Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0601
2011
261-2
BalmeInhalt Christopher Balme (München) Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Aufsätze: Aneta Mancewicz (Bydgoszcz/ London) The Stage as a Page and the Stage as a Screen: Intermediality in Stefan Pucher ’ s The Tempest (Münchner Kammerspiele, 2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Stijn Bussels (Leiden) & Bram Van Oostveldt (Leiden/ Amsterdam) Re-enacting a scrutinised past at the Antwerp world exhibition of 1894 . . . . . . . . . . . . 21 Katharina Pewny (Ghent University) Performing the Precarious. Economic Crisis in European and Japanese Theatre (René Pollesch, Toshiki Okada) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Wilfried Floeck (Universität Gießen) Die Shoah im Zeitalter der Globalisierung. Juan Mayorga und das spanische Erinnerungstheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Patrice Pavis (Paris) Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Stefan Tigges (Ruhr Universität Bochum) Freiheit durch Verwandlung(en). Eine künstlerische Vision im Rückblick. Roland Schimmelpfennigs Das Reich der Tiere in der Inszenierung von Jürgen Gosch . . . . . . 99 Melissa Trimingham (University of Kent) How to think a puppet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Evelyn Annuß (Bochum) Das Theater der Hunderttausend historisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Jörn Etzold (Bochum) und Maud Meyzaud (Hagen) “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Constanze Schellow (Bern) Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden Das choreografisch-diskursive Format “ walk+talk ” von Philipp Gehmacher . . . . . . . . . 169 Thomas Spieckermann (Konstanz) Das Theater Nanzikambe Arts in Malawi Das Portrait einer Bühne in Südostafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Isa Wortelkamp (Berlin) Über die Linie - die Strichfigurenzeichnungen in den Tanztraktaten von Carlo Blasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Brigitte Schultze (Mainz/ Göttingen) - Beata Weinhagen (Göttingen) Janusz G ł owackis Antigone in New York international: Selektion, Substitution und Exponierung von Sinnangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Rezensionen: Imanuel Schipper. Ästhetik versus Authentizität. Reflexionen über die Darstellung von und mit Behinderung. (Wolf-Dieter Ernst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Sigrid Bekmeier-Feuerhahn, Karen van den Berg, Steffen Höhne, Rolf Keller, Birgit Mandel, Martin Tröndle, Tasos Zembylas (Hrsg.). Zukunft Publikum (Katharina Keim) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Franziska Schößler. Einführung in die Dramenanalyse (Katharina Pewny) . . . . . . . . . . 227 Jörg Rothkamm. Ballettmusik im 19. und 20. Jahrhundert. Dramaturgie einer Gattung. (Albert Gier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Stefanie Watzka. Die ‘ Persona ’ der Virtuosin Eleonora Duse im Kulturwandel Berlins in den 1890er-Jahren. “ Italienischer Typus ” oder “ Heimathloser Zugvogel ” ? (Berenika Szymanski-Düll) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Wolf-Dieter Ernst. Der affektive Schauspieler. Die Energetik des postdramatischen Theaters. (Marion Tiedtke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Katharina Pewny. Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance (Gero Tögl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Hermann Korte u. Hans-Joachim Jakob (Hg.). “ Das Theater glich einem Irrenhause. ” Das Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts. (Meike Wagner) . . . . . . . . . . . 235 Biographische Angaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Umschlagabbildung: Strichfigurenzeichnung nach dem “ abécédaire de lignes ” (aus: Blasis, Traité, 1820, Pl. VI, Fig. 3. S. 16; Nachbildung) Gedruckt mit der Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · Tübingen Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, im Magnettonverfahren oder ähnlichem Weg bleiben vorbehalten. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Jede im Bereich eines gewerblichen Unternehmens hergestellte oder benützte Kopie dient gewerblichen Zwecken gem. § 54 (2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft, Goethestraße 49, 80336 München, von der die einzelnen Zahlungsmodalitäten zu erfragen sind. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Druck und Bindung: docupoint GmbH, Barleben Printed in Germany ISSN 0930-5874 Editorial Mit einiger Verzögerung erscheint nun das Doppelheft 2011, in dem Beiträge aus mehreren Jahren (! ) zusammengefasst sind. Die Gründe für die Verzögerung sind vielfältig und können hier nicht alle aufgeführt werden, allerdings ist es den Herausgebern klar, dass es einer wissenschaftlichen Zeitschrift nicht gut tut, wenn sie nicht regelmäßig erscheint. Vor allem entsteht der Eindruck seitens potentieller Verfasser, dass die Zeitschrift als Forum nicht mehr zur Verfügung steht. Für die deutschsprachige Theaterwissenschaft ist diese Wahrnehmung doppelt schädlich, weil damit die einzige fachspezifische peer-reviewed-Zeitschrift im deutschsprachigen Raum aus dem Blickfeld gerät. Dies muss unbedingt verhindert werden, weil die Bedeutung von peer-reviewed- Publikationsorganen ständig steigt. Seit kurzem verlangt die DFG bei Anträgen, dass Veröffentlichungen nach zwei Kriterien präzise unterschieden werden: Kategorie A für “ Arbeiten, die in Publikationsorganen mit einer wissenschaftlichen Qualitätssicherung ” erschienen sind, und Kategorie B “ andere Veröffentlichungen ” . Unter wissenschaftlicher Qualitätssicherung versteht die DFG in erster Linie peer-review, oder, frei nach George Orwell, “ all articles are equal but some are more equal than others ” . Zur Kategorie B gehören beispielsweise Beiträge in Sammelbänden, die sich nach wie vor in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft ungebrochener Beliebtheit erfreuen. Dass es einen qualitativen Unterschied zwischen Kategorie A und B bei der Bewertung der Forschungsanträge gibt, muss nicht explizit ausgeführt werden. Ein Grund für die Verzögerung des Heftes ist der recht schleppenden Einsendung von Beiträgen geschuldet. Der Löwenanteil der deutschsprachigen theaterwissenschaftlichen Forschungsproduktion erscheint nach wie vor in den besagten Kategorie B-Sammelbänden. Offensichtlich wird nur ein ‘ Rest ’ an wissenschaftliche Zeitschriften wie Forum Modernes Theater geschickt. Ein neuer Faktor im Kräftespiel um die ‘ wissenschaftliche Qualitätssicherung ’ ist sicherlich die gegenwärtig intensiv diskutierte Frage des Open Access. Auch wenn sich die deutsche Wissenschaft für Open Access entscheidet (wahrscheinlich mit beträchtlichen Folgen für die deutschen Bezahl-Verlage), verschwindet damit nicht der Anspruch nach Qualitätssicherung. Da viele deutschsprachige wissenschaftliche Verlage keinerlei Qualitätssicherung anbieten (im deutlichen Kontrast zur angloamerikanischen Welt, wo die renommierten Verlage erhebliche Ressourcen im Hinblick auf Gutachten, Lektorat, Korrekturlesen usw. aufwenden), wird diese Forderung dann an die Wissenschaft selbst zurückfallen. Hier werden sicherlich neue Kosten entstehen, weil der Weg zwischen Verfasser und wissenschaftlicher Öffentlichkeit, auch wenn er im Internet-Zeitalter recht kurz geworden ist, dennoch Mechanismen der Qualitätssicherung dringend bedarf. Die Frage ist nur: wer installiert, kontrolliert und sichert ab? Wir selbst? Es sind aber nicht nur (potentiell) negative Tendenzen zu vermelden. Seit 2012 ist Forum Modernes Theater in Project Muse aufgenommen worden und kann nun über dieses neben JSTOR wohl wichtigste Online- Archiv für wissenschaftliche Zeitschriften ‘ durchsucht ’ werden. Neben der erhöhten Sichtbarkeit wird die Mitgliedschaft in Project Muse auch eine finanzielle Unterstützung gewährleisten, die eine langfristige Absicherung der Zeitschrift garantieren könnte. An die hier versammelten Autoren richte ich zunächst ein Wort der Entschuldigung, dass der Publikationsprozess so lange ge- Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 5 - 6. Gunter Narr Verlag Tübingen dauert hat und ein Wort des Dankes, dass sie so viel Geduld aufgewendet haben. Auf der positiven Seite kann man sehen, dass nun eine wissenschaftliche Vielfalt an Themen und Methoden versammelt ist, die in einem normalen Heft nicht möglich gewesen wäre. Man kann beobachten, wie sich die Theaterwissenschaft inzwischen internationalisiert und pluralisiert hat. Eine in London ansässige polnische Literaturwissenschaftlerin (Aneta Mancewicz) untersucht eine deutschsprachige Inszenierung von Shakespeares Sturm. Ein deutscher Chefdramaturg (Thomas Spieckermann) befasst sich mit Theater in Malawi. Eine in Belgien tätige österreichische Theaterwissenschaftlerin (Katharina Pewny) untersucht Fragen des Prekariats in Inszenierungen des Japaners Toshiki Okada (und nicht zu vergessen René Pollesch). Der renommierte französische Theaterwissenschafter Patrice Pavis legt einen grundlegenden Aufsatz über Zuschauerforschung vor und fungiert nebenbei als Vermittler wichtiger französischsprachiger Forschungsliteratur zu diesem Thema, die bislang kaum zur Kenntnis genommen wurde. Puppentheater (Melissa Trimingham) kommt genauso vor wie Tanztheater, das sogar mit drei Beiträgen repräsentiert ist. Theatergeschichte wird anhand des gegenwärtig intensiv diskutierten Terminus des Reenactment in zwei Beiträgen präsentiert: einmal in einer Untersuchung über die Weltausstellung 1894 in Antwerpen, und einmal anhand einer Inszenierung des Hamburger ‘ Performancelabel ’ Ligna, die die Massenchoreografie der NS-Zeit wieder aufführte. Ich habe hier nur eine Auswahl der Beiträge erwähnt, um einen Einblick in die Vielfalt des Heftes zu geben. Es überwiegt der Eindruck einer lebendigen und recht heterogenen Wissenschaft, wie sie die Theaterwissenschaft heutzutage sicherlich ist. Insofern spiegelt Forum Modernes Theater diese Wissenschaft wider, was das erste Ziel der Zeitschrift ist. Das nächste Heft folgt zugleich. Christopher Balme, München, Juni 2014. 6 Christopher Balme The Stage as a Page and the Stage as a Screen: Intermediality in Stefan Pucher ’ s The Tempest (Münchner Kammerspiele, 2007) Aneta Mancewicz (Bydgoszcz/ London) William Shakespeare ’ s The Tempest abounds in transits, transfers, and transformations. The play explores the Early Modern fascination and fear connected with sea voyage and newly discovered civilizations. It also exploits intersections of science, sorcery, and stagecraft in the portrayal of Prospero - a scholar, a conjurer, and a director in control of the island and the stage. Parallel to various forms of knowledge transfer - scientific, linguistic, or cultural - The Tempest involves examples of magical transmutation, from the eponymous sea storm, which sets off the action, to the masque celebrating the marriage of Miranda and Ferdinand. Moreover, the play ’ s finale is ambiguous, if not alarming: Prospero ’ s decision to renounce magic and return to Milan as a vulnerable old man leaves him at the mercy of his former enemies. Unless we accept the possibility of redemption and forgiveness, we might feel that, rather than concluding with a happy ending, the play closes on the onset of a tragedy. The structure of The Tempest as a play examining themes of transformation and transition within a meta-theatrical framework encourages an intermedial style of staging. Intermediality, understood as a productive and self-conscious application of media in performance, opens the possibility of investigating inter-relationships and interexchanges of theatre with other arts. Stefan Pucher ’ s production of The Tempest (Münchner Kammerspiele, November 2007), which stages the Shakespearean text through a range of theatrical, literary, cinematic, and musical genres, not only exemplifies, but also expands the possibilities of intermediality, while reflecting on the relationship between the stage, the page, and the screen. Pucher ’ s staging exposes transfers and transformations inscribed within the play, as well as metamorphoses and modifications involved in the tradition of its performance. The production exploits intersections of media, in order to address textuality, authorship, and adaptation; those notions are fundamental for The Tempest, but they also underlie other of Shakespeare ’ s plays. Shakespearean works frequently function both in popular imagination and in scholarly studies as literary shrines, rather than play scripts that encourage the act of transformation in the course of staging. Pucher transforms The Tempest by means of dramaturgy, stage performance, film, music, and pop art, intertwined to create an intermedial performance, in which new technologies are integrated with more traditional means of staging, in order to expand the themes of the play. The mixture and multiplicity of media in the Kammerspiele production reflects the range of registers and styles co-existing in the tradition of Shakespearean staging and in contemporary performance in general. The incorporation of digital technologies and the mixing of media have revolutionized performance practice in the last decades. It has resulted in “ new modes of representation; new dramaturgical strategies; new ways of structuring and staging words, images and sounds; new ways of positioning bodies in time and space; new ways of creating temporal and spatial interrelations ” . 1 The study of Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 7 - 19. Gunter Narr Verlag Tübingen new technologies and media interactions in theatre and performance has, in turn, led to new ways of conceptualizing relationships between the page and the stage or the onstage and the onscreen appearance of performers, particularly when such research has avoided fetishizing the significance of either liveness or mediatization. When in The Tempest, new technologies are used to represent the sea storm as cinematic act, the scene immediately marks the staging as a reflection on adaptation and authorship. The production incorporates innovative stage devices in order to suggest analogies between digital and print culture and to show the pervasiveness of literary models in Shakespearean reception. The design of the stage as an intermedial book with moving walls as pages frames the performance as the process of reading. The Kammerspiele version exemplifies the opportunities of intermediality in performance, not merely because Pucher applies a mixed range of media, but because he appropriates them in a meta-theatrical and self-conscious manner. Performance as a Videotext The Kammerspiele Tempest interweaves video clips, popular songs, and pop art allusions. Such an intermedial style has defined Pucher ’ s staging from the beginning of his career in the mid-1990 s. After a brief collaboration with a media-oriented group, Gob Squad, Pucher continued experimenting with new technologies within institutional theatres, becoming one of the leading “ popculture directors ” in Germany. 2 Since the turn of the century, he has been staging plays by Anton Chekhov and Shakespeare, establishing himself as an ingenious interpreter of classic drama. Several of his productions have been invited to Theatertreffen in Berlin, confirming his high reputation in the German-language theatre world. In 2008, The Tempest not only opened Theatertreffen (as the fifth production by Pucher to be invited to the festival), but was also recorded for the German ZDF-Theaterkanal, under the direction of Peter Schönhofer. 3 The transition from a stage event to a video recording testifies to the cultural importance of this production, as the performance has been turned into a more accessible, fixed and permanent format. The filming of a theatrical event also reflects the prevailing reception patterns of recent decades, with digital technologies enabling efficient and economical ways of sharing and transferring data. Increasingly, a video registration functions as a modern equivalent of a text. Douglas Lanier notes: Even as we have hailed the death of the monolithic text in favor of performative variants, the technological apparatus has encouraged this theoretical revolution - the VCR - has been subtly re-establishing, at another level, a new monolithic and stable “ text ” - the ideal performance, recorded on tape, edited and reshaped in post-production, available for re-viewing. 4 The technological advancement has, thus, reinforced textual patterns of reception in performance studies, offering a polished version and repeated, wide access in place of a live, exclusive event. A DVD recording, “ the ideal performance ” , has been the only form in which I have been able to access Pucher ’ s production. The medium has affected my experience of the play as a videotext - a fixed performance, whose spatial, temporal, and social context has been removed. Rather than watching The Tempest as an event involving the presence of actors and spectators in shared time and space, I have been “ reviewing ” it as a videotext that might be fast-forwarded, rewound, paused, stopped, 8 Aneta Mancewicz and played an infinite number of times. Such a manner of accessing the production has inevitably affected my experience and interpretation of the performance, which finds its reflection in the following analysis. The ensuing examination of The Tempest does not include references to the venue, the experience of watching the play in a specific time and place, or to the audience sitting in the playhouse, except for the penultimate paragraph, which touches upon the production as a stage performance conceived at Münchner Kammerspiele and aimed at its audiences. The analysis focuses on the ways in which intermediality expands on transformations and transitions within The Tempest, and, more specifically, on the function of text and textuality in performance. In Pucher ’ s production, the stage is simultaneously transformed into a page and a screen. The metamorphosis occurs through the rewriting of Shakespeare ’ s script, the choice of the stage design, and the incorporation of video and music. The performance makes meta-theatrical and meta-medial references to the functions of drama, video, cinema, and pop music on stage, raising questions regarding authority, fidelity, and originality in appropriations of Shakespeare ’ s plays. Page Staging The Tempest, Pucher commissioned a new translation from Jens Roselt, who subsequently supplied him with German versions of other Shakespeare plays: The Merchant of Venice, Measure for Measure, and Antony and Cleopatra. Roselt ’ s translation of The Tempest not only modernized the text, but also emphasized its meta-theatrical character. Working with this version, Pucher has rewritten the play with the assistance of the Kammerspiele dramaturge, Matthias Günther. The script has been compared to Samuel Beckett ’ s Endgame in its emphasis on monologues and repetitions. 