum und dessen Bühnen expandiert. Immer mehr Spielstätten wurden erschlossen, immer mehr Künstler auch ohne Behinderung aus dem Raum Basel beteiligten sich. So vereint Wildwuchs in seiner vierten Auflage 2009 eine vielfältige Bandbreite von nicht-professionellem bis hin zu hoch institutionalisiertem Schaffen in verschiedenen künstlerischen Disziplinen, wobei Kategorisierungen wie “behindert” und “nicht-behindert” überwunden werden. Die Nachwuchs- Plattform Schaugarten bietet den Gruppen lokaler Freizeit- und Betreuungseinrichtungen die kleine Bühne auf dem Kasernenareal, während in den Theaterhäusern z.B. das koreanische Dance Theatre Chang oder das Flaggschiff dieser Tanzsszene, CandoCo Dance Company, auftreten. Das Festival wächst langsam von innen - mit der Kaserne als Zentrum - nach außen über den ganzen Stadtraum, von Kleinbasel über den Rhein nach Grossbasel. So wurde die Festivalleiterin Sibylle Ott 2009 für dieses Werk mit dem Kulturpreis des Kantons Basel-Stadt ausgezeichnet, worin sich die Anerkennung zeigt. Gastronomiebetriebe, Vereine und Künstler aus Basel gestalten das Festival aktiv mit. In partizipativen Projekten wie der Crossover- Performance Die schwitzende Löwin riefen die Basler Kult-Frauenband Les Reines Prochaines behinderte und nicht-behinderte Künstler und Künstlerinnen, und jeden, der sich dazu berufen fühlte, dazu auf, mit ihnen eine Performance zu bestreiten. Jeder konnte eine Nummer beisteuern, alles war erlaubt. Theater ohne Grenzen - für alle und von allen. Die Institutionalisierung des Festivals wurde durch die Sponsoren ausgelöst. Bei der dritten Auflage von Wildwuchs 2007 klinkte sich Migros Kulturprozent ein, der grösste private Kulturförderer des Landes. Unabhängig von Wildwuchs hatte man dort das Interesse, eine Plattform zu gründen, um “den Brückenschlag zwischen der Welt des professionellen Tanzschaffens und der Welt von Menschen mit einer Behinderung zu unterstützen”. 41 So sind die vier Festivals in Genf, Basel, Bern und Zürich durch die Initiative IntegrART 42 von Migros Kulturprozent lose miteinander vernetzt, indem der Sponsor die Schweiz-Tourneen der internationalen Tanz- Compagnien fördert. Zusammen mit bestehenden örtlichen Theatern und Compagnien entstanden 2007 aufgrund dieser Initiative in Genf das Festival Inside/ Outside, in Bern das Community Arts Festival in der Dampfzentrale, die ihren Schwerpunkt auf Tanz legen, sowie Okkupation in Zürich in Kooperation mit dem Theater HORA. Dieses hat seit seinen Anfängen 1989 ein professionelles Theater mit geistig Behinderten in einer eigenen Spielstätte, dem Casinosaal Aussersihl aufgebaut, welches inzwischen als Arbeits- und Ausbildungsstätte anerkannt ist. Sie holten einen erfahrenen Festivalleiter aus Deutschland als künstlerischen Leiter ins Boot, welcher in Deutschland bereits seit Anfang der 1990er Jahre Festivals für Menschen mit und ohne Behinderung veranstaltet. So vernetzt sich die noch immer überschaubare Szene: Von Berlin nach Zürich, über Mainz bis in die pfälzischen Kleinstädte 54 Myrna-Alice Prinz-Kiesbüye / Yvonne Schmidt Kaiserslautern und Kirchheimbolanden sind oftmals innerhalb einer Festival-Saison dieselben Künstler und Gruppen zu sehen. Dabei ist im Gegensatz zu Basel in Zürich eine gegenläufige Strategie zu erkennen: Die Okkupation in Zürich verläuft dezentralistisch von außen nach innen und fängt dabei auf den großen Bühnen an. Mit international etablierten Künstlern wie z.B. der Compagnia Pippo Delbono aus Italien, die in ihrem Ensemble neben Obdachlosen, Psychiatrie- Patienten, Rocksängern, Straßenkünstlern und anderen Menschen mit tendenziell ungewöhnlichen Biografien auch solche mit physischen oder geistigen Behinderungen beschäftigt, oder Mat Fraser & Julie Atlas Muz, die mit polarisierenden Performances mit dem Freakshow-Genre spielen, werden tendenziell etablierte Künstler und Gruppen eingeladen. Okkupation konzentriert sich ausschließlich auf Produktionen aus dem professionellen Bereich, welche abgesehen vom Theater HORA und der Genfer Tanzcompagnie Danse Habile aus dem Ausland kommen. Während in Basel die Kaserne das Festivalzentrum bildet, spielt sich Okkupation an den verschiedenen Spielstätten ab und muss dort mit dem Veranstaltungsangebot konkurrieren. Okkupation sucht die Konfrontation, indem es strategisch die Transformation der Theaterbetriebe erkämpft. Das Konzept fügt sich gut in einen Gastspielbetrieb, wie beispielsweise des Theaterhauses Gessnerallee, dessen sich institutionalisierende und globalisierende Freie Szene sich vom HAU in Berlin, über das FFT in Düsseldorf bis zum Frankfurter Mousonturm tingelt. In Theaterhäusern mit festem Ensemble und Repertoiretheatern ist die nachhaltige Einbindung hingegen schwieriger, da die Produktionsprozesse an die Bedürfnisse behinderter Darstellender angepasst werden müssten. Diese Transformation findet aber (noch) nicht statt. Das Produkt ist zwar kunsttheaterkompatibel, der Prozess jedoch (noch) nicht. Es ist ein Produkt-Prozess-Dilemma. Denn Darsteller mit Behinderung fernab der Festivalzeiten sind selten zu finden. Die Probenzeiten eines Stadttheater-Betriebes sind oft deutlich kürzer, insgesamt werden die Produktionsbedingungen den Bedürfnissen behinderter Menschen nur schwer gerecht. Davon abgesehen, dass die meisten Theater im deutschsprachigen Raum zwar für die Zuschauer, nicht aber für Künstler im Rollstuhl zugängig sind. Zwar hat man erkannt, dass Menschen mit Behinderung als Theater- Zuschauer nicht ausgegrenzt werden dürfen. Als Künstler auf der Bühne hingegen sind sie hierzulande wenig präsent. 43 Am Werke ist ein Vermittlungsbegriff, der zwar Theater für alle, aber nicht mit allen meint. Aus dieser Problematik resultiert eine Selbstreflexivität, durch welche sich das Theater mit behinderten Darstellenden als Sparte selbst hervorbringt und hinterfragt. Denn eines ist diesen Festivals gemein: Das paradoxe Ziel, dass sie nur existieren, um sich so schnell wie möglich von selbst zu erübrigen, weil Theaterproduktionen mit behinderten Darstellenden selbstverständlicher Bestandteil der Spielpläne etablierter Theaterhäuser werden. Bis dahin bieten die Festivals diesen Theaterprojekten eine Bühne, dienen als Steigbügel, um die etablierten Bühnen zu erklimmen. Dass sich auf dem Weg zu diesem Ziel bereits eine Institutionalisierung und damit die unerwünschte Nebenwirkung der Herausbildung und Manifestierung einer eigenen Sparte vollziehen könnte, zeigt sich auch darin, dass sich vereinzelte Gastspiel-Gruppen nur unter Vorbehalten für die Festivals gewinnen lassen, welche jedoch explizit betonen, keine “Behindertentheater-Festivals” zu sein. Die Namen wie Inside/ Ouside, Grenzenlos Kultur oder No Limits sprechen jedoch für sich. Obwohl die Veranstalter bewusst auf die Etikette “Theater mit Behinderten” verzichten, schleicht sich auch in der Berichterstattung in den Medien immer wieder die Bezeichnung “Behindertentheater” ein. Dabei zeigt sich an den Festivals das Unvermögen Theater für alle, aber nicht von allen? 55 eines Konstruktes “Behindertentheater”, welches sämtliche Arten von Behinderungen, sei es körperlich, geistig oder psychisch, unter einem Dach subsumiert. 44 Mit anderen Worten: Wieso sollten die Gemeinsamkeiten zwischen einem Gehörlosentheater aus Zürich, dem Theater HORA und den Tiger Lillies größer sein als zwischen beliebigen anderen Theatergruppen und Künstlern? Die sprachliche Stigmatisierung behindert den transformativen Prozess. Die Frage nach dem sprachlichen oder theoretischen Labelling wird akut. Geläufige Bezeichnungen wie “Amateur- oder Laientheater”, ebenso wie der Verweis auf den Hintergrund der Darstellenden, z.B. “Migrantentheater”, “Seniorentheater” oder “Behindertentheater” werden ungenau, wenn die Senioren eines Frankfurter Altenheimes in der Freien Szene des Kunsttheaters mitwirken, Migranten in Volker Löschs Chören auftreten, während gleichzeitig im Kontext des “Behindertentheaters” oder “Laientheaters” professionelle Regisseure am Werk sind und Kooperationen mit der Freien Szene und dem Stadttheater stattfinden. Auch auf der Seite der Kulturförderung sind die Grenzen fließend. Im Hinblick auf das gewählte Beispiel, dem Theater mit behinderten Darstellern, liegt in dieser Problematik ein doppeltes Paradox: Einerseits wurden die Festivals in Basel und Zürich eigens gegründet, um weniger etablierten Künstlern eine Plattform zu bieten. Andererseits ist das Ziel der Anschluss an den “Mainstream” 45 einer bestehenden Kunsttheaterszene, welches eine transformative Wirkungsabsicht impliziert. Die daraus erwachsenden Problematiken werden dann im Rahmen der Festivals an Symposien von IntegrART reflektiert: Zuletzt unter dem Motto “All inclusive - Kunst auf neu” wurden in Arbeitsgruppen und Referaten verschiedene Spannungsfelder diskutiert: Der Inklusion und des Zugangs zur Kultur, der ästhetischen Norm und der aktuellen Frage nach Ausbildungsmöglichkeiten und beruflicher Anerkennung für Künstler mit Behinderung. Diese Krisenregulation evoziert gleichzeitig eine Selbstvergewisserung, durch welche sich erst das Selbstverständnis dieser Theaterszene konstituiert. Theater Hora: Menschen! Formen! Innerhalb der Probenprozesse von kunstorientierten Theaterprojekten mit nichtprofessionellen Darstellenden lässt sich ebenfalls ein transformatives Potential feststellen. Immer öfter arbeiten Darstellerinnen mit und ohne Behinderungen in gemeinsamen Produktionen zusammen. Das Projekt Menschen! Formen! von Theater HORA 46 greift auf ein heterogenes Ensemble zu: Drei HORA-Ensemblemitglieder, d.h. professionelle Schauspieler mit geistiger Behinderung, vier Profi- Schauspieler ohne Behinderung aus Deutschland und drei geistig behinderte Darsteller ohne Schauspielausbildung aus dem Raum Köln kamen durch ein Casting zusammen. 47 In zwei Probenblöcken à sechs Wochen in Köln erarbeiteten sie eine Inszenierung, die im Freien Werkstattheater (FWT) in Köln im Rahmen des Sommerblut Kulturfestivals uraufgeführt, und seitdem in verschiedenen Städten wie Zürich, Bremen und Essen gezeigt wird. Im Blickpunkt stehen die drei Filme Elephant Man von David Lynch, Jeder für sich und Gott gegen alle von Werner Herzog und L’enfant sauvage von François Truffaut, die alle von gesellschaftlichen Aussenseitern und dem Umgang der Gesellschaft mit den Anderen handeln. Auf deren Basis setzte sich die Gruppe mit der Freakshow-Thematik auseinander und entwickelte durch das Mittel der Improvisation die Inszenierung Menschen! Formen! . Die künstlerische Leitung übernahmen der HORA-Leiter Michael Elber, der bereits seit 20 Jahren mit behinderten Darstellenden inszeniert und der Jazz- und Improvisationsmusiker Carl Ludwig Hübsch. 48 56 Myrna-Alice Prinz-Kiesbüye / Yvonne Schmidt Abb. 1: Das heterogene Ensemble von Menschen! Formen! (v.l.): Freya Flügge, Judith Wilhelmy, Lorraine Meier, Christiane Grieb, Ingmar Krinjar, Peter Keller, Matthias Grandjean, Mirco Monshausen, Nico Randel. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Michael Bause) Alle Beteiligten bringen somit unterschiedlichen Voraussetzungen und Zugänge mit. Mit Unterschieden innerhalb der Gruppe wurde von Anfang an locker umgegangen. “Wir sind alle Schauspieler. Die einen nennen sich 3000er, die anderen 1000er”, erklärt der Darsteller Mirco Monshausen. Wer ein 3000er, wer ein 1000er sei, richte sich nach der Gage. Die Mitglieder des HORA-Ensembles werden von der Schweizerischen Invalidenversicherung bezahlt und können deshalb erwerbsmässig, zumindest 50 Prozent, als Schauspieler arbeiten. Sie verdienen daher lediglich ein Drittel des Monatsgehaltes, müssten aber auch keine Miete zahlen, wie in der Publikumsdiskussion scherzend bemerkt wird. Die Gespräche mit der Regie finden bis zu einem sehr fortgeschrittenen Zeitpunkt immer im Kollektiv statt, was insbesondere für die nicht-behinderten Schauspieler eine Herausforderung darstellt. Fragen über ihre Funktion und die Aufgabe des Einzelnen innerhalb des künstlerischen Projektes werden akut. “Natürlich kann es passieren, dass der Regisseur rot oder grün verlangt, und die Kollegen liefern lila”, meint eine Darstellerin im Gespräch in einer frühen Probenphase. Vermutlich wird es dann zu großen Teilen an uns liegen, dass am Ende der Theaterabend einen klaren Ablauf hat. Wieviele Markierungen dann fest gesteckt werden und wie viel Improvisation drumherum sein wird, das wird sich sicher mit der Zeit entwickeln. Tatsächlich steht erst in der Schlussphase der Proben das Stück. Die nicht-behinderten Schauspieler müssen lernen, “einfach auf die Bühne zu gehen ohne vorher zu überlegen”. Theater für alle, aber nicht von allen? 57 Nicht nur der Schauspieler, auch der Regisseur hat seine Rolle ein Stück weit an den Nagel gehängt: Für den Regisseur Michael Elber bedeutet diese Art der Theaterarbeit bis zu einem gewissen Grad eine Zurücknahme seiner Funktion. Vielmehr ist er, wie Tim Etchells von Forced Entertainment seine Rolle beschreibt, “Organizer, Framer, Filter” des Geschehens. Die Kontrolle sei unmöglich, sagt er. Stattdessen setze er auf das, was ihm die Darsteller anbieten. “Und da werde ich von den behinderten Darstellern reich beschenkt”. Auf die Frage, wie er ihnen ihre Spielaufgabe vermittelt, entgegnet er: “Es ist unmöglich, ihnen das Stück zu erklären. Aber ich kann darauf bauen, dass sie den Kern, der wichtig ist, kennen aus ihrem Alltag und dadurch verstehen”. Das Verstehen funktioniert durch das Spielen, durch den Vollzug konkreter Handlungen. Fragt man die HORA-Darsteller nach ihrer Rolle im Stück, beginnen sie, zu spielen: “Ich bin der Elephant-Mensch und mein Rücken ist so… und dann so…”. Der HORA-Darsteller Matthias Grandjean demonstriert die Körperhaltung, die er auf der Bühne einnimmt. Dieses Konzept von geteilter Autorschaft in kollektiven Probenprozessen, die in der theaterpädagogischen Praxis Gang und Gebe ist, ist derzeit im Kunsttheater hoch im Kurs. Wolf- Dieter Ernst sieht in der kollektiven Kreativität gar eine Lösung des Paradoxons von Kreativität und Pädagogik, welches er in der Meister-Schüler-Beziehung begründet sieht, in welcher “sich Takt und Kreativität nicht sauber auflösen lassen”. 49 Theaterprojekte mit behinderten und nicht-behinderten Darstellenden zeigen aber auch Grenzen des Kollektivitätsgedankens. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern innerhalb von kollektiven Kreativitätsprozessen von Vermittlung die Rede sein kann. Wer wem was vermittelt, ist nicht mehr nachvollziehbar. Durch die Einbindung aller Akteure in den kreativen Prozess ist jedoch tendenziell ein transformatives Potential gegeben, da die Darsteller nicht nur an das Theater herangeführt werden, sondern im Sinne einer geteilten Autorschaft ihre soziale Wirklichkeit in das Theater einbringen. Dabei werden Hierarchien und Arbeitsweisen des Theaters transformiert. 50 “Meine Damen und Herren: Ein nackter … ein nackter Mensch! Ein nackter Mensch hier auf der Bühne! Ein geistig behinderter nackter Mensch hier auf der Bühne! ” posaunt ein Zirkusdirektor durch einen Schalltrichter. Hinter dem Tüllvorhang erscheint die Silhouette eines Darstellers mit Downsyndrom, nackt und in verkrümmter Haltung zum Publikum. So beginnt die Inszenierung Menschen! Formen! . Die anderen Darsteller umringen ihn, teilweise auf Podesten, alle auf der gleichen Stufe. Etwa eine Stunde später werden sie alle zu Protagonisten einer Freakparade. Ein sehr großer, kahlköpfiger Schauspieler ohne Behinderung neben einer kleinwüchsigen Dame mit Downsyndrom werden als Zwergenmutter und Riesenbaby angepriesen. Die Inszenierung Menschen! Formen! wirft eng gefasste Begriffe von Kunst und Ästhetik auf und richtet sich dekonstruktiv gegen sie. Entstanden ist ein Stück, das die Sichtbarkeit von Behinderung auf der Bühne und die Problematik des Ausgestelltseins selbstreflexiv thematisiert. Wenn Theater vom “safe space” der Einrichtungen in die Kunsttheater-Zone eindringt, ist dies gleichzeitig eine Bewegung in den “public space”. Diese Präsenz von behinderten Menschen, die als soziale Gruppe im Theater als öffentlicher Raum sichtbar wird, ruft die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Ethik hervor. Nicht nur wird die Ästhetik des Kunsttheaters transformiert, indem sie eng gefasste Ästhetikbegriffe hinterfragt und sich in der Freakshow zu einer Ästhetik des Grotesken in ihr Gegenteil verkehrt. Vermittlung wird dann zur Kunst mit dekonstruktiver Funktion, ist gegen Paradigmen der Kunst selbst gerichtet. Das Groteske dient als “Regulationsprinzip innerhalb der 58 Myrna-Alice Prinz-Kiesbüye / Yvonne Schmidt Abb. 2: Die Schauspieler Mirco Monshausen, Ilil Land-Boss und Ingmar Skrinjar (v.l.) werden durch Trichter an Armen und Beinen behindert. Die Instrumente dienen als Beschränkung und Erweiterung zugleich. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Michael Bause) ästhetischen Welt”, 51 wodurch das Spannungsfeld von Theater und Öffentlichkeit erfahrbar wird. Der Auftritt von Darstellern mit Behinderung evoziert eine der Ästhetik immanente Ethik, die Aistheisis, 52 die “eine mit ihrer Konstitution und gesellschaftlichen Ausprägung verbundene Ethik enthält”. 53 Aisthesis als Konzept “sinnlicher vermittelter Wahrnehmung als auch im 20. Jahrhundert zu verzeichnende umfassende Ästhetisierung der Alltagswelt” 54 impliziert bereits einen wechselseitigen Prozess, welcher über die passive Rezeption hinausgehend als Brücke zum Anderen bzw. zur Welt fungiert. Theater mit behinderten Darstellenden verdeutlicht durch seine Verbindung zur Ethik mehr als andere Theaterformen eine Ästhetik in diesem Sinne, welche durch die Verschränktheit des Körpers mit der Welt, “an der Grenze zwischen Körper und Welt, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem […] erfahrbar” 55 wird. Der Körper als “Produkt und Produzent von Gesellschaft” 56 sitzt an der Schnittstelle zwischen Theater und Öffentlichkeit. Reaktionen der Öffentlichkeit sind deshalb oft kritisch, wenn behinderte Akteure auf der Bühne in ungewohnten Situationen auftreten. Verhaltenskonventionen, die es z.B. verbieten, über Behinderung zu lachen, werden entlarvt und hinterfragt. Darf man das? - ist schnell die (ethische) Frage. Nach Warstat ist “Gestaltung im therapeutischen Raum […] - idealiter - eine Gestaltung im safe space”. 57 Angestrebt werde “eine Liminalität mit möglichst geringem Risiko für die Betroffenen”. 58 Bereits das Warm-up bei der Probe mit Atem- und Körperübungen sei ein Schutzmechanismus, um besondere Verletzungen, Gefährdungen und Empfindlichkeiten einzelner Teilnehmer […] Theater für alle, aber nicht von allen? 59 erkennbar [zu machen], so dass der Spielleiter sein Programm gegebenenfalls modifizieren und entschärfen kann. Indem jeder Spieler behutsam an den theatralen Prozess herangeführt wird, sollen Momente der Irritation, der Verunsicherung oder gar des Schocks, wie sie im Kunsttheater des 20. Jahrhunderts immer wieder angestrebt wurden, weitgehend ausgeschlossen werden. 59 Inszenierungen wie Menschen! Formen! spielen mit Konventionen, wohl wissend, dass der Kunstraum auch ein öffentlicher ist. Plötzlich tritt Carl Ludwig Hübsch, der auch als Darsteller mitspielt, vor das Publikum: “Sie fragen sich sicher doch schon die ganze Zeit, wer von denen behindert ist und wer nicht? ” Der Reihe nach werden die Darsteller an den Pranger gestellt, der Zuschauer wird in die Rolle des Scharfrichters versetzt. Dabei outen sich gleichzeitig zwei Darsteller als schwul, andere vermeintlich “Normale” erweisen sich als “Anormal”. Auch in anderen Szenen wird mit der Visibiliät von Behinderung gespielt. Teile von Blechblasinstrumenten, die als Vehikel des Spiels dienen, kommen als Prothese zum Einsatz, und das in zweifacher Hinsicht: Einerseits werden die nicht-behinderten Schauspieler durch Trichter an Armen und Beinen behindert. Dadurch wird mit Behinderung als ästhetisches Mittel gespielt. Andererseits wird nicht nur mit, sondern auch auf den Instrumenten gespielt. Während die nicht-behinderten Schauspieler im musikalischen Sinne Laien sind, haben die HORA- Ensemblemitglieder bereits umfangreiche musikalische Erfahrungen, sind also zumindest semi-professionell. Im Theater als Ereignis kann die Andersartigkeit der Darstellenden aus Sicht der Zuschauer entweder hervorgehoben oder nivelliert werden. Ersteres evoziert eine Existenz im Sinne von “ex-istere”. Dabei spielt nach Goffman die Sichtbarkeit des Stigmas, ebenso wie seine Aufdringlichkeit eine entscheidende Rolle. Die Sichtbarkeit von Behinderung auf der Bühne impliziert dabei eine Teilhabe, die über die Kunst hinausgehend eine gesellschaftliche ist. Das Spannungsfeld zwischen Andersartigkeit und Inklusion in die Gemeinschaft wird auf dem Theater als Brennspiegel verhandelt, indem es die Möglichkeit besitzt, mit ästhetischen Mitteln mit Behinderung umzugehen. Gleichzeitig wird die Schwierigkeit einer Trennung von Theater und sozialer Wirklichkeit und das daraus resultierende transformative Potential von Kunst bewusst. Oder, mit Pius Knüsel gesprochen: Die Öffentlichkeit holt die Kunst wieder ein. Ausblick Versucht man, das aktuelle Feld der Theatervermittlung zu skizzieren, gerät man zunächst mit dem Begriff in Konflikt: Welche Praktiken gehören dazu, welche nicht? Kulturvermittlung umschreibt gemäss Birgit Mandel Aufgaben der Kulturpolitik, des Kulturmanagements und der Kulturpädagogik, denen gemeinsam ist, dass sie Verbindungen herstellen und Durchlässigkeiten schaffen zwischen künstlerischer Produktion und kultureller Rezeption, zwischen Kultur und Gesellschaft, zwischen Kulturinstitutionen und Publikum, zwischen und Kunst und individuellem Rezipienten. 60 Das Spektrum ist breit und ergibt sich aus den spezifischen Funktionen, die der Vermittlung zugeschrieben werden. Dabei konnte zunächst festgestellt werden, dass der Diskurs bis anhin stark reproduktiv ausgerichtet ist. So zielen Vermittlungspraktiken in der Regel darauf ab, ein “Publikum der Zukunft” zu gewinnen. Theater - immerhin von allen durch Steuergelder mitfinanziert - soll auch für alle zugänglich sein. Theater mit und von allen ist dagegen nicht unproblematisch und muss besonders gekennzeichnet sein, wie bei dem Amateurensemble des Theaterhauses Gessnerallee deutlich wurde. Die anvisierte 60 Myrna-Alice Prinz-Kiesbüye / Yvonne Schmidt Demokratisierung des Theaters hat demnach nicht unbedingt eine Demokratisierung des Theaterverständnisses zur Folge. Kunst und Vermittlung werden gemeinhin als separate Bereiche betrachtet, wobei zunächst die Kunst da ist und diese in einem weiteren Schritt an ein Publikum vermittelt wird. Vermittlung kann jedoch selbst künstlerische Praxis sein, wie am Beispiel von Theater mit behinderten Darstellenden argumentiert wurde. In kunstorientierten Theaterprojekten mit behinderten Darstellenden, die in der Regel nicht unter dem Label “Vermittlung” laufen und entsprechend auch aus anderen Fördertöpfen gezahlt sind, konnte ein transformatives Potential auf drei Ebenen ausgemacht werden: Erstens institutionell, indem es im Kunsttheater auftreten, in Spielpläne aufgenommen und nicht als eigenes Label betrachtet werden will, zweitens kreativ: indem es in kollektiven Kreativitätsprozessen die Darstellenden am kreativen Prozess beteiligt und damit eine Wechselwirkung zwischen Theater und sozialer Wirklichkeit entsteht, und drittens ästhetisch: indem es die Ästhetik des Kunsttheater hinterfragt, sich dekonstruktiv gegen Kunsttheater richten kann und die Vermittlungsanteile, die jeder Kunst durch die Verbindung zwischen Theater und Öffentlichkeit immanent ist, sichtbar macht. Natürlich sind die angeführten Potentiale nicht generell für Projekte mit behinderten Darstellenden bzw. nicht-professionellen Darstellenden gültig. In Inszenierungen von Volker Lösch oder Rimini Protokoll stellt sich beispielsweise die Frage, welches Demokratie- und Emanzipationsverständnis vorherrscht. Werden die Darsteller zu Material degradiert oder ist eine aktive Mitarbeit und Mitbestimmung im Sinne einer geteilten Autorschaft vorgesehen? In Abgrenzung zu solchen Projekten mit partizipativem Charakter scheint sich die Theaterpädagogik für einen enger gefassten Vermittlungsbegriff einzusetzen. Angesichts des Realitätshungers des Gegenwartstheaters warnt etwa die Theaterpädagogin Mira Sack vor zuviel Enthusiasmus. Sie plädiert für einen “pädagogischen Filter”, ohne den Kunstvermittlung nicht auskomme, wenn sie mehr leisten wolle “als nur Stimulans für einen Markt, mehr sein will als nur die Brükke zwischen einem Produkt und seinem Käufer” und kommt zum Schluss: “Vermittlung ohne Pädagogik ist leer, mag einen Bildungsbegriff des Bürgertums bestätigen, taugt aber nicht für den konstruktiven Umgang mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen”. 61 Tatsächlich stellt sich die Frage nach einer Notwendigkeit der Pädagogik als Schaltstelle zwischen Kunst und Vermittlung, auch angesichts von erfolgreichen Modellen wie dem bekannten TUSCH-Projekt in Berlin, bei dem Schulen mit Künstlern und Künstlerinnen kooperieren. Ohne die funktionierende Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Künstlern, zwischen Schule und Theater, wären solche Projekte schwer zu realisieren. Wieviel Pädagogik braucht die Vermittlung? Vermittlung ohne Bildungsgedanken ist jedenfalls nicht sinnvoll denkbar. Die Theaterwissenschaft ist erst dabei, das skizzierte Spannungsfeld zwischen Kunsttheater, Vermittlung und Pädagogik zu entdecken. Auch hier werden Abgrenzungsbestrebungen zur Theaterpädagogik laut. Besteht möglicherweise eine Gefahr der Entgrenzung der Theaterwissenschaft, als Folge der Entgrenzung des Kunsttheaters? Nichtsdestotrotz wird nach der Diskussion um Theater mit nicht-professionellen Darstellenden, den “Experten des Alltags”, dem daraus hervorgegangen Authentizitätsdiskurs, welcher die bereits durch das Paradigma der Theatralität und des Performativen eingeleitete Entgrenzung des (Kunst-)Theaters zum Alltag anvisierte, in jüngeren Publikationen die Frage nach Theater als sozialer Kunstform oder auch als kollektiver Prozess 62 laut und dabei gleichzeitig hinterfragt. 63 Theater für alle, aber nicht von allen? 