5 Significantly, Endgame is a play that Pucher recently staged in Zürich Schauspielhaus (2011), confirming his interest in the Beckettian language and performance style. In the Kammerspiele Tempest, the Shakespearean scenario is modernized, cut, and altered. Several lines are added, not only in German, but also in English. Pucher frequently includes English excerpts in staging Shakespeare; for instance, in the Zürich production of A Midsummer Night ’ s Dream (2000), the characters speak the key lines from Shakespeare ’ s script both in English and German. Other German-language directors have been recently relying on this strategy as well, for example, Karin Henkel in Macbeth (Münchner Kammerspiele, 2011) or Erich Sidler in Hamlet (Stadttheater Bern, 2011), not necessarily to facilitate the communication with the audience, although it might be important in the case of such internationally touring productions as Thomas Ostermeier ’ s Hamlet (Schaubühne Berlin, 2008), but rather to make evident the transition between languages, registers, and historical periods inscribed in translations and transformations of Shakespeare ’ s plays. A bilingual script of Pucher ’ s The Tempest reminds the audience that what they hear is a translation and adaptation, so that they should not become attached to the idea of “ the original ” or “ authentic ” Shakespeare. Despite controversies over the authorship, date, and language of Shakespeare ’ s plays, as well as centuries of editing, translating, and rewriting, the Shakespearean oeuvre still tends to be perceived by many text-orientated scholars as the solid rock of Western drama. However, it is precisely because Shakespeare ’ s plays are porous and fragmented that they can be adapted to changing historical and cultural conditions. The Kammerspiele Tempest foregrounds the adaptability of Shakespeare ’ s plays by 9 The Stage as a Page and the Stage as a Screen making apparent the involvement of the translator and the dramatist, as well as that of the author and the director. The performance centers on Prospero and Ariel as artists manipulating the action, and it frequently comments on the art of illusion. The act of authoring and directing the Shakespearean text is one of the themes of the production, with several episodes identifying Prospero (Hildegard Schmahl) and Ariel (Wolfgang Pregler) as theatre-makers reworking the Shakespearean script and addressing the audience. The first conversation between Prospero and Miranda (Katharina Marie Schubert), which in Shakespeare ’ s drama allows for an exposition of their story and which establishes the relationship between the characters, in Pucher ’ s staging becomes a soliloquy. Schmahl ’ s captivating speech places her at the centre of the action. Seated majestically on a chair made of two stuffed tigers, she appears as a colonial ruler. Moreover, as she explains the motives and the aims of the storm directly to the spectators, Schmahl makes them complicit in the intrigue. Invited to play the part of Miranda, the audience members might be asking precisely those questions that the girl poses to her father in Shakespeare ’ s script. This early scene establishes an intimate relationship between the performers and the spectators, contributing to a meta-theatrical framework of the play. The meta-theatrical relationship between the actors and the audience is reinforced by the portrayal of Prospero and Ariel as artistic collaborators. Throughout the performance, Schmahl, a renowned actress of Münchner Kammerspiele, enacts Prospero as a masculine figure. She does not transform the exiled Duke into a woman, as it is the case with Helen Mirren in Julie Taymor ’ s film version of The Tempest (2010). Rather than altering the gender of the protagonist, Schmahl plays the part as a breeches role, similarly to Vanessa Redgrave, who was cast as a male Prospero in the Globe Theatre production (2000). In an analogical manner, Schmahl interpreted King Lear in George Tabori ’ s rewriting of the play, Lear ’ s Shadow, staged in Bregenz and Vienna (1989). In Pucher ’ s The Tempest, her performance marks the play with the bitter wisdom of somebody who has seen enough of the world not to be deceived by illusion, and who knows enough about the world to create illusions for others. Schmahl ’ s portrayal of Prospero as a master of illusions is mirrored by Pregler ’ s interpretation of Ariel. The actor is more her collaborator or even alter ego than a servant. The similarity in age and appearance (white longish hair, dark suits and white shirts designed by Annabelle Witt, who regularly works with Pucher) suggests that Prospero and Ariel are closely connected as artists and magicians. Moreover, both of them explore the performative potential of masculinity and femininity in transgressing their gender. Performing Prospero as a man, Schmahl not only relies on the association between power and masculinity, but also evokes such charismatic interpreters of the part as John Gielgud, Ian Richardson, or Patrick Stewart. Pregler plays Ariel as a male character except for two instances. In the scene where Ferdinand (Oliver Mallinson) mourns his father, Ariel watches him, dressed in white as a fairy with white lilies. His appearance seems slightly grotesque but also poignantly beautiful; he achieves a similar effect in the banquet scene, when he enters in black, enacting the harpy as a drag queen (Photo 1). In both cases Ariel ’ s female transformation coincides with the execution of magical tricks, suggesting that gender, like magic, is an act of performance. Most of the time, however, Pregler plays Ariel as a middle-aged, experienced man, endowed with irony and insight. Pucher ’ s casting choice defies the tradition of a slender and swift spirit - the tradition that persists on stage and screen. Recent examples of 10 Aneta Mancewicz ethereal interpretations of Ariel include Tom Byam Shaw in Trevor Nunn ’ s staging at the Theatre Royal Haymarket in London (2011) and Ben Whishaw in Taymor ’ s film. What is equally important, in the Kammerspiele version Ariel enjoys more power than is customary in the productions of The Tempest, where he is often portrayed as a slave of ( or at best a subject to) the ruler of the island. In Pregler ’ s interpretation, Ariel is not only Prospero ’ s collaborator, but also his critic. Commenting on the effects of the sea storm, Ariel says to Prospero in English, “ Excellent, you have done a great job ” . The compliment is reciprocated after the banquet scene, when Prospero praises Ariel, also in English and almost in the same words, “ Great, you did a great job ” . Apart from suggesting equality between the protagonists, the flattering remark reveals that they are aware of an artistic value of each other ’ s work and that they pursue their projects to please the audience. One scene in particular demonstrates Ariel ’ s authority, as well as his sense of responsibility towards the audience. When Sebastian and Antonio (Jörg Witte and René Dumont) plan to take over power in Naples, they suffocate Alonso and Gonzalo (Walter Hess and Peter Brombacher). It is precisely Ariel who brings the king and his counselor back to life, claiming that their death would put a premature end to Prospero ’ s scenario. For a moment, the episode suggests that Sebastian and Antonio have the ability to alter the course of the events, yet Ariel soon corrects the departure from the Shakespearean plot. The importance of this scene lies in drawing the attention of the spectators to the authority of the playwright that is con- Photo 1: The Tempest dir. by Stefan Pucher, Münchner Kammerspiele 2007, with Hildegard Schmahl (Prospero), Wolfgang Pregler (Ariel), Walter Hess (Alonso), Jörg Witte (Sebastian), René Dumont (Antonio), Elinor Eidt, Julia Schmelzle, and Anja Thiemann (Iris, Ceres, and Juno). Photo courtesy of Arno Declair © 11 The Stage as a Page and the Stage as a Screen fronted in staging dramatic texts. The power of the author is especially evident in performing the works of Shakespeare, who, since Romanticism, has been elevated to the position of an unerring genius, a virtuoso of language and human characterization. The iconic status of Shakespeare has turned him into the ultimate instance of interpretation. Consequently, critics and scholars frequently expect that the artists staging Shakespeare will strive to represent his “ authentic ” authorial intention, rather than freely expand the meanings in the plays. In the performance tradition of The Tempest, the function of the author is particularly prominent. It has been customary among artists and critics to define this drama as the last play of Shakespeare, disregarding his subsequent collaboration with John Fletcher on Henry VIII, The Two Noble Kinsmen and on the lost play Cardenio. Prospero ’ s final soliloquy, in which he breaks the staff and drowns the book, renouncing the magic power, has been frequently interpreted as the playwright ’ s farewell to stagecraft, a message addressed directly to the spectators. Most German critics reviewing the Kammerspiele staging have evoked the myth of The Tempest as Shakespeare ’ s last play, an artist ’ s manifesto that revisits and recapitulates the themes from his earlier works. Christina Tilmann described the drama as “ William Shakespeare ’ s farewell to Elizabethan stage ” , 6 suggesting an analogy between Shakespeare and Prospero as artists at the end of their careers. Examining Pucher ’ s production, numerous reviewers noted the portrayal of Prospero as a theatre-maker, implying that he might stand for Shakespeare as an active member of a stage company. Peter Hans Göpfert claimed that, in the Kammerspiele version, Prospero is first and foremost a theatre director. 7 Similarly, Ines Botzenhard and Jeanette Neustadt described him as an author and director, 8 whereas Sabine Dultz compared the relationship between Prospero and Ariel to that between a stage director and an assistant. 9 These overlapping descriptions suggest that, Prospero and Ariel in the Kammerspiele production appear as artists playing with words and images. They not only entertain themselves and the spectators, but also comment on each other ’ s artistic achievements. A self-conscious rendition of these two protagonists turns the play into a reflection on the very nature of authorship and adaptation. These themes are fundamental for The Tempest - a play which lends itself particularly well to a meta-theatrical interpretation; as Jan Kott suggests, “ All that happens on the island will be a play within a play, a performance produced by Prospero ” . 10 In Pucher ’ s staging, this meta-theatrical framework is established in an intermedial manner; after all, Prospero ’ s performance is also a play within a book and a play within a film. Stage The most striking example of an intermedial approach to authorship and adaptation in Pucher ’ s The Tempest concerns the stage design by Barbara Ehnes. She has created sets for all productions of Shakespeare directed by Pucher, except for the first one, A Midsummer Night ’ s Dream at the Schiffbaum Atrium, which was designed by Michael Simon. Since 2000, Ehnes has been regularly collaborating with Pucher, creating sets for Henry IV (Schauspielhaus Zürich, 2002), Richard III (Schauspielhaus Zürich, 2002), Othello (Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 2004), The Merchant of Venice, (Schauspielhaus Zürich, 2008), Measure for Measure (Münchner Kammerspiele, 2009), and Antony and Cleopatra (Burgtheater Vienna, 2009). For the Kammerspiele Tempest Ehnes designed a set reminiscent of a book, with 12 Aneta Mancewicz the moving walls resembling pages that turn with the change of a scene (Photo 2). The actors perform between these pages, reminding the spectators of their origin as dramatic characters. At times, the walls frame and confine them, at others, they close upon them or push them into the back of the stage. The set evokes the book as Prospero ’ s attribute - a source and symbol of his magic power, an indirect cause of his ruin, and then the chief reason of his rise to prominence. Engrossed in the study, the Duke bestows the duties of a ruler upon his brother, the library being a “ dukedom large enough ” for him (1. 2. 110). 11 Antonio soon takes over power in Milan, banishing Prospero and Miranda. It is thanks to the wisdom contained in the books, however, furnished for him by kind Gonzalo, that Prospero becomes the master of the island and eventually revenges himself on Antonio and Alonso. Drowning the book at the end of the play, the protagonist forsakes all power and returns to Milan, unguarded and unprotected. The range of implications inscribed in the representation of the book in The Tempest is typical of Shakespeare ’ s playwriting strategy. It consists in multiplying diverse contexts and juxtaposing analogical situations, in order to explore a given problem from several perspectives. “ Shakespearian dramas are constructed not on the principle of unity of action, but on the principle of analogy, comprising a double, treble, or quadruple plot, which repeats the same basic theme ” , yet in different contexts. 12 In The Tempest, the coup d ’ état is presented in three distinctive configurations: Antonio ’ s deposition of Prospero from the throne of Milan, Antonio and Sebastian ’ s scheme to murder Alonso and Gonzalo to seize power in Naples, and finally, there is Caliban ’ s conspiracy with Photo 2: The Tempest dir. by Stefan Pucher, Münchner Kammerspiele 2007, with Oliver Mallinson (Ferdinand) and Katharina Marie Schubert (Miranda). Photo courtesy of Arno Declair © 13 The Stage as a Page and the Stage as a Screen Stephano and Trinculo, who plot to kill Prospero and rule over the island. All these are examples of intrigues within a family or a household. Each of the episodes, however, represents a distinctive convention: from Prospero ’ s sad and vengeful tale, through a dramatic exposition of Machiavellian politicians, to a grotesque row of three drunken servants. Ehnes ’ set conveys the multiplicity of perspectives in Shakespeare ’ s playwriting visually on stage. As the reviewers Christine Dössel and Jeanne Neustadt have aptly noted, the book form opens the possibility of exploring the ambivalent nature of events in the play. 13 It divides the protagonists into parallel parties separated by the walls as pages, encouraging the audience to juxtapose their situations. Moreover, the set continuously reminds the spectators of the dramatic text underlying the actors ’ performance and reveals the tension between the page and the stage - the tension that has been crucial for the development of Shakespeare performance tradition. The book design recalls the authority of the Shakespearean text, which, contrary to the growing popularity of performative approaches to drama, continues to govern the staging and criticism of Shakespeare ’ s work. As William Worthen notes: Although the desire to reproduce either the dramatic or the theatrical circumstances of Shakespeare ’ s plays has perhaps waned in the past century, contemporary discussions of Shakespeare and performance have in many ways not surmounted this turn-of-the-century problematic: the desire to authenticate performance as a reproduction of the text, of ‘ Shakespeare ’ . 14 Despite the growing importance of nondramatic tendencies in performance practice and research, which have been inspired, among others, by the development of postdramatic theatre, there has been an ongoing emphasis on fidelity to the text and authorial intention within Shakespeare performance tradition and Shakespeare studies. Commenting on the authority of the Shakespearean script in the Anglophone theatre tradition, Worthen, nevertheless, recognizes that its status differs in productions staged in other languages. “ Productions outside the English-speaking North Atlantic orbit have, on the other hand, long taken the lead in applying innovative scenographic practices to Shakespeare production ” . 15 His words echo an observation by Dennis Kennedy in Foreign Shakespeares (1993), a collection of essays that constitutes an early attempt to investigate performances of Shakespeare outside English language and culture. Kennedy notes, “ English-speakers are apt to assume that foreign-language productions necessarily lose an essential element of Shakespeare in the process of linguistic and cultural transfer, and of course this is true. But it is also true, as I am suggesting, that some foreign performances may have a more direct access to the power of the plays. ” 16 Pucher ’ s staging with its “ innovative scenographic ” design seems to reflect ironically on Shakespeare ’ s status as a book in Englishlanguage culture, where the notion of the original, authentic text sets standards of performance for critics and playgoers alike. Such an interpretation may be justified by the function of English excerpts in the German text. It is particularly striking in such examples as Antonio ’ s paraphrase of Hermia ’ s line from A Midsummer Night ’ s Dream, “ Dark night, that from the eye his function takes ” (3. 2. 180), which in Pucher ’ s production becomes “ The night that takes away the function of the eye ” (in English). The line not only reminds the audience about the act of translation, but also about the process of rewriting and adapting the text which is inevitably involved in any transition between languages and cultures. 14 Aneta Mancewicz In the Kammerspiele Tempest, textual alterations are combined with references to popular culture; they bring the play up to date with contemporary spectators, but at the same time juxtapose Shakespeare ’ s times with ours. The appearance and performance style of Stephano and Trinculo (Bernd Moss and Stefan Merki) allude to Gilbert and George, performance artists residing in Britain. Among numerous pop references, the production features Miranda posing as Paris Hilton, Caliban (Thomas Schmauser) manifesting his anger in the style of the Rammstein metal band, as well as Iris, Ceres, and Juno (Elinor Eidt, Julia Schmelzle, and Anja Thiemann) as cheerleader-like girls singing a remake of Boney M. ’ s “ Sunny ” . As the allusions to popular culture suggest, Pucher approaches the Shakespearean book as a repository of images and interpretations, from which he both draws inspiration and to which he contributes. In the Kammerspiele production, the repository involves a range of media, with the stage functioning as a book and a screen at the same time. The projections make the walls seem like pages of a virtual book, a theatrical equivalent of a digital reader. Screen The Kammerspiele Tempest opens with a projection of the sea storm as a B-movie in the process of making. As Dössell notes, the play begins “ like in cinema ” , 17 yet the stage soon turns out to be a film set. The actors are filming the sea storm and the shipwreck in a blue box studio, applying simple effects, such as pouring water from buckets to imitate the waves. Another reviewer, Barbara Grenzmann, observes that the staging from the beginning reflects on the nature of illusion in The Tempest; the video reveals the storm to be a creative, artificial act, casting Prospero as a visual artist. The video introduction exposes the relationship between drama, theatre, and cinema in an intermedial manner, which is reminiscent of experiments with stage and screen poetics in the 1990 s. The video sequence, combined with scenography, evokes Peter Greenaway ’ s Prospero ’ s Books (1991), 18 in which the process of writing The Tempest frames the action of the film. By analogy, in Pucher ’ s staging, the process of movie making is interwoven into the performance, as the initial sequence reappears throughout the play. At the same time, a reflection on the nature of stage illusion in the Kammerspiele Tempest is similar to the intermedial projects of such Francophone directors as Arianne Mnouchkine or Robert Lepage. Similarly to Pucher, they have been celebrated for cinematic, intermedial stagings of Shakespeare, which have frequently exposed camera tricks of filmmakers to theatre audiences. The experiments of these directors have not necessarily depended on applying technological devices, but rather on framing a particular pattern of viewing - this has been particularly the case in Mnouchkine ’ s work. Such a staging strategy confirms the idea that intermediality is not necessary a matter of technology, but of perception. As Chapple and Kattenbelt have rightly noted, “ Intermediality is about changes in theatre practice and thus about changing perceptions of performance, which become visible through the process of staging ” . 19 The Kammerspiele performance achieves most interesting intermedial effects through the incorporation of video sequences, which have been produced by Chris Kondek. Before he began collaborating with Pucher in 2003, Kondek had worked with the leading experimental companies and directors in New York, such as The Wooster Group, The Builders Association, Robert Wilson, and Laurie Anderson. In Germany, Kondek has also worked with cutting-edge theatre directors, including Sebastian Baumgarten, Armin Petras, and René Pollesch. During the 15 The Stage as a Page and the Stage as a Screen last few years, he has successfully staged his own theatre productions. Having contributed to the most exciting theatre experiments of recent decades, Kondek advances an intermedial approach to the use of video in performance. He argues for the interaction of video images with other elements of staging, describing himself as a “ set designer ” rather than a “ video artist ” . 20 Claiming that video images might withdraw the attention of the spectators from the actors, he insists that video should be part of performance rather than its dominant element. In The Tempest, video sequences reflect on the nature of illusion and expand the semantic network of the play, confronting and complementing rather than competing with the action on stage. The opening images of the sea storm reappear throughout the production, mostly on a small screen in a living room. They echo the horror and beauty of Prospero ’ s artistic creation, while reminding the spectators that what they see is a work of art, created in front of their eyes. At times video sequences take over the whole space of the stage, drowning the protagonists in Prospero ’ s magic. Video images in the Kammerspiele Tempest are highly poetic, as they explore symbolical aspects of relationships between the protagonists, particularly if recordings function as flashbacks. When Prospero reminds Ariel of his imprisonment by Sycorax, the video sequence shows a sadomasochistic sequence, which suggests Ariel ’ s dependence on the sorceress as sexual submission. Sycorax in the Kammerspiele staging becomes Psycorax, a pop-cultural, pornographic figure. She is performed by Schmahl, whose onstage appearance as a grave and restrained Prospero contrasts with her vulgar onscreen image. The inclusion of video with Psycorax reveals that although the sorceress has been long deceased Prospero still manages to torment Ariel with stories of her cruelty. Since the two characters are played by the same actress, it is unclear, however, whether the airy spirit suffers more from the trauma of enslavement or from Prospero ’ s constant reminding him of it. What is more, the double-casting of Schmahl foregrounds analogies between Prospero and Sycorax. In the Kammerspiele production, both the rulers of the island are portrayed as malevolent magicians, capable of extreme cruelty. As well as providing insights into the psychology of the characters, video sequences expand on the themes of political conquest in The Tempest. The documentary footage of tanks, soldiers, and bombed buildings translates power struggles from Shakespeare ’ s play into war conflicts that are closer to contemporary audiences. Similarly, in Pucher ’ s The Merchant of Venice, the scenes from the film King Kong (1933) might be interpreted as allusions to Shylock ’ s alienation in Venetian society. In both cases, video sequences provide the spectators with clues, yet they do not determine the overall interpretation of the play. In the same vein, while numerous media interact in the production, none of them acquires a dominant position. Similarly to the application of video, the incorporation of music in the performance allows Pucher to explore the relationships between the characters, capturing their intimate, self-revelatory moments. Music (by Marcel Blatti, another regular collaborator of Pucher ’ s) is heard throughout most of the performance, in a manner similar to a film score in cinema; it includes several genres as diverse as pop, rock, metal, or classical music. Pucher has become known for his frequent and innovative application of music in theatre, also in his other productions of Shakespeare ’ s plays, beginning with the first one, A Midsummer Night ’ s Dream, where “ God is a DJ, and so is Shakespeare ” . 21 The Tempest is particularly suitable for the inclusion of music, since, as Caliban observes, “ the isle is full of noises ” (3. 2. 135). 16 Aneta Mancewicz In the Kammerspiele version, the “ noises ” are rendered not only by the music soundtrack, but also by music performances. The songs that are included in the production are mostly entertaining, but at times they bring sadness and sorrow - emotions that tend to be subdued in the speeches. According to Marvin Carlson, Gonzalo performing John Lennon ’ s song “ Watching the Wheels ” in the penultimate scene “ quite overshadowed Prospero ’ s famous resignation speech as the coda ” . 22 The shift of the emotional input from speeches to songs is owed to the fact that in the Kammerspiele Tempest the actors tend to direct their attention to the spectators more often than to other performers. When they occasionally engage in dialogues, their words frequently come across as comic. The courtship of Miranda and Ferdinand is, for instance, caricatured as sentimental and kitsch, while sincere and intimate emotions are rendered in monologues, videos, and songs. Similarly, in Pucher ’ s version of Othello, the actors do not explore their relationships through dialogues on stage, but exclusively in music performances and videos prerecorded offstage. The frequent replacement of dialogues with monologues, videos, and songs in contemporary German-language theatre continues the tradition of Bertolt Brecht ’ s Verfremdungseffekt. Pucher relies on this technique to reflect on the relationship between the character and the performer, as well as the actor and the audience. More specifically, he confronts the perspective of the Shakespearean theatre tradition that emphasizes the importance of the character with the postdramatic strand of performance that questions the very idea of coherent selfhood. The mixing of stage performances, songs, and videos results in intermedial interpretations of characters in the Kammerspiele Tempest; their portrayal depends on the effects of complementation, contrast, and irony that are often applied simultaneously. The clip with Psycorax, for instance, illustrates Prospero ’ s story, as well as juxtaposing the onstage and onscreen appearance of the protagonists. It characterizes the two magicians, exposes Ariel ’ s submission as S&M pornography, and represents Caliban as an adult turned into a child. The contrast between stage and screen leads in this case to ironic effects, complicating the audiences ’ understanding of relationships and themes in Shakespeare ’ s The Tempest. Conclusions Mixing and confronting diverse media in the Kammerspiele production, Pucher expands the themes from the Shakespearean text, introducing references to cinema, pop-culture, and politics. At the same time, the director confronts the spectators with the questions of authority, originality, and fidelity that continue to shape the performance and study of Shakespeare ’ s dramas. In the Kammerspiele Tempest, intermedial transactions become the very subject of the play, revealing a way in which performances, along with the media that they incorporate, may “ function as vital acts of transfer, transmitting social knowledge, memory, and a sense of identity ” . 23 After all, the cultural and political allusions evoked by Pucher are directly aimed at contemporary Germanlanguage speakers, and at Munich theatre audiences in particular. The last video sequence in the production addresses this “ sense of identity ” most strongly. The footage brings together images projected throughout the performance: they include the initial filming of the shipwreck, and the characters wandering around the island, as well as documentary images of the war. The scene occurs directly after Prospero ’ s coda, in which the protagonist announces to Ariel, “ our revels are now 17 The Stage as a Page and the Stage as a Screen ended ” (4. 1. 148). During the projection, Ariel nostalgically sings a paraphrase of John Donne ’ s poem, “ The Sun Rising ” to the soft accompaniment of piano. The actors on screen appear as pop-up book figures and puppets in a theatre made of paper. At the end of Ariel ’ s song, the theatre catches fire. When the camera moves away, it reveals a small-scale paper construction, burning in the courtyard of the Münchner Kammerspiele. The video emphasizes a range of roles that in Pucher ’ s production are performed by the stage. This confirms the observation by Chapple and Kattenbelt about theatre as a “ hypermedium ” , that is “ a space where the art forms of theatre, opera and dance meet, interact and integrate with the media of cinema, television, video and the new technologies; creating profusions of texts, intertexts, inter-media and spaces in-between ” . 24 In Pucher ’ s The Tempest - as a live performance, not the video recording discussed so far - the stage is a platform open to different temporal and spatial interpretations, as well as the here and now of a shared moment, experienced together by the actors and the spectators. It is a paper-made theatre and a pop-up book with characters constantly confronting themselves with the author ’ s design. Moreover, the stage is the space of the Kammerspiele, a physical venue in which Pucher rehearsed and performed The Tempest - a theatre institution immersed in the topography, culture, and economy of Munich. Finally, the stage functions as a screen, onto which Kondek projects video clips, and onto which the spectators project their own memories and emotions. These various incarnations of the stage co-exist in The Kammerspiele Tempest through a mixture of intermedial relationships. Applying an intermedial approach, Pucher confronts the conditions of contemporary stage practice with the themes and characters from the Shakespearean drama and with the tradition of The Tempest ’ s performance. The text of the play is simultaneously translated into a script, a video footage, a stage design, and a musical score. This intermedial format both reinforces and re-frames the transits and transformations within Shakespeare ’ s play and its stage tradition; most importantly, it reveals new possibilities of rendering the text on stage for contemporary directors, also in the case of non-Shakespearean productions. Acknowledgments This research was supported by a Marie- Curie-Fellowship within the 7th European Community Framework Programme - I am grateful for this support. I would like to thank Prof. Christopher Balme from the University of Munich for providing me with a DVD of Pucher ’ s The Tempest and to Ms. Marianne Korn and Mr. Jens Zimmer from Schauspielhaus Zürich for DVDs of other Pucher ’ s productions of Shakespeare. I would also like to express deep gratitude to Mr. Arno Declair, who has generously given me the permission to use his photographs in this article. I am also indebted to Dr. Bettina Boecker (Shakespeare Library, Munich), who has kindly supplied me with reviews of The Tempest and to Dr. Zeno Ackermann (Freie Universität Berlin), who has provided me with a critique of Pucher ’ s Merchant of Venice. Finally, I am profoundly grateful to Prof. Peter W. Marx from the University of Cologne for his inspiring insights into Shakespearean performance practice, which have contributed to my thinking about staging Shakespeare in contemporary theatre. 18 Aneta Mancewicz Notes 1 Freda Chapple und Chiel Kattenbelt. “ Key Issues in Intermediality in Theatre and Performance. ” Intermediality in Theatre and Performance. Ed. Dies. Amsterdam, 2006. 11. 2 Marvin Carlson. Theatre is More Beautiful than War. German Stage Directing in the Late Twentieth Century. Iowa City, 2009, 186. 3 Stefan Pucher und Peter Schönhofer. The Tempest. ZDF-Theaterkanal. 2008. 4 Douglas Lanier. “ Drowning the Book. Prospero ’ s Books and the textual Shakespeare. ” Shakespeare, Theory, and Performance. Ed. James C. Bulman. London und New York, 1996, 203 - 204. 5 Gunnar Decker. “ Multimediale Insel-Soap. Theatertreffen Berlin: München zeigt Shakespeares ‘ Der Sturm ’” . Neues Deutschland, Berlin. 05. 05. 2008. 6 Christina Tilmann. “ Der Rest ist Trubel. Klassik-Klamauk in München: Stefan Pucher verhackstückt Shakespeares ‘ Sturm ’” . Der Tagesspiegel, Berlin. 12. 11. 2007. (All translations in the text, unless otherwise stated, are mine) 7 Peter Hans Göpfert. “ Dieser Sturm is nur ein Stürmchen. Shakespeare-Klassiker aus München eröffnet das Berliner Theatertreffen ” . Berliner Morgenpost, Berlin. 04. 05. 2008. 8 Ines Botzenhard. “ Hand auf ’ n Tiger! ‘ Der Sturm ’ an den Kammerspielen ” In München - Das Programm-Magazin, München. 2007/ 24; Jeanette Neustadt. “ Shakespeare in 2D. Stefan Pucher entfacht einen Fantasie- ‘ Sturm ’ in den Müncher Kammerspiele ” . Die Welt, Berlin. 14. 11. 2007. 9 Sabinde Dultz. “ Prospero ’ s kleiner Horroladen. Shakespeares Leztes Drama: Stefan Pucher inszenierte an den Müncher Kammerspielen ‘ Der Sturm ’” . Müncher Merkur. München, 10. 11. 2007. 10 Jan Kott. Shakespeare, Our Contemporary. Trans. Boleslaw Taborski. London, 1994. 243. 11 Wiliam Shakespeare. The Tempest. Eds. Virginia Mason Vaughan and Alden T. Vaughan. London, 1999. 12 Kott 1994, 245. 13 Christine Dössell. “ Die Möglichkeit einer Insel. Stefan Puchers ‘ Sturm ’ an den Münchner Kammerspielen ” . Süddeutsche Zeitung, München. 10. 11. 2007; Neustadt 10. 11. 2007. 14 Wiliam B. Worthen. Shakespeare and the Authority of Performance. Cambridge, 1997, 36. 15 Worthen 1997, 33. 16 Dennis Kennedy. Foreign Shakespeare: Contemporary Performance. Cambridge, 1993. 5. 17 Dössell 10. 11. 2007. 18 Decker 05. 05. 2008; Cathrin Elss-Seringhaus. “ Raus aus dem Guckkasten. Shakespeare als Punk- und Reality-Theater-Show: Eindrücke vom Berliner Theatertreffen ” . Pfälzischer Merkur. Zweibrücken, 10. 05. 2008. 19 Chapple and Kattenbelt 2006, 12. 20 Quoted in: Petra Hallmayer. “ Hüter der dienenden Bilder. Der Videokünstler Chris Kondek illustriert Shakespeares ‘ Sturm ’ , der heute an den Kammerspielen Premiere hat ” . Süddeutsche Zeitung. München, 08. 11. 2007. 21 Carlson 2009, 185. 22 Carlson 2009, 193. 23 Diana Taylor. The Archive and the Repertoire. Performing Cultural Memory in the Americas. Durham and London, 2003. 2 - 3. 24 Chiel and Kattenbelt 2006, 24. 19 The Stage as a Page and the Stage as a Screen Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! Birte Lipinski Romane auf der Bühne Form und Funktion von Dramatisierungen im deutschsprachigen Gegenwartstheater Forum Modernes Theater, Vol. 43 2014, XII, 466 Seiten, €[D] 78,00 / SFr 97,90 ISBN 978-3-8233-6852-6 Im Gegenwartstheater werden immer mehr Romane auf die Bühne gebracht. Doch was passiert beim Dramatisieren eines Romans für die Bühne? In welchem Verhältnis steht der Ausgangstext zum daraus entstehenden Theaterstück? Unterscheiden sich Romandramatisierungen von anderen Stücken der Gegenwartsdramatik, und wie kommt es zu der wachsenden Zahl solcher Adaptionen seit den 1990er Jahren? Diese Studie ordnet das Phänomen in die gegenwärtige Theaterlandschaft und Dramenproduktion zwischen Literaturtheater und Postdramatik ein. Sie unternimmt in fundierten Analysen eine ausführliche Gegenüberstellung von Romanen und ihren Bühnenfassungen, die in einem Beschreibungsmodell für weitere Untersuchungen von Dramatisierungen mündet. Somit leistet das vorliegende Buch einen wichtigen Beitrag zur Gattungstheorie, zu einer transgenerischen Erzähltheorie und zu einer historisch fundierten Intertextualitätsforschung. 20 Aneta Mancewicz Re-enacting a scrutinised past at the Antwerp world exhibition of 1894 Stijn Bussels (Leiden) & Bram Van Oostveldt (Leiden/ Amsterdam) We must know the right time to forget as well as the right time to remember; and instinctively see when it is necessary to feel historically, and when unhistorically. Nietzsche On the Use and Abuse of History for Life, 3 On 5 May 1894, Leopold II inaugurated the second world exhibition in Antwerp. He entered the grounds through a most impressive entrance which exposed the fin-desiècle taste for grandeur and glamour (Plate 1). 1 This atmosphere persisted throughout the exhibition, certainly in the huge halls which covered 85 000 m², where more than 2,000 entrepreneurs and numerous nations presented diverse glories of modernity in the arts and sciences. With such impressive numbers, the Belgian newspapers emphasised that the exhibition did not have to stand in the shadows of its direct precursors in Paris (1889) and Chicago (1893). 2 The rationale of this statement was not only founded on the exhibition halls. Most journalists presented Old Antwerp (Oud-Antwerpen), a reconstruction of a sixteenth-century city quarter, as the true pearl of the exhibition. 3 In Old Antwerp, many historical buildings (such as the Kipdorp Gate, Plate 2) were meticulously rebuilt, the exteriors as well as the interiors. Only few years before, several of these buildings had been demolished in the course of the modernisation of the city. 4 The reconstruction was no end in itself. It functioned, rather, as a most exquisite setting to stage divergent re-enactments, from everyday events, such as the activities in a barbershop (Plate 3), through open-air theatre and puppet shows to tournaments, processions, and ceremonial entries. Time and again, the organisers and journalists presented Old Antwerp as a locus of nostalgia, the ideal place to retreat after all overwhelming novelties had been viewed. An anonymous Dutch guide, Views of the Antwerp World Exhibition, writes: “ A sixteenth-century city view in the middle of the jumble of a World Exhibition Anno Di. 1894! Already this contrast gives you a sense of well-being ” . 5 Most recent studies thus define Old Antwerp as the antithesis of modernity and a place of escapism. 6 More general research on the world exhibitions underlines a similar anti- Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 21 - 42. Gunter Narr Verlag Tübingen Plate 1: “ The King of the Belgians came over from Brussels, with all the Royal Family, specially to open the Exhibition, Antwerp keeping holiday for the occasion; Flags and crowds filled the streets as the Royal procession drove in State to the principal entrance under the dome ” (Text and picture in: The Graphic, 12 th May 1894, p. 563). thesis. For instance, in Ephemeral Vistas, Paul Greenhalgh writes that, in the world exhibitions in Europe, ‘ an intention from 1851 onwards had been to suspend the harshness of reality. Up to 1880, this had been brought into effect through the promises of material progress for all. The visitor was encouraged to dream of an imminent better life. Towards the turn of the new century however, the exhibitions sought to escape reality not so much through the myth of progress as through the creation of a fantasy land ’ . 7 However, Old Antwerp cannot be defined as a pure fantasy land to escape finde-siècle reality, for most journalists also saw the reconstruction of the renaissance quarter and its diverse re-enactments precisely as a triumph of modernity. In this article, we will use the term ‘ modernity ’ in a narrow sense as a midand late nineteenth-century phenomenon in which the idea of scientific and social progress had an important place. Old Antwerp was deemed as only possible thanks to this modernity. Most particularly, modern historical accuracy was presented as unparalleled. The Ghent newspaper Le Bien Public wrote about Old Antwerp: ‘ Nothing clashes in this picture, in which all nuances are rendered with an infinite tact, where the historical exactitude is well observed ’ . 8 Modern historical accuracy was praised; in the same breath, it was linked with art ’ s ability to hide its own artificiality, since the conviction was very often expressed that the craftsmanship of Old Antwerp — Le Bien Public speaks of “ le génie de quelques artistes ” — presented an accumulation of precise details that overwhelmed the viewers. They had to forget they were seeing reconstructions and actors, and believe that they were indeed witnessing a genuine past. Le Bien Public wrote that, even if Charles V had been Plate 2: Exterior of the Kipdorp Gate with a view on the Kapellenstraet, in: Max Rooses, De wijk Oud- Antwerpen in de wereldtentoonstelling van 1894, Antwerpen 1894, pp. 14 - 15. Plate 3: The barbershop in the Borsestraet, in: Max Rooses, De wijk Oud-Antwerpen in de wereldtentoonstelling van 1894, Antwerpen 1894, p. 44 - 45. 22 Stijn Bussels / Bram Van Oostveldt brought back to life and arrived in the quarter, he would not be surprised, since no anachronism could be noticed. However, the concealment of artificiality could not be completely overpowering, since the nineteenth-century viewers still had to be able to take the historical accuracy into account and laud the modern builders and performers. Ending its description of Old Antwerp, Le Bien Public emphasised that the quarter was ‘ a reconstitution of the past, admirably conceived ’ . 9 We will argue that the nineteenth-century authors dealing with Old Antwerp paradoxically urged the visitors to go along with the belief in the re-animation of an old city quarter, but also presented to these visitors Old Antwerp as an impressive sample of the new possibilities which the advancement of modern historical sciences had brought into being. To clarify what was expected of the beholder, we will use the concept of ‘ divided consciousness ’ . This concept originates in the field of psychology. In his Divided Consciousness: Multiple Controls in Human Thought and Action (New York 1977), Ernest Hilgard focused on the working of hypnosis. He pointed out that a central regulatory mechanism dominates our consciousness. However, one of the many subsystems (habits, attitudes, interests, abilities, etc.) can interact with this. The media historian Tom Gunning appropriated this term to discuss the impact of early nineteenth-century phantasmagorias. 10 Gunning pointed to the fact that the beholder of these phantasmagorias was conscious of the modern technique, but was also overwhelmed by the assumed presence of monsters or dead people. This way of seeing is, of course, not only restricted to nineteenth-century spectacle alone, but is essential to all forms of illusionist spectacles, and marks their theatricality as an interplay between enchantment, on the one hand, and media reflection, on the other. 