61 Eine Anbindung des skizzierten Forschungsfeldes an den theaterwissenschaftlichen Diskurs eröffnet spannende Perspektiven, die hier nur angedeutet werden konnten. Der Vermittlungsdiskurs enthält jedoch auch Fallstricke. Schließlich steht die vermeintliche Autonomie der Kunst, auf dem Spiel, althergebrachte Kunstbegriffen müssen neu verhandelt werden. So könnte Vermittlung aus diesem Blickwinkel auch als ein Versuch betrachtet werden, einer sinnentleerten Kunst wieder Inhalt, gesellschaftliche Relevanz zu geben. Der Regisseur Frank Castorf, bekennender RambaZamba-Fan, hat einmal gesagt, das Theater mit Behinderten sei das einzige, das ohne Sinnkrise auskomme. Mit dem Begriff von Vermittlung verhält es sich so wie mit Theater an sich, welches Andreas Kotte als eine opake Kugel beschreibt: 64 Je nachdem, aus welcher Position man die Kugel Vermittlung beleuchtet, entsteht ein anderes Bild. Anmerkungen 1 Pius Knüsel. “Beziehungsproblem.” passagen. Kulturmagazin der Pro Helvetia 3 (2009): S. 3. 2 Die Schweizer Bundesverfassung enthält seit 2000 einen Kulturartikel (Artikel 69 BV). Mit dem Kulturförderungsgesetz, das 2012 in Kraft treten wird, soll eine formell-gesetzliche Grundlage zur Umsetzung des Verfassungsauftrags geschaffen werden. 3 Pius Knüsel, “Kulturpolitik und Kulturvermittlung”, Vortrag am Symposium Die Künste zwischen Bildung und Ausbildung am 26.9.2009 an der Hochschule der Künste Bern, S. 6 (unveröffentlichtes Vortragsmanuskript). 4 “Das” zeitgenössische Theaterschaffen ist selbstverständlich ein Konstrukt. An dieser Stelle werden einige Tendenzen vor allem im deutschsprachigen Raum genannt. 5 Ulrike Hentschel. “Übertragen - Übersetzen - Überführen. Drei Modi der Bezugnahme von Theaterpädagogik auf theatrale und gesellschaftliche Wirklichkeiten.” Korrespondenzen. Theater - Ästhetik - Pädagogik. Hg. von Florian Vaßen. Milow, 2010. S. 61. 6 Ulrike Hentschel / Ute Pinkert, “Was tue ich hier und warum? ”, Vortrag bei der Ständigen Konferenz Spiel und Theater in Görlitz 2008. 7 Jens Roselt. “Der Schritt vom Wege - Schauspielkunst jenseits der Perfektion.” dramaturgie. Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft 1 (2006): S. 32-37. 8 Miriam Dreysse / Florian Malzacher. Experten des Alltags - Das Theater von Rimini Protokoll. Berlin, 2007. 9 Michael Kirby. A Formalist Theatre. Philadelphia, 1987. 10 Der Regisseur Volker Hesse inszenierte beispielsweise im Welttheater Einsiedeln 2007 die Textfassung von Autor Thomas Hürlimann ausschließlich mit nicht-professionellen Darstellenden als eine Choreografie der Massen auf dem Klosterplatz des Klosters Einsiedeln im Kanton Schwyz. 11 Carmen Mörsch. “Am Kreuzpunkt von vier Diskursen: Die documenta 12 Vermittlung zwischen Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion und Transformation.” Kunstvermittlung II. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts. Hg. von Carmen Mörsch [et al.]. Berlin/ Zürich, 2009. S. 9-33. 12 Auch Carmen Mörsch beschränkt diese Einteilung nicht auf die Bildende Kunst. Vgl. z.B. Carmen, Mörsch. “Watch this Space! : Position beziehen in der Kulturvermittlung. Basistext für die Fachtagung ‘Theater - Vermittlung - Schule’”, http: / / ipf.zhdk.ch/ daten/ watch-thisspace_c-morsch.pdf, 23.8.2010. 13 Mörsch 2009, S. 12. 14 Z.B. Karin v. Welck / Margarete Schweizer, Kinder zum Olymp. Wege zur Kultur für Kinder und Jugendliche. Köln, 2004. 15 In der Regel handelt es sich dabei um Freunde, Bekannte, Verwandte oder Arbeitskollegen. 16 Mörsch 2009, S. 10. 17 Kulturstiftung des Bundes, “Heimspiel. Der Fonds zur Förderung von Theaterprojekten im Überblick”, http: / / www.kulturstiftung-desbundes.de/ cms/ de/ programme/ kunst_der_ve rmittlung/ heimspiel_1056_91.html, 8.6.2010. 18 Eva Behrendt. “Bildung ist es! ” Theater heute Jahrbuch, 2006. S. 18. 62 Myrna-Alice Prinz-Kiesbüye / Yvonne Schmidt 19 Ingrid Hentschel. “Medium und Ereignis - warum Theaterkunst bildet.” Korrespondenzen. Theater - Ästhetik - Pädagogik. Hg. von Florian Vaßen. Milow 2010. S. 43. 20 Mörsch 2009, S. 10-13. 21 Im Bereich der Visuellen Künste hat dieser Prozess schon stattgefunden. Der Begriff der Museumspädagogik ist vielfach durch den Begriff der Kunstvermittlung ersetzt worden. 22 Der folgende Abschnitt beruht auf teilnehmenden Beobachtungen und qualitativen Interviews, die Myrna-Alice Prinz-Kiesbüye zwischen September 2009 und Februar 2010 führte. 23 Golda Eppstein. Gessnerallee Backstage, unveröffentlichtes Konzept, 2008. S. 4. 24 Die Gessnerallee stellt kostenlos Proberäume zur Verfügung und übernimmt die Kommunikation für das Projekt. Die Infrastruktur und das Personal (vor allem die Techniker) können ferner für Aufführungen der Backstage Gruppen genutzt werden. 25 Entspricht umgerechnet etwa 130 bzw. 108 . Bei den Kindergruppen, auf die im Folgenden jedoch nicht näher eingegangen wird, liegt der Ansatz mit 100 bzw. 86 im Monat etwas tiefer. 26 Golda Eppstein, “Theatertraining für Erwachsene”, http: / / www.eppstein.ch/ , 8.6.2010. 27 Niels Ewerbeck, “Warum ich meinen Beruf so liebe.” 20 Jahre Theaterhaus Gessnerallee Zürich. Zürich, 2009. S. 13. 28 Individuelle Theaterbesuche zu reduziertem Preis sind durch einen Mitgliederausweis ebenfalls möglich. 29 Vgl. Hajo Kurzenberger [et al.]. Kollektive in den Künsten. Hildesheim, 2008. 30 Die Dichotomie von Produkt und Prozess ist streng genommen nicht haltbar, da Theater nie ein Produkt, sondern immer transitorischer Prozess ist. 31 http: / / www.sheshepop.de/ produktionen/ testament/ , 9.6.2010. 32 Väter, Konzept und Regie: Alvis Hermanis, Uraufführung 22.03.2007, Schauspielhaus Zürich. 33 Alle Toten fliegen hoch, von und mit Joachim Meyerhoff, Serie seit 2007 am Burgtheater Wien. 34 Annemarie Matzke. “Konzepte proben - Probenprozesse in postdramatischen Theaterformen”, Vortrag im Rahmen der Mastertagung Wirkungsmaschine Schauspieler. Vom Menschendarsteller zum multifunktionalen Spielemacher an der Zürcher Hochschule der Künste, 23.04.2010. 35 Aleida Assmann. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München, 1999. 36 Matzke 2010. 37 Tilman Broszat/ Sigrid Gareis (Hg.). Global Player, Local Hero. Positionen des Schauspielers im zeitgenössischen Theater, München, 2000 sowie Ole Hruschka. Magie und Handwerk. Reden von Theaterpraktikern über die Schauspielkunst. Hildesheim [etc.], 2005. 38 Wildwuchs 2009, Programmbroschüre. 39 www.wildwuchs.ch, 9.6.2010 40 www.hora-okkupation.ch/ , 9.6.2010 41 http: / / www.kulturprozent.ch/ integrart, 2.3.2010. 42 www.integrart.ch/ , 10.9.2010. 43 Als der Regisseur Stefan Bachmann in seiner Hamlet Inszenierung 2002 am Königlichen Theater Kopenhagen die Ophelia-Rolle von Christina Knudsen, einer Darstellerin mit Down-Syndrom besetzen wollte, scheiterte dies an den Bedingungen des Theaterapparates und war von polarisierenden Reaktionen in den Medien begleitet, die sich mehrheitlich für die Entscheidung des Theaters positionierten. 44 Petra Kuppers. Disability and Contemporary Performance. Bodies on Edge. London/ New York, 2003. 45 Braunreiter, Michaela. “Kultur des Zugangs. Anregungen zum Mainstreaming von Behinderung,” Vortrag im Rahmen des Symposium IntegrART-Symposiums All inclusive - Kunst auf neu, Zürich, Museum für Gestaltung der Zürcher Hochschule der Künste, 18.6.2009. 46 Es handelt sich um eine Koproduktion mit dem FWT Köln und dem Sommerblut Kulturfestival. 47 Der folgende Abschnitt beruht auf teilnehmenden Beobachtungen, qualitativen Interviews und Publikumsdiskussionen, die Yvonne Schmidt im Zeitraum zwischen dem 6. März und 25. Mai 2010 in Köln durchgeführt hat. 48 www.clhuebsch.de/ , 9.6.2010. Theater für alle, aber nicht von allen? 63 49 Wolf-Dieter Ernst. “Takt und Taktlosigkeit. Zum Paradox der Meister-Schüler Beziehung.” double 3 (2009): S. 12-15. 50 Selbstverständlich ist zu bedenken, dass bei Theater mit geistig Behinderten meist die nicht-behinderten Darsteller den Raum bieten, Theater zu spielen. 51 Dominik Jehl. “Ethik und Ästhetik des Grotesken.” Ethik der Ästhetik. Hg. von Christoph Wulf [et al.]. Berlin, 1994. S. 95-103. 52 Vgl. Gernot Böhme. Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München, 2001. 53 Christoph Wulf [et al.], “Einleitung.” Ethik der Ästhetik. Hg. von Christoph Wulf [et al.]. Berlin, 1994. S. VII-XI. 54 Doris Kolesch. “Ästhetik.” Metzler Lexikon Theatertheorie. Hg. von Erika Fischer-Lichte [et al.]. Stuttgart/ Weimar, 2005. S. 6-13. 55 Wulf [et al.] 1994, S. X. 56 Imke Schmincke. Gefährliche Körper an gefährlichen Orten. Eine Studie zum Verhältnis von Körper, Raum und Marginalisierung. Bielefeld, 2009, hier S. 244. 57 Matthias Warstat. “Spielen und Heilen. Zur Theatralisierung des Therapeutischen.” Theatralisierung der Gesellschaft 1: Soziologische Theorie und Zeitdiagnose. Hg. von Herbert Willems. Wiesbaden, 2009. S. 533-547. 58 Warstat 2009, S. 544. 59 Warstat 2009, S. 545. 60 Birgit Mandel, “Vorwort.” Audience Development, Kulturmanagement, Kulturelle Bildung. Konzeptionen und Handlungsfelder der Kulturvermittlung. Hg. von Birgit Mandel. München, 2008, S. 9. 61 Mira Sack, “Konstellationen von Künstlern und Kindern. Ein pädagogischer Blick auf Vermittlungskünste und die Kunst der Vermittlung.” Korrespondenzen. Theater - Ästhetik - Pädagogik. Hg. von Florian Vaßen. Milow, 2010, S. 126. 62 Vgl. Hajo Kurzenberger. Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper, Probengemeinschaften, theatrale Kreativität. Bielefeld, 2009. 63 Vgl. Matthias Warstat. “Gleichheit - Mitwirkung - Teilhabe: Theatrale Gemeinschaftskonzepte vor und nach 1968.” Politik mit dem Körper. Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968. Hg. von Friedemann Kreuder/ Michael Bachmann. Bielefeld, 2009. S. 13-26. 64 Andreas Kotte. Theaterwissenschaft. Eine Einführung. Köln [etc.] 2005, S. 63. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de NEUERSCHEINUNG OKTOBER 2010 JETZT BESTELLEN! Kati Röttger (Hg.) Welt-Bild-Theater Band 1: Politik des Wissens und der Bilder Forum Modernes Theater, Band 37 2010, 404 Seiten, 37 Abb., €[D] 68,00/ SFr 96,90 ISBN 978-3-8233-6606-5 Der Titel des Buches ruft das alte Konzept des Theatrum Mundi wieder auf. Damit soll nicht nur das Verhältnis von Welttheater und Welterkenntnis in Vergangenheit und Gegenwart in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt werden. Gleichzeitig wird eine dritte Größe in dieses Ambivalenzgefüge eingebracht: das Bild. Jüngere Entwicklungen in der Bildforschung machen uns heute auf eine erneute Relevanz des Bildes aufmerksam. War unsere Wissenskultur seit Beginn der Moderne von der Ordnung der Schrift bestimmt, erhalten Bilder durch die technischen Verbreitungsmöglichkeiten, welche die digitalen Medien eröffnen, eine neue Wertigkeit als Kategorie des Wissens. Gleichzeitig wird die Macht der Bilder als zunehmend bedrohlich erfahren, weil Bilder oft als bloßer Realitätsersatz (als Kopie, Abbild oder Simulakrum) verunglimpft oder andererseits mit Lebewesen verwechselt werden. Vor diesem Hintergrund diskutieren die Beiträge dieses Buches die Möglichkeiten eines ‚aufgeklärten’ Umgangs mit und Zugangs zu Bildern, den speziell das Theater eröffnet. Dabei steht insbesondere der Wirkungszusammenhang zwischen Welt, Bild und Theater unter den heutigen Bedingungen der Globalisierung zur Debatte. 085410 Auslieferung Oktober 2010.indd 4 23.09.10 14: 15 Abb. 1: Die Berliner Choreographin Thérèse Nylén arbeitet in ihrem Solo PIECE für die Performerin Zufit Simon mit Zitaten der Tanzgeschichte. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Loulou d’Aki) Über herausgehobene Momente im Tanz. Katarina Kleinschmidt (Berlin) In seinem Bewegungs-Bild erklärt Deleuze das Umgehen mit Posen im Tanz für anachronistisch, die er im Sinne des Klassischen Balletts als bloße Aktualisierung transzendenter Formen betrachtet. Der vorliegende Text folgt Deleuzes Argument, dass der Tanz die Pose im 20. Jahrhundert für aus der Analyse gewonnene “beliebige Momente” und zugunsten eines neuzeitlichen Verständnisses von Bewegung aufgebe, und führt choreographische Beispiele der 1970er bis 1990er Jahre an. Im zeitgenössischen Tanz jedoch entsteht, so die These, ein erneutes, verändertes Interesse an der Pose, das nicht als anachronistisch abgetan werden kann: Als Bewegungszitat bildet sie in der Auseinandersetzung mit ihrer Wiedererkennbarkeit den Ausgangspunkt für Fragen der Aneignung historischen Bewegungsmaterials (Hardt), für Verweise auf “Lücken der Zu-Ordnung” (Brandstetter) bzw. für ihre eigene Auflösung im choreographischen Verfahren des Morphing. Letzteres vermag durch Irritation in der Choreographie PIECE, als ein Unkenntlich-Machen fungierend, herausgehobene Momente zu gestalten und gleichzeitig Deleuzes Frage nach dem stetigen Werden der Bewegung zu reflektieren. Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 65-76. Gunter Narr Verlag Tübingen 66 Katarina Kleinschmidt In seinen “Thesen zur Bewegung” äußert sich Gilles Deleuze wie folgt über den Tanz: Der grundlegende Fehler besteht stets darin, die Bewegung aus Momenten oder Positionen zu rekonstruieren […] die Bewegung [bringt so] nur eine ‘Dialektik’ der Formen, eine ihr Ordnung und Maß verleihende ideale Synthese zum Ausdruck. Eine so aufgefasste Bewegung besteht also im geregelten Übergang von einer Form zur anderen, das heißt in einer Ordnung von Posen oder hervorgehobenen Momenten wie in einem Tanz. 1 Um so mehr gaben Tanz, Ballett und Pantomime die Figuren und Posen auf, um das Nicht- Gestellte, Nicht-Gestelzte freizusetzen, das die Bewegung auf den beliebigen Moment bezieht. 2 Deleuze vergleicht hier die Vorstellungen von Bewegung in der Antike mit jener der Neuzeit und bezieht sie auf den Tanz des 19. bzw. des 20. Jahrhunderts. Erstere rekonstruiere Bewegung aus Positionen und Übergängen, die Wissenschaft der Neuzeit hingegen beziehe sie nicht mehr auf Positionen, im Sinne einer bloßen Aktualisierung transzendenter Formen, sondern auf beliebige Momente. Da es seither nicht mehr eine dialektische Ordnung der Formen sei, die Bewegung ausmache, konnte sich ihr durch Analyse in jedem beliebigen Moment angenähert werden. Das heiße für den Film, dem bekanntlich Deleuzes Interesse im hier zitierten Bewegungs-Bild gilt, dass sich das Herausgehobene, Auffallende oder Singuläre “in welchem Moment auch immer” 3 ereignen könne. Diese Äußerungen sollen den Ausgangspunkt bilden für Fragen nach verschiedenen Konzeptionen von “herausgehobenen Momente[n]” 4 im Tanz, besonders im zeitgenössischen Tanz, sowie nach den zu ihrer Hervorbringung verwendeten choreographischen Verfahren. Inwiefern lassen sich Deleuzes Überlegungen übertragen? Untersucht werden soll dazu - neben der Erwähnung einiger Beispiele der 1970er bis 1990er Jahre - das Solo PIECE der Berliner Choreographin Thérèse Nylén, ein Stück für eine Performerin (Zufit Simon). 5 Deleuze erklärt ersteres Konzept, das im Aktualisieren von idealen Formen dem des Klassischen Balletts entspricht, in dem die Übergänge zwischen Sprüngen und Balancen nicht weiter von Interesse sind, für anachronistisch. 6 Im zeitgenössischen Ballett jedoch, in den Stücken William Forsythes der 1980er und 1990er Jahre, ist eine Dynamisierung der Posen zu beobachten. Balancen und Sprünge sind hier derart beschleunigt, dass sie nicht mehr grundsätzlich herausgehoben sind. Die Bewegungen des hierarchisch in Posen und Übergängen geordneten Systems des Klassischen Balletts sind sozusagen ‘demokratisiert’. 7 Nach Posen oder gehaltenen Figuren, die als Höhepunkte einer Schrittfolge gelten würden, sucht man bei William Forsythes Tänzern […] vergeblich. Sie streifen Figuren wie die Arabesque lediglich, sie nähern sich ihnen an, bevor diese im permanenten Fluss der Bewegung wieder verschwinden. 8 Diese Beschleunigung resultiert bei Forsythe aus der Überlegung, dass das Ideal einer Pose wie der Arabesque niemals erreicht werden kann. Der Tänzer könne lediglich durch die Pose hindurchgehen, “ohne sie vollständig zu besetzen”, so Gabriele Brandstetter. 9 Choreographisch entsteht hier die Möglichkeit, Momente aus dem Bewegungsfluss herauszuheben, daraus, “in die interne Organisation des Tänzerkörpers ein[zugreifen], indem er Verbindungen kappt und neue schafft”, 10 wie es Gerald Siegmund beschreibt. Forsythe untersucht das System von Posen, zerlegt es, um neue Verbindungen zwischen ihnen zu finden. Diese Verbindungen werden dann wiederum durch dynamische Variationen - durch Verlangsamungen oder Stopps - derart bearbeitet, dass auch sie hervortreten können und nicht länger nur Übergänge sind. Ein ‘Zwischenschritt’ wie das chassé, bei dem ein Fuß sich in den Raum hinein schiebt und Über herausgehobene Momente im Tanz 67 vom anderen rasch ‘gejagt’ und eingeholt wird, wird dabei oft verlangsamt, die widerständige Qualität des Gegen-den-Boden- Schiebens wird verstärkt und tritt so besonders hervor. Im Folgenden soll auf Deleuzes Überlegungen zur Konzeption des Tanzes im 20. Jahrhundert eingegangen werden, nach der eine Abkehr von der Pose stattfinde, die im Ballett der Demonstration der Körperbeherrschung diente. 11 Diese Abkehr erfolgte zugunsten eines veränderten Bewegungs- und zudem Körperkonzepts, das zu Anfang des Jahrhunderts auch die Tanzbewegung auf den beliebigen Moment bezog. Zum Herausheben von Momenten seien nun künstlerische Verfahren - wie z. B. das der Montage - nötig, um beliebige Momente zu besonderen zu machen. Da Deleuze sich mit letzterer Äußerung wieder auf den Film bezieht, möchte ich diese anhand einiger Beispiele (Pina Bausch, Rui Horta, Thérèse Nylén) auf Tanz zu übertragen versuchen, wobei unterschiedliche Verfahren zur Hervorhebung herausgearbeitet werden. Zunächst folge ich dabei Deleuze dahingehend, dass der Tanz im 20. Jahrhundert die Pose aufgebe. Im Weiteren jedoch entwickelt dieser meines Erachtens ein erneutes, jedoch verändertes Interesse an der Pose, das nicht als anachronistisch abgetan werden kann. Dafür möchte ich Pose nicht in erster Linie als Pause, vielmehr mit Gabriele Brandstetter als Möglichkeit zu einer “fleischliche[n] Tradierung” verstehen. 12 Bereits Étienne-Jules Marey und Eadweard Muybridge zeigten in ihren Chronophotographien - etwa des Pferdegalopps - der Bewegung inhärente Momente anstelle der Posen von Pferden, wie dies zuvor der Fall gewesen sei. 13 Deleuzes Zitat über das neue Interesse des Tanzes am ‘Ungestelzten’ bezieht sich auf die Bewegungskonzeption des Ausdruckstanzes. 14 In diesem Zusammenhang sei an die Überlegungen des Tänzers, Choreographen und Tanztheoretikers Rudolf von Laban erinnert, der wesentlich für dessen Entwicklung verantwortlich zeichnete und auf den sich auch Forsythe bezieht. Laban untersuchte Bewegung systematisch in Bezug zum Raum (“Raumharmonielehre”), entwickelte eine Notationsmöglichkeit (später Laban- Notation genannt) und arbeitete acht “dynamische[n] Grundaktionen” (Drücken, Wringen, Gleiten, Schweben, Peitschen, Stoßen, Tupfen, Flattern) heraus. 15 Diesen ordnete er Richtungen im Raum zu, da “der Körper und seine Glieder [fähig sind], gewisse dynamische Nuancen in der Bewegung in gewissen Zonen des Raumes besser auszuführen als in anderen”. 16 So konnten die aus der Analyse gewonnenen Bewegungen besonders bearbeitet und dynamisch hervorgehoben werden, ohne der disziplinierenden und normierenden Arbeit zur Herstellung von Posen im klassischen Ballett unterstellt zu sein. 17 Die “Akkumulation von Gewöhnlichem” Wie werden nun laut Deleuze beliebige Momente zu besonderen? Diese Produktion von Singularitäten […] vollzieht sich nun über die Akkumulation von Gewöhnlichem […], so dass das Singuläre dem Beliebigen entnommen wird, es selber nur nicht-gewöhnliches oder nicht-reguläres Beliebiges ist. 18 Es brauche also eine Umwandlung, ein künstlerisches Verfahren, wie etwa die Montage Sergej Eisensteins. Dieser habe in seinen Filmen mit beliebigen Momenten gearbeitet, sich dabei aber “die Höhepunkte und die Schreie aus[gesucht], er treibt die Szenen zu ihrem Höhepunkt und lässt sie dann miteinander kollidieren”. 19 Für den Tanz ist ein solches Montage- Verfahren bereits vielerorts für das deutsche Tanztheater Pina Bauschs beschrieben worden. 20 Bausch arbeitet mit alltäglichen Bewe- 68 Katarina Kleinschmidt gungen, mit Sprache und Gesten, trägt dieses Alltägliche zusammen und bindet es in ihr (vom Modern Dance geprägtes) Bewegungsvokabular ein. Besonders Herausgehobenes entsteht dabei oft durch das Aufeinandertreffen von “Gegensätzliche[m] - Bilder, Szenen, Bewegungen, Stimmungen, Musik, Figuren, Emotionalitäten”, 21 wobei dieses Gegensätzliche aus den (Alltags-) Erfahrungen ihrer Tänzer stammt. In einer Szene ihrer Version von Blaubart von 1977 rennen Tänzer über die Bühne, springen laut rufend in die Luft, gefolgt von einigen schnell und flüchtig angedeuteten Beinpositionen und Oberkörperneigungen aus dem Vokabular des Modern Dance. 22 Nur eine Tänzerin sitzt ruhig auf einem Stuhl, bis sich ein großer Mann auf ihren Schoß setzt. Er verdeckt die kleine, zierliche Frau fast gänzlich. Langsam fällt diese vom Stuhl - ein Vorgang, der eine Abwandlung von der alltäglichen Bewegung erfordert, da sie sich unter dem Gewicht des Mannes herauswinden muss. 23 So ist dieses Fallen eher ein Gleiten, das mit der Entspannung als einem Prinzip des Modern Dance arbeitet. Möglich wäre es hier, von einer solchen “Produktion von Singularitäten” zu sprechen, bei der “das Singuläre dem Beliebigen entnommen wird”, 24 einer Häufung von alltäglichen Bewegungen, die aber so gesetzt sind, dass die Hektik und Aufregung der springenden Männer mit der Ruhe der Frau kontrastieren und in diesem Kontrast - ähnlich einer Eisensteinschen Kollision - ein herausgehobener Moment entsteht. Im Hinblick auf eine “Akkumulation von Gewöhnlichem”, als eine Mischung aus Alltäglichem und tänzerischem Vokabular, ließe sich auch an die US-amerikanischen Choreographinnen Yvonne Rainer und Trisha Brown denken, prominente Vertreterinnen des Postmodern Dance in New York. Ihre Arbeit, vor allem der 1960er und 1970er Jahre, ist in diesem Zusammenhang interessant, da alle erdenklichen Bewegungen in ihren Choreographien gleichermaßen benutzt wurden und somit von einer weiteren Art der “Demokratisierung” von Bewegung zu sprechen ist, 25 wie sie eingangs schon - in anderer Art für Forsythe - erwähnt wurde. Der Tanz Rainers und Browns zeichnete sich zwar gerade durch ein gleichmäßiges Fließen ohne herausstechende Momente aus, dennoch soll er hier kurze Erwähnung finden, auf die später weiter eingegangen wird. In ihrem Solo Primary Accumulation (1972) spiegelt Trisha Brown, entspannt auf dem Rücken liegend, zunächst immer abwechselnd die Aktion eines Armes durch die eines Beins und anders herum. Nach jeder Bewegung bringt sie das Körperteil zurück in die Ausgangsposition, die Rükkenlage, wobei niemals Pausen entstehen, da - bevor der eine Arm die Ausgangsposition erreicht - das andere Bein schon zu spiegeln beginnt. Durch dieses System der Überlappung entsteht ein Fließen ohne herausgehobene Momente, das auch weiter besteht, wenn die Choreographie immer komplexer wird. Herausheben durch Verzögerung bei Rui Horta Wie kann nun aber “nicht-reguläres Beliebiges” anders als im Beispiel von Bausch entstehen? 26 Herausgehoben (aus dem Bewegungsfluss) können Bewegungen durch dynamische Wechsel sein, wie bereits für Laban und Forsythe angedeutet. Dies ist in ausgeprägter Weise in den Choreographien Rui Hortas der Fall, der in den 1990er Jahren mit der Frankfurter Compagnie S.O.A.P. Dance Theatre gearbeitet hat. 27 Horta verbindet in seinen Stücken das Vokabular unterschiedlicher Tanz- und Bewegungsformen: Klassisches Ballett, Modern Dance, Contact Improvisation, Capoeira oder auch Alltagsgesten. Dies geschieht durch das Prinzip von Verzögerung (suspension) und dem Loslassen dieser Spannung (release). Dabei wird zunächst eine Über herausgehobene Momente im Tanz 69 aufwärts strebende Spannung aufgebaut und dann losgelassen, wodurch sehr schnelle Bewegungen hervorgebracht werden. Die Verzögerung ereignet sich dabei meist in extremen Balance-Situationen, die aus allen der oben genannten verschiedenen Tanz- und Bewegungsformen stammen können - im Sinne Deleuzes also womöglich das Hervorheben eines beliebigen Moments. In diesen Verzögerungen wird zum Beispiel das Gewicht so stark auf ein Bein und dazu der Oberkörper zur selben Seite hin verlagert, dass der Tänzer zu dieser Seite zu fallen droht, er sich nur durch den Gegenzug des anderen Beins in der Balance halten kann und für einen Moment nicht klar ist, in welche Richtung sich diese Spannung entladen wird. Für die Wirkung der Bewegungssequenzen sind verschiedene Dynamiken oder Dynamikwechsel ausschlaggebend, wobei sich die verzögerten Bewegungen gegen die schnelleren, entspannteren abheben und sozusagen herausgehoben sind. Dieses Konzept von Herausheben durch Verzögerung lässt sich anhand von zwei Punkten an das der Pose anschließen, wie es Brandstetter vorschlägt. Diese leitet Pose vom lateinischen “pausare”, innehalten, ab, was allerdings nicht Stillstand bedeuten muss. 28 Zum einen, so Brandstetter, die wiederum Bernhard Waldenfels zitiert, bewege sich die Pose zwischen dem “Übergang ins Erwartete und Umschlag ins Unerwartete”, wobei hier die Perspektive und “das Zeiterlebnis des Zuschauers” angesprochen sind. 29 Zum anderen sei das Innehalten im höfischen Tanz der Renaissance ein “Atemholen”, ein “Augenblick der Verwandlung und ein reflexives Moment innerhalb der Tanzbewegung und ihrer Unübersichtlichkeit”. 30 Auch bei Horta ist im Moment der Verzögerung nicht sicher, ob der Tänzer sich in der Balance wieder fangen und in der Choreographie weitergehen kann oder ob er fallen und der Verlauf des Stücks “ins Unerwartete” umschlagen wird. Außerdem sind die Verzögerungen an die Atmung gekoppelt, auch sie sind ein “Atemholen”, ein Einatmen. Und sie strukturieren die Choreographie, machen sie übersichtlicher durch dynamische Variationen. Somit ist dieses Verfahren zum Herausheben von Momenten durch Arbeit an der Bewegungsdynamik unterschieden von dem der Montage bei Bausch, bei der sich die Kontrastierung zum Einen durch das hektische Umherspringen der Gruppe gegen die langsam-gleitende Bewegung der Einzelnen und zum Anderen eher ‘inhaltlich’ ergibt, durch die Narration dieser Szene. Versatzstücke und amorphe Sequenzen in Thérèse Nyléns PIECE Deleuze problematisiert im Weiteren seine eigene Differenzierung: Ob man die “Bewegung aus erstarrten Posen oder unbewegten Schnitten” zusammensetze, 31 mache keinen Unterschied: in beiden verfehlt man die Bewegung, weil man sich ein Ganzes vorgibt, weil man unterstellt, dass ‘alles gegeben ist’, während sich die Bewegung nur herstellt, wenn das Ganze weder gegeben ist noch gegeben werden kann. Sobald man sich das Ganze in der ewigen Ordnung der Formen und Posen oder in der Gesamtheit beliebiger Augenblicke vorgibt, ist die Zeit entweder nur noch Bild der Ewigkeit oder aber Konsequenz einer Gesamtheit: für die wirkliche Bewegung ist kein Platz mehr. 32 Wie ließe sich diese Überlegung in Bezug auf herausgehobene Momente im Tanz heute denken? Dazu soll nun die Aufführung des Solos PIECE betrachtet werden, und hierbei genauer die erste von drei Szenen. Dieses Stück scheint in seinem Umgang mit Zitaten der Tanzgeschichte geradezu die Problematik der herausgehobenen Momente zu reflektieren und durch das choreographische Verfahren des Morphing ein ‘geöffnetes Ganzes’ zu inszenieren, das Deleuze als Ausweg für das oben zitierte Problem sieht. 