11 Similarly, the visitors to Old Antwerp were urged to make themselves believe that they were witnessing Renaissance life in full. Paradoxically, they were also expected to be impressed by the modernity of the reconstruction and its re-enactments. We will use this concept of divided consciousness, and with it, show that the belief in witnessing the past and admiring modernity cannot be divided as such. Authors writing about Old Antwerp say that they were confused by the urge to become part of the Renaissance quarter, on the one hand, and their own nineteenth-century consciousness on the other. Their experience of Old Antwerp was defined by a feeling of being constantly thrown back and forth. At first, the past appeared to overtake most of the visitors by surprise. But very soon modern awareness brought them back to nineteenth-century reality. A critical eye tested the historical correctness of the quarter. Whereas travel guides and articles acknowledged the inevitability of this modern gaze, they nevertheless urged the beholder to go back to the primal experience of being plunged into the past. We will clarify that this divided consciousness was far from self-evident, nor was it harmonic in nature. It was (and is) not easy to find a balance in the experience of both past and present. We will discuss how, in Old Antwerp, the consciousness of living in the nineteenth century could hinder the illusion of witnessing the sixteenth century. Moreover, we will also discuss how the organisers of Old Antwerp refrained from re-enacting certain historical events meticulously, since they evaluated them as being too inappropriate for their own time. The balance between past and present was clearly questioned where nudity was concerned. It was a clear instance of where the consciousness of the present prevented a plunge into the past. The divided consciousness and the problems and discussions it entailed will be put 23 Re-enacting a scrutinised past into context by relating them to other late nineteenth-century media that represented the Renaissance. To this end, we will look at The Entry of Charles V into Antwerp in 1520 of the Viennese painter Hans Makart, that was put on display in Brussels in 1880 and launched a discussion on the relation between the need for historical accuracy and modern appropriateness. Next, we will relate Old Antwerp to the Maria Stuart production by the Meininger company that toured in Antwerp and Brussels in 1888. This production, with its minute historical research, made a strong and lasting impression on the cultural climate from which Old Antwerp arose. Finally, by relating Old Antwerp to Nietzsche ’ s Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1873), we will question whether this ‘ antiquarian ’ dealing with the past is indeed a ‘ malady of history ’ that immobilizes modern man, as Nietzsche suggests. To sum up, in this essay it is our aim to show that, at the end of the nineteenth century, the past was scrutinised to create a diverse range of spectacles that urged the onlooker not only to be an eyewitness to events long gone, but also urged him to admire the inherent modernity and even imagine his future. Michelet meets Ranke To define Old Antwerp ’ s modernity as a consequence of modern historiography, we should first have a look at nineteenth-century historiography and its position within the Belgian academic milieu. In the nineteenth century, historiography needs to be understood in a broad sense. It did not restrict itself to academic articles and books alone, but was also concerned with novels, drama, painting, sculpture, and spectacle. In The Spectacular Past, Maurice Samuels shows how, already at the beginning of the century, the romantic ekphrastic historiography of the French historian Jules Michelet, to give one example, acted, along with diverse shows — wax displays, phantasmagorias, panoramas, and dioramas — to enliven history. 12 Since history was an important instrument in the imagination and creation of nationhood, its spectacular expressions and its ideal of rendering history present continued to fulfill this function throughout the nineteenth century. Since Belgian independence in 1830, Belgian historians had been inspired by this French romantic historiographic tradition with its emphasis on visual power as an ideal means of evoking the ‘ centuries-old urge for independence ’ , and thus to legitimize the new state. 13 The reader of the historical essays and novels with their long evocative descriptions, but certainly also the spectator of historical drama, spectacle, and art works, had to go along with the fiction by letting themselves be plunged in the past. Consequently, the Belgian readers and spectators could experience the highlights of their national history as a rightful claim for the nation ’ s independence and existence. 14 In the last quarter of the nineteenth century, this romantic historiographic tradition in the Belgian academic world, as well as in popular media, underwent a change towards a more professional attitude. This change was clearly marked by the successes of the German historicist school and its attempt to reconstruct the past wie es gewesen. 15 A crucial role was played by the Liège professor of medieval history, Godefroid Kurth (1847 - 1916). 16 After studying with Leopold von Ranke and Georg Voigt in Leipzig and Gustav Droysen in Berlin, he advocated in Belgian academic circles a meticulous use of source material to attempt a more ‘ objective ’ reconstruction of the past. The urge for historical accuracy and objectivity led not only to an increasing professionalization within Belgian historio- 24 Stijn Bussels / Bram Van Oostveldt graphy, it also started to mark grand and official spectacles of history. There was a close connection between Belgian historical scholarship and the organisation of such events. The Ghent professor of medieval history, Paul Fredericq (1850 - 1920), is exemplary for this connection. 17 In 1876, the young Fredericq organised a historical parade in commemoration of the 300 th anniversary of the Ghent Pacification. 18 Fredericq, who was a life-long friend of Kurth ’ s 19 , adopted his principals of historical accuracy and the meticulous study of source material as the starting point for the historical reconstructions for commemorative festivities. In the historical reconstruction of the Pacification parade — carefully written down and documented in a festive album 20 — Fredericq ’ s former teacher and mentor Max Rooses (1839 - 1914) was involved, as a member of the advisory Committee of Art and History. 21 Rooses would later become the chief organiser of Old Antwerp, but already in 1892 he applied the same principles as Fredericq for his re-enactment of the entry parade of a famous competition of the Chambers of Rhetoric, the Antwerp Landjuweel of 1561. Both the Pacification parade and the Landjuweel parade show a clear historiographical innovation. Previous parades staged highlights from different periods of national history. 22 Now, one historical event was chosen and re-enacted as accurately as possible. The re-enactment of the Landjuweel parade was only a starting point for Rooses. He wanted to make re-enactments even more effectual by erecting a complete setting for them. The plan to create Old Antwerp as a historically accurate environment, in which the past would be made present, was born. Rooses, together with his chief designer, the painter and academy teacher Frans Van Kuyck, carefully saw to it that the plans of the quarter were drawn according to historically authentic examples. 23 Rooses writes in the official catalogue, The Quarter of Old Antwerp (De wijk Oud-Antwerpen), that, with this attempt, he and the other organisers wanted ‘ to re-awaken the celebratory Antwerp of the sixteenth century, assured that the extraordinary lustre of their feasts and the picturesque environment in which these were celebrated would have a powerful appeal to the visitors of the Exhibition of 1894 ’ . 24 The reconstruction of Old Antwerp was a thing quite unseen before. At previous World Exhibitions, there had already been historical quarters. At the Paris World Exhibition of 1889, the exterior of the Bastille was rebuilt 25 and at the Chicago Columbian Fair of 1893, a sixteenth-century street from Old Vienna was recreated. 26 Also, old interiors had been imitated before, such as the seventeenth-century Dutch interior shown at the Amsterdam World Exhibition of 1883. 27 This corresponds closely with the rise of socalled ‘ period rooms ’ in late nineteenthcentury museums, where the impression was created that one could step into a room unaffected by previous or later eras. 28 However, the combination of inand outside reconstruction, the accuracy of it, and the large scale were new. This rebirth was not, in itself, the goal. What struck most visitors to Old Antwerp as the most alluring novelty was the performance of its burghers. Carefully dressed in historical costumes, the inhabitants of the quarter re-enacted sixteenth-century life as well as possible. They were generally seen as the driving force to make visitors believe they were in a genuine past. 29 For instance, Le Bien Public acclaimed: ‘ The illusion is completed by the life which dominates everywhere in the fantastic city one has before oneself! ’ 30 The actors were mostly retailers, but also several of the organisers of Old Antwerp, such as Rooses himself, Van Kuyck, and prominent Antwerp residents and industrials were involved. During the six months 25 Re-enacting a scrutinised past of the exhibition, they plunged themselves into late sixteenth-century city life. Old Antwerp had its own city government, with a mayor and its own city guards. In line with the fact that Antwerp was the birthplace of the first newspaper, even an Old Antwerp newspaper appeared, written in pseudo-Old Flemish. It not only reported the news from within Old Antwerp, but also ‘ informed ’ the inhabitants of Old Antwerp about what was happening in New Antwerp, accentuating the differences between the two. As such, Old Antwerp became a foreign country lying in the past, where ‘ they do things differently ’ . Thanks to modern historiography, however, this foreign past could be visited. The position of re-enactments such as Old Antwerp within late nineteenth-century innovations of historiography is of particular interest, since it anticipates the birth of modern theatre studies, as traced by the German scholar Max Herrmann. The interest in re-enactments of spectacle, together with re-enactments of theatre plays, corresponds to Herrmann ’ s choice not to restrict the new discipline to dramatic theatre alone, but also to pay attention to diverse forms of spectacle. Only then could the performance culture of a certain period be fully understood and ultimately brought to life. Therefore, in the new discipline of theatre studies, historical ceremonial entries, for example, received much attention. Decades earlier, this had already been evident in the case of Old Antwerp. Moreover, in the new discipline of theatre studies, visual enlivenment and Rankean accuracy were also being used as combined forces. In his major work The History of German Theatre (Forschungen zur Deutschen Theatergeschichte) of 1914, Herrmann writes: ‘ We set ourselves the task of making a theatrical performance of the past live again in such detail that, if the financial means were made available, one could indeed present it to a modern audience without fear of provoking offence ’ . 31 Here, ‘ offence ’ has to be understood as ‘ historical inaccuracy ’ . To avoid this, Herrmann developed a scientific method for the modern theatre historian. The main purpose of the new critical approach was to reconstruct historical performances precisely as they were once performed. A similar purpose can be retraced already two decades earlier in the Old Antwerp project, albeit with the difference that the Antwerp project aimed at educational entertainment, whereas Herrmann wanted to develop a new academic field of research. How to Experience the Past? Many journalists dealing with Old Antwerp discuss the success of the plunge into the past by relating it to the organisers ’ scrupulous art and its hidden artificiality. In an article in the Gazette van Gent this is expressed as follows: Old Antwerp is a wonderful resurgence of the old and picturesque city. There the visitor will find himself among the façades of three centuries ago. (. . .) How well has that wizard Geefs [next to Van Kuyck, the chief designer of the quarter] created picturesque corners! What picturesque light and dark! What an accuracy in the details of the wood and stone façades! What a harmonious fantasy in the ordering of the parts and the whole! One has to be deeply affected by the period ’ s soul to be able to render everything so truly. 32 Here, we can place our concept of divided consciousness within the perspective of the journalist reflecting on the quarter. On the one hand, the journalist speaks of its ‘ resurgence ’ (herleving) as ‘ true ’ (waar). On the other, he praises the creators of Old Antwerp for their craftsmanship, which shows ‘ accuracy ’ (nauwkeurigheid) and ‘ harmony ’ (harmonie). 26 Stijn Bussels / Bram Van Oostveldt By contrast, in his retrospective AView of Old Antwerp, the Flemish writer Pol De Mont relates the awareness of experiencing both past and present to the beholder visiting Old Antwerp. He even gives the visitor the primary responsibility for creating the belief in the animation of the past. Following De Mont, this inevitably goes along with the consciousness of the present. However, he sees this combination as problematic, as he emphasises that the consciousness of one ’ s own time hinders the overwhelming effect of Old Antwerp. De Mont describes how he himself as a visitor was, time and again, torn between being the critical beholder evaluating modern historiography by trying to find anachronistic negligence, and desire for total self-renunciation of being that critical beholder. De Mont emphasises that entering the quarter creates the impression that ‘ from the cosmopolitan present one is taken back to a world of primitive simplicity all of a sudden as if by magic ’ . 33 However, directly afterwards, he quotes Goethe, saying that art is a beautiful lie which beguilingly imitates the truth. According to De Mont, this deception completely typifies Old Antwerp: ‘ Yet here everything — as surprisingly plausible, and natural, and authentic as it may be — is as false and deceitful in its material realization as in its systematically planned design ’ . 34 At the first moment, Old Antwerp completely convinces the beholder, who can believe he is actually sojourning in a Renaissance quarter. However, shortly afterwards, the fin-de-siècle viewers find it hard to lose themselves completely in the past. According to De Mont, modern man wants to get hold of the magic by deconstructing it and thus rationally understanding it. The late nineteenth-century beholder started concentrating on how this wonder was created, looking for imperfections, such as the façades painted too brightly to look truly authentic. So here we see that Rankean historicism was not only a driving force for creating Old Antwerp. Historicism was also the attitude the visitor used to evaluate it. Whereas the meticulousness of the creators encouraged the imaginations of the visitors, the visitor ’ s own meticulousness threatened to destroy the effect of Old Antwerp. The representational aspect of the reconstruction and its re-enactments was considered all too closely. To avoid the dominance of the critical gaze, De Mont exhorts visitors to Old Antwerp to put aside all their legitimate, yet impeding doubts: ‘ Renounce your modern doubtfulness and your historical knowledge when you enter this ground (. . .). To enjoy fully what this unique “ creation ” has to offer, one has — using the words of Hugo — admirer comme une brute, or even to look at it as a cow does the beautiful sun going down in purple and gold ’ . 35 Thus, De Mont points to an awareness of the beholder which we could relate to the concept of divided consciousness. However, he does not see this awareness as self-evident and harmonious. De Mont emphasises that the late nineteenth-century visitors to Old Antwerp are involved in an inner conflict. On the one hand, they want to imagine themselves as being in the fiction of the reconstruction and its re-enactments, and to believe they are experiencing genuine events directly from the past. Who would not want to make an effort to be an eye-witness of Renaissance Antwerp? However, on the other hand, there inevitably is also modern doubt and suspicion. The finde-siècle beholders found it hard to completely surrender their disbelief. Being immersed within the image space of Old Antwerp, they could not help but question the observations by which the illusion of experiencing a genuine past turns into a reflection on the mediality of historical reconstructions. As detailed as the reconstructions might be built, and as fine as the re-enactments might be performed, modern man puts everything to the test, again and again, to find anomalies. 27 Re-enacting a scrutinised past Charles ’ Ceremonial Entry The fin-de-siècle beholders not only felt the urge to find anomalies, as De Mont described. They could also be shocked by those visualisations that called up the past too bluntly. Thus, besides modern man ’ s problems with too little historical accuracy, there were also problems with too much historical accuracy. To clarify this position, we will concentrate on the discussion of whether the need for historical accuracy in the representation of the past was enough of a justification to show nude or semi-nude bodies. This brings us to one of the most praised results of Old Antwerp, the re-enactment of the ceremonial entry of Charles V into Antwerp in 1520 (Plate 4). The sixteenthcentury artist Albrecht Dürer witnessed the original entry and expressed his enthusiasm in a conversation with the humanist scholar Philipp Melanchthon: Amongst the actors on the stages stood the most beautiful and charming maidens. They were almost totally nude, only covered with a thin veil. The emperor entering the city and arriving at the place of the stages did not pay attention to the maidens (. . .). However, I have to add that I myself was very willing to go closer to them. I wanted to discern what precisely was taking place and I wanted to properly consider the perfection of the beautiful maidens, declaring that I, as a painter, examined them with a fair amount of modesty. 36 This comment was published in full length in Rooses ’ The Quarter of Old Antwerp. There, Dürer was put forward as a privileged historical witness to the 1520 event. 37 However, Rankean rigour forced Rooses to say that there were not enough primary sources to reconstruct the 1520 parade as such. Therefore, a pastiche had to be made by joining together descriptions of other Renaissance parades in the Netherlands. 38 One can wonder why the organisers chose to reconstruct a parade so poorly documented and why they did not focus, for instance, on the much better documented Antwerp entry of Charles V in 1549. 39 The answer might be found in the fact that the 1520 entry had become part of the late nineteenth-century image repertoire, thanks to a painting by the Viennese painter Hans Makart of 1878 (Plate 5). This tableau was internationally celebrated as a triumph of historical painting, thanks to its magnificent display of colour and its excellent drawing, but certainly also because the artist achieved perfectly the visualisation of what Dürer was supposed to have seen. Makart ’ s masterpiece travelled throughout Europe. In 1880, it was on display in Belgium. Here, we will focus on a Brussels notice (booklet) by an anonymous author (most probably used as a guide to visit the painting) to reconstruct how far the painting can be related to modern problems with too much historical accuracy. At the very start of the Brussels notice, the author introduces his elaborate description of the paining as follows: ‘ Let us look at the way Makart has understood and executed the subject taken from Dürer ’ s account ’ . 40 Thus, the primary source is explicitly called upon to legitimate the work of art. Historical accuracy is once again put forward as an important parameter to evaluate a representation of a sixteenth-century event. However, this precision is not unanimously lauded, for the author of the notice refers to critics of Makart ’ s painting. They objected to the ‘ scandalous ’ nudity of the girls preceding Charles. According to Makart ’ s critics, these girls draw too much attention, pushing the young emperor into the background. But there were also defenders of Makart ’ s painting, such as the author of the Brussels notice. He relies on Dürer ’ s comment quoted above, and does not agree with the preponderance of modern sensitivity, but gives 28 Stijn Bussels / Bram Van Oostveldt Plate 4: The Entry of Charles V into Antwerp in 1520, in: Max Rooses, De wijk Oud-Antwerpen in de wereldtentoonstelling van 1894, Antwerpen 1894, title page. 29 Re-enacting a scrutinised past precedence to historical accuracy. Just as Rooses did, the anonymous author also publishes Dürer ’ s passage on the 1520 entry literally. He continues as follows: ‘ Could Makart find a more seductive subject for his artistic temperament? Preferring to paint the female nude, he has occasion here to push his art to the utmost limit. And what setting better fits the artist ’ s intentions than the brilliant and sumptuous life in the Flemish cities of the sixteenth century? ’ 41 The Brussels notice thus uses two related arguments to laud Makart ’ s painting. Next to the artistic genius, there is also the artist ’ s historical accuracy. The latter is presented as more important than modern sensitivity. The parade in Old Antwerp can be linked with Makart ’ s painting and modern man ’ s problem with too much historical accuracy. 42 We can start with the depiction of the 1894 re-enactment by Van Kuyck, which was used for the cover of Rooses ’ The Quarter of Old Antwerp (Plate 4). As in Makart ’ s work, in Van Kuyck ’ s picture girls hold a most prominent place. Moreover, in both depictions Charles is represented as literally and figuratively superior to everybody. Just as Dürer described, the young emperor is not looking at the abundance of feminine charm. However, compared with Makart, Van Kuyck gave far more attention to the architectural setting of the parade, thus showing how the re-enactment was improved owing to the detailed reconstruction of the Renaissance quarter. Another difference is even more revealing. In contrast to Makart, Van Kuyck represents the girls as fully dressed. Although the organisers of Old Antwerp went to extremes to attain as much historical accuracy as possible, the pictures reveal a clear distance from the past. It is striking to read, in Rooses ’ book, the detailed account by Dürer, full of admiration for the maidens ’ almost nude appearance, and then to see the front page of that same book, where the female bodies are conspicuously wrapped up in a manner reminiscent of the famous Art Nouveau draperies in the posters of Alphonse Mucha. 