33 Die herausge- 70 Katarina Kleinschmidt hobenen Momente sind in PIECE zunächst im Sinne des von Deleuze als anachronistisch bezeichneten Tanzverständnisses als Posen und Über-Gänge angesprochen - eben als Zitate, im Sinne von Vor-Bildern, die nun aktualisiert werden -, um diese dann im Verlaufe der ersten Szene des Stückes im Morphing aufzulösen. 34 Die Performerin geht zügig, doch ohne Hast über die Bühne und führt am Ende dieser Gänge Bewegungen aus oder nimmt Posen ein, die Zäsuren in den Fluss ihres zielstrebigen Gehens setzen. So platziert sie sich aufrecht stehend in der hinteren rechten Ecke, mit hüftbreit geöffneten, parallel ausgerichteten Füßen. Sie beugt den Oberkörper weit nach unten und setzt nacheinander die Hände auf den Boden, so dass ihr Körper mit dem Boden ein Dreieck bildet. Dabei sind die Fingerspitzen ihren Füßen zugewandt. Sie stellt ohne Eile oder Anstrengung die Füße ein Stück zurück, in eine Art erste Ballettposition, die Fußspitzen nach außen, die Fersen jedoch nicht ganz zusammen, und verharrt einen Moment. Dann dreht sie die Hände wieder in die andere Richtung, die Fingerspitzen vom Körper weg zeigend, tritt mit ihren Füßen etwas näher an ihre Hände heran, so dass diese parallel nebeneinander stehen. Sie richtet sich auf, wobei sie die Wirbelsäule aufrollt, und der Kopf als letztes in der Senkrechten ankommt. Das Gelächter im Publikum lässt erkennen, dass diese Anleihe an Self unfinished von 1998 erkannt wurde, eines der am meisten getourten Stücke des renommierten Choreographen Xavier Le Roy. Ein anderes Mal steuert die Performerin auf einen weit vorne links gelegenen Ort der Bühne zu, lässt sich auf dem Boden nieder, streckt im Sitzen simultan ein Bein und beide Arme nach hinten und legt den Kopf auf ihr vorderes, gebeugtes Bein. In dieser Pose pausiert sie. Die ‘Schwimmbewegung’, in der sie die Arme weit diagonal zur Seite streckt und in einem Bogen weiter bis hinter den Rücken führt, erinnert an den “Sterbenden Schwan” aus dem Karneval der Tiere (vgl. Abb. 1). 35 Die obige Beschreibung zeigt: In PIECE werden (‘statische’) Posen oder auch kurze Bewegungssequenzen wie Versatzstücke aus einem anderen Kontext genommen und ausgestellt: Sie wirken wie Zitate aus bekannten Stücken der Tanzgeschichte. 36 Die Performerin ‘verortet’ sie mit ihren Gängen über die Bühne an einer bestimmten Stelle, an der sie sie später im Stück zudem wiederholt. Durch diese Wiederholungen können sie wiedererkannt werden und erscheinen - besonders durch die weiter unten beschriebene Art des Ausstellens - auch dem Zuschauer als Zitate, dem sie nicht gleich ein ‘Quellen-Stück’ in den Sinn kommen lassen. In der letzten der drei Szenen des Stückes werden sie bei der Wiederholung zudem ‘belegt’, indem die Performerin für die jeweilige Bewegung verschiedene Kostüme anzieht, die auf das ‘Quellen-Stück’ verweisen, und diese Kostüme dann stellvertretend für die Posen dort auf der Bühne platziert, wo sie sie zuvor ‘verortet’ hat (vgl. Abb. 2). Selbst wer die Versatzstücke nicht schon aus anderen Stükken kennt: durch die ständigen Wiederholungen sind sie bald allen Zuschauern bekannt, sie sind wiedererkennbare Momente, die Ausschnitte aus ganz verschiedenen Tanzstücken in PIECE vereinen. Um hier von Posen zu sprechen - und dies bietet sich durch die herausgehobene Position der Versatzstücke durchaus an, die zudem im Sinne von ‘Posing’ “den Eindruck des Gewollten” machen - sei ihre Funktion im Zusammenhang mit den Tableaux vivants erwähnt, 37 deren beliebtes Darstellungsmittel sie waren. 38 Durch die Pose wurden aus der Bildenden Kunst bekannte Gemälde und Skulpturen nachgestellt, so Brandstetter. Pose ist somit hier in ihrer Funktion einer “(korporale[n]) Überlieferung von Bildern” aufgerufen, als “fleischliche Tradierung und Traditionsbildung”. 39 Mit dieser Platzierung “zwischen dem Einhalt und der Bewegung” lassen Über herausgehobene Momente im Tanz 71 Abb. 2: Durch die Kostüme werden die Zitate in PIECE ‘belegt’ und zudem auf der Bühne ‘verortet’. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Loulou d’Aki) sich auch jene Zitate fassen, 40 die als kleinere Bewegungssequenzen kurze Pausen an ihrem Ende aufweisen. 41 (Abb. 2) Neben den Gängen über die Bühne und den kurzen Pausen der Versatzstücke geschieht das Ausstellen auch durch einen besonderen ‘Ein- und Ausgang’, durch eine Art ‘neutrale Grundposition’: Dabei stehen die Füße der Performerin - wie schon im Beispiel oben - parallel und hüftbreit nebeneinander, in einer Position, die als neutraler Ausgangspunkt u.a. in zeitgenössischen Tanztechniken verwendet wird. Häufig kommt noch ein Abrollen der Wirbelsäule, ein graduelles Hinunterbeugen hinzu, das mit dem Sinken des Kopfes beginnt, oder die Performerin rollt bei Zitaten auf dem Boden die Wirbelsäule beim Aufstehen sequenziell auf. Mit den derart hervorgehobenen Zitaten sind ‘Schlüsselmomente der Tanzgeschichte’ angesprochen, die als ‘Vor-Bilder’ wiederholt und - im Fall der Schwanenbewegung im Sinne des Klassischen Balletts als Ideal verstanden - aktualisiert werden. Dabei sind aber gerade verschiedene Tanzkonzepte gegenwärtig, wie zeitgenössischer Tanz am Beispiel von Xavier Le Roy, Yoga, Ausdruckstanz sowie (europäisch-amerikanischer) Moderner und Indischer Tanz. 42 Auf diese Weise werden also divergierende Konzepte von herausgehobenen Momenten angesprochen. Im Laufe der ersten Szene nun werden die Versatzstücke immer wieder aneinandergereiht und überlappen sich mehr und mehr, so dass ein kontinuierliches Fließen der Bewegung entsteht. Dieses choreographische Verfahren möchte ich als Morphing betrachten, ein Verfahren der Verflüssigung, des stetigen Werdens, das das Unabgeschlossene zu inszenieren vermag. Morphing lässt einen fließend wirkenden Übergang aus einem Bild zu einem anderen entstehen. Dabei werden [e]inzelne Punkte der digitalisierten Bilder […] graduell ersetzt, der Computer errechnet Übergangswerte […], und die graduellen Zwischenstufen werden wie beim Film so schnell hintereinander gezeigt, dass der Eindruck einer Transformation entsteht. 43 72 Katarina Kleinschmidt Dieser “Eindruck einer Transformation” ist auf PIECE übertragbar, denn hier werden die Zitate derart miteinander verbunden, dass deren Konturen verwischen. Dabei kommt es in einigen Sequenzen zu Momenten ihrer (fast) völligen Auflösung, denn die Performerin geht hier - bevor sie ein Versatzstück erreicht - schon in das nächste über. In diesem Ineinander-Übergehen sind die einzelnen Versatzstücke kaum noch zu identifizieren. Allein durch den Aufbau der Szene, dadurch, dass der Zuschauer den choreographischen Vorgang des Kombinierens von Zitaten durchschauen kann - das allmähliche und wiederholte Überlappen der bekannten Bewegungen -, sind die Sequenzen noch als aus den Versatzstücken zusammengesetzt erkennbar. Freilich gelingt dieses (annähernd völlige) Aufgehen der Zitate im Bewegungsfluss nur an einigen Stellen. Diese jedoch vermögen die Wahrnehmung zu irritieren, da es in ihnen - zudem vor dem Hintergrund der zuvor permanenten Wiederholungen, des ständigen Wiedererkennens - nicht gelingt, Momente festzuhalten und zu identifizieren. Gerade diese Momente der Irritation sind aber die besonders beeindruckenden in PIECE. Sie bilden mithin herausgehobene Momente. Die Arbeit an der Bild- und Zitathaftigkeit von Posen ist im zeitgenössischen Tanz nicht selten: Brandstetter beschreibt “Zitathaftigkeit als Pose” für Stücke Meg Stuarts als ein Verfahren der Verdichtung, 44 das “Interaktionsposen des Alltags” analysiert, 45 rekombiniert und so eine “Posenlandschaft” entstehen lässt, die “auf die Lücken der Zu-Ordnung [verweist]”. 46 Faszinierende Momente ergäben sich dabei gerade aus dem “Wechsel [von][…] Ver-Fremdung und Defiguration”, 47 aus Abweichung und Neuformung, die aber sichtlich aus der Schichtung der bekannten Posen entsteht. Hier ließen sich auch die Momente der Irritation in PIECE durch das Auflösen der Wiedererkennbarkeit im Morphing anfügen. Ein ähnliches Verfahren erörtert Yvonne Hardt anhand der Choreographie Giszelle (2001) von Xavier Le Roy (in Zusammenarbeit mit Eszter Salamon). Darin erfolgt ein ähnliches Ausstellen und Aneinanderreihen von Bewegungszitaten, das allerdings nicht bis zur annähernd völligen Auflösung der Wiedererkennbarkeit führt, sondern eher über den “enorm schnellen Wechsel von Bewegungsqualitäten […] ein neues Bewegungsmaterial [erzeugt]” und dabei den performativen Aneignungsprozess von u. a. historischem Bewegungsmaterial sichtbar macht. 48 Zurück zu Deleuzes Zitat, dass Bewegung sich nur herstelle, “wenn das Ganze weder gegeben ist [sic! ] noch gegeben werden kann”. 49 Bei einem geschlossenen Ganzen werde sie verfehlt, da so “die Zeit entweder nur noch Bild der Ewigkeit oder aber Konsequenz einer Gesamtheit” sei: Das Ganze sei nur durch Relation (seiner Objekte) zu definieren. 50 Es sei offen, kein geschlossenes Ensemble, sondern im Gegenteil das, wodurch das Ensemble niemals völlig geschlossen […] ist […]. Das Ganze erzeugt sich, bringt sich unaufhörlich in einer anderen Dimension […] hervor, […] als das reine unablässige Werden. 51 Möglicherweise lässt sich an dieser Stelle Deleuzes Überlegung mit den Praktiken in PIECE zusammendenken. Denn durch den Aufbau der Szene - das Kombinieren, Überlappen und Morphen der Versatzstücke - wird deutlich, dass es unendlich viele Kombinationsmöglichkeiten gibt. Das ‘Ganze’ der Choreographie ist offen, ein Endpunkt scheint nicht erreichbar. Der Bewegungsfluss, der sozusagen zwischen den scheinbar unerschöpflichen Möglichkeiten und den tatsächlichen Entscheidungen der Performerin entsteht, könnte immer weiter geführt werden. Für dieses potenziell stetige Werden, die Transformation, ist Morphing hierbei das Verfahren. “Es visualisiert eine Metaphorik (das ‘Flüssige’)” und steht für das Unabgeschlossene, so Bergermann: 52 Über herausgehobene Momente im Tanz 73 Morphing zeigt das Amorphe, weniger eine Form - wie der griechische Stamm morph nahe legt - als vielmehr die Potentialität von Form. Die ‘ing-Form’ erinnert an die Verlaufsform des Verbs, eine unabgeschlossene, zeitlich suspendierte Form, die nicht ankommt, nicht fest wird. 53 Es kann nun eine Verbindung gezogen werden zwischen den gemorphten Sequenzen in PIECE und den Ansätzen Trisha Browns in den 1970er und William Forsythes ab den 1980er Jahren. Denn Forsythe schafft durch seine Arbeit am System des Balletts zwischen den Posen neue Verbindungen, die durch dynamische Variationen zu herausgehobenen Momenten werden können, so dass nicht mehr unbedingt die konventionellen Posen aus dem rasanten Bewegungsfluss seiner Stücke herausstechen; Brown ist ebenfalls mit den Strukturen beschäftigt, die Bewegung organisieren. “Her major concern has always been to find the schemes and structures that organize movement […]”, so Sally Banes. 54 In den Accumulations - zu denen auch die oben beschriebene Primary Accumulation zählt - ist das mathematische System der Akkumulation das choreographische Prinzip (1; 1, 2; 1, 2, 3 usw.). Nur sind es bei ihr meist Gesten und Alltagsbewegungen, wie aus Banes Beschreibung ersichtlich wird: “raise the forearm, raise the whole arm, brush hair back at the temple, turn the had to the side […]”. 55 Außerdem wähle sie die liegende Position auf dem Rücken, um den Beinen dieselben Funktionen zu ermöglichen wie den Armen. Das kontinuierliche Fließen ohne herausgehobene Momente resultiert neben den oben genannten Überlappungen auch aus der Vorgabe, dass alle Bewegungen bequem durchführbar sein sollten. Mit der Idee des Morphings in PIECE aber, einem digitalen Verfahren, kommt ein anderer Aspekt hinzu, der Deleuzes Vorwurf des Anachronismus gegenüber dem Tanz, im Umgang mit vorgegebenen idealen Formen, den Posen, zu widerlegen vermag. Nicht nur ist das Etablieren der zitathaften Versatzstücke wesentlich für deren Auflösung im Bewegungsfluss der gemorphten Sequenzen, was über die Irritation durch das (fast gänzliche) Auflösen der Wiedererkennbarkeit zu neuen herausgehobenen Momenten führt. Auch werden in PIECE die Zitate immer näher aneinander gelagert, bis die einzelnen Bewegungssequenzen (fast) nicht mehr zu identifizieren sind, sie ineinander zu fließen scheinen. Damit ergibt sich durch die Choreographie nicht nur der Eindruck des Morphings, diese spiegelt zudem auch sein Verfahren. Bergermann bezeichnet Morphing als “eine Variante der Verhandlung des Digitalen”. 56 Es verweist auf die Eigenheit des digitalen Verfahrens, das mit 0: 1-Schritten operiert, diese Schritte im Morphing jedoch so weit teilt, dass die Diskontinuität durch den Eindruck des kontinuierlichen Fließens verschwindet. Die Differenzen im “Sprunghafte[n]/ Treppenartige[n]” werden soweit reduziert, 57 bis das Sprunghafte zwischen den Stufen verschwindet und nur der stufenlose Übergang zurückbleibt. Ist das choreographische Morphing also eine Reflexion der Darstellung von Bewegung im ‘digitalen Zeitalter’? Hier schlösse sich auch der Kreis zu dem, was Deleuze in seinem “Bewegungsbild” umtreibt: Auch im ‘digitalen Zeitalter’ entgeht uns die Bewegung, wenn wir versuchen, die unbewegten Schnitte einander unendlich - wie im (digitalen sowie getanzten) Morphing - anzunähern. Und wie an den ganz verschiedenartigen Beispielen sichtbar geworden ist, vom Umbau des Ballettsystems über choreographische ‘Montage’, dem Prinzip der Verzögerung oder (getanztem) Morphing: Diese Suche nach der Bewegung reflektiert auch der Tanz in seinen Verfahren. Er arbeitet in den unterschiedlichsten Ausprägungen beständig daran, jenseits eines anachronistischen Posenmodells ‘Singuläres’ zu produzieren, auch mit und an der Pose. Und dabei geschieht dieses Singuläre auch in den Momenten, in denen die choreographischen 74 Katarina Kleinschmidt Verfahren die bekannten Bewegungen soweit aufgelöst haben, dass diese die Wahrnehmung zu irritieren vermögen und somit herausgehobene Momente erzeugen. Anmerkungen 1 Gilles Deleuze. Kino I. Das Bewegungs-Bild. Frankfurt/ Main, 2 1990, hier 16-17. 2 Deleuze 1990, 20. 3 Deleuze 1990, 21. 4 Deleuze 1990, 19; zur beliebten Verbindung von Deleuzes Bewegungs-Bild mit dem Tanz siehe auch Gabriele Brandstetter / Gabriele Klein, ed. Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanalysen zu Pina Bauschs “Le Sacre du Printemps.” Bielefeld, 2007a; Susanne Foellmer. Am Rand der Körper. Inventuren des Unangeschlossenen im zeitgenössischen Tanz. Bielefeld, 2009 sowie Annamira Jochim. Meg Stuart. Bild in Bewegung und Choreographie. Bielefeld, 2008. 5 Die Aufführung von PIECE habe ich am 06.07.2009 im BAT Theater, Berlin, im Rahmen der Abschlusspräsentationen des Masterstudiengangs Solo/ Dance/ Authorship des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz Berlin gesehen. Der vorliegende Aufsatz ist aus den Diskussionen entstanden, die im Rahmen der Lehrveranstaltung Choreographie und die anderen Medien von Susanne Foellmer im Masterstudiengang Tanzwissenschaft der Freien Universität Berlin im Wintersemester 2008/ 09 stattgefunden haben. Susanne Foellmer möchte ich hier auch herzlich für die Unterstützung und die redaktionelle Arbeit danken. 6 Deleuze 1990, 17. 7 Vgl. S. 4 dieses Aufsatzes. In Anlehnung an eine “‘Demokratisierung’ des Tanzes und des tanzenden Körpers” wie André Lepecki sie mit Bezug auf Sally Banes “Democracy’s Body” erwähnt, vgl. André Lepecki. “‘Am ruhenden Punkt der kreisenden Welt’. Die vibrierende Mikroskopie der Ruhe.” ReMembering the body: Körper-Bilder in Bewegung. Ed. Gabriele Brandstetter / Hortensia Völckers. Ostfildern- Ruit, 2000. 336-366. Vgl. auch Sally Banes. Democracy’s Body: Judson Dance Theatre, 1962-1964. London, 1983. 8 Gerald Siegmund. “Räume eröffnen, in denen das Denken sich ereignen kann.” William Forsythe. Denken in Bewegung. Berlin, 2004. 9-80, hier 51-52. 9 Gabriele Brandstetter. “Schnittfiguren. Intersektionen von Bild und Tanz.” Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen. Ed. Dies. [et. al.] München, 2007b. 13-32, hier 14. 10 Siegmund 2004, 29; Beispiele von Forsythes Balletten sind Artifact (1984) und Limb’s Theorem (1990) mit dem Ballett Frankfurt, Frankfurt am Main. 11 Jochim 2008, 137. 12 Gabriele Brandstetter. “Pose - Posa - Posing - Zwischen Bild und Bewegung.” Fashion Body Cult. Ed. Elke Bippus / Dorothea Mink. Stuttgart, 2007c. 248-265, hier 261. 13 Deleuze 1990, 19. 14 Vgl. Deleuze 1990, 20. 15 Vgl. von Rudolf Laban. Choreutik: Grundlagen der Raumharmonielehre des Tanzes. Wilhelmshaven, 1991. 39-40. 16 Laban 1991, 40. 17 Natürlich hat auch der Ausdruckstanz eine spezifische Ästhetik entwickelt, die die Bewegung normiert hat. 18 Deleuze 1990, 19. 19 Deleuze 1990, 18. 20 Vgl. Susanne Schlicher. TanzTheater. Traditionen und Freiheiten. Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Hans Kresnik, Susanne Linke. Reinbek bei Hamburg, 1987. 108-149; Gabriele Brandstetter. “Tanztheater als ‘Chronik der Gefühle’. Fall-Geschichten von Pina Bausch und Christoph Marthaler.” e_motion. Ed. Margrit Bischof [et al.]. Hamburg, 2006. 17-34. 21 Schlicher 1987, 142. 22 Der Titel lautet vollständig Blaubart. Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper ‘Herzog Blaubarts Burg’, Stück von Pina Bausch. 23 Vgl. Brandstetter 2006, 24. 24 Deleuze 1990, 19. 25 Vgl. Fußnote 7. Der Einsatz der Alltagsbewegung diente dabei v.a. dazu, das Konzept der Repräsentation theatraler Bewegungen zu kritisieren; vgl. Sally Banes. Terpsichore in Sneakers: post-modern dance (with a new introduction). Hanover, NH, 1987. 17. Über herausgehobene Momente im Tanz 75 26 Deleuze 1990, 19. 27 Hier sei z.B. auf das Stück Wolfgang … bitte! (1991) verwiesen, Choreographie: Rui Horta, S.O.A.P. Dance Theatre, Mousonturm Frankfurt am Main. 28 Vgl. Gabriele Brandstetter. “Pausieren. Wie die Pose durch ausgebremste Zeit entsteht.” Ballettanz Jahrbuch. Ed. Hartmut Regitz / Arnd Wesemann. Berlin, 2007d, 56-63, hier 57. 29 Brandstetter 2007d, 58. 30 Brandstetter 2007d, 62. 31 Deleuze 1990, 21. 32 Deleuze 1990, 21. 33 Morphing ist zunächst ein digitales Bildbearbeitungsverfahren; vgl. Ulrike Bergermann. “Morphing. Profile des Digitalen.” Das Gesicht ist eine starke Organisation. Ed. Petra Löffler / Leander Scholz. Köln, 2004. 250-274. http: / / wwwcs.uni-paderborn.de/ ~bergerma/ texte/ morph.pdf 34 Das choreographische Verfahren des Morphings wurde und wird in verschiedenen Tanzstücken eingesetzt, so z.B. Saal A (2009) von Christoph Winkler oder Highway 101 (2000/ 01) von Meg Stuart. 35 Choreographiert wurde Der Sterbende Schwan (1907) von Michel Fokine für die Primaballerina Anna Pawlowa. Das Cello-Solo stammt aus Le carneval des animaux (1886) von Camille Saint-Saëns. 36 Zwar ist der Eindruck der Posen und Versatzstücke als Zitate auf den ersten Blick wie auch für den Verlauf der Aufführung prägend. Bei der genaueren Analyse ist jedoch eine Zuordnung zu einer Choreographie in vielen Fällen nicht eindeutig möglich. Dies ergibt sich zum einen aus dem gleichbleibend geringen Kraftaufwand, mit dem sie ausgeführt werden (vgl. Fußnote 42) und der ihre ‘Buchstäblichkeit’ verhindert. Zum anderen lässt dieser Eindruck sich produktionsästhetisch klären, da nicht mit genau geprobten Vor- Bildern, sondern mit der Erinnerung von Choreographin und Performerin an Vor- Bilder der Tanzgeschichte gearbeitet wurde. Dies wiederum ließe sich in Zusammenhang mit dem Umgang mit historischem Material - wie es Hardt unternimmt - und einer eventuellen Unmöglichkeit des buchstäblichen Zitierens im Tanz untersuchen und bildet mithin eine choreographische Arbeit an dieser Frage. 37 Günther Drosdowski, ed. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim, 1980. 38 Vgl. Bettina Brandl-Risi. “Tableau vivant.” Metzler Lexikon Theatertheorie. Ed. Erika Fischer-Lichte [et al.] Stuttgart/ Weimar, 2005. 325-327. 39 Brandstetter 2007c, 261. 40 Brandstetter 2007c, 257. 41 Zudem sind schon im stillen Stehen kleinste Bewegungen nötig, um den Körper aufrecht zu halten, wie schon Steve Paxton gezeigt hat, vgl. Lepecki 2000. 42 Anzumerken wäre noch der gleichbleibend geringe Kraftaufwand, mit dem die Performerin sich bewegt. Er ist immer nur gerade so hoch, die Bewegung ausführen zu können, ohne jedoch ein ‘Extra’ an Streckung oder Muskeltonus aufzubringen. Dies ist ein Merkmal sowohl von Choreographien (des Postmodern Dance) von Yvonne Rainer (zum Beispiel in Trio A) als auch des von Releasetechniken geprägten zeitgenössischen Tanzes, der auch auf diese Weise präsent ist. 43 Bergermann 2004, 2; auch Filmsequenzen können gemorpht werden, allerdings nur mit weitaus größerem technischen Aufwand; vgl. Mark J.P. Wolf “A Brief History of Morphing.” Meta-Morphing. Visual Transformation and the Culture of Quick-Change. Ed. Vivian Sobchack. Minneapolis, MN, 2000. 83-101, hier 94. 44 Brandstetter 2007c, 261. 45 Brandstetter 2007c, 263. 46 Brandstetter 2007c, 265. 47 Brandstetter 2007c, 263. 48 Yvonne Hardt. “Sich mit der Geschichte bewegen. Historische Bewegungszitate und Rekonstruktion als Strategien zeitgenössischer Choreographie.” Denkfiguren. Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfinden. Ed. Nicole Haitzinger / Karin Fenböck. München, 2010. 216-223, hier 218. 49 Deleuze 1990, 21. 50 Deleuze 1990, 24. 51 Deleuze 1990, 25. 52 Bergermann 2004, 1. 76 Katarina Kleinschmidt 53 Vgl. Bergermann 2004, 7 (Hervorhebung im Original). 54 Banes 1987, 83. 55 Banes 1987, 83. 56 Bergermann 2004, 1. 57 Bergermann 2004, 11. Emotionstheater? Anmerkungen zum Spielgefühl Julian Klein (Berlin) Schauspieler spielen keine Gefühle, sondern Figuren, Situationen, Handlungen, Geschichten. Auf dieser Vorstellung gründen dennoch viele Studien der Gefühlsforschung. Es gibt jedoch in gewissem Sinn keinen wirklichen Unterschied zwischen ‘gespielten’ und ‘echten’ Gefühlen, im Gegenteil, wir können zwar spielen, um in Gefühle zu geraten, oder wir können Gefühle vortäuschen, obwohl wir sie nicht fühlen - letztlich aber lassen sich Gefühle nicht spielen, nur empfinden. Wir können uns in einem Spiel ärgern, oder wir können so tun, als ob wir uns ärgerten, aber wir können nicht ‘Ärgern spielen’ in dem gleichen Sinn, wie wir Mensch-ärgere-dich-nicht spielen oder die Revolutionsetüde oder Fußball oder Tybalt, gleichwohl wir uns in allen diesen Fällen sehr verärgert fühlen können. Was jedoch ‘echte’ von ‘gespielten’ Gefühlen unterscheiden helfen kann, ist das Gefühl zu spielen, und dies nicht nur auf einer Theaterbühne. Im Gegenteil, ein solches ‘Spielgefühl’ kann sich auf jegliche Rahmung beziehen, in der wir uns jeweils bewegen. Oftmals, wenn Rahmen uns präsent oder gar bewusst werden, und sich in ihrer Kontingenz, Restriktion, Intentionalität oder Fiktionalität gleichsam materialisieren, haben wir (mehr oder weniger) das Gefühl, zu spielen oder andere spielen zu sehen. Das Spielgefühl kann in diesem Sinn alle befallen, Akteure genauso wie beteiligte oder unbeteiligte Zuschauer - denn letztlich handelt es sich um eine Modulation von Wahrnehmung, in der die Intentionalität aktiver Produktion von Rahmen und das Erleben der eigenen Perzeption in ihnen zusammenfallen. Doch auch das Spielgefühl ermöglicht keine grundsätzliche Kategorisierung von Handlungen in ‘Spiel’ und ‘Nicht-Spiel’, denn als Modulation unserer Wahrnehmung kann es sehr schwach oder stärker sein, es kann spontan kurz aufflammen oder länger andauern, und kann individuell durchaus verschieden erlebt werden. In dem dynamischen Kontinuum zwischen Nicht-Spiel und Spiel, anders gesagt: zwischen Präsenz und Repräsentation lassen sich dennoch einige Symptome beschreiben, an denen verschiedene Farben des Spektrums des Spielgefühls unterschieden werden können. Ich möchte dazu einige Überlegungen aus meiner künstlerischen Arbeit versammeln, die ich gerne tiefer durchdenken und diskutieren würde, um ihre Zusammenhänge und Konsequenzen zu klären. Viele Gedanken mögen dabei selbstverständlich, naheliegend oder gar banal erscheinen, aber gerade das Selbstverständliche, Naheliegende und Banale gerät nicht nur in der Theaterarbeit oft genug aus dem Blick, so dass es immer wieder neu bedenkenswert erscheint. Ich hoffe, dass von dieser ‘induktiven’ Methode auch die theoretische Diskussion profitieren kann. Die Gefühle Gefühle gehören zu den von jeher sehr vertrauten und gleichzeitig begrifflich letztlich unbestimmbaren Phänomenen. 1 Dies zeigt auch unsere Schwierigkeit, über sie mit Menschen zu sprechen, die sie nicht aus eigenem Erleben kennen. 2 Wenn wir überlegen, worin Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 77-91. Gunter Narr Verlag Tübingen 78 Julian Klein Unterschiede liegen könnten zwischen ‘gespielten’ und ‘nicht gespielten’ Gefühlen, schmelzen diese Unterscheidungen schnell dahin und bilden ein buntes Kontinuum von Erlebensweisen, die ineinander übergehen. 3 Vieles, was wir heute über Gefühle im Allgemeinen sagen können, ist jedenfalls mit Hilfe von Schauspielern untersucht worden - und zwar ohne dass ihr eigenes Erleben oft eine große Rolle gespielt hätte, denn die emotionale Wirkung von gespielten Szenen war zumeist von größerem Interesse als die Bedingung ihrer Herstellung. 4 Zunehmend wird diese Praxis daher als vorschnell kritisiert. 5 So gibt es Vorschläge, in psychologischen Studien doch statt der üblichen ‘geschauspielerten’ Emotionen lieber solche auf ihre Wirkung zu untersuchen, wie sie in den ubiquitären nachmittäglichen Real-TV-Shows gesendet werden. 6 Doch in welchem Sinne sollen diese Gefühle weniger gespielt sein, nur weil es sich bei den Akteuren vermuteterweise nicht um professionelle Schauspieler handelt? Denn auch tatsächlich empfundene Gefühle können zweifelsohne sehr gezielt eingesetzt werden, um bestimmte Wirkungen zu erreichen, und ihren performativen Charakter in dieser Wirkungsabsicht durchaus voll entfalten. Die Freude der Stürmer nach dem Tor verbindet sie mit den jubelnden Massen vor der Großleinwand. 