43 The viewer is not even permitted to Plate 5: Hans Makart, The Antwerp Entry of Charles V into Antwerp in 1520, 1878, oil on canvas, 520 x 952 cm, bkp, Hamburger Kunsthalle, Elke Walford, Inventar-Nr. 1515. 30 Stijn Bussels / Bram Van Oostveldt see a décolleté dress, let alone the transparent veils of Dürer ’ s description. Nineteenth-century morals prevail over the nineteenthcentury urge for accurate re-enactment. A complete historical re-enactment was deemed improper, as it would contradict bourgeois etiquette. On this crucial point, one had to admit that the hands of the clock could not be turned back without difficulty. Certainly, a step back into the past was deemed a clear example of historiographical skill, but it was not to harm the many other successes of contemporary time, certainly not the generally assumed progress in the field of social decorum. Thanks to a retrospect on Old Antwerp by the journalist August Monet, we can see that not only Van Kuyck ’ s picture reveals prudishness; the re-enactment itself must have done so, too. Monet even explicitly makes a comparison between the 1894 re-enactment and Makart ’ s painting. He protests against the predominant discourse of prudery and regrets that the organisers did not follow Makart ’ s example: ‘ Even if it were only the three Antwerp graces on the Viennese painting, sauntering in gold-blond, dew-fresh nudity, as if competing for the golden apple of the youthful Paris, — in much the same way that they must once have been seen in reality ’ . 44 Monet sees the very foundation of Old Antwerp trampled on. He is disappointed that the historically accurate display of worldly beauty is defeated by social mores. Despite some (ironical) comments such as Monet ’ s, social mores and the nineteenth-century attitude towards public nudity was decisive for sustaining the illusion of reality. It was not only unthinkable that in this re-enactment young Antwerp girls would perform almost nude to achieve historical exactitude. Their nudity would, in fact, only have destroyed the theatrical illusion, taking away the attention from their persona as young girls dancing to welcome Charles V and directing it towards their bodies. 45 Meininger ’ s Maria Stuart In this antithesis of modern sensitivity and taste versus Rankean accuracy, it is interesting to look at the productions of Duke George II of Saxe-Meiningen, leader of the famous Meininger company. In several reviews of their performances, a difference was made between the terms Meiningertum and Meiningerei. Meiningertum was related to the company. It was believed to excel in reenactment defined by thorough historical research. By contrast, Meiningerei goes no further than mere sensuous display of the past. In his monograph on the Meininger company, John Osborne mentions that several critics saw Makart ’ s Entry of Charles V as part of the latter group. 46 Following the reviews, a middle course had to be found between past and present. A meticulous representation of the past was absolutely necessary, but the visualisation of the past could not be exploited only as a reason to show subjects in a way not acceptable to contemporary ideas of decorum. A fine example of the Duke ’ s Meiningertum is the production of Schiller ’ s Maria Stuart. With its 89 performances during the European tours, it was one of his international successes. In 1888, the play was performed three times in Antwerp and four times in Brussels, and was considered a major success. 47 In the Antwerp art journal The Flemish School (De Vlaamsche school), Pol de Mont expressed his enthusiasm for Maria Stuart: ‘ Never before, in whatever city I had visited a theatre house, had I been able to satisfy my eye with such a wealth of decorations and costumes ’ . 48 And even a decennium later, the Flemish theatre critic Rudelsheim still referred to this performance as a clear example of how to stage historical plays. 49 In the reviews of the Maria Stuart production, most journalists explicitly mentioned how the Duke ’ s prominent assistant, 31 Re-enacting a scrutinised past Ludwig Chronegk, did his utmost best to obtain as much historical information as possible. A preliminary review in the Antwerp newspaper Le Précurseur, for example, said that research lasting several weeks had been carried out in London by Chronegk and scholars of the British Museum. 50 They received special admittance to the secret archives. There, they found a previously unknown plan of the castle of Fotheringhay in which Mary Stuart was imprisoned and executed. Moreover, they discovered the text of a sixteenth-century song they thought had been sung during the execution. 51 It was a true Rankean delight to find such new historical sources. Moreover, both sources were eagerly used for the actual Meininger production. Despite this meticulous research, the Meininger company were regularly accused of displaying a purely outward show. The charge of Meiningerei was levelled against them at such times. Even the Meininger were repeatedly seen as being unable to escape making mistakes, against the difficult background of the relationship between re-enacting history as accurately as possible and satisfying nineteenth-century taste. Here, the accusations did not so much concentrate on too much explicit bodily display, as in Makart ’ s painting, but on modern dramatic conventions. Repeatedly the criticism could be heard that too much luxury was displayed; most often the second act was attacked for this. There, the English court was shown in all its glory welcoming a French envoy. 52 Critics argued that the display of opulent luxury at the English court diverted attention away from the dramatic action of Schiller ’ s play. In the Antwerp art journal, De Vlaamsche Kunstbode, this criticism was explicitly discussed, but also countered. There, writer and theatre critic Edward Van Bergen wrote a passionate article on the ten productions which the Meininger showed on the Antwerp stage in April 1888. Van Bergen was most enthusiastic about Maria Stuart, which he describes as ‘ the play of which we preserve the best memories and which has affected us the most profoundly ’ . 53 He mentions the criticism of the scene where the French are welcomed, but in the same breath he defends it with arguments which the Meininger themselves had put forward: It gave the occasion to display much glamour and riches in costumes and scenery and nothing was spared. Worth mentioning is especially the second act, the reception of the French ambassador at the English court. There, the customary ceremonies are shown in their smallest details. Some find that the Meininger have gone too far in their theatre setting. However, their own answer was, first, that it is historically accurate, and second, that by doing so the simplicity and the desolation of Maria ’ s situation could be placed all the better in the foreground, and the interest in her become far greater. 54 The dividing line between an approved and a tasteless visualisation of history was narrow when it came to the re-enactment of past events. 55 Some contemporaries thought that the Meininger company crossed that line in Maria Stuart. The Meininger company themselves maintained that this was not the case, since the production was historically and dramatically accurate, even the much-criticised second act. The Antwerp theatre critic Van Bergen agreed with the German theatre company. In his general considerations, he repeats the historical and dramatic excellence of the famous court theatre: ‘ The performances of the Meininger can be seen as practical lessons for the people, which initiate them into the mores, customs, dresses of the different periods in time, and which acquaint them with time, place, and action ’ . 56 32 Stijn Bussels / Bram Van Oostveldt Salutary Immersion We have referred to other late nineteenthcentury visualisations of the Renaissance to show that Old Antwerp was no isolated experiment in using historical accuracy in an attempt to revive the past and stage it in front of the beholder ’ s eye, and to clarify that these experiments were certainly not always deemed unproblematical. However, the reenactment of Old Antwerp also differed from many other late nineteenth-century historiographical experiments. Whereas in the painting by Makart and in the theatre performance by the Meininger company the spectator was excluded from the representation, in Old Antwerp the audience was part of the representational space. The reconstruction drew on a strategy of immersion, in which the viewers transgressed the borders between reality and representation by becoming part of the representation and thus writing, each one, their own ‘ scenario ’ . 57 Immersion enforces a divided consciousness, since the historiographical achievements of one ’ s own time could be admired all the more, along with the make-believe of being taken back in time. As the visitors were able to walk in Old Antwerp, talk with sixteenthcentury burghers, and even drink and eat in Renaissance taverns, they could thoroughly test the accuracy of the reconstruction and its re-enactments, but were paradoxically urged to let themselves be overwhelmed by all evident vividness of the past. Whereas the ambiguity of bringing together past and present was certainly seen as an essential characteristic of the experience of Old Antwerp, the effect of this media reflection was often minimalised. We already saw how Pol de Mont stated that, in Old Antwerp, a critical evaluation is inevitable. However, we also saw that de Mont urges the visitor ultimately to let himor herself be overwhelmed by the past. The visitor has to ‘ renounce his modern doubtfulness and his historical knowledge ’ to be totally immersed in Old Antwerp. This was because, first and foremost, only then could the visitor experience the beneficial effect of the past: I cannot better express the impression which — so to speak — seizes the visitor to Old Antwerp, than to say that the air of fairy-tales blows in his face from the moment when he is taken by the past. And his lungs are filled with the fresh and youthful, no, refreshing and rejuvenating, invigorating and purifying air of fairy-tales, an air which is filled with the strongest aromas of an uncorrupted national past. Even the most doubtful son of this finde-siècle feels powerfully that the ideal bond which joins the present with the past, is braided with the best and noblest elements in us. 58 After being immersed in Antwerp ’ s past, the late nineteenth-century visitor could leave the quarter, returning to his own time completely purified. This catharsis was possible owing to a special contact with the past. Old Antwerp regenerated, since it brought back an undistorted past that showed an exemplary society. Being totally gripped by that society made it possible to call on its most righteous characteristics as a cure for one ’ s own fin-de-siècle. Thus, re-enactment not only strengthened the bonds with an idealized past, it was believed, in particular, to reshape modern society for a better future. Amidst the World Exhibition and its ideology of progress, the continuity between past and present seemed not to be endangered. The hopes for a future grounded in tradition ran high. Following this line of thought, the rest of this article will look at late nineteenth-century ideas concerning the relation between reenacting the past and defining the future. Performing the past to fashion future society was not typically fin-de-siècle. We have already indicated that, in the decades directly 33 Re-enacting a scrutinised past following Belgian independence, historical novels, paintings, theatre plays and performances, parades, and other spectacles were used to form and propagate the new national identity. In the words of Tom Verschaffel, these re-enactments ‘ aimed at convincing the viewer of the continuity between past and present, and of the personal alliance with the national history and with the nation itself ’ . 59 However, in contrast to the decades following 1830, Old Antwerp was not so much concerned with the construction of a new Belgian identity. 60 Antwerp ’ s identity was re-enforced. De Mont, among others, reported that nothing that referred to the period after 1585 could be seen in Old Antwerp. 61 The Fall of Antwerp and the resulting loss of economic and financial importance were entirely left out. Only Antwerp ’ s heyday was brought to life. Bringing back the first, legendary bloom of the city accentuated its contemporary bloom, and certainly a bright future. Thanks to the many colonial activities, the port flourished once again and was even believed to be able to emulate its sixteenth-century wealth. It was auspicious that Antwerp could create such a magnificent reconstruction and could abundantly re-enact the rich moments from its past. 62 The divided consciousness that went along with the re-enactment and at the same time evaluated that re-enactment paid off precisely because the city thus showed its prospective capacities. No less a personage than King Leopold II emphasised that the beholders of Old Antwerp could look at the re-enactments and their setting as living evidence for the famous past, and as a commendable nineteenthcentury achievement, but also as a promising prospect for a thriving future. When Leopold II was officially welcomed in the quarter, he proclaimed in Flemish: ‘ The Queen and I, we are happy to set foot in Old Antwerp. It bears witness to your past glory. It tells in an eloquent manner that your artists of the present are worthy of the glorious past. The future is yours ’ . 63 It is telling that the king ’ s speech was in Flemish. The king seldom spoke the language. By speaking Flemish, Leopold II went along with the fiction of being in a genuine Renaissance quarter of Antwerp. The re-enactment was only complete if the burghers talked in their own, genuine language. Therefore, a pseudo- Old Flemish (a combination of sixteenthcentury words and nineteenth-century Flemish) was used. However, there was also a modern political agenda behind this re-enactment of sixteenth-century language. ‘ Being a leader of the Flemish Movement ’ , Hans Vandevoorde writes, organiser Max Rooses ’ ‘ nationalist motives undoubtedly came into play ’ . 64 Old Antwerp was a Flemish-speaking bastion which had to make evident to all visitors what the true language of Flanders was. This could also be seen in the Flemish nationalist journal De Vlaamsche Wacht, which praised the ‘ far-reaching and affecting ’ impression Old Antwerp made, and how it would ‘ be so beneficial for the future of our Flemish national life, yes, for our Flemish national struggle ’ . 65 Use and Abuse of History The idea that the re-enactment of the past might serve as an invigoration for the future was not shared by everyone. When plans were made to rebuild Old Antwerp for the Antwerp World Exhibition of 1930, the avant-garde writer Victor Brunclair vehemently dismissed the quarter as a ‘ senile dream ’ that was exemplary for the retrogressive attitude of the average inhabitant of Antwerp, who ‘ eschews the future and fondles the past like a dead bride ’ . 66 But we do not have to wait for the interbellum period to hear utterances that modern society is satu- 34 Stijn Bussels / Bram Van Oostveldt rated with reconstructions and re-enactments. Already in 1873, Nietzsche criticized, in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, the modern taste for the past and for history. As what is understood as a direct attack on Rankean historicism, but also on the craving for representing long-gone times in the arts and architecture, Nietzsche characterized the nineteenth-century passion for the past as a ‘ malady of history ’ . 67 Nietzsche discerns three ways in which a culture can use history: a monumental, an antiquarian, and a critical way. The first supplies the ‘ man of action and power (. . .) (with) role models, teachers, and comforters ” and inspires him to perform actions that are truly great. 68 The critical way gives ‘ man the strength to break up the past ’ . It urges man ‘ to the bar of judgment, interrogate it remorselessly, and finally condemn it ’ . 69 The antiquarian way reflects the conservative and reverend man who tenderly honours the past from where he comes, where he was educated, and to which he belongs. His main concern is to conserve those conditions that made his identity and to safeguard them for the future. As such, the small, but very concrete and almost tangible elements of the past become his main focus. Nietzsche describes the antiquarian veneration for the past in a manner that strikingly resembles the praises of Old Antwerp: The history of his [the man of conservative and reverent nature] town becomes the history of himself; he looks at the walls, the turreted gate, the town council, the fair, as an illustrated diary of his youth, and sees himself in it all — his strength, industry, desire, reason, faults and follies (. . .). He greets the soul of his people from afar as his own, across the dim and troubled centuries. 70 As an antidote to the contemporary and restless cosmopolitan desire for the new, the antiquarian model stresses the fact that modern man is firmly rooted in the past. In stimulating and constantly feeding the ‘ historical consciousness ’ , the antiquarian model can build up a front against modernity. However, according to Nietzsche, what is seen as a cure for the problems of modern alienation, in fact reinforces that problem and threatens to suffocate modern man. With this predominance of historical consciousness, the antiquarian model does not conserve the past any longer, but mummifies it. It shows us ‘ the horrid spectacle (. . .) of the mad collector raking over all the dustheaps of the past ’ . 71 As such, the historical consciousness that lies behind the antiquarian model is no rejuvenating force, but the true germ of the malady of history from which modern man suffers. We can see the scrutinising reconstructions of Makart, the Meininger company, and Old Antwerp, with their aim of presenting an eternal past as a wie es gewesen, as clear examples of the malady of history which Nietzsche describes. In their fury to conserve the smallest details of the past, they transform history from a life-generating force into a gigantic spectacle that freezes the past in an eternal now, or, in the words of Nietzsche: ‘ [He] is continually having a world-panorama unrolled before his eyes by his historical artists. He is turned into a restless, dilettante spectator, and arrives at a condition when even great wars and revolutions cannot affect him beyond the moment ’ . 72 Modern man has become the captive of this spectacularization of the past, that was professed in reconstructions and re-enactments limiting his role to that of the passive spectator. We can particularly observe this feeling at the time when Old Antwerp had to close down. One of the organisers of the puppet theatre in Old Antwerp, Gustave Delattin, compared the closure of the quarter to a funeral in which a part of his identity was taken along. 73 The same feeling of being lost in the past is ascribed to Van Kuyck and Rooses. The journalist Auguste Monet wrote that, 35 Re-enacting a scrutinised past after six months of living the life of Renaissance burghers, both men apparently could no longer detach themselves from the feeling that they had outlived themselves for more than three hundred years. 