7 Auch negative Gefühle können performativ sehr mächtig sein - ‘Erpressung’ durch Gefühlsäußerungen ist ein Tatbestandteil in vielen Beziehungsgeschichten. Grundsätzlich müssen wir von einer Art Realismus der Gefühle ausgehen: Gefühle können nicht richtig oder falsch sein, nicht authentisch oder künstlich, nicht echt oder gefälscht; sie stellen sich ein - oder eben nicht. Gefühle haben immer Recht. Wir können uns nicht ‘ver-fühlen’, jedenfalls nicht reflexiv - wir können uns nur gegenseitig ‘verfühlen’, also die Gefühle der Anderen empathisch deuten oder missdeuten. Was fühlen Schauspieler? Zunächst scheint es so, dass man nach Diderot, Kleist, Schiller und all ihren Kollegen kaum noch etwas Kluges über Gefühle von Schauspielern sagen könne, was diese nicht schon diskutiert haben. 8 Sollten sich die Zeiten so wenig geändert haben seitdem? Wir wissen offenbar immer noch nicht sehr viel mehr darüber, warum und wie wir spielen. 9 Aber nicht zuletzt wegen ihres häufigen Einsatzes in der Emotionsforschung ist auch für die Untersuchung von Gefühlen allgemein durchaus von Interesse, was Schauspieler eigentlich genau tun. Die Diskussion darüber, ob Schauspieler die Gefühle ihrer Figuren selbst fühlen oder nicht, geht meiner Meinung nach am Kern dessen vorbei, was Theater, genauer: Schauspiel, ausmacht. (Selbstverständlich gibt es neben dem Schauspiel noch viele andere Theaterformen, die zwar auch hochemotional sein können, aber hier nicht im Zentrum stehen sollen.) Wir kämen auch weniger auf die Idee zu fragen, ob eine Pianistin, die Chopins Revolutionsetüde musiziert, oder ein Marionettenspieler, der den Tybalt führt, denn das Gefühl selbst empfinde, das ihre Kunst in uns auslöst, oder jenes, das wir im Klang oder der Bewegung zu erkennen glauben. Wir sagen: ihr Spiel ist emotional, gefühlvoll, ausdrucksstark. Doch ihr eigenes emotionales Empfinden scheint für unsere künstlerische Erfahrung am Ende nicht in erster Linie relevant. Dass genau diese Frage bei Schauspielern, auch in wissenschaftlichen Zusammenhängen, heute so prominent diskutiert wird, liegt wohl auch weniger an ihrer Relevanz in der Theaterpraxis, als vielmehr an der Bekanntheit der “Methode”, der Ausbildungstradition nach Stanislavskij und Strasberg, die heute auch zu einer wirtschaftlich einträglichen Marke geworden ist, für Lehrer wie Schüler. Selbstverständlich brauchen Schauspieler Gefühle: sie müssen sensibel sein, um sehr Emotionstheater? 79 präzise zu wissen, wie es sich anfühlt, sich in bestimmten Situationen zu befinden, bestimmte Handlungen auszuführen, sich in einem bestimmten Rhythmus mit einer bestimmten Dynamik zu verhalten, um ihren Körper als ihr Instrument zu spielen. Sie sollen mit Hilfe ihrer Gefühle spielen, aber nicht ihre Gefühle sind das Ziel, sondern ihr Spiel. Schauspieler können im Spiel handeln wollen, aber nicht fühlen wollen. Ein Schauspieler kann spielen, ein Ziel erreichen zu wollen, etwa das Herz seiner Geliebten zu gewinnen, oder einen Rivalen zu besiegen, und sich dann freuen oder ärgern, wenn er dieses Ziel (im Spiel) erreicht oder verfehlt hat. Ein Schauspieler, der weinen will, spielt bestenfalls jemanden, der weinen will, und dieses Wollen wird zum Inhalt seines Spiels. Wenn er es erreicht, freut er sich darüber, dass er es erreicht hat, aber er ist gewiss nicht traurig, und wir würden ihm das auch nicht glauben wollen. Denn nicht das Gefühl ist gespielt, sondern die Situation; nicht die Schauspieler sind unecht, sondern die Umstände, in denen sie sich befinden. 10 Was erleben Zuschauer? Aber kommt es denn auf ‘Echtheit’ an? Oft wurde gesagt, dass wir die Kunst der Schauspieler dann besonders schätzen, wenn wir ihr Spiel für echt halten. Damit wäre sie jedoch schlichtweg für uns nicht mehr sichtbar. Und Laien auf der Bühne halten wir gegebenenfalls gerade deswegen für echt, weil sie eben nicht perfekt spielen. Echtheit ist auch für das Spiel meistens kein Ziel, denn in ‘echten’ Situationen vermeiden wir beispielsweise Konflikte, während Schauspieler auf der Bühne nichts Besseres tun können, als Konflikte zu suchen. 11 Die meisten Proben suchen außerdem nach einem unerwarteten, ungesehenen und unerhörten Verhalten, auch als Ausformung von Gefühlen, das daher eher im Gegenteil von Alltäglichem und Bekanntem zu finden ist, und nur so starke individuelle, überraschende, überzeugende, unverwechselbare Figuren erschaffen kann. 12 In ‘echten’ Situationen würden wir als Zuschauer Figuren, wie wir sie im Theater auf der Bühne antreffen können, lieber aus dem Weg gehen, aber dort freuen wir uns über die Begegnung. Denn auf Bühne, Leinwand oder Bildschirm liegt uns meistens nichts daran, glauben zu können, die Figuren seien echt. Im Gegenteil, fallen wir auf sie einmal herein, wie es etwa manchen Zuschauern der holländischen Organspende-Fernsehsendung The Big Donor Show trotz voriger Aufklärung geschah, sind wir unter Umständen nicht sehr begeistert, wie beispielsweise die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt: “Ich halte das für makaber und auch für eine wirkliche Missachtung der Würde eines Kranken.” 13 Hier wurde ein Spiel, dessen Sieger eine lebensnotwendige neue Niere gewinnen konnte, einerseits zwar zutreffend als Spiel aufgefasst (und insofern als Rahmen, in dem bestimmte exklusive, fiktionale Regeln gelten), andererseits jedoch für ‘echt’ gehalten, in dem ein ganz bestimmter Teil der Regeln als nicht-gespielt aufgefasst wurden: nämlich dass die Nierenoperation, die außerhalb dieses Rahmens stattfinde, von den Ergebnissen innerhalb des Spiel-Rahmens abhänge. Diese (vermeintliche) Überschreitung des Rahmens des Spiels war es, die als unzulässig und ungehörig empfunden wurde und zur Empörung der Medien führte (der eigentliche Zweck der Initiatoren). Kurz vor der Ausstrahlung deklarierten die Autoren auch die Operation für einen Teil des Spiels, und änderten somit den Verlauf des Rahmens in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Die nun hieraus resultierende Fiktionalisierung, die darin bestand, dass tatsächlich Kranke nun sich selbst in diesem Spiel ‘nur’ spielten (einschließlich fiktiver Operation), war vielleicht der eigentliche Anlass für Frau Schmidts Entrüstung: sie hatte die Spieler 80 Julian Klein (seien sie nun selbst krank gewesen oder nicht) demnach immer noch für ‘echt’ gehalten. Daher ist die Gleichsetzung von ‘gut gespielt’ mit ‘für echt haltbar’ in einem grundsätzlichen Sinn falsch: Wir können zwar versuchen, andere zu täuschen, wir können so tun, als ob wir ein Gefühl hätten oder nicht hätten, unabhängig davon ob wir es fühlen oder nicht. Das ist aber dann nicht dasselbe, was Schauspieler tun, sondern eher Helg Sgarbi, der Susanne Klatten erpresste, der “Frauenflüsterer, der sich in die einsamen Herzen wohlhabender Damen schlich”. 14 Bei ihm trifft vielleicht zu, dass er genau dann in einem perfiden Sinn besonders ‘gut spielt’, wenn seine Gefühle von den Opfern für echt gehalten werden - und zwar nicht, weil sie irgendwie ‘unecht’ sind, sondern schlicht nicht vorhanden. Diese Überlegungen zeigen: Der Rahmen des Spiels ist entscheidend für die Bewertung unserer Gefühle und die der anderen. Ist er nicht wahrnehmbar, geraten wir nicht in den künstlerischen Modus, und wir geben unseren empfundenen Gefühlen ihre Bedeutung in einem anderen Rahmen. Dabei ist es gleichgültig, ob die Akteure, denen wir begegnen, ‘tatsächlich’ spielen oder nicht, es kommt lediglich darauf an, ob wir ihr und unser eigenes Verhalten als Spiel auffassen. Es ist natürlich ein Unterschied, anderen beim Spiel zuzusehen oder selbst darin involviert zu sein, aber auch diese Modi unserer Wahrnehmung gleiten ineinander über. Bis hin zu jenem Spiel, in dem sich die Psyche selbst ihre Wirklichkeit inszeniert, etwa in der Projektion eigener erlebter Situationen auf das aktuelle Geschehen, vor allem mit negativen Erinnerungen: dann wollen wir das Erlebte immer wieder ‘durchspielen’, entweder nur in unserer ‘Vorstellung’, oder auch ausführend (also im Wortsinne performativ), dann oft auch mit vertauschten ‘Rollen’, um es emotional zu verarbeiten. Nicht nur die durchaus nicht-metaphorisch gemeinte Sprache zeigt hier, wie nahe diese Verhaltensweisen am fiktionalen Spiel sind - genau genommen sind sie nicht von ihm zu trennen, sondern lediglich nicht-repräsentationale Spielarten. Manchmal fällt es auch sehr schwer, den Spielmodus wieder zu verlassen. Milan Kunderas Kurzgeschichte “Fingierter Autostop” (im Buch der lächerlichen Liebe) 15 erzählt von einem Pärchen, das mit seinem Auto in den Urlaub fahren möchte. Nach einer Rast beginnen die beiden aus einer Laune heraus ein zunächst harmloses Spiel: Sie tun so, als ob der junge Mann eine Anhalterin mitnähme. Auf der weiteren Fahrt finden die beiden aus dem Spiel nicht mehr heraus, und so beginnt eine Katastrophe, die nicht nur räumlich weit vom Urlaubsziel entfernt ihren Verlauf nimmt. Am Ende der Geschichte schlafen sie miteinander, immer noch in ihren Rollen gefangen, und betrügen sich daher mit sich selbst in ihrem Spiel. Die junge Frau flüstert schließlich immer wieder: “ich bin ich, ich bin ich”. Das Spielgefühl Schon Kant war der Ansicht, dass ästhetisches Erleben durch eine emotionale Komponente konstituiert ist, auch wenn er es im Wesentlichen auf die Wirkung der Schönheit beschränkte. Im 20. Jahrhundert wurde der Gedanke, das ästhetische Erleben sei ein Gefühl, verallgemeinert. So verwies bereits 1916 Viktor Sklovskij 16 auf das besondere Gefühl, wenn uns vertraute Dinge plötzlich fremd erscheinen. Diese erhielten bisweilen einen anderen Status, ein zweites Gesicht. Er nannte diesen Vorgang “Verfremdung”. Ein Experiment aus der Inszenierung Innen - ich denke ich bin 17 kann dieses Gefühl verdeutlichen: Wenn ich “Jetzt” schreibe, sagen Sie bitte 42 Mal hintereinander laut das Wort “Strumpf”, auch wenn Sie zu den berufsbedingten Mitmach-Hassern gehören. Jetzt! Emotionstheater? 81 Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Strumpf. Dieses ästhetische Erleben als solches ist generell noch nicht künstlerisch, sondern durchzieht unsere gesamte Wahrnehmung. Immer dann, wenn diese präsent und opak wird, wenn es sich irgendwie anfühlt, etwas wahrzunehmen, haben wir ein ästhetisches Erlebnis. Künstlerisch wird dieser ästhetische Erlebensmodus, wenn er sich auf einen Rahmen bezieht. Wenn der Rahmen, in dem wir uns befinden, präsent und fühlbar wird; wenn die Funktion, die wir gerade ausüben, zu einer Rolle wird, die wir wie eine Kleidung plötzlich um uns herum spüren. Oder wenn uns bewusst wird, dass wir gerade eine Konvention erfüllen, indem wir einen Beruf, ein Amt oder eine Relation repräsentieren. In allen diesen Fällen können wir plötzlich oder unterschwellig den Rahmen fühlen, in dem wir uns befinden, und betrachten uns dann selbst wie von außerhalb. Wir erkennen seine Bedingungen, Kontingenzen und Restriktionen. Wir spüren die Kraft der Identifizierung, mit der uns die Anderen kategorisieren, definieren und uns in unsere Rolle weisen. In diesen Momenten werden Rahmen in unserer Wahrnehmung präsent und erhalten damit eine ästhetische Qualität. Dies bedeutet, sie werden von einer äußeren Bedingung zu einem Inhalt und Modus unserer Wahrnehmung. Wir oszillieren zwischen einem Innen und Außen, mehrere Rahmen geraten in Schwingung und Interferenz, die Wirklichkeit multipliziert sich für uns. Dieses Rahmungsgefühl ist die künstlerische Weise, die Welt und sich selbst in ihr zu erfahren. 18 Theater selbst ist ein solches Kunstgefühl, nämlich das Gefühl, sich in einer Rolle zu befinden, oder anderen ihre Rolle anzusehen. Die Wirklichkeit des Spiels - Ruby Town Nicht alles, was gespielt ist, spielt keine Rolle. Im Gegenteil, ein Spiel kann sehr wirklich wirken, und dennoch ein Spiel sein. Die Anwesenheit eines Spielgefühls bedeutet keineswegs, dass alles, was innerhalb des gefühlten Rahmens stattfindet, von uns notwendigerweise als weniger wirklich, als irreal oder ‘nur’ als-ob empfunden wird. Ähnlich, wie die Gleichsetzung von ‘gut gespielt’ mit ‘wirkt echt’ vorschnell ist, träfe eine Gleichsetzung von (nur) ‘gespielt’ mit ‘unwirklich’ nicht den Kern der Sache. Vielmehr ist all das für uns wirklich, was im Wortsinn eine Wirkung entfaltet, und diese Wirklichkeit kann durchaus auch innerhalb des Rahmens eines Spiels stattfinden. 19 In der Theaterproduktion “Die Erscheinungen der Martha Rubin” von Signa (Schauspiel Köln 2007) 20 ermöglicht unser sicheres Gefühl, dass alles nur gespielt ist, eine existenzielle Irritation. Denn in diesem Spiel begegnen die Besucher in der Theatersiedlung Ruby Town wirklicher Brutalität, wirklicher Unerbittlichkeit, wirklichen Verhandlungen, wirklichen Genüssen und wirklicher Erotik. Das Spielgefühl der Besucher verführt sie dazu, den sicheren Rahmen des Theaters immer weiter weg zu wähnen, und sich ganz hineinzuspielen in das Leben der Bewohner des skurrilen Dorfes, um dann umso intensiver in dieser fiktionalen Welt auf Wirklichkeit zu treffen. Die Ankündigung des Schauspielhauses Köln verspricht: “Die Installation wird in drei Zyklen bis zu 84 Stunden ununterbrochen von mehr als 40 Darstellern bewohnt und bespielt. Die Zuschauer können bleiben, 82 Julian Klein solange sie wollen, die Bewohner besuchen, bei ihnen essen, trinken, kaufen oder vielleicht sogar dort übernachten.” In 1880 a girl at around the age of 10 appeared in the German village Schwarza by the temporary camp of the Cirque Rubin. The girl never revealed her past and as no one claimed the child, she was taken into care by the circus and was given the name Martha Rubin. She became a graceful dancer and a remarkable horse rider, but it was her dark gift as an oracle that won her fame as a fairground attraction all over Europe. Martha Rubin gave birth to 17 children out of marriage. 7 of them - including the siamese twins Marthina and Corina, she raised together with the female sword swallower Cora Torrini. In 1913 Martha Rubin disappeared without a trace from the Romanian harbor city Constanta. Throughout the many years after her disapperrance Martha Rubin has reappeared on several European locations. A vast amount of footage and audio recordings document these occurences. In 1933 the relatives of Martha Rubin formed The Martha Rubin Society to collect and to understand the signs and traces of the oracle. In our time most of Martha Rubin’s descendants live in Ruby Town, a settlement in the borderland between the North and the South State. For more than 30 years Ruby Town has been of special interest to the North State military, not only because of the illegal trade with the South but also due to an inexplicable radiation. In Halle Kalk, a large abandoned industrial hall, Ruby Town is built from materials normally discarded by our civilization - scrap, wrecks and garbage are the basis for the artificial European settlement which huddles in the borderland between two walls. Narrow and twisted alleys lead through the labyrinthine heart of Ruby Town to a shrine that for many years has contained the few belongings of the disappeared oracle. Now Martha Rubin herself has come back to Ruby Town from the limbo in which she was trapped and the descendants gather around to listen to her dark visions. (Signa) Als ich Martha Rubin in Ruby Town besuchte, begleitete mich meine einjährige Tochter. Da die Bewohner dort wegen der unerklärlichen Strahlung unfruchtbar sind, freuten sich alle sehr über den Besuch eines kleinen Kindes, und ihr kindliches Spiel auf dem Teppich vor ihr veranlasste Martha zu einigen anrührenden Worten. Sicher haben sich nicht nur die Figuren, sondern auch deren Schauspieler über diesen Besuch gefreut - sei es, weil sie Kinder wirklich mögen, oder weil sie damit eine gute Vorlage bekamen, die ihnen Möglichkeiten für ihr Spiel eröffnete. Das Resultat waren jedenfalls in jenem Moment fröhliche Gesichter, und alle miteinander freuten sich, auch wir. Das Spiel der Wirklichkeit - Hauptversammlung Die künstlerische Erfahrung des Rahmens eines Spiels kann durchaus auch außerhalb von Theaterbühnen stattfinden. Eine Wirklichkeit, eine Rahmung kann sich auch erst in ihrem Verlauf als Spiel herausstellen: “Wir sollten die Regeln des Anstands einhalten, auch werde ich Störungen des Ablaufs der Hauptversammlung nicht zulassen. Dies ist hier weder ein Schauspiel, noch ein Theaterstück! ” sagte der Aufsichtsratsvorsitzende Bischoff auf der Generalversammlung der Daimler AG in Berlin am 8. April 2009. 21 Indem er dies sagte, spürte er vermutlich, dass eine weitere, in seinen Augen unangemessene Rahmung für ihn präsent war, verkörpert durch die Blicke der Besucher mit einem Programmheft des Theaters Hebbel am Ufer, auf dessen Spielplan an diesem Tag die Einladung von Rimini Protokoll zur Aufführung der Daimler AG stand. 22 Vielleicht hielt er schon dies für eine Störung, denn immerhin hat die pure Anwesenheit der Theaterbesucher für eine kleine Änderung des Ablaufs gesorgt, indem er diesen Satz eingefügt hatte, den es sicher ohne die Präsenz der Emotionstheater? 83 Abb. 1: machone mit Band (Christian Buck, Kristina Lösche-Löwensen). (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Anja Keyßelt) Theaterbesucher nicht gegeben hätte. Sein Satz kann damit als Beispiel eines performativen Sprechaktes gelten, der das Gegenteil von dem erzeugt, was er behauptet: spätestens als Herr Bischoff sagte, die Versammlung sei weder ein Schauspiel noch ein Theaterstück, wurde allen Anwesenden (auch den nicht von Rimini Protokoll eingeladenen) bewusst, dass es sich hier eben doch um eine Inszenierung handelt, die durchaus als Schauspiel und Theaterstück angesehen werden kann. Sein Satz ist ein reziprok performativer Sprechakt, ein Anti-Austin. 23 Denn mit ihm wurde die Rahmung präsent und fühlbar, in die sich alle miteinander begeben hatten. Dieses Präsentwerden der Rahmung ist Theater, und Herr Bischoff wurde durch seinen Satz in den Augen aller unweigerlich zum Performer. Spiel oder nicht Spiel, ist das die Frage? - machone @ X Wohnungen Nicht-Spiel und Spiel können sich auch gegenseitig als Rahmen enthalten, und so miteinander interferieren. Bisweilen enthalten und umschließen sich mehrere Wirklichkeitsebenen gegenseitig, so dass wir gar nicht unterscheiden können, welches gerade der äußere und welches der innere Rahmen ist, und in welchem wir uns mehr aufhalten - auch weil sich diese Rahmen in jeweils unabhängigen Dimensionen etwa von Spiel, Aktualität, Relevanz oder Brisanz auffächern können, so dass sie gemeinsam eine neue, mehrdimensionale Oberfläche bilden. Ihre Interferenz kann bedeuten, dass aus diesen mehreren Dimensionen eine neue Wirklichkeit mit eigenen Eigenschaften entsteht. In solchen Fällen kann es uns unmöglich werden, zwischen Spiel und Nicht-Spiel zu unterscheiden - weil das eine jeweils das andere bedingt. Juscha ist 20 und hat viel von sich zu erzählen. Sie bewohnt zusammen mit ihrem Freund Christoph, der Rapper ist und unter dem Namen machone bekannt, im “härteren Teil Kreuzbergs” die Etage über ihren Eltern und ihren vier und sieben Jahre alten Geschwistern. Sie wird von einem Theater angesprochen, ob sie ihre Wohnung für ein Projekt zur Verfügung stelle, und sich selbst und machone gleich mit dazu. “Wir sind ja selber verrückte Menschen, und für Verrücktes sind wir immer zu haben”, sagt Juscha im Fernsehen. Die Zuschauer bezahlen im Theater Hebbel am Ufer Eintritt, um jeweils zu zweit “X Wohnungen” in Berlin zu besuchen. 24 Die Wohnung besteht aus zwei Zimmern, das erste ein Durchgangszimmer mit Küchennische und Wohnbereich, das zweite ihr Schlafzimmer. Die Toilette befindet sich auf dem Gang, der eher zum elterlichen Territorium gehört. Eingerichtet sind die Zimmer mit dem Nötigsten: Küchennische, Sessel, Sofa, Spülmaschine, HiFi-Anlage. Das Zimmer erinnert an einen Clubraum, vor allem wegen eines großen Graffiti an der Wand. Sehr präsent ist dieses Zwischenstadium während des Erwachsenwerdens, in dem es darum geht, die eigene Rolle, das eigene Leben zu finden, und vieles auszuprobieren. Da kommt ihnen das Theaterprojekt gerade recht. Hier können sie von sich erzählen, die vorgefertigten Klischees korrigieren, denen sie sich ständig gegenüber finden, und sich 84 Julian Klein Abb. 2: Juscha mit Fernsehteam. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Anja Keyßelt) weiter erfinden, mit den Mitteln des Theaters. Einige Schauspieler und Musiker der Gruppe a rose is ziehen bei den beiden ein für die Dauer des Experiments und spielen WG. Sie kochen und trinken: ungespielt; sie streiten und lieben sich: im Spiel. Vorab hatten wir jeweils ein Interview geführt, in dem wir die beiden nach ihrem Leben gefragt haben. Aus diesen Texten haben wir kurze Zitate ausgewählt, auf Papierstreifen geschrieben und in einer Pappbox in der Küche aufgestellt. Die Performer sollten jeweils ein solches Los aus der Box ziehen, konnten erst noch die damit verknüpfte Geschichte erfragen, oder das Zitat sofort spielen. Die Wohnung füllte sich so im Laufe der Zeit mit ‘performativen Erinnerungen’ an. Juscha und machone vervielfachen sich, ihre Ideen und Gedanken bekommen in den Körpern, Köpfen und Stimmen des Ensembles einen Spielplatz. Wir haben Juscha und machone auch gebeten, mit uns Ereignisse zu inszenieren, die sie (noch) nicht erlebt hatten. Juscha entschied sich dafür, einen Menschen zu zerfleischen - sie schaut so gerne Splattermovies. Wir besorgten Innereien, mit denen wir einen Performer präparierten, der sich ihr servierte. Dazu sang sie Talking about a Revolution. Für die Gäste entsteht eine Emulsion aus gespieltem Leben und lebendigem Exponat. Jedoch: Das Spiel der Schauspieler verschwindet zum Teil in der Wirklichkeit, die es geschaffen hat. Wer nicht glaubt, dass es sich um erfundene und behauptete Wirklichkeit handelt, sieht nicht die Schauspieler, sieht nur Bewohner, und fragt sich, wo das Theater beginnt; wer nicht glaubt, dass es sich hier um Juschas Wirklichkeit handelt, hält sie und alles für gespielt, und lässt sich nur schwer davon abbringen. “Unterwegs wurde der fremde Mit-Zuschauer zum Sparringpartner, der jede neue Geschichte interpretieren half. Wer zum Beispiel in der von Kindern durchtobten Schmuddel-WG, in die Hannah Groninger und Julian Klein eingegriffen hatten, war Schauspielschüler, wer Originalbewohner? […] Auf diesem sozialutopischen Spaziergang durch Kreuzberg gerieten die Grenzen zwischen Realität und Kunst kräftig ins Schwingen”, schrieb eine Kritikerin. 25 Eine Schauspielerin, nennen wir sie Isa, spielte den Regeln gemäß eine Prügel-Szene mit ihrem Partner. Plötzlich greift einer der Kumpels ein, die schon den ganzen Tag mit dabei sind - wenn eine Frau geschlagen wird, ist das eine Sache der Ehre. Machone hat Mühe, ihn davon abzubringen, den Schauspieler wirklich ins Krankenhaus zu prügeln - mehrfach ruft er: “das ist doch alles nur gespielt, Mann! ” Dem anwesenden Publikum ist anzusehen, dass es sich da genauso wenig sicher ist wie wir. Denn der Satz wurde nötig, weil er eben nicht zutrifft: denn später stellt sich heraus, dass er in der Tat nicht wusste, dass gerade eine Theateraufführung in der Wohnung läuft, und beinahe einen spielenden Schauspieler verprügelt hätte. Etwas später beginnt ein anderer Kumpel, der die letzte halbe Stunde mit einer Flasche unbekannten Inhalts verbracht hat, mit Isa eine ähnliche Szene zu spielen. Sie bekommt Angst, und will abbrechen, der Kumpel kennt aber natürlich nicht unsere Verabredung. Wir wissen zwar, dass er weiß, dass wir spielen, und er weiß auch, dass wir wissen, dass er weiß, dass wir spielen - die Situation wird Emotionstheater? 