74 Old Antwerp, which had been declared to be an antidote to modern ennui, and had been built to rejuvenate the most doubtful and cynical fin-de-siècle mind, was thought to prevent Van Kuyck and Rooses from returning to the present and directing their eyes towards the future. To avoid this lethargic immobility of the antiquarian historical attitude, Nietzsche claims that one should try to feel un-historically or meta-historically. Modern man has to avoid the danger of contamination by which the Rankean historicist, the re-enactor, and the reconstructor cannot help but be paralysed. He has to avoid living the life of Des Esseintes in Joris-Karl Huysman ’ s decadent novel A rebours (1884). The true remedy to overcome the burden of history and to rejuvenate the doubting fin-de-siècle subject has to be to forget the past. In freeing himself from the burdening details of the past and focussing on the eternal to be found in art and religion, modern man will truly find a life-generating source that can cure the malady of history. Although Nietzsche ’ s plea to forget the past was undoubtedly inspiring for the modernist avant-garde, with its discourse of a complete tabula rasa, the Dutch philosopher Frank Ankersmit argues that the idea of the suffocating force of history might have been given too much credit. Ankersmit states that it is precisely modern historicist culture, as it came so prominently to the foreground in the late nineteenth century, that formed the fertile ground in which the worst disasters of the twentieth century could grow. Nazi Germany and fascist Italy, in particular, both found their origins and legitimisation in a strong commitment to the past. They were both inspired by clear interpretations of history in which the purifying air of the past announces a victorious future. As such, concludes Ankersmit, ‘ man of the twentieth century did not lack historical consciousness, but that has not paralyzed his capacity for action. ’ 75 The organisers of, and visitors to, Old Antwerp directed their gaze towards the Renaissance, but at the same time saw the quarter in the light of the bright future. Rooses and De Mont were far from paralyzed after their immersion in the past. They played an important part in the Flemish Movement. Until his death in 1914, Max Rooses remained not only an ardent advocate of Flemish art and literature. In 1896 he founded the Vlaamsche Hogeschool Commissie (Flemish Higher Education Commission) which strove for the use of Flemish at Ghent University. This was an ideal that would unite Flemish nationalists during World War I and lead many of them into collaboration. 76 In 1907, Pol De Mont became Director of the Antwerp Fine Arts Museum, preaching nationalism in art and literature, founded on a profound historical consciousness. He was strongly influenced by the pan-Germanic idea, that sought a historical linguistic and cultural basis to integrate Dutch and Flemish identity within a greater German entity. 77 Although De Mont did not actively take part in any act of collaboration during World War I, he was nonetheless dismissed as director of the museum after the war because of his Flemish enthusiasm and activities. From 1919 until 1923, de Mont was chief editor of the Flemish nationalist De Schelde, and wrote articles for this newspaper until his death in 1931. 78 We can say that Old Antwerp, as a historical re-enactment, served several purposes, playing on the notions of the past, present, and future. First of all, the quarter expressed the wish to re-experience a glorious, but vanished past. Secondly, in its historical accuracy 36 Stijn Bussels / Bram Van Oostveldt it evoked a media reflection that gave testimony to the historiographical successes of the (contemporary) present. Thirdly, Old Antwerp was also a vehicle to stimulate Flemish emancipation in the future, to constitute an ‘ imagined community ’ . 79 A visit to Old Antwerp, then, can be seen as more than a mere melancholy and romantic trip to the past in the whirl of the World Exhibition. Going back to Antwerp ’ s past, as De Mont states, should first of all purify and rejuvenate the present and assure a powerful future. As such, the nineteenth-century longing for the past, expressed in spectacles such as Old Antwerp, was endowed with a very concrete cultural and political agency. Notes The autors want to thank Hans Vandevoorde for his continuous support during the preparations of this article. They also want to thank Nele Wynants and Luc Van Den Dries for the bibliographical help. 1 We will use the term fin-de-siècle in its literal meaning, to name the end of the nineteenth century. However, we will also use its dominant connotation of a cultural malaise in late nineteenth-century Europe. Of the many books and articles written on the subject, Shearer West ’ s chapter ‘ The fin de siècle phenomenon ’ from her book Fin de siècle (Woodstock NY 1994) offers a good introduction. 2 See, among others, the article ‘ Ouverture de l ’ exposition d ’ Anvers ’ , in: Journal de Bruxelles, Vol. 74, Nr. 127, 6 May 1894: ‘ Nos remerciements les plus chaleureux s ’ adressent à tous ceux qui ont contribué à mener à bien cette œ uvre grandiose et hardie, semblait-il, après l ’ exposition universelle de Paris en 1889 et la Worlds fair de Chicago en 1893 ‘ . ‘ Our warmest words of gratitude are addressed to everyone who has contributed to bring this enterprise to a favourable conclusion, an enterprise that appears grandiose and daring even after the World Exhibition of Paris in 1889 and the World ’ s Fair of Chicago in 1893 ‘ . 3 E. g. ‘ A l ’ exposition: Le Vieil Anvers ’ , in: La Réforme, 4 May 1894: ‘ La perle de l ’ Exposition sera le Vieil Anvers. Déjà tous les connaisseurs y sont allés et ont unanimement déclaré que jamais dans ce genre on n ’ avait atteint cette perfection ’ . ‘ Old Antwerp will be the pearl of the Exhibition. Already all experts have gone there and declared unanimously that, in its genre, never before has such perfection been reached ’ . Journalists also referred to it as an enchanting dream and even a Flemish Pompeii. ‘ Wereldtentoonstelling van Antwerpen ’ , in: Volksbelang, 5 May 1894: ‘ Hier schijnt alles een droom te zijn. Nauwelijks heeft men eenige stappen gezet binnen de aloude poort met ophaalbrug, die toegang verleent tot dit Vlaamsche Pompeä, of men waant zich eenige eeuwen teruggevoerd ’ . ‘ Everything seems like a dream here. One hardly has taken a few steps through the ancient gate with its drawbridge, which gives access to this Flemish Pompeii, and one thinks oneself carried back some centuries ’ . 4 Ironically, the demolition of several of these buildings was carried out to make way for Antwerp ’ s first World Exhibition in 1885. 5 Kijkjes op de Antwerpsche Wereldtentoonstelling, Onmisbare handleiding voor de bezoekers der Scheldestad, s. l. 1894. 36: ‘ Een zestiend ’ eeuwsch stadsgezicht temidden van het gewirwar eener Wereldtentoonstelling Anni Di. 1894! Reeds dit contrast doet iets van welbehagen over u komen ’ . 6 Alfons K. L. Thijs, “ Old Antwerp 1894, a bourgeois dream world ” The Panoramic Dream 1885 - 1894 - 1930, Ed. Mandy Nauwelaerts [et al.]. Antwerpen, 1993. 268 and Pieter Uyttenhove. “ The ruin and the party: The modernity of Old Antwerp and Old Belgium ’ , Nauwelaerts, o. c., 256 - 257. 7 Paul Greenhalgh. Ephemeral Vistas: The Expositions Universerselles, Great Exhibitions and World ’ s Fairs, 1851 - 1939. Manchester 1988, 47. 37 Re-enacting a scrutinised past 8 “ Vieil Anvers ” Le Bien Public, 6 May 1894: ‘ Rien ne détonne dans ce tableau, dont toutes les nuance sont rendues avec un tact infini, où l ’ exactitute historique est bien observée ’ . 9 Ibidem (eigentlich: Le bien Public 1894): ‘ une reconstitution du passé admirablement conçue ’ . 10 See “ Illusions Past and Future: The Phantasmagoria and its Specte ” . www.mediaarthistory.org. 1. 12. 2011. 11 See among others Josette Féral. “ Theatricality: The Specificity of Theatrical Language ” . SubStance #98/ 99 31: 2 - 3. 2002, 100. 12 Maurice Samuels. The Spectacular Past: Popular History and the Novel in Nineteenth-Century France, Ithaca and London, 2004. 13 P. B. M. Blaas. “ Over de vormgeving van het vaderland ” De palimsest. Geschiedschrijving in de Nederlanden, 1500 - 2000. Ed. Jo Tollebeek, Tom Verschaffel and Leonard H. M. Wessels. Hilversum, 2002, 143 - 157. 14 Jo Tollebeek. “ Enthousiasme en evidentie: De negentiende-eeuwse Belgisch-nationale geschiedschrijving. De ijkmeesters. Ed. Jo Tollebeek. Amsterdam, 1994, 57 - 74. 15 The historist tradition would finally set aside the romantic tradition of history writing. Jo Tollebeek, Frank Ankersmit, Wessel Krul. “ Verantwoording ” . Romantiek & historische cultuur. Ed. Jo Tollebeek, Frank Ankersmit and Wessel Krul. Groningen, 1996, 14: ‘ Tenslotte bezegelde de opmars van het positivistische wetenschapsmodel de ondergang van de romantische historische cultuur ’ . ‘ Eventually, the march of the positivistic model of science sealed the ruin of romantic historic culture ’ . See also Leen Dorsman, “ Het ontstaan van een historisch bedrijf ” . Tollebeek, o. c. 2002, 159 - 176 and Jo Tollebeek, “ De machinerie van een historische infrastructuur in Nederland en België ’ . Tollebeek, o. c., 1994, 17 - 35. 16 Fernand Neuray. Une grande figure nationale: Godefroid Kurth, Bruxelles and Paris, 1931. 17 E. C. Coppens. Paul Fredericq. Gent, 1990. 18 Paul Fredericq. Feesten van den 300sten verjaardag der Pacificatie van Gent: werkzaamheden der verschillende commissiën ingesteld door het Gemeentebestuur der Stad Gent. Manuscript preserved in the library of the University of Ghent (G6170). 19 See, among others, the correspondence between Fredericq and Rooses preserved in the Antwerp Archive and Museum for Flemish Cultural Life (AMVC). 20 Paul Fredericq [et al.]. Album van den historischen stoet der Pacificatie van Gent. Gent, 1876. 21 U. Vermeulen. “ Katholieken en Liberalen tegenover de Gentse Pacificatiefeesten (1876) ’ . Handelingen der Maatschappij voor Geschiedenis en Oudheidkunde te Gent 20 (1966), 172. 22 See Tom Verschaffel. “ Het verleden tot weinig herleid. De historische optocht als vorm van de romantische verbeelding ’ Tollebeek, o. c. 2002. 297 - 320 and Idem, “ Leren sterven voor het vaderland. Historische drama ’ s in het negentiende-eeuwse België ‘’ Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden 113: 2 (1998), 148 - 149. 23 Rooses, o. c., 16. 24 Max Rooses. De wijk Oud-Antwerpen in de wereldtentoonstelling van 1894. Antwerpen, 1894. 3. ‘ [. . .] het feestvierend Antwerpen der XVIe eeuw heropwekken, verzekerd dat de eigenaardige luister dier feesten en het schilderachtig midden, in hetwelk zij gevierd werden, eene machtige aantrekkelijkheid voor de bezoekers der Tentoonstelling van 1894 zouden opleveren ’ . 25 Thijs, o. c. 2002, 259. 26 See Wolfgang Kos and Christian Rapp (eds.). Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war. Vienna, 2004. Also, later many historical reconstructions were built, e. g. Old Berlin was constructed two years after the Antwerp exhibition for the Berlin Trade Exposition, see Greenhalgh, o. c. 1988, 23. 27 Barbara Laan. “ Een schilderij in drie dimensies: de “ kamer van Jan Steen ” of het “ schilderachtige voorhuis van eene zeventiendeeeuwsche taveerne ” op de wereldtentoonstelling van 1883 in Amsterdam ’ . Het schilderachtige. Studies over het schilderachtige in de Nederlandse kunsttheorie en architectuur 1650 - 1900, Ed. C. van Eck, J. van den Eynde 38 Stijn Bussels / Bram Van Oostveldt and W. van Leeuwen. Amsterdam 1994, 117 - 128. 28 Most research has been done with regard to American museums, see among others Dianna H. Pilgrim, “ Inherited from the Past: The American Period Room ’ . American Art Journal 10: 1 (1978), 4 - 23. 29 See, for example, Pol de Mont. Een blik in Oud-Antwerpen met een keuze van aldaar meest gezongen oude en nieuwe Vlaamsche liederen. Antwerpen, 1894, 7. 30 “ Vieil Anvers ” . Le Bien Public. 6 May 1894: ‘ Ce qui complète l ’ illusion c ’ est la vie qui règne partout dans la ville fantastique que l ’ on a devant soi! ‘ . 31 Max Herrmann. Forschungen zur Deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissanc,. Berlin 1914. 13. ‘ Wir stellen uns die Aufgabe, eine theatralische Aufführung der Vergangenheit bis ins kleinste dermaßen wieder lebendig werden zu lassen, daß man sie, wenn nur die finanziellen Mittel zur Verfügung stehen, ohne Furcht vor bedenklichen Verstößen tatsächlich einem modernen Publikum vor Augen bringen könnte ’ . Translated in Christopher B. Balme. The Cambridge Introduction to Theatre Studies. Cambridge, 2008, 97. 32 “ Oud Antwerpen ’ . Gazette van Gent. 12 April 1894: ‘ Oud Antwerpen is eene prachtige herleving van de oude en schilderachtige stad. Men zal zich dáár teenemaal tusschen de gevels van vóór drie eeuwen begeven. (. . .) Wat heeft die toovenaar van eenen Geefs teekenachtige hoekjes en kantjes in de oude straten en huizen gebracht! Wat schilderachtig licht en donker! Wat al nauwkeurigheid in de bijzonderheden van die houten en steenen geveltjes! Wat al harmonievolle fantazij in de schikking van gedeelten en geheel! Men moet tot in de ziel met den tijd vereenzelvigd zijn, om dit alles zóó waar weer te geven ’ . For the meaning of ‘ picturesque ’ in the context of historical reconstructions in world exhibitions in the late nineteenth-century Low Countries, see Laan, o. c., 117 - 128. 33 De Mont, o. c., 1894. 2. ‘ (. . .) alsof men uit het kosmopolitische heden bij tooverslag verplaatst wordt in een wereld van primitieven eenvoud ’ . 34 Idem, 3. ‘ Hier toch is alles — hoe verrassend waarschijnlijk, én natuurlijk, én echt, én authentiek dan ook, — even valsch en logenachtig in de stoffelijke uitvoering als systematisch gewild in de opvatting ’ (Italics in the original). 35 Idem, 4. ‘ Verzaak uw modernen twijfelgeest en uw geschiedkundige kennis, als gij dezen grond betreedt (. . .) Neen, om volop te genieten wat deze unieke ‘ schepping ’ te genieten geeft, moet men — volgens Hugo ’ s woord — “ admirer come une brute ” , er naar kijken als een koe naar de mooie in purper en goud wegzinkende zon ’ (Italics in the original). 36 Albrecht Dürer. Schriftlicher Nachlass. Ed. Hans Rupprich. Berlin, 1956. I, 327 (Sextum praeceptum: De vestitu et modestia in incessu). The translation from Latin is ours. Also, in his dairy the artist showed great admiration for the girls of the parade. Idem, I, 155 - 156 (Tagebuch der Reise in die Niederlande). 37 Rooses, o. c., 58. 38 Among others, Remy Dupuys ’ account of the Bruges parade of Charles (1515) was used. Ibid, 58. 39 The official account of this entry is explicitly referred to in other parts of Rooses ’ retrospect. 40 Notice. Entrée triomphale de Charles-Quint a Anvers par Hans Makart de Vienne, Exposition Boulevard du Hainaut, 80. Bruxelles 1880. 6. ‘ [V]oyons de quelle façon Makart a compris et exécuté le sujet emprunté au récit de Durer ’ . 41 Idem, 5. ‘ Makart pouvait-il trouver un sujet plus séduisant pour son tempérament artistique? Peignant de préférence le nu féminin, il avait occasion ici de pousser sa science jusqu ’ aux dernières limites. Et quel cadres répondait mieux aux intentions de l ’ artiste que la vie brillante et fastueuse des villes flamandes au seizième siècle? ’ 42 There is a close correspondence between the painting and historical re-enactments. Makart most probably had the idea of depicting a ceremonial entry after the Munich reenactment of the 1530 entry of Charles into Augsburg (1876). (Wolfgang Hartmann. “ Makart und der Wiener Festzug 1879. “ 39 Re-enacting a scrutinised past Hans Makart: Triumph einer schönen Epoche. Ed. Klaus Gallwitz. Baden Baden 1972. 166 - 178.) Besides, two years after the creation of the painting, the artist himself was involved in a similar parade in his home town. (Hans Makart. Festzug der Stadt Wien, 27 April 1879 als Huldigung zur silbernen Hochzeit des Kaiserspaares, Wien, 1879.) 43 Alphonse Mucha ’ s breakthrough was precisely in 1894, when he designed the poster for Gismonde with Sarah Bernhardt in the title role. 44 Monet, o. c., 105. ‘ Al zou ’ t dan maar geweest zijn, ter wille van de drie Sinjoren-gratiën, op het Oostenrijkse doek, die in goudblonde, dauwfrisse naaktheid, als dingend naar de gouden appel deze jeugdige Paris omzwierven, — zoals ze ongeveer ook in werkelijkheid toen te zien geweest moeten zijn ’ . 45 However, public nudity did not always disturb theatrical illusion. Only a few steps from Old Antwerp, the visitor of the World Exhibition could also see a Congolese village where the ‘ living exhibits ’ were almost completely nude, without this causing any problems or disturbing the illusion of reality at all. As such, we can see in the public display of nudity a part of the ideology of the continuing process of civilization in which the West was supposed to have its rightful pole position. 46 John Osborne. The Meiningen Court Theatre 1866 - 1890. Cambridge, 1988, 26 - 27. 47 Idem, appendix 1, 177. 48 Pol de Mont, “ De Meiningers te Antwerpen ’ De Vlaamsche school. 1888. 78. ‘ Nooit was het mij gegeven, om het even in welke stad ik eenen schouwburg bezocht hebbe, mijn oog aan eenen dergelijke rijkdom van decoraties en costumen te verzaden ’ (Italics in the original). 49 Marten Rudelsheim “ De Meininger ’ , De Violier. 20 July - 5 October 1898. See Marc Van Steenkiste. Receptie-analyse van het toneelgezelschap van Meiningen te Antwerpen (1888). Unpublished dissertation, Wilrijk 1987, 70 - 74 and 233 - 252. 50 “ Les “ Meininger ” au théâtre royal ’ . Le Précurseur, 3 April 1888. ‘ Maria Stuart, par Schiller (. . .) a été montée après des études scientifiques et artistiques approfondies et avec un art tout à fait supérieur. L ’ intendant directeur Chronegh [sic] a passé plusieurs semaines à Londres et a, par autorisation royale, pu faire des recherches dans les archives secrètes. Il était secondé dans cette besogne ardue par les savants du British Museum. Ces recherches ont été couronnées de succès, car on a trouvé entre autres un plan détaillé du château de Fotheringhai [sic], prison de Maria Stuart. Ce château a été rasé sous Jacques Ir, fils de Maria; mais des chambres habitées par l ’ infortunée reine Maria Stuart, on avait transporté les meubles, les portes, les cheminées, même les boiseries dans d ’ autres bâtiments. Le grand escalier, qui reliait les appartements de Maria Stuart à la grande halle dans laquelle l ’ exécution a eu lieu, existe encore aussi. Tous ces objets ont été fidèlement copiés et reproduits pour les Meininger. En outre ces Messieurs découvrirent un morceau de musique, intitulé: La Marche des Sorcières, que les ennemis de la Reine firent jouer durant son exécution. Les archives contenaient aussi des renseignements précieux sur les m œ urs et l ’ étiquette à la cour de la reine Elisabeth. Les portraits d ’ Elisabeth, de Maria Stuart, de Leicester, de Burleigh, de Shrewsbury, de Paulet et d ’ Anne Kennedy, qui se trouvent en possession de la reine d ’ Angleterre et du prince de Galles, ont été copiés, et les costumes de la troupe du duc artiste de Saxe-Meiningen confectionnés sur ces modèles. Rien n ’ a donc été épargné pour donner à Maria Stuart une mise en scène grandiose et le plus d ’ éclat possible, une interprétation digne enfin du grand poète allemand qui, de ce drame historique, a fait une œ uvre immortelle. Cette pièce ne sera donnée que trois fois, mercredi, jeudi et vendredi prochains ’ . 51 The song is historically put in context by Ann Marie Koller. The Theater Duke Georg II of Saxe-Meiningen and the German Stage. Stanford California 1984, 104. 52 We will concentrate on the Antwerp newspapers; for other criticisms, see Idem, 175. 53 Edward Van Bergen. “ Het Hertogelijk Meininger Hoftheater the Antwerpen ’ , De Vlaamsche Kunstbode 18 (1888), 236. ‘ (. . .) 40 Stijn Bussels / Bram Van Oostveldt het stuk waarvan wij de beste herinnering bewaarden, dat ons het diepste trof ’ . He is certainly not the only one in the Antwerp audience. Le Précurseur says: ‘ The audience showed itself to be very enthusiastic. Every act was followed by one, and sometimes several curtain calls ’ . ( ‘ Le public s ’ est montré très enthousiaste. Chaque acte a été suivi d ’ un, parfois de plusieurs rappels ’ ). 54 Van Bergen, o. c., 237. ‘ Het gaf gelegenheid tot het ontplooien van veel pracht en rijkdom in kostumen en decors en niets werd dan ook gespaard. Noemenswaardig is vooral het 2 de bedrijf, de ontvangst van den Franschen gezant aan het Engelsche hof, waar tot in de kleinste bijzonderheden de gebruikelijke ceremonien worden in het oog gehouden. Sommigen vinden dat de Meiningers hunne tooneelschikking daarin te ver gedreven hebben, doch hun antwoord was dat het ten eerste historisch juist is en ten tweede dat op die wijze de eenvoud en de verlatenheid van Maria nog beter uitkwamen en de belangstelling in haar veel grooter werd ’ . 55 Cf. Osborne, o. c., 26. 56 Van Bergen, o. c., 230. ‘ De voorstellingen der Meiningers mogen dan ook aanzien worden als praktische lessen voor het volk, waar men het inwijdt in zeden, gewoonten, kleederdrachten der verschillende tijdvakken en het volkomen op de hoogte stelt van tijd, plaats en handeling ’ . 57 For a media-historical analysis of immersion see Oliver Grau. Visual Art: From Illusion to Immersion. Cambridge, 2003. 58 Idem, 2. ‘ Niet beter kan ik den indruk weergeven, die den bezoeker van Oud-Antwerpen — laat mij zeggen — bevangt, dan als ik zeg, dat sprookjeslucht hem, op een oogenblik als het veronderstelde, in het gezicht waait. En frisch en jeugdig, neen, verfrischend en verjeugdigend, verkwikkend en louterend vult die sprookjeslucht, bevracht met de krachtigste aromen van een onverbasterd nationaal verleden, de longen, en machtig voelt ook de meest twijfelzieke zoon van dit eeuweinde, dat de ideëele band, welke het heden met het verleden verbindt, is gevlochten uit het beste en edelste in ons ’ (Italics in the original). 59 Verschaffel, o. c. 1998, 149. ‘ (. . .) waren erop gericht de toeschouwer te overtuigen van de continuïteit tussen verleden en heden en van zijn eigen verbondenheid met de nationale geschiedenis en met de natie zelf ’ . 60 For the Antwerp world exhibition and Belgian nationalism, see Jan Van Gerven. “ World Exhibitions as Expressions of National Pride ’‘ . Nauwelaerts, o. c., 100 - 111. 61 De Mont, o. c., 1894, 3. 