85 jedoch so gravierend, dass wir von außen eingreifen müssen. Die Wirklichkeit des Spiels wurde, trotz dass es für alle Beteiligten Spiel blieb, zu brenzlig. Wenn das Verstehen beginnt, verschwindet das Spiel “Wir alle spielen Theater”, schrieb Erving Goffman, 26 und in seiner Rahmen-Analyse 27 beschreibt er viele Situationen, in denen die Rahmung konstitutiv für die Wahrnehmung und Konstruktion von Wirklichkeit ist. Er unterscheidet darin zwischen unserer Performance im Alltag, also dem Ausfüllen einer Rolle, und dem Als-ob-Spiel von Kindern und Schauspielern. Ich sehe diesen Unterschied erstens, wenn überhaupt, nicht kategorial, sondern graduell. Das Gefühl, zu spielen, kann mehr oder weniger stark und mehr oder weniger wichtig sein. Zum Zweiten halte ich diese Art Konstruktion von Wirklichkeit für mehrdimensional: wenn in der einen Dimension das Spielgefühl uns darüber informiert, ob wir etwas für Spiel oder Nicht-Spiel (oder Schattierungen davon) halten, können wir in einer davon unabhängigen Dimension etwas für wahr oder unwahr, in einer weiteren für real oder imaginativ, oder in einer anderen für aufrichtig oder niederträchtig, oder auch für konsequent oder chaotisch, für relevant oder unwichtig, für harmlos oder brenzlig, für virtuos oder zufällig halten. Die Liste lässt sich fortsetzen. Ähnlich können wir ein Gefühl für aktuell, vorhanden, empfunden oder auf der anderen Seite für bezeichnet, abwesend, erinnert halten (oder etwas dazwischen). Dies deutet darauf hin, dass uns unsere Gefühle generell ebenfalls zwischen den Polen von Präsenz und Repräsentation bedeutsam werden können. Daher möchte ich vorschlagen, auch für die Dimension der Bedeutung der Gefühle ein gedankliches Kontinuum zu zeichnen, das von dem Vorhandensein von Gefühlen (also dem rein ästhetischen Modus) über deren Bewusstwerdung und Funktionalisierung bis hin zu ihrer Bezeichnung und Ritualisierung führt. In einem zweiten Schritt können wir in diesem Kontinuum mehrere Phasen als Modi unserer Wahrnehmung voneinander unterscheiden, etwa diese: 28 Präsenz: wir können unsere Gefühle verstärken, indem wir ‘hinfühlen’ (“Sensitivität”) Präsentation: wir können ausdrücken, was wir gerade fühlen (“Performativität”) Rahmung: wir können unseren Gefühlen einen Zusammenhang, eine Funktion oder Rolle, eine Kategorie verleihen (“Relationalität”) Repräsentation: wir können Gefühlen Zeichen oder Namen geben, um in ihnen zu kommunizieren, etwa sie körperlich anzeigen - auch ohne dass sie gleichzeitig fühlbar sind (“Semiotizität”) Refugium: wir können unsere Gefühle in eine stabile Konvention einbetten, in denen sie mit festen Bedeutungen verknüpft sind (“Ritualität”) An diesem Kontinuum lässt sich verdeutlichen: empfinden können wir nur ein individuelles Gefühl, eine ganz bestimmte Fröhlichkeit, eine eigenartige Beunruhigung, einen besonderen Groll, einen seltsamen Ekel. Erst nachdem wir sie vergröbert und kategorisiert haben, können wir ihnen diese Namen geben und von ihnen sprechen - was wir hingegen fühlen, sind Individuationen mit jeweils eigener Gestalt, die sich in dem Moment bereits verändern, in dem wir ihnen einen Namen verleihen. Diese Reihe zeigt auch: je mehr die Gefühle eine Bedeutung erhalten, je mehr wir sie also verstehen, desto weniger fühlen wir sie möglicherweise. Wenn die Rahmen schließlich so stabil und selbstverständlich werden, dass sie Konventionen ausbilden und zu Refugien werden, nehmen wir sie nicht mehr von außen wahr, und 86 Julian Klein hören auf, mit ihnen zu spielen. So können Rahmen in dem Prozess einer graduellen “Sklerotisierung” immer redundanter werden, bis sie in einem erstarrten Zustand das Gegenteil dessen verursachen, was sie bis dahin ermöglichten: dann ersticken sie eher eigene Empfindung und Erfahrung in bloßer Signifikation. Das Spielgefühl kann auf der Ebene der Rahmung zu anderen Gefühlen hinzutreten und diese modulieren, wie ein zusätzlicher Oberton. Anhand des Spielgefühls können wir gespielte von nicht gespielten Gefühlen unterscheiden. Gespielte Gefühle in diesem Sinn sind demnach Gefühle, die wir in einem Rahmen empfinden, der seinerseits spürbar ist, und der das Spiel konstituiert. Fehlt die Wahrnehmung dieses Rahmens, werden die Gefühle nicht als gespielt empfunden. Dies kann am einen Rand des Spektrums daran liegen, dass die Rahmung zu flüchtig wahrgenommen wird, um als Spiel empfunden zu werden; auf der anderen Seite des Spektrums kann auch eine zu starre Fixierung des Rahmens das Spielgefühl verschwinden lassen. Ein Beispiel hierfür ist das Spiel Fußball: dessen Rahmen sind weitestgehend ritualisiert und mit nahezu unveränderbaren Konventionen versehen, so dass dessen Spielcharakter oft kaum mehr wahrnehmbar ist - aus dem Spiel Fußball ist eine eigene, kraftvolle Wirklichkeit erwachsen - und Fußballgefühle werden unbezweifelbar zum großen Teil als unmoduliert empfunden. Die Bedeutung von ‘gespielten Gefühlen’ als ‘durch das Spielgefühl modulierte Gefühle’ hat drei Vorzüge: erstens wird diese Beschreibung unabhängig von einem Verweis auf eine (ohnehin graduell ineinanderfließende) Spieler- oder Zuschauerperspektive, zweitens kann die Modulation durch das Spielgefühl als graduell stärker oder schwächer beschrieben werden (denn wir sind uns nicht immer sicher; die Präsenz von Rahmen kann sehr instabil sein), das Spielgefühl seinerseits kann aber auch durch seine eigene Stärke die resultierende Intensität der Empfindung vertiefen; und drittens können empfundene Gefühle durchaus ihren Modus und damit auch ihren Status, ihre Bewertung mehrfach und auch infinitesimal schnell wechseln: diese Modulation ist ein dynamischer Vorgang. Die Lust am Fühlen - Brain Check Wir können Lust auf ein Gefühl haben. Auch auf vermeintlich unangenehme Gefühle wie Trauer, Angst, Ekel und Horror: Wir möchten jetzt gerne traurig sein, und legen dazu eine Musik ein. Wir schauen uns Raubtiere von nahem an, weil uns vor ihnen schaudert, oder riechen am verdorbenen Essen, weil es uns irgendwie anzieht. Wir gehen ins Theater oder ins Kino, damit es uns schlecht gehen möge, weil sich das gut anfühlt: eine bescheidene Verwandte der Idee der Katharsis, denn im Theater und im Spiel machen unsere Gefühle Urlaub von ihrer Verbindlichkeit. Aber es sind immer noch unsere Gefühle, die wir dort fühlen; wir tun durchaus nicht nur so, als ob wir sie empfinden. Dennoch können wir sie ohne gravierende Konsequenzen für andere Zusammenhänge genießen, wir geben ihnen eine angenehme Bedeutung und eine besondere Intensität im Rahmen des Spiels. Können wir auch Ärger genießen? Es gibt sicher Menschen, die sich lustvoll erregen können, um ihrem Ärger Luft zu machen, und auch solche, die unbedingt gewinnen wollen beim Mensch-ärgere-dich-nicht und daher das Risiko des Ärgerns während des Spiels in Kauf nehmen. Aber Lust am Ärger müsste bedeuten, dass der Ärger selbst genussvoll erlebt wird. Hierzu unternahm die Arbeitsgruppe Ästhetische Modulation affektiver Valenz der Freien Universität Berlin ein Theaterexperiment. 29 Wir erarbeiteten eine einstündige Aufführung, in deren Zentrum ein Schauspieler mit je einem Besucher ein psychologisches Emotionstheater? 87 Abb. 3: Theaterbesucherin, Herr Behle (Arndt Schwering-Sohnrey). (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Bruno Derksen) Abb. 4: Probandin des kognitiven Leistungstests, Herr Behle (Arndt Schwering-Sohnrey). (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Bruno Derksen) Abb. 5: Theaterbesucherin, Herr Behle (Claus Erbskorn). (Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Bruno Derksen) Experiment durchführt, dessen Ziel es ist, den Ärger des Besuchers zu provozieren. Nach dem Modell anderer psychologischer und Ärger induzierender Studien wurde den Besuchern angekündigt, dass mit ihnen ein “kognitiver Leistungstest” durchgeführt werden soll, in dessen Verlauf Kompetenzen wie Geschwindigkeit, Gedächtnis, Intelligenz und Kreativität gemessen werden. Im eigentlichen Experiment werden sie dann jedoch recht unwürdig behandelt, zudem von einer Person, die offenbar wenig kompetent ist, die ihnen Aufgaben mit eigenartigen Zumutungen stellt, und die sie an der optimalen Erfüllung der durchaus zu bewältigenden Aufgaben hindert, ohne zudem auf unqualifizierte, anzügliche und politisch unkorrekte Kommentare zu verzichten, vor allem über die angeblich mangelhafte Leistung und Motivation des Probanden. Anders als in den Vorlagen aus den Studien haben wir zusätzlich auch besonderen Wert auf eine drama turgisch einigermaßen anspruchsvolle Text- und Inszenierungsgestaltung gelegt. Als Maß für die Verärgerung wurde der Gefühlszustand erfragt und der Blutdruck gemessen, jeweils vier Mal: vor dem Test, sowie etwas nach Beginn, kurz vor Ende und nach dem aufklärenden Nachgespräch mit einem der Experimentatoren. Diese Aufführung wurde einerseits unter dem Pseudonym einer bis dato unbekannten Künstlergruppe auf einem realen Theaterfestival gezeigt, und gleichzeitig wurden per Annonce einer fiktiven Agentur Probanden zu einer Studie gesucht. Die Theaterbesucher zahlten Eintritt, die Probanden bekamen eine Aufwandsentschädigung. Die Probanden der Studie der fiktiven Agentur wussten nicht, dass sich dahinter eine Theaterproduktion verbarg, und weder sie noch die Besucher der Theaterproduktion wussten, dass sich hinter der Theateraufführung wiederum eine ‘echte’ psychologische Studie verbarg. Die Schauspieler ihrerseits waren nicht darüber informiert, ob sie es gerade mit einer Probandin oder einem Festivalbesucher zu tun haben. Die Publikation der Auswertung dieses Experiments ist noch in Vorbereitung, aber es lassen sich bereits aus den Proben zum Experiment einige Belege dafür finden, welche Bedeutung die entstehende Rahmung für das 88 Julian Klein emotionale Erleben hat. (Die im Folgenden berichteten Beobachtungen gehen daher nicht in die Auswertung ein, sondern stellen ein separates Ergebnis dar.) Zwei grundsätzliche Beobachtungen konnten wir in den Proben notieren: erstens, es kommen alle logischen Möglichkeiten der Rahmung vor - das heißt, das Spielgefühl tritt sowohl bei Probanden wie Theaterbesuchern auf, wie es bei Vertretern beider Gruppen auch im Verlauf verschwinden oder von vorneherein ausbleiben kann, und es kann sich in beiden Gruppen auf Vorgänge mit oder ohne Spielabsicht unsererseits beziehen. Die Rahmung als Spiel hängt also weder davon ab, in welchem Kontext ein Ereignis steht, noch wie ein Ereignis ‘tatsächlich’ hergestellt wurde oder zustande gekommen ist. (Nach den obigen Überlegungen erscheint dieses Ergebnis selbstverständlich, als theoretische Hypothese war es dennoch zunächst einmal empirisch nachzuweisen.) Zweitens: die Erlebensweisen sind sehr vielfältig, angefangen von purer Freude ganz ohne Ärger, über tatsächliche Lust am eigenen Ärger sowie über andere mehr oder weniger ambivalente Mischungen, ferner phasenweises Pendeln zwischen positiven und negativen Empfindungen bis hin zu reinem Ärger - und dies ebenfalls unabhängig vom einbettenden Kontext. Einen Effekt hatte der Kontext allerdings durchaus: die Probanden der Studie haben sehr viel von dem geglaubt, was ihnen mitgeteilt wurde, und haben auch bei sehr merkwürdigen Vorgängen relativ selten den Verdacht geschöpft, es könnte sich um eine absichtliche (Vor-)Täuschung handeln. (Das könnte daran gelegen haben, dass sie im Zusammenhang eines solchen psychologischen Experiments mit sehr Vielem rechnen; eventuell spielte auch die Aufwandsentschädigung mit hinein - wir hatten allerdings aus Gründen der Glaubwürdigkeit keine Probanden ohne Bezahlung zu Gast.) Die Theaterbesucher dagegen haben in der Regel geglaubt, was sie glauben wollten, aber am wenigsten das, was ihnen (außerhalb des eigentlichen Stückes, wohlgemerkt) erzählt wurde. Wir verzeichneten, auch im Verlauf des Experiments, viele Reaktionen, angefangen von dem Kompliment, dass uns dieses Theaterstück derart überzeugend gelungen sei, dass wir doch wirklich einmal Kontakt mit einem “echten” psychologischen Forschungsinstitut aufnehmen sollten, bis hin zu dem beinahe unerschütterlichen Glauben, dass sich hinter unserem Pseudonym in Wahrheit eine Gehirnwäschesekte verberge, die das Theaterfestival für ihre dubiosen Zwecke missbrauche. Als hauptsächliches Ergebnis aus den Proben können wir von sechs unserer Gäste berichten, an deren Erlebensweise deutlich wird, dass das Auftreten des Spielgefühls, also einer fiktionalen Rahmung, das lustvolle Erleben von Ärger ermöglicht. In der Umkehrung gilt dies natürlich nicht unbedingt, da wir auch ganz ohne zu spielen unangenehme Gefühle genießen können. (Das Ekelhafte kann ungemein anziehend sein, aufrichtige Traurigkeit kann ein durch und durch wohliges Gefühl sein, und in akute Wut können wir uns lustvoll hineinsteigern.) Die sechs Beispiele belegen außerdem die Rahmung von Ungespieltem als Spiel (Nr. 1 schildert dies als positives Erlebnis, Nr. 5 als negatives), des Gespielten als Spiel (Nr. 2 positiv, Nr. 6 negativ) sowie des Gespielten als Nicht-Spiel (Nr. 3 positiv, Nr. 4 negativ). Der erste Bericht betrifft einen Gast, der in der Erwartung seines Theaterprobenbesuchs bereits das Geschehen völlig außerhalb unserer Aufführung als Spiel aufgefasst hat und mit großem Genuss beobachtete; denn die Probe, zu der er eingeladen war, verzögerte sich, so dass er mangels anderer Räumlichkeiten wegen der Kälte in einem angemieteten Auto warten musste. Er wusste bis dahin lediglich, dass es um einen kognitiven Leistungstest gehen sollte. Also merkte er sich alles, was er sehen konnte, vom Kilometer- Emotionstheater? 89 stand des Mietwagens bis zur Reihenfolge der Haarfarbe der Passanten. Als ein merkwürdig gekleideter junger Mann mit einer meterlangen Latte auf der Schulter auf der Straße vorbeiging, sagte er zu seiner Begleitung: “Großartig, auf welch verrückte Ideen die kommen! ” Geärgert hat er sich dann später allerdings gar nicht. Der zweite Bericht stammt von einer Theaterwissenschaftlerin, die uns nach der Information, dass die ganze Situation gespielt ist, im Anschluss nach der Probe von einem intensiven, positiven emotionalen Erlebnis erzählte. Das Spiel des Versuchsleiters war in ihrer Wahrnehmung durchaus absurd und surreal, und dennoch konnte sie sich ganz real darauf einlassen, sich unter Druck setzen und schikanieren zu lassen. Sie sei sehr beeindruckt von der Möglichkeit gewesen, sich selbst einmal in einer solchen Situation zu erleben, eben weil diese unverbindlich gewesen sei. Sie konnte ihren Frust und Ärger tatsächlich in diesem Sinn genießen. Ein dritter Gast kam als Probandin der fiktiven Studie zu uns, und ging bis zuletzt davon aus, dass es sich um einen echten Test handelt. Nachdem sie bereits begonnen hatte, sich zu ärgern, ahnte sie nach einer Weile, dass es hier wohl nicht um ihre Leistung gehe, hielt die Handlung zunehmend für fingiert, aber immer noch für einen echten Test, und begann, sich darüber mehr und mehr zu amüsieren. Nur einen körperlichen Übergriff des Versuchsleiters monierte sie im Nachgespräch - dies sei ihr dann doch zu weit gegangen, psychologisches Interesse hin oder her. Die vierte Probe konnte gar nicht bis zu Ende gespielt werden, da eine ‘reale’ Probandin den Versuch abgebrochen hatte und verärgert so schnell weggelaufen war, dass wir sie nicht mehr aufhalten konnten. Erst ein späteres Telefonat konnte sie über die Umstände unserer Aktion aufklären - sie hatte den Schauspieler vielleicht zu ernst genommen oder unser Spiel gerat in andere Interferenzen ihrer persönlichen Situation. Von besonderem Interesse sind vielleicht die letzten beiden Berichte (5 und 6), in denen trotz der Annahme, die Situation sei gespielt, ein negatives emotionales Erlebnis entstand. Denn diese erweisen sich bei genauer Betrachtung nicht als Widerlegungen der Vermutung, dass der Genuss mit dem Spielgefühl verbunden war, sondern im Detail als deren Belege: denn hier enthält der Rahmen des Spieles nur Teile der Szenerie, und lässt andere außerhalb des Spiels. Die Ansichten, was es jeweils genau heißt, zu spielen, können weit auseinander liegen oder sich in vermeintlichen Kleinigkeiten dennoch fundamental unterscheiden. Dies führte hier dazu, dass ein Teil des negativen emotionalen Erlebens nicht durch das Spielgefühl moduliert war, und daher wohl auch nicht zu einem Genuss beitragen konnte: Unsere fünfte Besucherin war zwar ebenfalls durchaus im Bilde, dass sie eine Theaterprobe besucht, und hatte sich darauf gefreut. Allein, sie wollte im Theater schlicht nicht so ungehörig behandelt werden, sondern sich lieber auf das Spiel einlassen. Am meisten geärgert hatte sie sich schließlich über das dröge und längliche Nachgespräch der Figur des Professors, das sie für miserabel inszeniert und dramaturgisch entbehrlich hielt. Der Darsteller, der mit ihr die so genannte ‘Aufklärung’ vornahm, gab sich ihr zudem als wirklicher Psychologe aus, und je weniger sie ihm glaubte, desto nachdrücklicher beteuerte er, dass er nicht spiele, sondern dass von nun an wirklich alles ernst gemeint sei, und wollte gar nicht mehr von ihr ablassen. Das war ihr sehr unangenehm, vielleicht weil sie nicht auf ihre Gutgläubigkeit hin ausgenutzt werden wollte, vielleicht weil wir ihr mit dem Spiel mit ernsten Themen zu sehr übertrieben. Theater, das in einer penetranten und plumpen Weise Echtheit behauptet, war ihr wohl vielleicht ohnehin zuwider - oder eine Mischung aus all dem. Selbst das Gespräch im Anschluss an die Probe mit dem Regisseur der Inszenierung konnte sie nicht vollends davon 90 Julian Klein überzeugen, dass der Psychologe ihr nichts vorspielen wollte. Unser sechster Gast, eine Theaterdramaturgin, nahm das Spiel als echten Test. Sie wusste, dass es sich um einen Schauspieler handelt, der sie auf die Probe stellte, und wusste dessen professionelle Leistung sehr zu würdigen. Allein, sie nahm die Ergebnisse ihrer Aufgaben sehr ernst - sie hätte sich wirklich als stärker eingeschätzt. Denn was sie nicht annahm: die erreichten Punktzahlen hingen gar nicht von ihrem Verhalten oder ihren Antworten ab, sondern standen fest im Text, sie waren für alle Besucher exakt gleich (allen wurde eine leicht unterdurchschnittliche Leistung bescheinigt). Über dieses Ergebnis ärgerte sie sich sehr, noch bis über das Ende des Nachgesprächs mit einem der Psychologen hinaus. Da dieser jedoch gar nicht davon ausging, dass jemand, der weiß, dass es sich hier um eine Inszenierung handelt, das Ergebnis für irgendwie aussagekräftig halten könnte, hatte er dieses für unseren Gast außerordentlich wichtige Detail im Gespräch gar nicht erwähnt. Erst auf ihre Nachfrage hin, ob denn überhaupt schon jemand die versprochene Prämie für eine sehr gute Punktzahl gewonnen hätte, konnte er sie beruhigen, dass mit ihr alles in Ordnung sei - sie wisse doch, im Theater sei doch ohnehin immer alles gespielt, und nichts echt …? Die Wirklichkeit des Theaters Im Theater, auf einer Bühne, ist niemals alles gespielt, aber sicher alles echt. Jenseits des Theaters, abseits der Bühne, ist niemals alles echt, aber sicher manches gespielt. Es gibt keine zuverlässige Gewissheit über den Status von Spiel, Echtheit, oder Wahrheit - letztlich sind diese Zuschreibungen Funktionen unserer Wahrnehmung, sie manifestieren sich unter anderem in unserem Gefühl. Die Gründe, warum die “Realitätshaltigkeit” mit einer emotionalen Kompetenz, mit einem begleitenden Gefühl ausgestattet ist, können wir nur vermuten. Hierzu ist sicher noch begriffliche und empirische Forschung nötig, auch um die Funktionsweise des Spielgefühls in den Künsten und außerhalb weiter zu erschließen. Wir leben im Alltag erstaunlich gut damit, immer wieder neu entscheiden zu müssen, was wir glauben und was wir nicht glauben, und in welcher Rahmung von Wirklichkeit wir jeweils antworten und agieren. Diese Kompetenz ist schwierig und anspruchsvoll, daher müssen wir sie lernen und üben, von Kindheit an. Vielleicht liegt in dieser Notwendigkeit, mit der Wirklichkeit in all ihren Dimensionen zurechtkommen zu müssen, ein Grund für die Bedeutung, die wir der Kunst verleihen, und für unser menschliches Bedürfnis, die Möglichkeiten und Auswirkungen unseres Umgangs mit der Wirklichkeit unverbindlich zu erfahren: im Spiel. Anmerkungen 1 Vgl. hierzu Doris Kolesch. “Gefühl.” Metzler Lexikon Theatertheorie. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte [et al.]. Stuttgart/ Weimar, 2006. S. 119-125. 2 So berichtet dies Axel Brauns. Buntschatten und Fledermäuse: Mein Leben in einer anderen Welt. München, 2004. 3 Siehe Klaus Scherer. “Wir alle spielen Affekttheater. Zur Darstellung von Emotionen im Alltag, in der Politik und auf der Bühne.” Koordinaten der Leidenschaft. Hrsg. von Clemens Risi [et al.]. Berlin, 2009. S. 167-178. 4 Zu dieser Diskussion siehe etwa Tanja Bänziger / Klaus Scherer. “Using actor portayals to systematically study multimodal emotion expression: the GEMEP corpus.” Affective Computing and Intelligent Interaction. Hrsg. von A. Paiva [et al.]. Berlin/ Heidelberg, 2007. 5 Siehe beispielsweise Janneke Wilting [et al.]. “Real vs. acted emotional speech.” Interspeech 1093-Tue1A3O.4 (2006). 6 Vgl. hierzu Minna Askana / Mervi Pantti. “Talking alone. Reality TV, emotions and Emotionstheater? 91 authenticity.” European Journal of Cultural Studies 9.2 (2006): 167-184. 7 Siehe hierzu Jens Roselt. “Heulsusen und Krafmeier.” Koordinaten der Leidenschaft. Hrsg. von Clemens Risi [et al.]. Berlin, 2009. S. 200-213. 8 Vgl. hierzu die Sammlung von Texten bei Jens Roselt. Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater. Berlin, 2005. 9 Siehe u.a. Thalia R. Goldstein. “Psychological Perspectives on Acting.” Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts (1999): 6-9. 10 Vgl. David Mamet. Richtig und Falsch. Kleines Ketzerbrevier samt Common sense für Schauspieler. Berlin, 2001. 11 Vgl. Jochen Schölch. Eignung der verschiedenen Techniken und Methoden in den verschiedenen Phasen der Schauspielerausbildung. Vortrag an der Bayerischen Theaterakademie August Everding, München, 2005. 12 Dies zeigt auch eine Studie von Elly A. Konijn. “Spotlight on spectators: Emotions in the theater.” Discourse Processes 28.2 (1999): 169-194. 13 Siehe dpa-Meldung in: “Organspende-Show war nur ein Scherz”. Die Zeit v. 01.06.2007. 14 Jürgen Dahlenkamp [et al.]. “Im Magnetfeld des Meisters.” Spiegel online. (02.03.2009), 13.08.2010. http: / / www.spiegel.de/ spiegel/ 0,1518,610758,00.html. 15 Siehe Milan Kundera. Das Buch der lächerlichen Liebe. Frankfurt, 1986. 16 Victor Sklovskij. “Die Kunst als Verfahren.” Russischer Formalismus. Hrsg. von Jurij Striedter. München, 1969. S. 5-35. 17 Julian Klein: Innen - ich denke ich bin. Hannover, 2000. Hörspielfassung: Hessischer Rundfunk 2000. 18 Vgl. hierzu Julian Klein. “Zur Dynamik bewegter Körper. Die Grundlage der ästhetischen Relativitätstheorie.” per.SPICE! Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen. Berlin, 2009. S. 104-134, sowie Thomas Götz. “Wo blühen die Gehirne im Garten der Lüste? Überlegungen zu einer ‘Neuroästhetik’.” Koordinaten der Leidenschaft. Kulturelle Aufführung von Gefühlen. Hrsg. von Clemens Risi [et al.]. Berlin, 2009. S. 103-117. 19 Vgl. Julian Klein. “On Relativity.” Janus 17 (2004): 26-29. 20 Signa Sørensen / Arthur Köstler. Die Erscheinungen der Martha Rubin - The Ruby Town Oracle. Schauspiel Köln, 2007. 21 So berichtete Kulturzeit. 3sat, am 8. April 2009. 22 Rimini Protokoll. Hauptversammlung. Hebbel am Ufer: Berlin, 2009. 23 John Langshaw Austin. How to do things with words. Oxford, 1962. 24 Julian Klein / Hannah Groninger. machone @ X Wohnungen. Hebbel am Ufer: Berlin, 2004. 25 Eva Behrendt. “Das Theater des Jahres. Prinzip Pferdewette.” Theater 2004. Neue Kräfte - Keine Angst vor Vielfalt (= Jahrbuch der Zeitschrift Theaterheute). Berlin 2004. S. 75-82. 26 Erving Goffman. Wir alle spielen Theater: die Selbstdarstellung im Alltag. München, 1973. 27 Erving Goffman. Rahmen-Analyse. Frankfurt a.M., 2000. 28 Für eine ausführlichere Beschreibung dieses Konzeptes siehe Klein 2009. 29 Siehe hierzu Julian Klein [et al.]. zynk - Brain Check. 100 Grad Berlin. Sopiensæle Berlin, 2010 sowie Thomas Jacobsen [et al.]. “ANGIE (ANGer Induction Experiment) - ein psychologisches Theaterexperiment zum emotionalen Erleben von Ärger.” Emolution 2010. Institut für künstlerische Forschung, Radialsystem V Berlin, 2010. Vollständige Liste der Mitwirkenden/ Mitautoren der Aufführung und der Studie: Julian Klein, Thomas Jacobsen, Valentin Wagner, Alexandra Deutschmann, Arndt Schwering-Sohnrey, Claus Erbskorn, Natalie Schramm, Henrike Beran, Barbara Gstaltmayr, Johannes Bohn, Mira Shah, Nele Lensing, Daniela Schönle, Julian Hanich, Mareike Vennen, Philipp Eckart, Winfried Menninghaus. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de NEUERSCHEINUNG OKTOBER 2010 JETZT BESTELLEN! Klaus Ley (Hg.) Dante Alighieri und sein Werk in Literatur, Musik und Kunst bis zur Postmoderne Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Band 43 2010, 256 Seiten + CD-ROM, €[D] 58,00/ SFr 81,90 ISBN 978-3-7720-8377-8 Der vorliegende Band versammelt Beiträge zur kunstarten- und gattungsübergreifenden Rezeption der Divina Commedia. Dass Dantes Werk bis in die Gegenwart hinein eine besondere Anziehungskraft ausübt, belegen zahlreiche Bearbeitungen für die Bühne. Doch auch im Bereich des Comics und der Buchillustration zeigt sich eine breit gestreute Auseinandersetzung unterschiedlicher Künstler mit der Divina Commedia. Einen weiteren Schwerpunkt des Bandes bilden die Beiträge zu früheren Rezeptionsphasen, wobei der (Musik-)Dramatik besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Daneben wird der Faszination nachgegangen, die Dante auf herausragende Vertreter der neueren europäischen Literatur ausübte. Weitere Studien befassen sich mit bedeutenden Prätexten aus der Antike. Dem Band ist eine DVD mit ergänzenden Materialien beigelegt. Sie enthält neben Videoausschnitten zu dem Beitrag „Dante, ‚Francesca da Rimini’ und das Erinnern im italienischen Melodramma“ eine umfangreiche Bibliographie zur musikalischen Rezeption von Dante und seinem Werk. Der Thematik der Bildrezeption widmet sich der Beitrag, „Mainzer Drucker in Italien und die frühen Ausgaben der Divina Commedia“, aus dem sich weitere Perspektiven auf die Kanonbildung und die „questione della lingua“ an der Wende zum Cinquecento ergeben. 085410 Auslieferung Oktober 2010.indd 6 23.09.10 14: 13 Welt-Suche: Auf den Spuren von Hans Blumenberg Peter W. Marx (Bern) Die Welt verliert an Ungeheuern. Hans Blumenberg Der Begriff der Welt, der lange Zeit diskreditiert war, weil er auf sträflich naive Weise ‘Wirklichkeit’ und unhintergehbare ‘Tatsächlichkeit’ zu versprechen schien, erlebt in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Konjunktur. Das wird schon durch einen Blick in die jüngere Gegenwartstliteratur deutlich, wo Werke wie Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005), Ilja Trojanows Der Weltensammler (2006) oder Stephan Puchners Nebelheim (2008) literarisch-poetisch um ein Erfassen von Welt ringen. Dabei ist augenfällig, dass alle Romane durch eine Vielstimmigkeit der Erzählstimmen geprägt sind, so als wollten sie die Vorstellung einer ganzheitlichen Welt als Phantasma anklingen lassen, um deren Unmöglichkeit durch die narrative Konstruktion ästhetisch wirkungsvoll erlebbar zu machen. In diesem Sinne aber sind die Romane auch symptomatisch für den gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskurs zur Welt, denn überall, wo der Begriff heute auftaucht, wird er sofort gegen eine schlichte Einvernahme in Schutz genommen. Daher ist es bezeichnend, dass die Erzählungen auch einen wissenschaftsgeschichtlichen Index tragen: Wenn Kehlmann bspw. Alexander von Humboldts Kosmos (1845-1862) anzitiert oder Puchner auf Albertus Magnus’ De animalibus verweist, so treten diese Werke als Versuche einer systematischen, ja auf Vollständigkeit (und damit Beherrschbarkeit) zielenden Welt-Erfassung in Erscheinung, deren Scheitern in Anbetracht der Vielgestaltigkeit von Welt innerlich notwendig ist. Warum aber kehrt der Begriff der Welt denn dann überhaupt zurück? Eine offensichtliche, aber auch zu leichtfertige Antwort würde auf den kulturellen Erfahrungsdruck der Globalisierung verweisen, auf das unausweichliche Erleben des “global village” als Anstoß und Voraussetzung einer versuchten Revision des Begriffs. Tatsächlich aber scheinen mir die Gründe tiefer zu liegen und eher in einem vermittelten Zusammenhang mit der Erfahrung der Globalisierung zu stehen; denn auffällig ist, dass in der Diskussion um ‘Welt’ zwei unterschiedliche Interessensdimensionen zusammenfallen, nämlich die Frage nach dem Status von Geschichte bzw. der Möglichkeit von Geschichtsschreibung und die Frage nach den epistemologischen Konsequenzen der Erfahrung von kulturellen Kontingenzen und interkulturellen Kontakten. (Beides findet sich übrigens ebenfalls paradigmatisch in den oben genannten Erzählwerken, die sich sowohl des Genres des historischen, wie auch des “Entdecker”-Romans bedienen.) Wie aber lässt sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive dieser Frage nachgehen, ohne hinter gewonnene Einsichten zurückzufallen? Wie ist Welt zu denken, ohne in Begrifflichkeit, Methodik und Anspruch in die Falle einer vermeintlich unhintergehbaren Tatsächlichkeit zu tappen? Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 93-102. Gunter Narr Verlag Tübingen Relektüre 94 Relektüre Ich möchte im folgenden versuchen, den Versuch einer solchen Blickweise anhand einer Re-Lektüre von Hans Blumenberg (1920-1996) zu unternehmen. Dabei sei bereits eingangs zugestanden, dass es sich nicht um einen abgerundeten Vorschlag, sondern eher um das bruchstückhafte Protokoll einer Problematisierung handelt. Hans Blumenberg freilich bedarf keiner “Neuentdeckung” oder einer “Renaissance” - als eine der wichtigen Gestalten der bundesdeutschen Nachkriegsphilosophie hat er längst seinen festen Platz im Kanon. Seine Wirkung hält postum an, wie man an der Fülle von Schriften aus dem Nachlass erkennen kann. Und dennoch ist Blumenberg eine breite Wirkung nahezu versagt geblieben; weder kann man von einer ‘Schulbildung’ sprechen, noch von einer intensiveren Rezeption jenseits disziplinärer Grenzen, die sich bemüht hätte, seine Denkfiguren für neue Fragen fruchtbar zu machen. 1 Der Grund hierfür mag in der besonderen Lektüreerfahrung liegen, die man in der Begegnung mit Blumenberg macht: Da ist zum Einen seine Sprache, die wohlgesetzt, mitunter poetisch ist, die sich aber einer schnellen Lektüre verweigert. Da ist zum Zweiten die bisweilen einschüchternde Belesenheit, mit der Blumenberg seine Thesen und Fragen aus den Tiefenschichten der Geistesgeschichte und aus der Kreuzung unterschiedlichster Disziplinen entfaltet. Und da ist, zum Dritten, eine Argumentationsführung, die nicht auf einfache Leitvokabeln oder Theoreme zuläuft, sondern in einer umkreisenden Suchbewegung den Grund des Denkens umschreibt, ohne ihn voreilig zu identifizieren. Die so entstehenden Panoramen der Geistes- und Kulturgeschichte weisen Blumenberg als Nachfolger jener Traditionslinie der Kulturphilosophie aus, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert bildet und in Ernst Cassirer und seiner Philosophie der symbolischen Formen (1923-1929) einen Höhepunkt findet. Überhaupt ist die zentrale Bedeutung der Cassirer’schen Philosophie für Blumenberg an vielen Stellen sichtbar, nicht nur in der historischen Argumentationsführung, sondern auch in der Entwicklung und Ausgestaltung des eigenen intellektuellen Projekts. So hat Blumenberg bereits 1974 in der Dankesrede zum Kuno-Fischer-Preis herausgestellt, dass Cassirers Wende von einer “Kritik der Vernunft zu einer Kritik der Kultur” 2 nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine ethische Dimension hat: Was bei Cassirer zu lernen bleibt, steckt gerade in dem, was ihm nicht gelungen ist, was aber in seiner Lebensarbeit und über diese hinaus als drängender Impuls bemerkbar ist: Geschichte der Philosphie, der Wissenschaften, der symbolischen Formsysteme nicht der Selbstbestätigung von Gegenwarten dienstbar zu machen, nicht dem Kriterium des Erfolges - auch nicht dem der Relevanz für Bewußtseinsbildung - zu unterwerfen. […] Es ist das Ethos, das die Mediatisierung der Geschichte destruiert. Zu unserem Glück, denn, daß es kein Ziel der Geschichte gibt, bewahrt uns davor, auf ein solches Ziel hin ‘vorläufig’ zu bleiben, aufgefordert zu werden, ihm als Mittel dienstbar zu sein. (Blumenberg, Cassirer, 168f.) Die “Mediatisierung der Geschichte” sowie die “Dienstbarmachung für die Selbstbestätigung von Gegenwarten” sind Chiffren einer intellektuellen Haltung, die sich selbst als Gipfelpunkt einer zwangsläufigen Entwicklungslinie versteht. An Stelle einer solchen Arroganz will Blumenberg (ganz im Sinne des Cassirer’schen Impulses) eine Anerkenntnis von Differenz und einen wissenschaftlichen Ethos des Respekts entwickelt sehen: Ich habe den Vorwurf des ‘Historismus’ immer als ehrenvoll empfunden. Ich verwahre mich dagegen, daß es unser ‘Interesse’ und nur dieses sei, was uns zu Erkenntnis im Raume und in der Zeit legitimiert und motivieren darf. Die Ureinwohner Patagoniens ebenso wie Relektüre 95 die jüngst zu Akademieehren gekommenen Kwakiutl haben einen Anspruch darauf, nicht nur am Leben gelassen, sondern auch von denen, die Theorie betreiben, theoretisch nicht vergessen zu werden, den Anteil an der Menschheit in ihrer Person gewürdigt und bewahrt zu sehen. (Blumenberg, Cassirer, 171) Hier ist - mit der Referenz auf die “Erkenntnis im Raume und in der Zeit” - ein Begriff von Welt artikuliert, der die Möglichkeit von Historiographie und interkultureller Erfahrung von der Prämisse eines uneingeschränkten Respekts, der im Bewusstsein der Begrenztheit der eigenen Welt-Position wurzelt, abhängig macht. Damit reflektiert Blumenbergs Philosophie jene Schreckenserfahrung des 20. Jahrhunderts, die für ihn teilweise auch eine biographische war und die zur Vertreibung Cassirers und seiner Philosophie aus Deutschland geführt hat. So wird hinter dem scheinbar rein wissenschaftlichen Gestus Blumenbergs auch die politische Dimension seines Welt-Interesses erkennbar. Ausgangspunkt der Blumenberg’schen Überlegungen ist die Erkenntnis, dass der Mensch keinesfalls in einem ‘natürlichen’ Verhältnis zur Welt steht, sondern in einem indirekten, vermittelten. Das ‘In-der-Welt- Sein’ des Menschen ist für Blumenberg ein Zustand, in dem der Mensch nicht instinktiv auf seine Umgebung reagiert, sondern sich diese vermittelt erschließt: Der Mangel des Menschen an spezifischen Dispositionen zu reaktivem Verhalten gegenüber der Wirklichkeit, seine Instinktarmut also, ist der Ausgangspunkt für die anthropologische Zentralfrage, wie dieses Wesen trotz seiner biologischen Indisposition zu existieren vermag. Die Antwort läßt sich auf die Formel bringen: indem es sich nicht unmittelbar mit dieser Wirklichkeit einläßt. Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ‘metaphorisch’. (Blumenberg, Rhetorik, 115) Hierbei rückt die Kultur bzw. die Hervorbringungen innerhalb einer Kultur in den Blick, wie Blumenberg in Arbeit am Mythos (1979) schreibt: Der homo pictor ist nicht nur der Erzeuger von Höhlenbildern für magische Jagdpraktiken, sondern das mit der Projektion von Bildern den Verlässlichkeitsmangel seiner Welt überspielende Wesen. (Blumenberg, Mythos, 14) Es ist kennzeichnend für Blumenbergs Konzept einer Kulturphilosophie, dass sich sein Denken den ‘großen Fragen’ über die Auseinandersetzung mit konkreten Gegenständen zuwendet: Die Erzeugnisse des homo pictor reagieren in fundamentaler Weise auf die Gegebenheit der Welt, auf das ‘In-der-Welt- Sein’ des Menschen. Die dem vorausgehende Mangelerfahrung des Menschen aber wird für Blumenberg von der existenziellen Angst zur Furcht depotenziert, um diese dann kulturell fruchtbar zu machen. 3 Die Lichtseite der Angst aber, so kann man bei Blumenberg nachlesen, ist die Neugierde, die schließlich zum Grundstein des Denkens selbst wird: Wenn der Mensch in einer völlig konstanten Umwelt leben könnte, die ihm weder Überraschungen noch Mangellagen anböte, wäre Neugierde ein ganz unverständliches und lebenswidriges Verhalten. Sie ist angemessene Verhaltensweise in einer Wirklichkeit, in der eine Grenze, ein Horizont auch immer mit Ungewißheit belastet sind und deren gedankliche oder reelle Überschreitung den Sinn haben, die Ungewißheit zu vermindern, die Auslieferung an Überraschung und Gefährdung herabzusetzen, die von dort herüberkommen könnte. (Blumenberg, Lebenswelt, 54) So ist es die immer wiederkehrende Denkfigur vom Verlust der Selbstverständlichkeit, die zum Ausweis des Mensch-Seins bzw. des ‘In-der-Welt-Seins’ wird: “Wir denken nicht, weil wir erstaunen, hoffen oder fürchten; wir 96 Relektüre Abb.1: “Aus der Nacht kann alles an Grauenhaftem und Ungestaltem hervortreten, um die Ränder des Abgrunds zu besetzen, damit der Blick nicht in die Leere geht.” (Blumenberg, Mythos, 143) Im Sinne Blumenbergs lassen sich die auf alten Karten vorfindlichen Ungeheuer am Rande der bekannten Welt als eine Bannung des Schreckens in bildhafter Gestalt verstehen. (Quivirae Regnum, cum aliis versus Boream (1593). Mit freundlicher Genehmigung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.) Relektüre 97 denken, weil wir dabei gestört wurden, nicht zu denken.” (Blumenberg, Lebenswelt, 61) Metapher Auf diesem Weg zur Welt-Orientierung ist es für Blumenberg vor allem das Prinzip der Übertragung, das sich beispielhaft in der Metapher findet, um das sein Denken kreist: “Die Technik des mythischen Grenzverkehrs ist die Metaphorik. Das lebensweltlich Bekannte dient dazu, das weltlich Unbekannte zu integrieren.” (Blumenberg, Lebenswelt, 137) Schon in den 1960 erstmals erschienenen Paradigmen zu einer Metaphorologie spannt er jenen Horizont auf, der als Hintergrund auch seine späteren Arbeiten prägen wird. Es ist die zentrale Erkenntnis, dass es gerade jene ‘Bilder’ der Welt sind, die als Gegenstand der Kulturwissenschaft dienen können. 4 Diese Hinwendung zur Metapher ist in ihrer ganzen Tragweite nur dann zu verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Blumenberg das traditionelle Interesse an der Metapher ‘vom Kopf auf die Füße’ stellt: Ihn bekümmert nicht die Frage nach dem ‘eigentlich Gemeinten’, nach dem ‘Dahinter’, sondern das Wirken und die Eigendynamik dieser kulturellen Setzungen selbst. Sein Blick zielt nicht auf den verborgenen Inhalt, sondern auf das Bild selbst, dessen kulturelle Gebundenheit und Geschichtlichkeit es gerade für ihn interessant machen. In diesem Sinne ist es nur folgerichtig, wenn Blumenberg schließlich zur Feststellung von Metaphern kommt, die gerade nicht mehr in einer übergeordneten Abstraktion aufgelöst werden können. Diese absoluten Metaphern sind für Blumenberg der Stimulus, um eine grundsätzliche Revision von Denkkategorien anzustoßen: Der Aufweis absoluter Metaphern müßte uns wohl überhaupt veranlassen, das Verhältnis von Phantasie und Logos neu zu überdenken, und zwar in dem Sinne, den Bereich der Phantasie nicht nur als Substrat für Transformationen ins Begriffliche zu nehmen - wobei sozusagen Element für Element aufgearbeitet und umgewandelt werden könnte bis zum Aufbrauch des Bildervorrats -, sondern als eine katalysatorische Sphäre, an der sich zwar ständig die Begriffswelt bereichert, aber ohne diesen fundierenden Bestand dabei umzuwandeln und aufzuzehren. (Blumenberg, Metaphorologie, 11) Gerade diese Vorstellung einer Nicht-Reduzierbarkeit von Bildern bzw. einem Bildervorrat im weitesten Sinne erlaubt es, die Abstraktion der Philosophie in einen Dialog mit anderen Künsten und kulturellen Aktivitäten zu setzen, die solche Bilder hervorbringen, ohne diese unter dem Vorzeichen einer übergeordneten Sinngebung auf ihren vermeintlichen begrifflichen Gehalt zu reduzieren. Blumenbergs These einer “katalysatorischen Sphäre” betont ja in besonderer Weise die Widerständigkeit der als absolute Metapher verstandenen Bilder. Diese Denkfigur erinnert nicht zufällig an Thesen der theaterwissenschaftlichen Diskussion, die das Ende der Dominanz der Repräsentation zugunsten der Präsenz beschreiben. Hier lässt sich der Blumenberg’sche Begriff durchaus in überzeugender Weise anschließen, allerdings in einer bezeichnenden Spreizung, denn er führt nicht zu einem Absolutismus des Gegenwärtigen, sondern sucht vielmehr die konstitutive Spannung von Kontinuität und Wandel zusammenzudenken. So ließe sich bspw. Theater und seine Kunst als Beispiel einer ebensolchen katalysatorischen Sphäre denken, an der sich andere Diskurse bedienen, Konflikte benannt und Spannungen gezeigt und ausagiert werden - das sich aber dennoch nicht in einer einzigen Lesart erschöpfen oder aufbrauchen lässt. Vielmehr scheint - ganz im Sinne Blumenbergs - Theater seine kulturelle Funktion gerade deshalb so gut zu erfüllen, weil es sich 98 Relektüre eben einer eindeutigen Fixierung entziehen kann und somit immer wieder offen für neue Zuschreibungen ist. Die Frage nach Geschichte Der programmatische Titel Arbeit am Mythos, unter dem Blumenberg 1979 einen wichtigen Teilaspekt seiner Kulturtheorie vorlegte, verweist bereits auf die konstitutive Dynamik kultureller Fortschreibung. Seine Hinwendung zum Mythos (und dessen intellektuelle Verteidigung) zielt nicht etwa auf das Freilegen von Tiefenschichten anthropologischer Konstanten, sondern auf die spezifische Leistungsfähigkeit des Mythos. Um diese zu erklären, ruft Blumenberg nochmals eine Urszene kultureller Setzung auf: Aus der Nacht kann alles an Grauenhaftem und Ungestaltem hervortreten, um die Ränder des Abgrunds zu besetzen, damit der Blick nicht in die Leere geht. Wenn alles aus allem hergeleitet werden kann, dann eben wird nicht erklärt und nicht nach Erklärung verlangt. Es wird eben nur erzählt. Ein spätes Vorurteil will, dies leiste nichts Befriedigendes. Geschichten brauchen nicht bis ans Letzte vorzustoßen. Sie stehen nur unter einer Anforderung: sie dürfen nicht ausgehen. (Blumenberg, Mythos, 143) Der Mythos ist für Blumenberg eine kulturelle Erzählung, deren Struktur sich weniger einem systematischen Interesse verdankt, sondern der unmittelbaren Ausrichtung auf den Erzähler bzw. Hörer. Er schafft “eine Welt von Geschichten, die den Standpunkt des Hörers in der Zeit derart lokalisiert, daß auf ihn zu der Fundus des Ungeheuerlichen und Unerträglichen abnimmt.” (Blumenberg, Mythos, 131) In der Ausrichtung auf das Moment des Erzählens gewinnt der Mythos eine situative Einbindung, die seine Geschichtlichkeit wie seine Wandelbarkeit nicht als Mangel an Substanz oder Konstanz, sondern als Ausweis seiner kulturellen Bedeutung versteht. [D]er kraft seiner Rezeptionen variierte und transformierte Mythos in seinen geschichtlich bezogenen und bezugskräftigen Gestaltungen [ist] schon deshalb der Thematisierung würdig, weil diese die geschichtlichen Lagen und Bedürfnisse mit hereinzieht, die vom Mythos affiziert und an ihm zu ‘arbeiten’ disponiert waren. (Blumenberg, Mythos, 192) “Arbeit am Mythos” als kulturelles Prinzip bezeichnet damit jenen Prozess der kulturellen Fortschreibung, in dem die jeweils spezifischen Ängste und Hoffnungen (als Gegenbild der Ängste) einer “geschichtlichen Lage” in das Erzählen eines Mythos eingebunden werden. Als Theaterwissenschaftler kann man kaum umhin, bei dieser Beschreibung an das Erzählen im Theater zu denken, das geradezu idealtypisch diese Arbeit am Mythos zu leisten vermag: die Akzentuierung des Momentums des Erzählens, markiert durch die Kopräsenz von Akteur und Publikum, entspricht jener Fähigkeit des ständig fortgeschriebenen Mythos, das Grauenhafte und Ungeheuerliche, das das Publikum heimsucht, durch Erzählung zu bannen. Ja, das Theater erscheint in einer solchen Perspektive innerhalb des westlichen Katalogs der Künste gerade jene Form zu sein, der die zeitliche Indizierung und Anbindung an den spezifischen Augenblick des Erzählens besonders eingeschrieben ist. Es ist vielleicht gerade jene Kunstform, die besonders privilegiert für die Arbeit am Mythos steht. In Beschreibung des Menschen (2006) wird ein möglicher Bezug zum Theater unter der Frage des Trostes als anthropologisches Merkmal des Menschen erkennbar, wenn Blumenberg von der “Delegation des Leidens” spricht und ausführt: “Der Trost beruht auf der allgemeinen Fähigkeit des Menschen zu delegieren, nicht selbst und allein alles tun und tragen zu müssen, was ihm obliegt und zufällt.” (Blumenberg, Mensch, 625) Man kann dies leicht als eine Paraphrase des Tragischen lesen, als Möglichkeit jenes Relektüre 99 Trostes, den die Tragödie anbietet. Der Ort des Tragischen (auch als Momentum des Erzählens) gründet, so kann man ergänzen, sich unmittelbar auf die Beschaffenheit des Menschen selbst: “Seine Fähigkeit zu trösten und getröstet zu werden, hat positiv mit dem zu tun, was ihm negativ als eine Unfähigkeit des Wirklichkeitsbezugs vorgeworfen wird: auf Distanz zur Wirklichkeit zu gehen.” (Blumenberg, Mensch, 628) Folgt man dieser Spur weiter, so lässt sich noch eine weitere der Blumenberg’schen Urszenen als Chiffre von Theater lesen: Nach Blumenberg verändert sich das ‘In-der-Welt- Sein’ des Menschen durch die “Selbstaufrichtung in die Vertikalität” (Blumenberg, Lebenswelt, 143), durch die der Horizont überhaupt erst in den Blick gerät. Gefolgt wird dies vom Verlassen der natürlichen Umgebung: Wir müssen daran erinnern, daß nach dem Verlassen des Waldes die Lebensteilung in Höhle und freie Wildbahn eintritt. Der geschlossene Raum erlaubt, was der offene verwehrt: die Herrschaft eines Wunsches, der Magie, der Illusion, die Vorbereitung der Wirkung durch den Gedanken. (Blumenberg, Mythos, 14) Ungeachtet seiner historischen Prägung und architektonischen Form erscheint Theater in diesem Kontext als Prototyp eines solchen geschlossenen Raumes, in dem der “Absolutismus der Bilder und Wünsche” herrscht. 5 Allerdings nicht als Divertissement oder rituelle Selbstbestätigung, sondern als notwendiger Akt der Distanznahme, durch die überhaupt erst jene Mittelbarkeit hergestellt werden kann, in der eine lebbare Welt für den Menschen entsteht. Wenn Blumenberg in diesem Zusammenhang ausdrücklich betont, dass dies nur als Prozedur gedacht werden kann, so wird eine deutliche Schnittstelle zu den gegenwärtigen Diskussionen um den Begriff der Performativität erkennbar. Der Rückzug des Menschen in den “geschlossenen Raum” verschafft dem Menschen ersten jenen Spielraum, den er benötigt, um durch seine Imagination in der Welt heimisch zu werden. Diese “Höhle” ist aber kein statisches Refugium, so wenig wie nach Blumenberg der Mythos als unveränderlich zu begreifen ist; vielmehr wird dieser von der Welt entrückte Ort benötigt, um die im steten Wiedererzählen zu schaffende Welt-Orientierung zu entfalten. So stehen Höhle und Mythos auch als Chiffren für eine performative Praxis, wenn man dies im Kontext gegenwärtiger Theoriediskussionen formulieren möchte. Das Verortetsein des Mythos im Moment des Erzählens versteht Blumenberg aber auch als eine Neupositionierung von Geschichte im wissenschaftlichen Diskurs: Sie fungiert nicht länger als Teil- oder Sonderbereich, als Vor- Geschichte der eigenen Gegenwart - dies hatte Blumenberg ja als “Mediatisierung der Geschichte” verworfen -, sondern als Form, über die eigene Gegenwart nachzudenken. So ist es eine der Stärken des Blumenberg’schen Entwurfs, das Nachdenken über Geschichte im Horizont eines als plural und mobil verstandenen Kulturbegriffs zu verankern. Blumenbergs Ansatz geht von einem produktiven “von sich absehen” aus und fordert das Nachdenken über Differenzen heraus - seien sie zeitlich oder kulturell begründet. Und noch ein weiteres Merkmal der Blumenberg’schen Historiographie ist hervorzuheben: Die Hinwendung zum Erzählen als konstitutivem Akt bedeutet auch eine Abwendung von der Suche nach dem grand récit, der verbindlichen großen Erzählung von Geschichte und Welt-Entwicklung. Dies ist bei Blumenberg nicht nur ein methodisch-theoretisches Lippenbekenntnis, um dann in der Praxis anders zu verfahren. Nein, geradezu symptomatisch verlegt sich Blumenberg immer wieder auf Anekdoten und kleine Geschichten, deren Erzählt-Werden und ihr immer wieder anders Erzählt-Werden ihm zu einem Paradigma von Kulturgeschichte werden. 6 100 Relektüre Die Blumenberg’schen Analysen, die oftmals in konzentrischen Kreisen um ihren Gegenstand zirkeln, fallen nicht in klar definierbaren Begriffen oder Themen zusammen: So sehr sie auf die Welt (als historischen Ort) bezogen sind und sich - allein schon in der Fülle ihres Materials, das bewegt wird - mit Welt auseinandersetzen, so wenig ist es ein Denken, das sich explizit und unmittelbar (im Sinne einer ausdrücklichen Parteinahme) einmischt. Am deutlichsten wird dies vielleicht im Bild des Zuschauers, zu dem er immer wieder zurückkehrt, dem er sogar mit Schiffbruch mit Zuschauer (1979) eine eigene Abhandlung gewidmet hat. Sofern er sich am Theater orientiert, wählt Blumenberg einen sehr ‘klassischen’ Begriff des Zuschauers, wie man an dem kleinen Essay “Wie man Zuschauer wird” ablesen kann: Der Zuschauer ist definiert durch die Kunst, sich herauszuhalten. Deshalb genießt er die Anstrengung der dramatisch-szenischen Akteure, ihn hereinzuziehen: als vergebliche. Gerade wenn ihm am meisten zugemutet wird, befreit er sich durch den ‘rettenden’ Gedanken: Es ist nur Theater. (Blumenberg, Zuschauer werden, 93) Die Unbeteiligtheit des Zuschauers wird von Blumenberg durchaus kritisch reflektiert, die ethische Problematik einer solchen Haltung gerade im Angesicht des Leidens Dritter wird von ihm von der Antike bis in die Gegenwart durchgespielt, aber dennoch findet Blumenberg keinen Ansatzpunkt einer eingreifenden Kritik. Was sich auf den ersten Blick wie das Abwenden von der Welt darstellen könnte, entdeckt sich im größeren Kontext als subtile Form des Respekts eines Denkens, das sich nicht die eigenen Wege durch voreilige Urteile verstellen will. So mag man in der Zurückhaltung auch eine Folge des oben beschriebenen tiefen Missbehagens gegen alle Formen totalisierenden Denkens sehen. So findet der Leser hier keine wohlfeilen Antworten in Schlagworten, aber genug Spannungs- und Argumentationsraum, den eigenen Standpunkt zu bilden. Seit Blumenbergs Tod 1996 sind eine Reihe von Schriften aus dem Nachlass erschienen, die den Blick auf sein Denken in zweifacher Weise zu verändern geeignet sind: Zum einen entdecken sich eine Reihe von thematischen Weiterungen gegenüber dem veröffentlichten Œuvre, wie man in dem kleinen Band Geistesgeschichte der Technik (2009) sehen kann. Hier findet sich etwa der 1966 als Radiovortrag entstandene Text “Einige Schwierigkeiten, eine Geistesgeschichte der Technik zu schreiben”, in dem Blumenberg den Fokus seiner Kulturreflexion nachdrücklich erweitert: Geschichte der Technik wird auch und vor allem Geschichte des Heraustretens der Technik aus der Geschichte sein müssen. Ob und wie aus einem bestimmten neuen Verhältnis der Wirklichkeit und der Stellung des Menschen innerhalb dieser Wirklichkeit technischer Wille entsteht, wird Thema einer Geistesgeschichte der Technik sein müssen, die nicht nur Selbstdeutungen der technischen Tätigkeit, sondern die Motivation eines auf Technik zielenden und von Technik getragenen Lebensstils faßbar werden läßt. (Blumenberg, Technik, 13) Es ist ein Leichtes, gegen Blumenbergs Überlegungen einzuwenden, dass sein Verständnis (und vor allem seine Lebenserfahrung) von Technik in der Distanz zum 21. Jahrhundert anachronistisch wirken muss, aber der hier formulierte Anspruch, Kultur- und Technikgeschichte zusammenzudenken, um nicht in naiver Euphorie die technischen Bedingungen schon für kulturelle Wirklichkeit zu nehmen, hat als Vademecum immer noch seine Berechtigung. In jedem Fall eignen sich die hier versammelten Texte allemal, um an ihnen das eigene Denken kritisch zu reflektieren. Ein weiterer thematischer Strang, der aus den nachgelassenen Schriften sehr deutlich Relektüre 101 heraustritt, ist das Projekt einer philosophischen Anthropologie. Hier hat der Herausgeber Manfred Sommer mit den beiden Bänden Beschreibung des Menschen (2006) und Theorie der Lebenswelt (2010) ein Textcorpus vorgelegt, das es erlaubt, die unterschiedlichen Facetten dieses für Blumenberg so zentralen Themas zusammenzulesen. Im Vergleich mit den veröffentlichten Schriften gibt es hier manche Überschneidung, aber diese Redundanzen zeugen nur davon, dass die Frage nach dem Menschen letztlich als Leitmotiv das umfassende Werk verbindet. Das zweite Moment der Neubegegnung durch die nachgelassenen Schriften wurzelt in der Sprache und Struktur dieser Texte selbst: Sie erlauben einen intensiven Blick auf die Blumenberg’sche Argumentationsentfaltung, gerade weil sie weniger abgerundet und wohl komponiert sind als man dies von einem Stilistiker wie Blumenberg erwartet. So mag mancher Gedanke, manche historische Referenz eher in der Andeutung stecken bleiben, aber es ist gerade das Offene, mitunter Unabgeschlossene der Texte, das für den Leser Möglichkeiten zum Neu- und Weiterdenken eröffnet. Deutlicher noch als in anderen Texten sind hier auch der “Sitz im Leben” und die “Gebrauchsspuren” der Texte und Argumente erkennbar, etwa, wenn Blumenberg in seinen Ausführungen zum Begriff der Lebenswelt die “akademische Sonderwelt [in ihrer theoretischen Grundeinstellung] […] [als] eine auf Negation von Selbstverständlichkeiten angelegte Eigensphäre” (Blumenberg, Lebenswelt, 56) definiert. Dass Blumenberg hier - nicht ohne leise Selbstironie - auch das Eingeständnis einer gewissen Welt-Untüchtigkeit der Bewohner dieser Sphäre macht, hindert ihn im Folgenden nicht, sehr überzeugend und kraftvolle die kulturelle Notwendigkeit solcher “Sonderwelten” zu verteidigen. Folgt man der eingangs aufgestellten These von einer Rückkehr des Begriffs Welt als Zeichen eines doppelten Suchens nach einer Sprache über Geschichte/ Geschichtlichkeit und einer Sprache über kulturelle Differenz, dann mag ein erneutes Aufsuchen der Blumenberg’schen Philosophie viel versprechend sein. Sicherlich nicht, wenn man auf der Suche nach schnell verwertbaren Schlagwörtern für einen überhitzten Diskursbeschleuniger sucht, aber wenn man bereit ist, sehr grundsätzlich nochmals die Grundlagen und Perspektiven des eigenen Denkens zu befragen. In Arbeit am Mythos kristallisiert sich ein solches Befragen in den Begriffen von Welt und Horizont: Welt zu haben, ist immer das Resultat einer Kunst, auch wenn sie in keinem Sinne ein ‘Gesamtkunstwerk’ sein kann. Davon ist eben unter dem Titel ‘Arbeit am Mythos’ etwas zu beschreiben. ‘Horizont’ ist nicht der Inbegriff der Richtungen, aus denen Unbestimmtes zu gewärtigen ist. Es ist auch der Inbegriff der Richtungen, in denen Vorgriffe und Ausgriffe auf Möglichkeiten orientiert sind. (Blumenberg, Mythos, 13) Anmerkungen 1 In jüngster Zeit sind allerdings immer wieder Bemühungen erkennbar, Blumenbergs Denken durch eine Kontextualisierung fruchtbar zu machen. Vgl. hierzu etwa Elizabeth Brient. “Hans Blumenberg and Hannah Arendt on the ‘Unworldly Worldliness’ of the Modern Age.” Journal of the History of Ideas 61. 3 (2000): 513-30; Vida Pavesich. “Hans Blumenberg's Philosophical Anthropology: After Heidegger and Cassirer.” Journal of the History of Philosophy 46. 3 (2008): 421-48 sowie mit Blick auf das Theater Katrin Trüstedt. “Schiffbruch mit Zuschauer: Schmitt, Blumenberg und das Theater der Moderne.” Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 146 (2010): 97-112. 2 Siehe Ernst Cassirer. Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 1: Die Sprache. 1923. Darmstadt, 1994. 11. 3 Vgl. hierzu bes. Blumenberg, Lebenswelt, 136f. 102 Relektüre 4 Auch hierin folgt er Ernst Cassirer, der Philosophie und Empirie in ihrer Perspektive auf den Menschen in einer ähnlichen Situation sieht: “Denn beide können das ‘An-Sich’ des Menschen nicht anders bestimmen, als daß sie es in den Erscheinungen aufweisen. Sie können die Erkenntnis vom ‘Wesen’ des Menschen nur dadurch gewinnen, daß sie den Menschen in der Kultur und im Spiegel seiner Kultur erblicken; aber sie können diesen Spiegel nicht umwenden, um zu sehen, was hinter ihm liegt.”; Ernst Cassirer. Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien. 1942. Darmstadt, 6 1994, S. 102. 5 Auf diese Lesart hat jüngst auch Martin Puchner in seinem Vortrag “Die Benennung der Welt” im Rahmen des Bayreuther Symposions “Wann geht der nächste Schwan? ” Wunder zwischen Strategie und Emergenz (Bayreuth, 4./ 5. August 2010) hingewiesen. 6 In diesem Zusammenhang sei nur beispielhaft auf seine Studie Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie (1987) verwiesen, die beispielhaft eine solche mäandernde Geschichte schreibt. Angeführte Werke Blumenbergs Blumenberg, Hans. “Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik.” Wirklichkeiten, in denen wir leben. 1971. Stuttgart: Reclam, 1981. 104-36. - Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1979. - “Ernst Cassirers gedenkend. Bei der Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises der Universität Heidelberg 1974.” Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart: Reclam, 1981. 163-72. - Arbeit am Mythos. 1979. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1996. - Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1987. - “Wie man Zuschauer wird.” Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß. Stuttgart: Reclam, 1997. 93-107. - Paradigmen zu einer Metaphorologie. 1960. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1998. - Beschreibung des Menschen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 2006. - Geistesgeschichte der Technik. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 2009. - Theorie der Lebenswelt. Berlin: Suhrkamp, 2010. Rezensionen Susanne Hartwig, Klaus Pörtl (Hg.). La voz de los dramaturgos. El teatro español y latinoamericano actual. Tübingen: Niemeyer, 2008, 137 Seiten (Beihefte zur Iberoromania, 22), 49,95 Im Jahr 1986 erschien unter der Herausgeberschaft von Klaus Pörtl in der gleichen Reihe unter dem Titel Reflexiones sobre el Nuevo Teatro Español ein Band, in dem ein Dutzend Autoren der so genannten Symbolistischen Generation, die von der Kritik auch als Neues Spanisches Theater bezeichnet wird, über ihr Theater sowie über ihre Befindlichkeit in den ersten Jahren der Demokratie räsonierten. In seiner Einleitung stellte Pörtl fest, dass diese Gruppe, deren produktiver Höhepunkt im letzten Jahrzehnt des Franco-Regimes lag, die aber aufgrund scharfer Zensurbestimmungen nie zu einer nachhaltigen Bühnenpräsenz gelangt war, auch im demokratischen Spanien nach Aufhebung der Zensur erfolglos blieb. Weder Theaterbetrieb noch Publikum hatten in den Jahren der Movida Interesse an einem politischen Theater, dem zudem nach 1975 der politische Gegner abhanden gekommen war. Auch die ästhetischen Neuerungen, die die Autoren des Nuevo Teatro Español im Vergleich zu der vorangegangenen Realistischen Generation (Antonio Buero Vallejo, Alfonso Sastre, u.a.) eingeführt und mit denen sie das spanische Theater an die Standards des europäischen und nordamerikanischen Theaters herangeführt hatten, stießen auf wenig Interesse, zumal das spanische Theaterpublikum und die Kritik auf solche Innovationen nicht vorbereitet waren. Schon damals stellte Pörtl zu Recht fest, dass die genannten Autoren in zunehmende Konkurrenz zu einer neuen Generation von Dramatikern gerieten, für die die Traumata von Bürgerkrieg und Francodiktatur sowie von politischer und sexueller Repression nicht mehr prägend waren. Der vorliegende Band ist in seinem ersten Teil acht Autoren der zweiten Generation des demokratischen Spanien sowie einem Theaterkollektiv gewidmet, die alle in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren sind und die seit der Jahrhundertwende die ästhetisch anspruchsvolle spanische Theaterproduktion prägen. Im zweiten Teil kommen zehn lateinamerikanische Dramatiker unterschiedlicher Herkunft (je drei aus Venezuela und Kolumbien sowie zwei aus Ecuador und je einer aus Brasilien und Argentinien) zu Wort. Mit zwei Spanierinnen und einer Venezuelanerin sind die weiblichen Autoren eher schwach vertreten. Auf die Interviews mit den Autoren folgen kurze bio-bibliographische Angaben sowie Theaterkritiken oder Kurzanalysen eines ausgewählten Stückes. Für die Durchführung und Präsentation der Interviews mit den spanischen Autoren hat Pörtl mit Susanne Hartwig eine junge Kollegin gewonnen, die ihre Kenntnis des zeitgenössischen spanischen Theaters nicht zuletzt in ihrer Habilitationsschrift unter Beweis gestellt hat. 1 Während sich das Neue Spanische Theater 1986 trotz weitgehender Auflösung als relativ geschlossene Gruppe präsentieren ließ, ist dies beim spanischen Gegenwartstheater nicht mehr der Fall, obgleich die Verf. mit Sergi Belbel, Rodrigo García, Angélica Liddell, Juan Mayorga, Itziar Pascual, Juan Carlos Rubio und Pedro Víllora eine altersmäßig homogene und repräsentative Auswahl getroffen hat, aus der höchstens die Compañía Yllana etwas heraus fällt. Nicht nur, dass die Suche nach Geschlossenheit und Einheit im Zeitalter der Postmoderne von vornherein aussichtslos ist, - das spanische Gegenwartstheater hat sich in den drei letzten Jahrzehnten zudem dermaßen radikal aus seiner Jahrzehnte langen Isolierung und Rückständigkeit befreit, dass Vielfalt und Heterogenität in jeder Hinsicht zu seinen prägenden Merkmalen zählen, wie die Verf. gleich zu Beginn ihrer Einführung auch dezidiert betonen (S. 1). Das zeigen in der Tat auch die Antworten auf die sechs Fragen nach Schlüsselbegriffen und Funktion, Verhältnis von Text und Bild sowie Drama und Film bzw. Bildender Kunst, Beziehung zu Fernsehen und Werbung, nach der Art des Schreibvorgangs, dem Verhältnis zum Publikum sowie nach der Zukunft des spanischen Theaters. Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 103-105. Gunter Narr Verlag Tübingen 104 Rezensionen Trotz aller Heterogenität lassen sich doch einige gemeinsame Linien ziehen, die sich freilich mal mehr und mal weniger deutlich konturieren lassen. Dazu gehört die Überzeugung von einer wie auch immer gearteten ethischen oder gesellschaftlichen Funktion des Theaters, die freilich des Öfteren mit einer gewissen Verunsicherung geäußert wird, wie etwa im Fall von Rodrigo García, der bekennt, dass er heute von der unmittelbaren gesellschaftlichen Funktion des Theaters überzeugt ist und am nächsten Tag das Gegenteil glaubt (vgl. S. 12). Einig sind sich die Autoren noch am ehesten darin, dass das Theater keine unmittelbare didaktische Funktion zu erfüllen und keine politischen oder ideologischen Heilslehren mehr zu verkünden und eher Fragen zu stellen als zu beantworten habe. “Y me horroriza pensar”, sagt Sergi Belbel in diesem Zusammenhang, “que mi teatro debe o da respuestas” (S. 7). Am weitesten in der Ablehnung jeglicher inhaltlicher und ästhetischer Kohärenz sowie jeglicher Funktionalisierung des Theaters geht Pedro Víllora, der die Heterogenität seines Theaters zu der Dispersion seiner eigenen Persönlichkeit in eine kausale Beziehung setzt: “Mi propia dispersión como escritor hace que ni mi teatro ni yo tengamos una función -ni una imagen- marcada en la sociedad” (S. 38). Solch postmoderner Radikalismus bildet freilich eher die Ausnahme. Der Ausgang für das Engagement der meisten Autoren sind weniger gesellschaftliche und schon gar nicht politische Konstellationen, sondern eher private, subjektive Befindlichkeiten, die allerdings in der Regel durchaus als Folge gesellschaftlicher Verhältnisse interpretiert werden. Wenn Angélica Liddell ihr Theater als “compromiso con el dolor humano” (S. 17) versteht, begreift sie diese “Schmerzmaschine” (ebda.), die den menschlichen Schmerz in immer neuen Variationen modelliert, zugleich auch als bürgerlichen Ungehorsam und Widerstand (vgl. ebda.). Wenn Itziar Pascual in der Gestaltung der Erinnerung einer schwierigen Vergangenheit die Basis ihres Theaters sieht, so betont sie dabei stets die Verschränkung von individueller und kollektiver Erinnerung, von individueller und kollektiver Vergangenheitsbewältigung (vgl. S. 25). Gemeinsam ist den Autoren auch eine Tendenz zur offenen, fragmentierten Struktur ihrer Texte und zur Offenheit ihrer Aussage. Dies impliziert die Überzeugung von einer eigenen Verantwortung und einer Partizipation des Lesers und Zuschauers an der Sinndeutung ihrer Werke. Diese Überzeugung hat schon José Sanchis Sinisterra, einer der Väter des spanischen Gegenwartstheaters, seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder passioniert vertreten. Auch die Verf. betonen diesen Aspekt als eine der wenigen Gemeinsamkeiten der Gegenwartsdramatiker: “Los dramaturgos buscan también el diálogo de igual a igual con el espectador, que debe completar, con su imaginación y sus propias experiencias, lo que ve en el escenario y lo que escucha del texto. El autor-director no quiere compartir certezas sino insatisfacciones y curiosidades con él” (S. 1). Interessant ist auch, dass die Mehrheit der Autoren das Verhältnis von Text und Bild und damit zugleich auch von Drama und Theater weniger als Gegensatz, sondern eher als untrennbare Verbindung begreift, wobei die Bedeutung von Wort und Bild (und anderen theatralen Zeichen) durchaus unterschiedlich fokussiert wird. Erstaunlich ist dabei, dass ein klarer Vertreter des Ideentheaters wie Juan Mayorga betont, dass er stets Bilder (wenn auch vage) im Kopf hat, wenn er schreibt, und dass Vertreter eines plastischen, mit allen theatralen Zeichen arbeitenden Theaters wie Angélica Liddell oder Rodrigo García die Bedeutung des Wortes (Liddell, S. 17) und die notwendige Verbindung beider Aspekte betonen (“Se necesitan las dos cosas, los textos y las imágenes”, García, S. 13). Über die fragmentarische Struktur hinaus weitere ästhetische Gemeinsamkeiten zu finden, ist kaum möglich, wenn auch nicht alle Autoren mit der gleichen Radikalität wie Pedro Víllora die Diversität nicht nur des spanischen Gegenwartstheaters, sondern auch seiner eigenen Produktion betonen: “No tengo un modo de trabajo. De la misma manera que cada una de mis obras es distinta, también lo ha sido su escritura” (S. 39). Der entscheidende Eindruck, den die acht Interviews hinterlassen, ist der, dass das spanische Gegenwartstheater - wie das gesamte Land - endgültig in der globalisierten Welt angekommen ist. Noch heterogener als der spanische präsentiert sich der Teil zum lateinamerikanischen Theater. Das liegt nicht nur an der naturgemäßen Diversität Rezensionen 105 eines riesigen Subkontinentes mit unterschiedlichen Theaterkulturen, sondern auch an der Auswahl der Autoren. Dass Venezuela und Kolumbien dreimal, die großen Theaternationen Mexiko und Chile aber gar nicht vertreten sind, spricht nicht für Repräsentativität der Auswahl, die aber in diesem Rahmen wohl auch kaum möglich gewesen wäre und auch nicht intendiert ist. Den Eindruck der Heterogenität verstärkt auch die Tatsache, dass die ausgewählten Autoren ganz unterschiedlichen Generationen angehören und von ganz unterschiedlicher theatergeschichtlicher Bedeutung für Lateinamerika sind. Da stehen neben so bedeutenden und gestandenen Autoren wie dem Kolumbianer Carlos José Reyes und dem in Venezuela lebenden Luis Chesney Lawrence mit Geburtsjahr 1941 bzw. 1944 eher weniger bekannte Dramatiker wie der Deutsch-Ecuadorianer Christoph Baumann (1954) oder die Venezuelaner Elizabeth Yrausquín de Postalian (1957) und Vicente Emilio Lira Morillo (1959). Neben dem 75jährigen Kolumbianer Gilberto Martínez Arango und den für das jüngste Theater ihres Landes wichtigen Dramatikern Víctor Viviescas (Kolumbien, 1958), Peky Andino Moscoso (Ecuador, 1962) und Fernando Bonassi (Brasilien, 1962) findet sich der international renommierte 39jährige Shooting Star Rafael Spregelburd aus Argentinien. Dass Bonassi anstatt die gestellten Fragen zu beantworten, ein äußerst witziges Essay liefert, dem freilich mehr zur persönlichen Befindlichkeit eines brasilianischen Dramatikers als zu seinem Theater zu entnehmen ist, verstärkt den Eindruck der Heterogenität ebenso wie die Tatsache, dass Spregelburd anstelle der üblichen fünf bis sieben ganze vierzig Seiten für sich allein in Anspruch nimmt. Es versteht sich von selbst (und das betonen natürlich auch die Herausgeber), dass unter diesen Umständen weder repräsentative noch einheitliche Tendenzen herauszuarbeiten sind, - es sei denn vielleicht die Einsicht, dass das Leben für die lateinamerikanischen noch mehr als für die spanischen Dramatiker ein individueller wie kollektiver Alptraum ist, den sie in ihrem Theater auf unterschiedlichste Art modellieren. Mit den Spaniern teilen sie auch ihre unbedingte Suche nach neuen Formen und Ausdrucksmöglichkeiten. Die kurzen Interviews, Kritiken und Analysen zu den spanischen Autoren bieten in ihrer Gesamtheit einen durchaus repräsentativen Einblick in die aktuelle Dramenproduktion. Der lateinamerikanische Teil liefert seinerseits vorzügliche Schlaglichter aus dem Theaterleben eines Subkontinentes, das in seiner komplexen Fülle und mit einer gewissen Repräsentativität zu erfassen ein eigener Band erforderlich gewesen wäre. Gießen W ILFRIED F LOECK Anmerkung 1 Chaos und System. Studien zum spanischen Gegenwartstheater, Frankfurt am Main: Vervuert, 2005. Wolf Gerhard Schmidt. Zwischen Anti moderne und Postmoderne. Das deutsche Drama und Theater der Nachkriegszeit im internationalen Kontext. Stuttgart, Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2009, 800 Seiten, 99,95 . Allzu lange dienten die fünfziger Jahre und die Situation im geteilten Nachkriegsdeutschland vor allem als Kontrastfolie für das, was nach ihnen kam: die 68er-Bewegung und damit die zunehmende Politisierung künstlerischer Praktiken. Aus dieser Perspektive wurden die Fünfziger eher als unpolitisch abgetan - ein Befund, der zwar im Groben stimmt, in seiner Undifferenziertheit aber nicht von einer Beschäftigung mit dem Nachkriegsjahrzehnt entlasten kann. Trotzdem zeichnet sich erst seit der Jahrtausendwende eine Verschiebung der Forschungsperspektive zugunsten der Fünfziger ab, ausgehend auch von neueren Untersuchungen zu 1968. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht eröffnet z.B. Dorothea Kraus’ Theater-Proteste: Zur Politisierung von Straße und Bühne (2007) mit einem lesenswerten Kapitel zum “Feld des Theaters in den fünfziger Jahren”. Zu Recht erscheinen weite Teile des Felds auch hier als Gegenbild zu den Theaterversuchen der Sechziger, doch Kraus betont die Brüche in diesem Bild und zeigt, dass die Frage nach der gesellschaftspoliti- Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 105-107. Gunter Narr Verlag Tübingen 106 Rezensionen schen Funktion und Qualität von Theater zu jener Zeit kontrovers diskutiert wurde. Über das Theater hinausgehend, haben Publikationen wie der von Werner Faulstich edierte Sammelband Kultur der fünfziger Jahre (2002) entscheidend zu einer Neubewertung der Epoche beigetragen. Wolf Gerhard Schmidts Habilitationsschrift, die bei Metzler unter dem Titel Zwischen Antimoderne und Postmoderne erschienen ist, reiht sich bewusst in jene Studien zum Nachkriegsjahrzehnt ein, die eine “Janusköpfigkeit” der Fünfziger profilieren wollen, ohne sie zugleich “aus tiefem Vergessen gleichsam direkt auf den Platz an der Sonne zu heben” (5). Wenn Schmidt gegen die These anschreibt, dass das Nachkriegsjahrzehnt - zumal mit Blick auf Westdeutschland - nur eine Epoche der lähmenden Restauration gewesen sei, ignoriert er deren konservativen Züge also keineswegs. Vielmehr will er das Bewusstsein für die “Präsenz eines inhaltlichen bzw. ästhetischen Pluralismus im deutschen Drama und Theater der Nachkriegszeit” (12) schärfen. Diese Aufgabe unterscheidet sich für die beiden Gegenstandsbereiche, die Schmidt betrachtet. Was Theater betrifft, versucht er die Arbeit von Regisseuren wie Gründgens oder Sellner, die als eher unpolitisch verstanden werden, gegenüber jenen Regiepraktiken aufzuwerten, die in der Theaterlandschaft der Fünfziger als politisch engagiert gelten, also Kortner, Piscator und Brecht. Geht es hier um eine Neubewertung letztlich bekannter Phänomene, muss Schmidt in Bezug auf den zweiten Gegenstandsbereich - das Drama - erst einmal das zu untersuchende Feld reklamieren. Zu übermächtig ist bis heute das Schlagwort vom “Schweigen des deutschen Dramas” der Nachkriegszeit (zu finden etwa in der 2006 überarbeiteten und von Wilfried Barner herausgegebenen Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart), als dass es fundierte Gesamtdarstellungen jenseits der kanonisierten Dramentexte (z.B. Zuckmayer oder Borchert) geben würde. Dies zu ändern, ist das größte Verdienst von Schmidts Studie. Der Literaturwissenschaftler stellt die west- und ostdeutsche Dramenproduktion zwischen 1945 und 1961, dem Jahr des Mauerbaus, umfangreich dar. Aufgrund der schieren Menge an Material, das seine Studie auftut, können die Dramen meist nur einer kursorischen Lektüre unterzogen werden. Dennoch gelingt es Schmidt, diese schlüssig in verschiedene Narrative und ästhetische Ordnungen aufzuteilen. Dem entspricht die nur auf den ersten Blick verwirrende Struktur seines Buches. Nach einem ersten Teil, der “Soziokulturelle Ordnungen” überschrieben ist und die Theaterszene der Fünfziger untersucht (45-186), folgen die Hauptteile der Studie, die sich fast ausschließlich auf Dramen - nicht auf ihre theatrale Umsetzung - konzentrieren. Neben der übergeordneten Frage nach “Ästhetischen Ordnungen” (441-645), etwa der Gattungstypologie oder unterschiedlichen Dramenbzw. Theaterkonzepten, stehen hier “Semantische Ordnungen” (187-439) im Vordergrund: darunter versteht Schmidt die Narrative, in die er die behandelten Dramen einordnet, etwa Marxismus, Absurdismus oder Transzendenz. Doch Schmidt will mehr als eine philologisch orientierte Aufarbeitung des deutschen Nachkriegstheaters, nämlich den “Versuch seiner Einordnung in die Geschichte der Moderne und demnach die Neubewertung der Epoche” (5). Schmidts Hauptthese deutet sich schon im Titel der Studie an: eine Verortung der Fünfziger zwischen “Antimoderne” und “Postmoderne”, die bei dem Literaturwissenschaftler, ohne dass dies explizit ausgeführt würde, als Unterkategorien der Moderne erscheinen. Viele Strömungen, die aus heutiger Sicht als unpolitisch gewertet werden, weiß der Autor mit einem der postmodernen Befindlichkeit ähnelnden Bewusstsein vom “Ende der Ideologien” (6) zu verbinden, das zugleich “die Moderne nachdrücklich fortschreiben” würde (26). Schmidt fasst diese theatralen und dramatischen Formen unter dem Begriff “Integraltheater” (96-137) zusammen, das er vom engagierten Westtheater à la Kortner und Piscator (137-160) ebenso wie vom “Tangentialtheater” (160-186) der Sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR absetzt. In der Mathematik, der Schmidt seine Metaphorik entlehnt, bezeichnet die Tangente die bestmögliche lineare Annäherung an eine Kurve. Mit anderen Worten handelt es sich um eine Funktion, die Komplexität zugunsten einer einfachen Erklärung reduziert. Entsprechend werden im Tangentialtheater, so Schmidt, komplexe geschichtliche Vorgänge “auf die Gegenwart ausgerichtet” und im sozialistischen Sinne “teleologisch interpretiert” (166-67). Das Integral Rezensionen 107 hingegen ist in der Mathematik ein Grenzwert zur Berechnung von Flächen und Volumina, für Schmidt ein “Verfahren, das der funktionalen Komplexität (Bedeutungs- und Stilvielfalt) gerecht wird, zugleich aber durch Summenbildung einen neuen Sinnhorizont schafft” (97). Für Ostdeutschland privilegiert Schmidt in Einklang mit der üblichen Theatergeschichtsschreibung Autoren, die sich der von ihm konstatierten “Tangente” weitgehend entziehen: Brecht, Hacks und Heiner Müller. In Bezug auf die BRD wertet er jene Formen auf, die er als “integral” bezeichnet: im Theater wären dies z.B. die Arbeiten von Gründgens, Sellner oder Fehling. Schmidt sieht in ihren künstlerischen Verfahren den Versuch, “postidealistisch Sinn zu stiften” (127), der zwar einerseits eine konservative Abschottung von jeder Idee gesellschaftlichen Wandels bedeute, zugleich aber eine neue - vermeintlich postideologische - Identitätsbildung als “Summe verschiedener Rollenentwürfe” (127) ermögliche. Problematisch an Schmidts diskussionswürdigen Thesen wie an der Studie im Allgemeinen sind die methodischen Voraussetzungen. Am geringsten fällt dabei die verkürzende Übernahme theaterwissenschaftlichen Vokabulars ins Gewicht, die z.B. Intermedialität primär als Beziehung zwischen Dramentext und Aufführung begreift (96). Schwerer wiegt, dass sich Schmidt zu sehr auf Selbstaussagen der Künstler verlässt, ohne diese angemessen zu historisieren. Das Konstrukt der Ideologiefreiheit im Spiel verschiedener Rollenentwürfe wird etwa gegen die Ideologie des Nationalsozialismus ausgespielt, aber nicht als mögliche Legitimationsstrategie der jeweiligen Künstler untersucht. Weiterhin erhält das Verhältnis von Theater und Drama nicht genug Aufmerksamkeit: so wird die Ideologiefreiheit des “Integrals” zwar als Effekt dieses Verhältnisses begriffen (insofern jede Aufführung dem dramatischen Text eine Interpretationsebene hinzufüge und damit ins Spiel möglicher Sinnstiftungen eingreife), doch jenseits dieser These geht der Bezug von Theater und Drama verloren. Das ist insofern problematisch, als Schmidt aufweisen will, dass das Drama der fünfziger Jahre Themen behandelt, von denen die bisherige Forschung nicht wisse, z.B. sei während der Nachkriegsepoche “ein politisch-engagierter Diskurs virulent” (205). Hier fehlen klare Angaben darüber, was tatsächlich produziert oder auch nur veröffentlicht wurde, und welche Dramen letztlich in die Schublade wanderten. Ohne diese Transparenz differenzieren Schmidts Erkenntnisse zwar das Bild vom Schweigen des Dramas, aber sie suchen die Gründe für die bisherige Auffassung zu einseitig bei der Forschung statt die tatsächlichen Produktionsverhältnisse der Fünfziger in ihre Überlegungen mit einzubeziehen. Trotz einiger methodologischer Schwächen bietet Schmidts Studie wertvolle Grundlagenforschung zum Drama und Theater der Nachkriegszeit, die nicht nur durch Materialfülle beeindruckt, und die zu einem Standardwerk für die Epoche werden könnte. Mainz M ICHAEL B ACHMANN Erika Fischer-Lichte. Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches. Tübingen/ Basel: Francke Verlag, 2009, 273 Seiten, 19,90 . Theaterwissenschaft wird im deutschsprachigen Raum mit seiner Vielzahl an Stadt-, Staats- und Nationaltheatern in erster Linie als Wissenschaft von Aufführungen studiert und dass dies so ist knüpft sich an die national wie international viel beachtete Forschung Erika Fischer-Lichtes. Mit der nun vorliegenden Einführung in die Grundlagen des Faches dokumentiert die Grande Dame der deutschen Theaterwissenschaft den Werdegang dieser noch immer relativ jungen akademischen Disziplin als die erfolgreiche Emanzipation aus der Literaturwissenschaft. Der Band liest sich somit als Genealogie und Methode des Faches zugleich, was die Lektüre nicht nur für Studienanfänger, sondern auch für fortgeschrittene Semester durchaus interessant macht. Ausgehend vom Begriff des Theaters, das als Ort der Schau immer auch Raum für performatives Entstehen von Wissen konstituiert, expliziert Fischer-Lichte die Bedeutung theaterwissenschaftlicher Analysemethoden für den jüngsten Paradigmenwechsel in der Kulturwissenschaft. Aufführung und Spiel als zentrale Kategorien des Theaterereignisses begründen so Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 107-109. Gunter Narr Verlag Tübingen 108 Rezensionen die Plattform einer weitgreifenden Identitätsanalyse, die über das Kunsttheater hinaus in nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche von Politik bis Soziologie, Philosophie und Medienanalyse hineingreift. Im Mittelpunkt steht dabei das Moment der Flüchtigkeit körperlich vermittelter Prozesse wie sie die Schauspielerin in der jeweiligen Interpretation der gegebenen Rolle traditionell verkörpert. Dabei geht es der Theaterwissenschaft eben nicht in erster Linie um die Analyse textueller Verfahren, sondern um das sinnliche Wahrnehmen körperlicher Kopräsenz von Zuschauern und Darstellern. Diese grundlegende Definition des Theaterereignisses gehört inzwischen zu den Grundfesten theaterwissenschaftlicher Forschungsarbeit und in der Vehemenz, mit der Fischer-Lichte die Aufführungsanalyse als Kernkompetenz der Theaterwissenschaft verteidigt, besteht die eigentliche Radikalität ihres Arguments. Denn indem sie den Theaterbesuch als notwendige Bedingung der Aufführungsanalyse voraussetzt, ordnet sie jegliche Forschung, die sich nicht auf die eigene körperliche Erfahrung des Theaterereignisses als Forschungsgegenstand beruft, kategorial der Historiographie zu. Sie schreibt: Von Aufführungsanalyse ist daher im Folgenden nur die Rede, wenn vorausgesetzt werden kann, dass die/ der Analysierende an der betreffenden Aufführung selbst teilgenommen hat und so Teil des autopoietischen Prozesses gewesen ist, in dem die Aufführung entstand. In allen anderen Fällen handelt es sich um die Analyse von Quellen und Dokumenten zu einer Aufführung oder auch von Spuren, die sie hinterlassen hat. Ein solches Verfahren wird als theaterhistoriografisch bezeichnet (S. 70). Eine solche phänomenologische Perspektive schlägt sich vollends auf die Seite der Rezipienten, die das Ereignis originär wahrnehmen und als solches vermittels der eigenen Interpretation des Bühnengeschehens erst begründen. Körper, Energie, Präsenz, Atmosphäre und Rhythmus sind entscheidende Analyseparameter, die hier Eingang finden und Fischer-Lichtes frühere Forschung zur Semiotik um die entscheidenden phänomenologischen Kategorien ergänzen, die das performative Erleben von Theater als transformatives Schwellenereignis kennzeichnen. Studierenden in den ersten Semestern wird hier das wesentliche Analyseinstrumentarium auf klar strukturierte Weise an die Hand gegeben mit dem sie lernen wie Bedeutung auf dem Theater entsteht und dass sie wesentlicher Bestandteil dieser Bedeutungskonstitution sind. Aufführungsanalyse ist notwendigerweise subjektiv und zuweilen verbleibt das erlebte Erspüren der besonderen Atmosphäre schwitzender Körper vage formuliert, doch wer das Geschehen methodisch strukturiert zu analysieren gelernt hat, vermeidet den Vorwurf der Beliebigkeit wie dies der zweite Teil des Buches anhand der Arbeitsfelder, Theorien und Methoden im Einzelnen näher vorstellt. Fischer-Lichtes Fokussierung auf die Aufführungsanalyse markiert somit die Stärke dieser Einführung für das Fach insbesondere im deutschsprachigen Raum. Denn ihr Ansatz verdeutlicht wie sehr sich das Entstehen der deutschen Theaterwissenschaft an die Vielfalt und Besonderheit der deutschen Theaterlandschaft knüpft, die nicht zuletzt mit Berlin als Theaterhauptstadt einen singulären Status erhält, der ein solches Primat der Aufführungserforschung für Studierende attraktiv und praktikabel macht. Was jenseits der Aufführung von der Theaterwissenschaft erforscht wird und die verbleibenden Kapitel des Bandes bestimmt, sind desweiteren Theatergeschichte, Theorie und Ästhetik. Im Vergleich zu den Ausführungen zu Aufführungsbegriff und -analyse werden diese Kapitel weniger ausführlich behandelt, was jedoch im Rahmen einer Einführung durchaus gerechtfertigt erscheint. Theaterwissenschaft stellt auch in diesen Feldern ihre originären Fragen an den Forschungsgegenstand, allerdings steht sie hier im interdisziplinären Dialog mit den jeweilig angrenzenden Disziplinen der anderen Geisteswissenschaften. Der zugrunde gelegte Theaterbegriff dient auch an dieser Stelle zur Orientierung mit Hilfe derer das historische Quellenmaterial dezidiert theaterwissenschaftlich zu befragen ist. Jüngste Forschung zur Theatergeschichtsschreibung erweist sich dergestalt als performativer Lektüreprozess und bezeugt den weitreichenden Einfluss der performativen Wende in den Geisteswissenschaften. Fischer-Lichte erläutert in diesem Zusammenhang: Rezensionen 109 Wie sich vor allem an diesen Beispielen gezeigt hat, sollte Theatergeschichtsschreibung immer theoriegeleitet vorgehen. Es sind theoretische Vorannahmen, die zu bestimmten methodischen und konzeptuellen Entscheidungen führen und entsprechend zu erläutern sind. Die Anlage einer historiographischen Untersuchung ist daher ohne den Rekurs auf bestimmte Theorien gar nicht möglich (S. 134). Mit dieser Überleitung zur Theorie als nächstem Forschungsfeld wird erneut kenntlich, wie zentral der von Fischer-Lichte maßgeblich in den Vordergrund internationaler Theaterwissenschaftsforschung gerückte Aufführungsbegriff geworden ist und unter anderem eben auch einen neuen Blick auf die zeitgenössischen Methoden der Geschichtsschreibung eröffnet. Auf die notwendige Erweiterung theaterwissenschaftlicher Theoriebildung bezieht Fischer- Lichte sich abschließend im dritten Teil des Bandes, der sich an Studierende in den aufbauenden Masterstudiengängen des Faches richtet. Fischer- Lichtes originelle Wende besteht in diesem Teil vor allem darin, den von ihr jüngst neu postulierten Begriff der “Verflechtung” als Alternative zur umstrittenen Interkulturalitäts- und Hybriditätsforschung der 1990er Jahre vorzustellen. Erstmalig verwirft Fischer-Lichte auf diese Weise herkömmliche Analysemodelle, die den Modernisierungsgedanken als einseitige Verwestlichung internationaler Theaterformen betrachten und weist im Gegenzug darauf hin, dass Modernisierung in jedweder Form und jeder Kultur gleichwertig auftreten kann (S. 174f.). Diese These ist durchaus so provokant, wie man das von ihrer langjährigen Forschung gewohnt ist, doch liefert sie auch hier wieder den entscheidenden Impuls zu bislang ausstehender Forschung auf diesem Gebiet. Erika Fischer-Lichte beweist damit einmal mehr wie sehr ihre singuläre Forscherpersönlichkeit maßgebliche Grundsteine legt, die dem Fach inzwischen zu unentbehrlichen Eckpfeilern geworden sind. Nachkommenden Generationen junger Studierender ist die kritische Lektüre dieser Einführung daher besonders zu empfehlen, da sie im Vergleich zu den bereits existierenden Einführungen die Genealogie der deutschsprachigen Theaterwissenschaft aufzeigt und damit das vorgestellte Primat der Aufführungsanalyse als Kernkompetenz im Kontext deutscher Theatergeschichte überzeugend darlegt. Aberystwyth S ABINE S ÖRGEL Dennis Kennedy. The Spectator and the Spectacle. Audiences in Modernity and Postmodernity. Cambridge: Cambridge University Press, 2009, 249 Seiten, ca. 60 Der Zuschauer gehört zu jenen Konstanten des theaterwissenschaftlichen Diskurses, dessen Anwesenheit (oder Abwesenheit) als factum brutum angenommen wird. Bei näherer Betrachtung aber verkompliziert sich der Sachverhalt sofort: In einem Dickicht von Spekulationen und Verallgemeinerungen, Stereotypen und Mutmaßungen windet sich die Rede vom Zuschauer um die Erkenntnis herum, dass wir eigentlich keine verlässlichen Aussagen über diesen so wichtigen Teil des theatralen Prozesses machen können. Und mit dieser Erkenntnis beginnt Dennis Kennedy seine Überlegungen zu diesem Thema: “A spectator is a corporeal presence but a slippery concept.” (S. 3) Ausgehend von diesem Eingeständnis der Komplexität und Schwierigkeit des Themas unternimmt Kennedy dann eine umfassende tour d’horizon, die das Thema aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet. Das Panorama der Reflexion beginnt im Paris des 19. Jahrhunderts: Es ist die Figur des Regisseurs - als Korrelat zum Autor -, die für Kennedy zum Ausgangspunkt einer Revision des grand récit der Moderne wird: So diskutiert er ausführlich die Nähe der Avantgarde zum kommerziellen, urbanen Unterhaltungstheater, gerade auch dort, wo die Selbstbeschreibung der Künstler in eine andere Richtung deutet. In einer originellen Überblendung parallelisiert Kennedy Gustave Eiffel und seinen Turm mit den Reformprojekten von André Antoine. Doch diese historischen Skizzen bilden keinen Selbstzweck, sondern formen den Ausgangspunkt einer Weiterführung zu einer Theorie und Historiographie der Regie, die nicht in hagiographischer Bewunderung erstarrt, sondern die Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 109-111. Gunter Narr Verlag Tübingen 110 Rezensionen Geschichte der Regie mit der Geschichte ökonomischer, sozialer und kultureller Modernisierung verwindet. Dass es sich hierbei nicht um ein abgeschlossenes Kapitel der Theaterbzw. Kulturgeschichte handelt, wird deutlich, wenn Kennedy am Ende seiner Ausführungen den Bogen zur gegenwärtigen Theatersituation schlägt und erkennbar werden lässt, wie sehr sich im 19. Jahrhundert genealogische Linien herausbilden, die bis heute noch wirksam sind. Im zweiten Teil “Shakespeare and the Politics of Spectation” kehrt Kennedy zu jenem Feld zurück, das er selbst in großem Maße mitgeprägt hat: Shakespeare auf der Bühne. Nicht ohne Koketterie formuliert er selbstkritisch: “I am not a spectator, I am a museum of Hamlet.” (S. 200) Die Ausführungen, die Kennedy aber in diesem Abschnitt präsentiert, sind alles andere als museumsreif: Gerade weil Shakespeare ein so (scheinbar) unverbrüchlicher Bestandteil der westlichen und mittlerweile der globalen Theaterkultur zu sein scheint, lassen sich an ihm grundsätzliche Frage um das Zuschauen, um die Teilhabe des Publikums am Theaterereignis formulieren. So gelingt es Dennis Kennedy dem Thema ganz neue Aspekte abzugewinnen: Zunächst eröffnet er mit “Shakespeare and the Cold War” einen Blick auf die Theaterkultur nach 1945. Sodann setzt er seine Reise - in immer weiteren Kreisen das Theater fokussierend - in der Gegenwart fort: So ist das neu errichtete Globe in London der Zirkelpunkt einer Reflexion, die um das Verhältnis von ‘Zuschauerschaft’ (“spectatorship”) und Tourismus kreist. Hiervon ausgehend erscheint es nur folgerichtig, dass er sich von der Schaffung eines globalisierten Theaterorts schließlich einer globalisierten Theaterkultur zuwendet. Kennedy erweist sich hier nicht nur einmal mehr als einer der besten Kenner der internationalen Shakespeare-Kultur, er zeigt auch einen Weg für die mögliche weitere Diskussion der Frage eines interkulturellen Publikums auf. In fact the intercultural spectator in the theatre replicates the condition of the global tourist. It is perfectly possible for us as tourists in a foreign clime to remain unaffected by the culture we are visiting; this is the usual hightoned critique of sun-drenched tourism. But it is also possible for tourists to engage the challenges of the foreign, as they see the other now in its own location and are forced to recognize their foreignness to it. […] Whatever else it does, […] intercultural theatre, and especially intercultural Shakespeare, implicates spectators in the anxieties brought by the globalization of cultural identities. (132) Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zur Frage nach der Körperlichkeit des Zuschauers, die Kennedy in einem breiten Panorama des Forschungsdiskurses verortet. Hierbei von Shakespeare-Inszenierungen auszugehen erweist sich in doppelter Hinsicht als kluge methodische Entscheidung: Zum einen, weil er so einen globalen Corpus von Inszenierungen zum Vergleich hat, zum anderen, weil sich in der Spannung zwischen einem scheinbar traditionellen Theatermodell (Sprechtheater) und Theoriemodellen, die sich bspw. in der Auseinandersetzung mit der Performance-Kunst gebildet haben, eine komplexe Perspektive entwickeln kann, die gleichermaßen vor Vereinfachungen wie Hypostasierungen gefeit ist. Der dritte und abschließende Teil schließlich - “Subjectivity and the Spectator” - zieht die in den vorhergehenden Abschnitten entworfenen Linien noch weiter: Hier zeigt Kennedy, dass die mit dem Zuschauer verbundenen Fragen keineswegs auf das Theater allein beschränkt sind, sondern vielmehr in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen zu finden sind. Es gehört zu den Stärken des Bandes, dass Kennedy seinem Leser vor Augen zu führen versteht, dass das Problem des Zuschauers zwar seinen Ausgangspunkt im Theater nehmen kann, aber dass eine wirklich kulturwissenschaftliche Theorie auch Bereiche wie Fernsehen, Sport und Ritual mit bedenken muss. Die Frage des Zuschauers, den man so lange als selbstverständliche Komponente des Theaters aus dem Blick genommen hat, kehrt in jüngster Zeit wiederholt in die Diskussion zurück. So bilden Kennedys Überlegungen ein Pendant bspw. zu Jacques Rancières Le spectateur émancipé (2008), das ebenfalls die Frage des Zuschauers im Theater diskutiert. Ohne in die Falle einer naiven, empirisch-positivistischen Zuschauerforschung zu gehen, zeigen beide Bände die vielschichtige Dimension einer notwendigen Er- Rezensionen 111 weiterung der gegenwärtigen Forschungsdiskussion auf. Kennedys Buch verzichtet dabei auf den Versuch einer geschlossenen Theoriebildung, nicht aus Mangel an Systematik, sondern um die Komplexität der Thematik und der es berührenden Themenfelder voll ausschöpfen zu können. So entsteht ein Buch, in dem nicht zufällig immer wieder auch der Autor als Autor und als Zuschauer aus Passion und Profession sichtbar wird und das eine Fülle bietet, aus der reich zu schöpfen ist. Bern P ETER W. M ARX Karsten Lichau, Viktoria Tkaczyk, Rebecca Wolf (Hrsg.): Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur. München: Wilhelm Fink, 2009, 375 Seiten, mit CD-ROM, 60,00 . Dass sich mit “Resonanz” nicht allein die Übertragung von Wellenfrequenzen, sondern ganz unterschiedliche Phänomene in den Natur- und Geisteswissenschaften bezeichnen lassen, ist angesichts der alltagssprachlichen Beliebtheit dieser Metapher wenig überraschend. Bemerkenswert ist vielmehr, welche historischen und methodologischen Bezüge die Figur im Stande ist, aufzuzeigen, und welche Verknüpfungen sie zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen akustischen Phänomenen und technischen Erfindungen, zwischen Ästhetik und Neuroästhetik herzustellen vermag. Der Sammelband, der aus der Abschlusskonferenz des Graduiertenkollegs Körperinszenierungen an der FU Berlin hervorgegangen ist und sich dieser Komplexität annimmt, hat sich zwei Ziele gesetzt: Zum einen geht es darum, dem viel beschworenen iconic turn und der Tradition des Okolarzentrismus eine akustische Figur entgegenzusetzen und auf ihr Potential hinzuweisen; zum anderen versucht der Band, die durch den New Historicism angeregte Debatte um Kulturals Resonanzräume aufzugreifen und zu vertiefen. So ist es auch Stephen Greenblatt selbst, der mit dem vorangestellten Beitrag “Resonanz und Staunen revisited” eine Aktualisierung des gleichnamigen Essays von 1990 vornimmt und exemplarisch das methodische Potential der akustischen Figur für die Literaturgeschichte aufzeigt. Die übrigen 20 Beiträge gliedern sich in drei Abschnitte: 1. Resonanz: Musiktheoretische Positionen 2. Die akustische Figur als Wissensfigur 3. Resonanz, Materialität, Performativität. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die gewinnbringende Ambiguität des Resonanzbegriffs liefern die Herausgeber in ihrer Einleitung mit dem berühmten Orson Welles-Hörspiel The War of the Worlds. Der Legende nach versetzte die zweiminütige Sequenz des Radio-Hörspiels, die sich der Leser als Audiodatei auf der dem Buch beiliegenden CD-ROM anhören kann, bei seiner Ursendung 1938 tausende Zuhörer in Panik, da die vermeintliche Live-Reportage über den Angriff Außerirdischer unvermittelt abbricht. Ob das Radio, dessen technische Erfindung auf der Resonanz elektromagnetischer Wellen beruht, allerdings tatsächlich durch den inszenierten Resonanzabbruch zum Auslöser einer “Resonanzkatastrophe” wurde, ist laut Einschätzung der Autoren mehr als fraglich, da die Legende überhaupt erst durch die Resonanz in den Medien, der Massenpsychologie und Militärgeschichte gebildet wurde. Dass die zeitgleiche Entstehung des Radios in Deutschland und den Vereinigten Staaten hinsichtlich der Ausschöpfung seines Resonanzpotentials ganz unterschiedliche Entwicklungen und Stimmpolitiken zur Folge hatte, zeigt auch der Beitrag von Wolfgang Hagen. Über die Erfindung des Radios hinaus stellt ein Gespräch mit der Kuratorin Brigitte Felderer Bezüge zur Kulturgeschichte der Stimme als Medium her. Unter anderem wird von der Sprechmaschine Wolfgang von Kempelens aus dem späten 18. Jahrhundert berichtet, deren rekonstruierte Stimme sich ebenfalls auf der CD des Buches wiederfindet. Auf welche Weise Resonanz als akustisches und technisches Phänomen im Verlauf der Geschichte immer wieder zugleich metaphorisch in Anspruch genommen wurde, zeigen mehrere wissenschaftshistorische Aufsätze der Anthologie. So legt Wolfgang Scherer dar, wie das Clavichord einen entscheidenden Beitrag für die Popularität der Resonanzmetapher im 18. und frühen 19. Jahrhundert leistete, sodass sich nicht nur Theorien der Empfindsamkeit, sondern auch anatomische und pädagogische Theorien (Herder) auf Forum Modernes Theater, Bd. 25/ 1 (2010), 111-112. Gunter Narr Verlag Tübingen 112 Rezensionen das Modeinstrument als Resonanz-Modell bezogen. Caroline Welsh knüpft an Scherers Beitrag an, indem sie den Wandel des Resonanzmodells von der “Sympathie” zur “Stimmung” im 18. Jahrhundert als Geschichte der Verinnerlichung nachzeichnet. Einen eher ungewöhnlichen Untersuchungsgegenstand präsentieren Robert Matthias Erdbeer und Christina Wesseley mit der Resonanzmetapher in esoterischen Theorien im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Anhand Gustav Theodor Fechners “Anatomie der Engel” und Hans Hörbigers “Welteislehre” als zwei Universaltheorien “kosmischer Resonanz”, die sich gegen die exakten Wissenschaften richteten, werfen die beiden Autoren die Frage auf, wo die Grenzen von Wissenschaft und Esoterik verlaufen. Eines der jüngsten Beispiele dafür, dass die Resonanzmetapher fähig ist, diese Grenzen zu verwischen, stellt die allgemeine Resonanztheorie des verstorbenen Genforschers Friedrich Cramers dar, die in mehreren Beiträgen zitiert wird: “Resonanz ist es,” so Cramer, “die die Welt in seinem Innersten zusammenhält”. Nachvollziehbarer scheint da die Anwendung der Resonanzmetapher auf die, auch bei Geisteswissenschaftlern seit einigen Jahren auf großes Interesse stoßenden, Spiegelneuronen zu sein, die den monadischen Subjektbegriff der Neurowissenschaften nachhaltig erschüttert haben, wie Meike Adam darlegt. Die “soziomotorische Resonanz” der Neuronen, die sowohl bei der Ausführungen von Handlungen als auch bei deren Beobachtung aktiviert werden, legt eine Verflechtung von Subjekt und Umwelt nahe, die der Phänomenologie Merleau-Pontys bisweilen näher zu stehen scheint als der konstruktivistischen Hirnforschung. Schließlich widmen sich mehrere Beiträge der Resonanz als Metapher und Phänomen in den Künsten. Während Barbara Gronau Resonanzen in den Arbeiten von Joseph Beuys aufspürt und Ulrike Hanstein als filmische Verfahren in Wong Kar Wais 2046 aufzeigt, verdeutlichen die Beiträge von Erika Fischer-Lichte und Nikolaus Müller- Schöll, warum es gerade im postdramatischen Gegenwartstheater treffend ist, von der Bühne als Resonanzraum zu sprechen. Anhand unterschiedlicher Beispiele (Rimini Protokoll, Wooster Group, Laurent Chétouane) zeigen die beiden Aufsätze, wie das Theater als kulturelles Gedächtnis oder Sphäre des Denkens fungieren kann, wo Texte, Biografien und körperliche Praktiken widerhallen. In Anbetracht der interdisziplinären Vielfalt mag es kaum erstaunen, dass es nicht allen Beiträgen gelingt, den Mehrwert der Resonanzmetapher für den jeweiligen Untersuchungsgegenstand darzulegen. Dies betrifft Gabriele Gramelsbergers Beitrag über anthropotechnische Räume genauso wie Allen S. Weiss’ kryptisch anmutenden Essay über die Puppenkunst von Michel Nedjar, die das Buch abschließt. Vereinzelten Beiträgen lässt sich auch eine mangelnde Fokussierung der Fragestellung und sprachliche Unschärfe vorwerfen. So rast Wolfgang Auhagen auf zehn Seiten durch 300 Jahre Musikgeschichte und Kyung-Ho Chas inhaltlich an sich spannende Auseinandersetzung mit dem Biologen Paul Kammerer und seiner Freundschaft zu Gustav und Alma Mahler schwankt zwischen anekdotischem Stil und teilweise unnötig hochtrabender Sprache. Die überwiegende Mehrzahl der Beiträge zeichnet jedoch eine erhellende Klarheit und Einschlägigkeit aus, die das Experiment der Herausgeber, bewusst auch metaphorische und methodologische Dimensionen von “Resonanz” einzubeziehen mit zahlreichen, sich bei der Lektüre erschließenden Querbezügen gelingen lässt. Insgesamt lässt sich dem Band mithin eine theoretische und historische Dichte attestieren, die die Gefahr der metaphorischen Beliebigkeit weitgehend abwendet. Vor allem in ihrem wissenschaftshistorischen Fokus unterscheidet sich die Publikation von den Ansätzen anderer Sammelbände wie Stimm-Welten (Transcript 2008) oder Acoustic Turn (Fink 2008) und geht insofern über diese hinaus, als es ihr phasenweise tatsächlich gelingt, aus der metaphorischen Dimension das epistemologische Potential zu schöpfen, disziplinäre Felder auf neue Weise zu verknüpfen. Nicht zuletzt vermag das Buch damit einen Beitrag zu leisten, die Resonanz der akustischen Figur selbst in Geschichte und Gegenwart in den Blick zu nehmen oder vielleicht besser: in Schwingung zu versetzen. Berlin B ENJAMIN W IHSTUTZ Autorinnen und Autoren P ROF . D R . R OBERT C ARDULLO ist Professor of Media and Communication an der Izmir University of Economics in Izmir (Türkei), wo er Kurse in Filmgeschichte, Theorie und Populärkultur unterrichtet. Seine Aufsätze erschienen u.a. in Yale Review, Cambridge Quarterly, Modern Drama und dem Journal of Dramatic Theory and Criticism. Er ist der Autor zahlreicher Monographien und Herausgeber von Anthologien, wie Theater of the Avant-Garde, 1890-1950 (Hrsgg. mit Robert Knopf, 2001); The Theater of Fernand Crommelynck: Eight Plays (1998) und German-Language Comedy: A Critical Anthology (1992). (robert.cardullo@ieu.edu.tr) P ROF . D R . W ILFRIED F LOECK ist pens. Professor für Hispanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er ist langjähriges Mitglied im Herausgeberkollegium für Forum Modernes Theater. Von 2003-2007 war er Vorsitzender des Deutschen Hispanistenverbandes. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des französisch-, portugiesisch- und spanischsprachigen Theater, mit einem besonderen Akzent auf dem Theater Lateinamerikas. Zu seinen jüngsten Publikationen gehören Estudios críticos sobre el teatro español, mexicano y portugués contemporáneo (2008) sowie La representación de la Conquista en el teatro español desde la Ilustración hasta finales del franquismo (2009; hrsgg. gemeinsam mit Sabine Fritz). (Wilfried.Floeck@romanistik.uni-giessen.de) J ULIAN K LEIN ist Direktor des Instituts für künstlerische Forschung in Berlin und als Regisseur und Komponist künstlerischer Leiter der Gruppe a rose is. Er studierte Komposition bei Reinhard Febel, Nigel Osborne, Heiner Goebbels und Wolfgang Rihm sowie Mathematik und Physik. Seit 2005 lehrt Julian Klein Performance und interdisziplinäre Projektentwicklung an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main sowie seit 2007 Regie für experimentelles Theater an der Universität der Künste und der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin. Von 2003 bis 2008 war Julian Klein Mitglied der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und seit 2009 Gastwissenschaftler am Institut für Biologie (Neuro- und Verhaltensbiologie)/ Exzellenzcluster Languages of Emotion der Freien Universität Berlin. Zu seinen Publikationen gehören “Zur Dynamik bewegter Körper. Die Grundlagen der ästhetischen Relativitätstheorie.” per.SPICE! - Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen. Hrsg. v. J. Klein. Berlin 2009, S. 104-134 und “Was ist künstlerische Forschung? ” Gegenworte 23: 2010, S. 25-28. (julianklein@artistic-research.de) K ATARINA K LEINSCHMIDT studierte Zeitgenössischen und Klassischen Tanz an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (Frankfurt/ Main) sowie Tanz- und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit 2003 Arbeit mit Choreographen und Kompanien (u.a. Josè Biondi/ Annette Lopez-Leal, Martin Nachbar, Tanzmoto, Theater der Klänge, Sebastian Matthias) und seit Oktober 2010 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik und Tanz (Köln). (k_kleinschmidt@web.de) P ROF . D R . P ETER W. M ARX ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bern. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theater und metropolitane Kultur, Interkulturalität und Shakespeare und das Theater. Seine letzten Veröffentlichungen sind Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900 (2008) und (Hg. gem. mit Stefanie Watzka) Berlin auf dem Weg zur Theaterhauptstadt. (2009). Z. Zt. arbeitet er an einer Monographie Hamlets Reise nach Deutschland. (peter.marx@itw.unibe.ch) 114 Autorinnen und Autoren P ROF . D R . P ATRICE P AVIS war Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Paris (1976-2007). Zur Zeit ist er Professor am Department of Theatre der University of Kent in Canterbury, UK. 2008 wurde er für seine Arbeit mit dem “Prix Gay-Lussac-Humboldt” ausgezeichnet. Zu seinen zahlreichen Publikationen gehören u.a. das in mehrere Sprachen übersetzte Dictionnaire du Théâtre ( 3 1996). Seine jüngste Publikation ist La Mise en scène contemporaine (2007), in dt. Sprache Das französische Theater der Gegenwart (2008). M YRNA -A LICE P RINZ -K IESBÜYE M.A. hat Theater-/ Filmwissenschaft und Geschichte an den Universitäten Bern, Zürich und Kopenhagen studiert und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Assistentin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern. Sie realisiert ein Dissertationsprojekt zur Theatervermittlung. (myrna.kiesbueye@itw.unibe.ch) Y VONNE S CHMIDT M.A. studierte Theaterwissenschaft, Komparatistik und Neuere Deutsche Literatur an den Universitäten Mainz, Paris (Sorbonne Nouvelle) und Bern. In ihrer Doktorarbeit am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern beschäftigt sie sich mit Theater mit nicht-professionellen Darstellenden, u.a. Theater mit Behinderten. Sie ist derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for the Performing Arts and Film der Zürcher Hochschule der Künste tätig. (yvonne.schmidt@zhdk.ch) D R . S ABINE S ÖRGEL . 1996-2002 Studium der Theaterwissenschaft, Amerikanistik und spanischen Philologie an der Johannes Gutenberg- Universität Mainz. 1998-1999 DAAD Stipendiatin an der University of North Carolina, Chapel Hill (USA). 2002-2005 Dissertation zum Tanztheater auf Jamaika als Doktorandin des internationalen Promotionsprogramms (IPP) in Performance und Media Studies an der Universität Mainz. 2005-2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft Universität Mainz. Seit 2008 Lecturer in Drama, Theatre and Performance am Department of Theatre, Film and Television Studies Aberystwyth University, Wales. Ihre Forschungsgebiete sind Interkulturelles Theater und postkoloniale Theorie, moderner und zeitgenössischer Tanz, Performance Studies und Gegenwartstheater. Publikationen: Dancing Postcolonialism - The National Dance Theatre Company of Jamaica (2007); “Von der Manie zur Melancholie. Tanzhistoriographie im kulturhistorischen Vergleich.” FMT 23.1. (2008). (bas@aber.ac.uk) D R . C HRISTEL W EILER ist Programmdirektorin des Internationalen Geisteswissenschaftlichen Forschungskollegs “Verflechtungen von Theaterkulturen”/ “Interweaving Cultures in Performance” am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sie unterrichtete an den Universitäten Frankfurt/ Main, Gießen und Mainz. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Theorie und Ästhetik des Gegenwartstheaters, Untersuchungen zur Arbeit des Schauspielers (insbesondere Methoden des Trainings), Verfahren der Aufführungsanalyse und Szenische Projekte. Z. Zt. arbeitet sie an einem Forschungsprojekt zu künstlerischen Arbeitsformen im Theater mit Künstlern unterschiedlicher kultureller Herkunft. Zu ihren letzten Veröffentlichungen gehört Theater als öffentlicher Raum. Die “Berliner Ermittlung” von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz (2005) und Strahlkräfte, Festschrift für Erika Fischer-Lichte (2008). (christel.weiler@fu-berlin.de) B ENJAMIN W IHSTUTZ ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im theaterwissenschaftlichen Teilprojekt des DFG-Sonderforschungsbereichs “Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste” der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Imagination und Wahrnehmung des Zuschauers, politische und ethische Dimensionen des theatralen Raumes, Bild/ Bildlichkeit/ Synästhesie, Politik des Ästhetischen in zeitgenössischen Aufführungen und Performances. Publikationen: Theater der Einbildung. Zur Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers (2007); Politik des Raumes: Theater und Topologie, (2010; hrsgg. gemeinsam mit Erika Fischer-Lichte). (b.wihstutz@fu-berlin.de)