62 Hans Vandevoorde. “ Racial-Linguistic Nationalism. Race, Language and Nation at the Antwerp Universal Exhibition of 1894 ’ . The Beloved Mothertongue. Ethnolinguistic Nationalism in Small Nations: Inventories and Reflections. Ed. Petra Broomans, Goffe Jensma, Hans Vandevoorde, Maarten Van Ginderacher. Leuven-Paris-Dudley Ma, 2008, 180 - 181. For the Antwerp world exhibition and Antwerp civic pride, see Lode Hacké. “ Political Life in Antwerp between 1863 and 1930 ’ . Nauwelaerts, o. c.113 - 123 and Mandy Nauwelaerts. “ The Dream of the Metropolis. Antwerp and the World Exhibitions ’ ..Nauwelaerts, o. c., 50 - 67. 63 Certain French newspapers reproduced the King ’ s speech in the original Flemish (a. o. Le Bien Public). Others gave a French translation (a. o. Le Journal de Bruxelles). Le Bien Public, 7 May 1894. ‘ De Koningin en Ik, wij zijn gelukkig den voet te zetten in Oud-Antwerpen. Het getuigt van uwen vroegeren roem. Het zegt op welsprekende wijze, dat uwe kunstenaars van heden waardig zijn van uw glorierijk verleden, aan U de toekomst ’ . 64 Vandevoorde, o. c., 181. 65 “ Oudt-Antwerpen ’ De Vlaamsche Wacht, 1 December 1894. ‘ [W]ij willen wijzen vooral op den onuitwischbaren indruk, die, ingrijpend en voortwerkend, zoo heilzaam wezen zal voor de toekomst van ons Vlaamsche volksleven, ja, van onzen Vlaamschen volksstrijd. (. . .) ‘ . 66 Translated in Thijs, o. c., 267. 67 Christian J. Emden, Friedrich Nietzsche and the Politics of History, Cambridge 2008. 129 - 173. 68 Nietzsche, o. c., 5. 69 Nietzsche, o. c., 8. 41 Re-enacting a scrutinised past 70 Nietzsche, o. c., 7. 71 Nietzsche, o. c., 8. 72 Nietzsche, o. c., 12. 73 Gustaaf De Lattin. Herinneringen over de Poesjenellenkelder van Oud-Antwerpen (Tentoonstelling van 1894). Antwerpen, 1901, 100 - 101. 74 Monet, o. c., 115. 75 Frank Ankersmit. “ Nawoord ” Over nut en nadeel van geschiedenis voor het leven. Friedrich Nietzsche (Transl. Vertalerscolelctief ). Groningen, 1994, 154 - 155. 76 Wim van Rooy. “ Max Rooses ’ .Nieuwe Encyclopedie van de Vlaamse Beweging. Ed. Réginald De Schryver, Bruno de Wever, [et al.]. Tielt, 1998, III, 2658 - 2662. 77 Raymond Vervliet. “ Pol de Mont ” De Schryver, o. c., III, 2087 - 2093. 78 Bruno De Wever. “ Vlaamsche Front ” De Schryver, o. c., III, 3405 - 3407. 79 Benedict Anderson. Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London, 1991. 42 Stijn Bussels / Bram Van Oostveldt Performing the Precarious. Economic Crisis in European and Japanese Theatre (René Pollesch, Toshiki Okada) Prof. Dr. Katharina Pewny (Ghent University) In the last decade, the “ precarious ” - meaning the uncertain, unstable - was conceived as a theoretical concept in philosophy, sociology, and art theory. The changing working conditions in the New Economy, the worldwide economic crash in the autumn of 2008 and the increasing poverty are frequently staged in contemporary theatre, performance, and dance. Texts and stagings of Berlin-based author and director René Pollesch and Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech (2009) by Tokyo-based author and director Toshiki Okada are performances of the precarious that stabilize the unstable ground of precariousness, at least temporarily. 1. Academic and Activist Discourses on the Precarious The word “ precarious ” can be traced back to the French adjective précaire, which in turn originates from the Latin word precarius, meaning “ sensitive, difficult ” (Pewny 2009: 30 - 47[? 2011? ein 2009 ist nicht angegeben, DF). In 2004, Judith Butler launched an influential discourse on vulnerability as a human ontology of precariousness (Butler 2004). Her thoughts have been referenced in theatre and dance studies and in performances that deal with war and other traumatic events (Burt 2008). The term “ precarious ” , as it has been developed in activist and sociological discourses, includes several aspects. It embraces human vulnerability arising from unsecured, precarious working conditions within current economic developments, as well as bodily vulnerability. A person living under precarious conditions is subjected to changes within her working and living conditions that she does not have power over. Despite all their political, social, and economic differences, the “ multiple loci of Europe ” (Chakrabarty 2000: 17) provide comparatively wealthy and secure contexts of living — at least for those who hold a European passport. However, the economic shift from Fordism to post-Fordism from the 1970 s onwards set a destabilization of living and working conditions in motion. An increasing number of people, also from what was formerly known as the “ middle class ” , conduct free-lance work and therefore live under precarious conditions (Bologna 2006: 97 - 106). Precarious working and living conditions can mean discontinuities of income, of social security, of legal status, and thus of planning one ’ s life and future. Unstable working situations, such as part-time employment and free-lance work, are thus being called “ precarious ” work. For the most part, precarious work is not backed by institutional resources and power mechanisms and it also lacks institutional rites de passages such as celebrations for starting a new job, work anniversaries, and retirement. Changes in precarious working situations have to be experienced and lived through individually rather than collectively. Precarity is a new norm that has moved from the peripheries of (European) societies to their centres. Many temporary work situations demand skills traditionally important for work in the arts, such as creativity, Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 43 - 52. Gunter Narr Verlag Tübingen excellent self-performativity and flexibility. This is an aspect of the dialectic entanglement that art and work have been engaged in since the early 1990 s: aspects of free time and “ play ” increasingly enter the working environment of the New Economy (Haunschild 2009: 153). The theatre, in particular, has become paradigmatic for precarious working and living conditions. Because “ play ” differentiates the performing arts from other art forms, “ the connection of play and work in the theatre serves as an exemplary standard ” (ibid. 154). Simultaneously, there are increasing demands on those working in the arts and especially theatre to conform to the laws of the market. Therefore, the work of theatre makers and performers serves as a model of precarious working life, not only for other freelance academics, cultural workers, and artists in the New Economy, but also far beyond that. Consequently, people living under precarious conditions have started to discuss their living and working situations in publications, in visual media, on the Internet, and at public gatherings. The French writers Anne and Marine Rambach ’ s book Les Intellos précaires initiated debates on precariousness in 2001 (Rambach 2001). They spread rapidly from France to other Midand Western European countries such as Germany, Spain, and Italy. In 2003, the German-Swiss theorist and artist collective Kleines postfordistisches Drama released the video Kamera läuft (Camera rolling, in which the collective stages casting situations with performers who read texts on precarious work. The texts consist of samples from previously conducted interviews with the producers and their friends. Looking for an alternative to the unionled strike that took place in Madrid in 2003, a Spanish feminist network launched the video Precarias a la Deriva (2005) on the precarious lives of both migrant and Spanish women in 2004. Both videos create visual identities that make the working and living methods of their producers visible, and they perform a “ narration of the self ” , which Richard Sennett claims is a strategy for coping with the insecurities of New Capitalism (Sennett 2006). Both these videos were circulated widely within the discussion forums surrounding precarious work in the last decade. Closely linked to political activism and anti-globalization networks, precarious subjects have extensively produced representations of themselves and of the fictive saint “ San Precario ” on the Internet and at public demonstrations, including the “ Mayday! ” protests each year on May 1 st . Despite the transnational similarities among the precarious working and living conditions in many European and other Western contexts, there are some differences to be noted. Performances of precariousness in German-speaking countries, such as the video Kamera läuft! , focus mainly on the problems of time management, on the constant pressure to be creative, and on the lack of institutional resources. The pressing issues featured in the French and Spanish contexts are, for example, lack of money, acute poverty, and the precarious situation of migrants and other sans papiers. In this way, some social differences within Europe and the broad range of meanings of the term precarious become visible. 2. Performing the Precarious in European Theatre (René Pollesch) The effects of the increasingly destabilized living situations for both individuals and social groups, and possible artistic strategies that emerge from them, have been readily present in Western European theatre and performance from the mid-1990 s until today. Many of these representations have taken on different aesthetic forms, ranging from traditional spoken-word theatre to 44 Katharina Pewny intermedial performances. Some examples of this are the KVS Express Armwoede/ Pauvérité/ Poverty festival at the Koninklijke Vlaamse Schouwburg Brussels in January 2011, the inter-artistic campaign Pimp Your Poverty, launched by the Gentian Arts University in March 2010, or the video Between the Chairs (2006), a filmic interview by Jorge Léon with Ronald Burchi, a migrant dancer who used to work in Meg Stuart ’ s company Damaged Goods. Thomas Mann ’ s novel Buddenbrooks, a story about the decline of a wealthy North German merchant family, was adapted for the stage by wellknown author John von Düffel in 2005 and, in 2006, shown at five big theatres in Germany. Elfriede Jelinek has re-written William Shakespeare ’ s Merchant of Venice for her post-crisis play Die Kontrakte des Kaufmanns (The Merchant ’ s Contracts, 2009). Sabenation (2004), a production by the director ’ s collective Rimini Protokoll, revisits the bankruptcy of Belgian Sabena Airlines. By staging his own precarious situation as a dancer in Perform Performing (2004/ 2005) and extensively touring with it in Europe and Asia, dancer Jochen Roller turned his unstable working conditions into full-time employment, as he is now dance dramaturge at the renowned Hamburg performance venue Kampnagel. Consequently, Roller sold his own performance at the Kampnagel summer festival in 2009, entitled Wir können uns nicht aus der Krise shoppen (We cannot window-shop our way out of the crisis, 2009).. One of the best-known theatre makers, who has successfully transformed his own precarious living and working conditions into a flourishing career, is René Pollesch. Pollesch ’ s own career is an example for the “ successful ” integration of “ work ” and “ play ” within the New Economy (see Haunschild above). René Pollesch received his degree from the Institut für Angewandte Theaterwissenschaft (Institute for Applied Theatre Studies) at Justus Liebig University in Gießen, Germany. Between 1994 and 1998, he was unemployed and worked in low-income jobs, until his breakthrough with the Heidi Hoh- Trilogy (1999 - 2001). In 1999 and 2000, René Pollesch was the writer-in-residence at the Lucerne Theatre in Switzerland, and at the Deutsches Schauspielhaus in Hamburg. Since 2001 he has been the artistic director of the “ Prater an der Volksbühne ” at the Rosa- Luxemburg-Platz in Berlin. It is here that he has produced several of his theatre texts, including Stadt als Beute (The City as Loot, 2002), Insourcing des Zuhause - Menschen in Scheißhotels (Insourcing the Home - People in Crap Hotels) (2001), and Sex (2003). In the following years, Pollesch received prestigious theatre awards for a number of his many texts and performances. In 2001 and 2006, his pieces world wide web-slums and Cappucetto Rosse were awarded the Mühlheimer playwright prize, in 2002 he was critics ’ choice for best German playwright in Theater heute, and in 2007 he was awarded the Nestroy Theatre Prize in Vienna. Pollesch ’ s theatre texts actively engage with a corpus of post-structuralist studies, including the work of Michel Foucault, Donna Haraway, Judith Butler, Boris Groys, and Giorgio Agamben. The author shows the dissolution of traditional images of bodies, families, sexual order, and privacy within post-capitalism (e. g. Die Welt zu Gast bei reichen Eltern (A Time for Rich Parents to Host the World, 2009). 1 Here, he shows how all these things are saturated with the necessity and the prescription of accumulating capital. Since Pollesch doesn ’ t depict reality, but rather shows mechanisms used to construct it, the figures on stage in his productions refrain from expressing feelings or inner conflicts. Instead, his texts are made up of numerous variations and repetitions of citations taken from theory, film, and other media, of complex sentences using academic language and of banal phrases, which the 45 Performing the Precarious. Economic Crisis in European and Japanese Theatre actors/ actresses would scream on stage in his early performances. His sets, which are frequently made by Berlin-based stage designer Bert Neumann, have large screens that often show scenes taking place behind the back wall, i. e. offstage. In the following, I will show the ways in which precarious work and work in the theatre is a recurrent theme in Pollesch ’ s pieces. This will provide the basis for discussing how the citations in his work can offer an alternative to the phenomenon of wholesale capitalization. One of the recurrent themes throughout Pollesch ’ s work is the unstable working situation of cultural workers and actresses. In the trilogy Heidi Hoh (1999 and 2003), the protagonist Heidi Hoh appears as a prototype of precarious life within the New Economy of the 1990 s. She works in the service industry. Her living space is also her workplace, which transforms into a Mercedes- Benz dealership during the performance. The following sentences are exemplary for the Heidi Hoh-Trilogy: “ It looks like a Daimler or Chrysler terminal ” (Heidi Hoh 1, 1999: 89), “ economic processes affect spaces and bodies ” (ibid.: 93). Adaptability is a trait of the hybrid cyborg figure Heidi Hoh, who leads her life according to the demands for flexibility placed on cultural entrepreneurs. While some theorists view the bodies of the performers in Heidi Hoh as the last means of resistance and ambiguous sexuality against the overwhelming influence of capitalization (see Bergmann 2009: 205), I argue that the bodies Pollesch stages are not situated outside of these powers, but merely resources of mediatization and economization. In Pollesch ’ s theatre, no stable identities or bodily materialities exist that could challenge the realities outside. He consistently bases his texts and stagings on his own experiences of precariousness as a theatre maker. This decision is an ethical one, as Pollesch states, for it is not about creating representations of an absent “ other ” or about staging a voyeuristic gaze on those “ affected ” , as in participatory theatre (Pollesch in conversation with Hegemann, 2006: 103 ff ). In Der Tod eines Praktikanten (Death of an Intern, 2007), a piece about the invisibility of the unpaid work of an intern, the daily fees actresses Inga Busch, Christine Groß, and Nina Kronjäger receive for their work are printed in large numbers on their white dresses that resemble bridal gowns. Speaking about Der Tod eines Praktikanten in an interview, the author reflects on the ethical and aesthetic dimensions of different stagings of poverty and precarity (Barnett 2006: 32). Consequently, the precarious working conditions in the theatre itself are a recurrent theme in Pollesch ’ s later theatre work. In Seid hingerissen von euren tragischen Verhältnissen (Be delighted by your tragic circumstances, 2008), Pollesch directed an acting class at the University of Fine Arts in Berlin. This time around, he focused on the institutional aspects of art education. He further explored this topic in Mädchen in Uniform (Girls in uniform, 2009), wherein he arranged the young actresses as a chorus, accentuating their commodification within their education and professional futures. Pollesch ’ s reflections on the economy of the theatre are taken to another level in Fantasma (Phantasm, 2008), which was his first production after the financial crisis began in the autumn of 2008. Fantasma takes place in, and in front of, a haunted house where a theatre troupe was murdered. Against the backdrop of the disappearance of the actors ’ corpses, love scenes take place that invoke heterosexual conventions and their direct association with economic factors. The protagonists Sofie Rois and Martin Wuttke take turns repeating the sentence: “ You invested a lot in me and [. . .] and probably stopped loving me because of some rumor on the stock market. ” This statement about how this love came to an 46 Katharina Pewny end is followed by the question “ Why did China and the Soviet Union change over to capitalism? ” Both (unanswered) questions point out the interchangeability and thus the commoditized quality of political and economic systems and of romantic partners. Love is as insecure as economic-political systems, because it, too, can come to an end at any time, for inexplicable reasons. Pollesch connects the capitalized rhetoric of love with reflections on two mechanisms used in theatre production, which are his own citation-based style of writing and the theatrical performance situation. In Fantasma, the (theatre) text appears as an alternative to the precarity of love and economy. It includes sentences like: “ The medium money has to be overwritten with the medium language ” or, “ language contains the phantasm that could perhaps bestow experience ” . 2 Text, or more precisely, text that does not come from one ’ s own pen, enables contact: “ We can only touch each other with sentences that aren ’ t our own. ” Contact by way of citation, a mechanism that theatre writer Pollesch employs, creates intimacy both on stage (between Rois and Wuttke) and between the stage and the audience. A kiss between Rois and Wuttke makes the reality status of their encounter an issue: “ I only do this in the performance. ” When Rois acts like a diva, referencing Ernst Lubtisch ’ s Film Madame Dubarry (1919), she brings up a “ friend ” of hers “ in the performance ” (in der Vorstellung). The German word Vorstellung means both “ performance ” and “ imagination ” . The banter merges seamlessly from musings about a “ friend ” into directly referencing the audience. Rois: “ They ’ re only sitting there so they can be with me. ” Pollesch ’ s Fantasma ends by talking about the audience ’ s love for the actors and actresses. The entire ensemble, along with the stage crew, comes on stage, swinging their arms and singing a love song by Milton Drake, a composer of nightclub, theatre, and film music. The song praises the role that the imagination plays for love, the chorus line reads: “ If it ’ s me/ I ’ ll be in heaven/ If it ’ s you. ” René Pollesch ’ s works perform the precarious in two aspects: he stages the precarious work of the theatre maker and, like many other post-dramatic plays, his theatre work itself is precarious, in the sense that staging the transitory cannot take place on stable ground. Pollesch ’ s theatre is not merely a self-reflective rendition of a theatre maker ’ s precarious life that only applies to a small number of cultural entrepreneurs. Rather, his performances are more broadly valid because they show precarious work as a new norm for working and living in post- Fordism. The recourse to previously existing texts in Fantasma allows an image of love to emerge that points to much more than the precarity of capitalization. 3. Performing the Precarious in Japanese Theatre (Toshiki Okada) In addition to the above-mentioned performances of the precarious by European-based artists, there was another performance of the precarious on tour in Europe in the 2009/ 2010 theatre season: Toshiki Okada ’ s Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech (2009). In this section, I will first introduce the author and the piece, and then take a look at the similarities and differences in Pollesch ’ s and Okada ’ s aesthetic strategies. Playwright, prose writer, and director Toshiki Okada was born in 1973. In 1997 he founded the theatre company Chelfitsch in Tokyo. His first production to receive international attention was Five Days in March (2004), a story about the first five days of war against Iraq in 2003, which Japan also took part in. In 2005, Okada received the prestigious Kishida Kunio Drama Award for this production. Okada ’ s later productions were shown in Japan, Europe, and the USA. 47 Performing the Precarious. Economic Crisis in European and Japanese Theatre In 2009, he directed the Tokyo production of Tattoos, written by German author Dea Loher. In October 2009, Okada ’ s most recent production Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech premiered at the Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU). The next year, the production began touring Japan and Europe, and has been shown in Tokyo, Kyoto, Brussels, Lisbon, Hannover, Ljubljana, Barcelona, Hamburg, Paris, and Modena. Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech is based on three of Okada ’ s theatre texts. The texts incorporate John Cage ’ s “ Sonatas ” and “ Interludes For Prepared Piano ” , as well as other music pieces by Tortoise, Stereolab, and John Coltrane. The rhythm of the speech matches the rhythm of the music, both in the script, where the minutes and seconds of the musical score have been transferred to the text, and in the performance. The piece interweaves elements of theatre with spoken word monologues and dance consisting of non-narrative patterns of movement. There is a clear plot that leads to temp worker “ Erika ’ s ” layoff, despite its interruption by the middle scene, entitled Air Conditioner. The three scenes are separated by brief blackouts, and there is no change in the very minimalist stage set made up of a table and four chairs. Alienation effects recur repeatedly in the piece, such as the announcement: “ We ’ re going to do this piece called ‘ Air Conditioner ’ now ” (Okada n. d.: 7). The alienating work environment is represented by the physical effects of the cold in the office, which match the theatrical alienation effects in the piece. The first part, Hot Pepper, consists of ten scenes. In the script these scenes are superimposed by the corresponding musical pieces, such as “ Sonata, Interlude, ” and are separated by a blackout and a short intermission during the performance. In this part, the three temporary workers - “ Temp. 1, 2, and 3 ” - plan a farewell party for their colleague Erika. They discuss the choice of food and if the full-time employees should chip in more than the temporary workers, who expect to be laid off soon themselves. The figures don ’ t explicitly respond to one another, instead they come back to and elaborate on issues that were already touched upon in the piece. In each scene, there are two temporary workers sitting at a table eavesdropping on the third ’ s monologue. In the second part, Air Conditioner, the full-time employees discuss the physical effects of the coldness in the office. “ Man ” and “ Woman, ” the “ full-time workers ” , face each other reciting short monologues, which often recur, similar to the speech held in the first part. The three temporary workers sit at the table and watch. In the third part, The Farewell Speech, Erika turns toward the other performers and holds her farewell speech; once again, a performance situation is recreated on stage. Each of the three parts of the play shows the farewell party and the workers chatting during break, which are institutionalized rituals of the contemporary work life, for the spectators both on and off stage. In 2009 and 2010, Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech was shown at prominent theatre festivals in Spain, Italy, France, and Germany. These are also the European countries where lively debates and links between activist art and precarious working and living situations have been emerging since the turn of the century. Although the play ’ s success may easily be attributed to a growing interest in performances of the precarious in European contexts, the reasons for its success are much more far-reaching. The interest in the play is a result of the globalized theatre audience in Europe being able to identify with the precarious (theatre) figures in Japan. The audience-focused dramaturgy of the play creates a specific dynamic relationship between difference and similarity for a European audience. I will begin by explaining trans- 48 Katharina Pewny continental difference as emphasized in the play and then discuss the construction of similarity in the play ’ s media reception. The spoken text is in Japanese, while the English translation is projected onto the rear wall of the stage. 3 In this way, English appears as a global means of communication, even in non-English speaking countries like Spain or Germany. The trans-cultural dramaturgy that is taking place here is not between “ Japan ” and another national linguistic community, as one might assume at first glance. Instead, it is a dramaturgical mediation between a local situation and the audience living in a globalized knowledge society. The necessity of this dramaturgical mediation is underscored in the performance, for instance, when in addition to the translations, the Wikipedia explanation of “ Motsu hot pot ” , a special kind of soup (Okada n. d.: 1), is projected onto the wall. This means that it is not primarily socially disadvantaged precarious subjects who are being addressed, but rather the globalized cultural entrepreneurs, European nomads, and highly skilled workers (Janjar 2010: 24). If they identify with the theatre figures, which economic and social situations can they relate to themselves? Until the mid-1990 s there was near full employment in Japan, unemployment rates then rose to 5.4 %, and since autumn 2008 the unemployment rate among young people has risen to a staggering 20 % (Mitani 2008: 110). The drastic decline of full-time employment has meant an increase in the precarious working and living conditions of one fifth of the gainfully employed youth in Japan. Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech highlights this remarkable decline in its story line and dramaturgy of the audience. While the three temp workers show their surprise when they hear that Erika has been fired despite her excellent qualifications, the following explanation is projected onto the screen: “ Temp-cutting refers to the massive layoffs that occurred in response to the global financial crisis in November of 2008, when automobile companies and household electronics companies abruptly terminated large-scale contracts with agencies that provided temp workers and the resulting dismissals/ hiring freeze of such workers ” (Okada n. d.: 3). In an interview, Toshiki Okada stresses that the Japanese situation is unique, as he speaks about the painful disillusionment regarding a secure future for the generation born around 1975. Despite the specific economic and social situation in Japan, the European press emphasizes that precarity, and therefore isolation, is a worldwide phenomenon. Jackie Fletcher of the British Theatre Guide sees in Hot Pepper a “ global ” generation with a communication deficiency (cf. Fletcher). In the Viennese press the play is described as a “ hell, where crisis capitalism — along with its accompanying effects of consumerism, unemployment, and, loss of reality — have begun to sway ” (Ploebst 2010). Not one review mentions Okada ’ s message about the specificity of the location or the job market in Japan. The European media keep silent about Japan ’ s economic development. I argue that the press reactions are entangled in mechanisms of the representation of the “ Asian ” in European culture and art. Rimini Protokoll ’ s performance Sabenation (kustenfestivaldesarts Brussels 2004) also has an “ Asian ” figure that is brought into relation with the economic development, specifically with the dismissed workers of the Belgian Sabena Airlines. Founded in 1923 for flights to the colony of the Belgian Congo, when Sabena Airlines closed down in 2001, it was a symbol of the economic downturn of the post-colonial nation state Belgium, the seat of the European Union. In Sabenation, the figure of Deborah Reitanos, the Vietnamese-born, adoptive daughter of former Sabena stewardess Miriam Reitanos, stands in stark contrast to the fired Sabena 49 Performing the Precarious. Economic Crisis in European and Japanese Theatre employees. She emerges as a savior figure in the economic crisis. In 2010, six years after the world premiere of Sabenation and one implosion of the global economy later, Hot Pepper ’ s Erika stands for people who, despite being employed in Japan, an Asian country that until recently was still an economic power, still live precariously. If Deborah Reitanos was still a model for a successful future, that was to lead Europe beyond itself and towards the dream of a flourishing economy based on the Asian model, then Erika and her colleagues are mirror images of global precarious life. “ Asia ” is a metaphor for economic development — as a role model and as a daunting example (cf. Ploebst above). Are the dynamics between difference and similarity that Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech offers the audience based on “ othering ” “ the Asian ” ? In the USA, the “ Asian ” is often employed as a cultural symbol in the service of fabricating a national identity (Shimakawa 2002: 5). However, in European reviews of Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech, it is used to mirror the precarious subjects that inhabit the globalized and thus spatially flexible territories of knowledge societies. This precariousness differs from the complex layers of insecurity that sans papiers and other illegalized migrants face, which are documented in the Spanish feminist video Precarias a la Deriva. The precariousness that is touched upon in Okada ’ s work corresponds more to the nomadic and flexible working and living situation of the intellectual workers who are portrayed in the German-Swiss video Kamera läuft. The possibility of identification with the temp workers in Okada ’ s theatre piece, which some European press reviews have suggested, thus offers imaginary relief from the pressure of success and flawless self-performance for a European audience that inhabits the rather privileged knowledge-based society. The notion of a collective identity of (potentially) precarious subjects in Europe is sustained by the imaginary identification with the tragic heroes of precarity in Japan. This notion, however, does not represent the multiple layers of precariousness in the sense of the physical and mental vulnerability that people without European passports are exposed to. 4. Transforming the Precarious through Performance René Pollesch explicitly references the reality of his own living and working situation in the theatre. Though Toshiki Okada takes his generation as a starting point, he does not bring the work in the theatre on stage. Both artists have been exceptionally successful, and they both stabilize the fundamental instability of the precarious by transforming it into successful speech acts. 4 In his public appearances and in interviews, René Pollesch embodies the ultimate transformation from a precarious theatre studies graduate into a financially settled, renowned director. In his work, precariousness functions as a model and as a new norm in (Western) Europe; in Okada ’ s work, precariousness serves as a model as well, owing to its reception in Europe as something global. These performances of the precarious are successful speech acts (Austin 1962: 8 f ), because they reference recognized social institutions and rituals. Pollesch quotes recognized academic texts, while Okada incorporates precarious working situations into the institutionalized rituals of working life. These theatrical performances do not refer to the more complex levels of insecurity in the precarious living and working situations of those illegalized and migrant persons portrayed in the video Las Precarias and in the online representation of the fictive saint “ San Precario ” . The success of both theatre makers and their performances of the precarious can thus be 50 Katharina Pewny read as exceptions of a few privileged (male) subjects who inhabit the territory of the globalized knowledge society. However, it can also be read as a “ tactic of the weak ” (de Certeau 2000), in the face of a globalized economy that does not value art for what it is and thus measures its value solely as a product of trans-cultural exchange and as an ironic model, where precarity features as the new norm. Notes 1 Translation: Celeste Osborn and Erika Doucette The title of the play is a reference to the slogan of the 2006 Soccer World Cup in Germany in 2006: Die Welt zu Gast bei Freunden, literally meaning “ The world visiting friends, ” but which was widely translated as “ A time to make friends. ” - Trans. 2 The following quotes reference my performance notes from a showing at Akademietheater Vienna, 30 January 2009. 3 Here, I am referring to the performance in Kampnagel Hamburg on 26 August 2010. 4 In this way, theater performances of the precarious differ from the notion of “ precarious art ” within the fine art context, which affirms the unstable ground of precariousness (Bourriaud 2009) Sources cited: John L. Austin. How To Do Things With Words. Oxford, 1962. Jürgen Berger. Von Nichts kommt nichts - was macht die Krise mit dem Theater, das Theater mit der Krise? http: / / www.goethe.de/ kue/ the/ tst/ de6426613.htm, 13.10 2010. David Barnett. “ Political Theatre in a Shrinking World: René Pollesch´s Postdramatic Practices on Paper and on Stage ” . Contemporary Theatre Review, Vol 16(1), (2006). 31 - 40. Franziska Bergmann. “ Die Dialektik der Postmoderne in Theatertexten von René Pollesch ” . Eds. Franziska Schößler, Christine Bähr, Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Bielefeld, 2009. 193 - 209. Sergio Bologna. Die Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur neuen Selbständigkeit. Graz, 1996. Nicolas Bourriaud, “ Precarious Constructions. An Answer to Jacques Rancière on Art and Politics. ” in: Jorinde Seijdel (Edd), A Precarious Existence. Vulnerability in the Public Domain. open No. 17. Rotterdam 2009, pp. 20 - 40. Judith Butler. Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence. London/ New York, 2004. Dispeh Chakrabarty. Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton/ Oxford, 2000. Michel de Certeau, The Practice of Everyday Life, Berkeley 2000. Jackie Fletcher. “ Kunstenfestivaldesarts 2010 ” . The British Theatre Guide. http: / / www.britishtheatreguide.info/ articles/ 020610.htm. 12. 10. 2010. Axel Haunschild. “ Ist Theaterspielen Arbeit? ” Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Eds. Franziska Schößler, Christine Bähr Bielefeld, 2009. 141 - 157. Mohammed-Sghir Janjar. “ Moslims zijn geen machines ” .De groene Amsterdammer. 18.11.. 2010.24 - 28. Naoki Mitani. “ Youth Employment in Japan after the 1990 s Bubble Burst ” .Young Workers in the Global Economy. Job Challenges in North America, Europe and Japan. Ed. Gregory De Freitas. Cheltenham/ Massachusetts, 2008.109 - 139. Toshiki Okada. Hot Pepper, Air Conditioner, The Farewell Speech. unpublished Manuscript, Courtesy of the Artist. Katharina Pewny. Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance. Bielefeld, 2011. Helmut Ploebst. “ Ciao, Erika! 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Madrid, 2004. www.precaria.org, 9.10 2010. 52 Katharina Pewny Die Shoah im Zeitalter der Globalisierung. Juan Mayorga und das spanische Erinnerungstheater Wilfried Floeck (Universität Gießen) Shoah und Globalisierung Die Erinnerung an die Shoah hat sich erst spät durchgesetzt. In den beiden ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte die Haltung des Vergessens und der Verdrängung. Das galt nicht nur aus leicht erklärlichen Gründen für die Täter, sondern auch für die überlebenden Opfer und für die große Masse der Mitläufer. Das ist keineswegs unnatürlich. Erst jüngst hat Christian Meier darauf hingewiesen, dass der Wunsch nach Vergessen schwerer Untaten in der Geschichte stets größer war als das Bedürfnis nach Erinnern. 1 Die zeitlich begrenzte Verdrängung traumatischer Erlebnisse scheint geradezu die Voraussetzung für eine spätere Aufarbeitung und gelungene Vergangenheitsbewältigung zu sein. Für nicht unmittelbar als Täter und Opfer Betroffene ist der Akt des Erinnerns dagegen leichter. Es ist daher kaum verwunderlich, dass sich der spanische Bürgerkrieg schon seit den späten dreißiger Jahren nicht in Spanien selbst, aber sehr wohl in Europa und unter den Linksintellektuellen der westlichen Welt zu dem Erinnerungsereignis schlechthin entwickelte, das erst drei Jahrzehnte später durch die Erinnerung an die Shoah abgelöst wurde. 2 Beide Erinnerungsorte stehen in enger Beziehung zueinander, nicht zuletzt weil der Spanische Bürgerkrieg als Vorläufer und Versuchsfeld des Zweiten Weltkriegs angesehen wird. Es ist auch nicht verwunderlich, dass die Erinnerung an den Holocaust zunächst von den USA ausging, bis sie sich dann in den siebziger Jahren schließlich auch in Deutschland durchsetzte und sich damit die Vergangenheitsbewältigung zu einem der wichtigsten Gebote zumindest in der Bundesrepublik entwickelte. Die Einzigartigkeit der Shoah drängte dabei zunächst alle anderen Erinnerungsorte in den Hintergrund und ließ Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren zu einem privilegierten und zugleich exemplarischen Ort der Vergangenheitsbewältigung und der kollektiven Erinnerungskultur werden. Im Zeitalter der Globalisierung lässt sich seit den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Universalisierung der Erinnerung an den Holocaust beobachten, wobei diese sich nicht nur auf den außerdeutschen Raum ausdehnt, sondern zugleich mehr und mehr in Bezug zu anderen Bereichen mit ähnlichen Erfahrungen in Bezug gesetzt wird. “ Im Zeitalter der Globalisierung ” , schreiben Daniel Levy und Natan Sznaider, “ kann kollektive Erinnerung nicht mehr auf einen territorial oder national fixierten Ansatz reduziert werden. ” 3 Die Verweise auf Stalinismus, Vietnam, Kambodscha, den Irak- oder Kosovokrieg, ethnische Säuberung und Vernichtung auf dem Balkan oder in Afrika ebenso wie die Konquista und in deren Gefolge die Kolonialismus- und Imperialismuserfahrung mit all ihren schlimmen Folgen in der “ Dritten Welt ” müssen dabei die Einzigartigkeit der Shoah nicht unbedingt in Frage stellen. Die Erinnerung an den Holocaust behält auch in dieser Entwicklung ihre Sonderstellung. “ Die Grundlagen für ein kosmopolitisches Gedächtnis in Europa entwickelten sich [ja gerade] aus der andauernden Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung ” (ebda.). 4 Jedenfalls scheint sich im Zuge der Globalisierung eine wachsende nationale Entgren- Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 53 - 72. Gunter Narr Verlag Tübingen zung des Identitäts- und Erinnerungsbegriffs durchzusetzen, wobei sich Universalismus und Partikularismus nicht gegenseitig ausschließen, sondern im Sinne von Roland Robertsons “ Glokalisierung ” eine dialektische Beziehung eingehen. In den 1990er Jahren greift die Universalisierung der Holocaustthematik auch auf Spanien über, dessen kollektive Erinnerungskultur infolge der langen Francodiktatur und der Versöhnungsstrategie der Jahre des Übergangs erst spät einsetzte. Im Prinzip erlebte die spanische Erinnerungskultur eine ähnliche Entwicklung wie die deutsche: Auf ein Jahrzehnt des Vergessens und Beschweigens folgte seit den späten 1980er Jahren eine intensive Verarbeitung der traumatischen Jahre des Bürgerkriegs und des Francoregimes und seit Ende des vergangenen Jahrhunderts auch eine Auseinandersetzung mit der Holocaustthematik, zunächst in Poesie und Roman. 5 Die erste Auseinandersetzung im Theater erfolgte durch Juan Mayorga, dessen beide Holocaustdramen im Zentrum dieses Beitrags stehen. 6 Juan Mayorga und das spanische Gegenwartstheater Im spanischen Gegenwartstheater lassen sich grundsätzlich zwei unterschiedliche Tendenzen erkennen, die allerdings nicht in jedem Fall klar voneinander abzugrenzen sind: auf der einen Seite ein literarisches Text- und Autorentheater, in dessen Zentrum die sprachliche Vermittlung einer dramatischen Geschichte und einer subjektiven oder kollektiven Erfahrung steht, und auf der anderen Seite ein Bildtheater, in dem die nicht sprachlichen Zeichen im Vordergrund des theatralen Spektakels stehen. Der 1965 geborene Juan Mayorga ist zweifellos der bedeutendste und erfolgreichste Vertreter eines literarischen Texttheaters innerhalb der jüngeren Dramatikergeneration, der unmittelbar an Dramatiker wie José Sanchis Sinisterra anknüpft, der das Autorentheater in Spanien in den 1980er Jahren gegenüber dem Boom des Regietheaters der 1960/ 70er Jahre wieder hoffähig gemacht hat. Mayorga gehört zu den wenigen Dramatikern seiner Generation, die in den letzten Jahren den Sprung von den kleinen Alternativtheatern auf die großen öffentlichen Bühnen Madrids geschafft haben. Von Walter Benjamin, über dessen Geschichtsphilosophie er promoviert hat, übernahm er die Auffassung von der zwiespältigen Macht der Sprache, die die Wirklichkeit gleichermaßen verschleiern wie aufschließen und die damit zugleich Instrument der Gewalt wie der Emanzipation sein könne. 7 Mayorga will die Sprache seines Theaters natürlich ausschließlich im Dienst der Wahrheitserhellung einsetzen; seine Erforschung der Sprache und die Ausschöpfung ihrer Möglichkeiten sollen allein der Erforschung einer durch Konventionen und Ideologien verdeckten komplexen Wirklichkeit dienen. Mayorgas lange Beschäftigung mit Benjamin hat seinen Hang zur Philosophie und deren gesellschaftlichen Implikationen gefördert. Seine Figuren reflektieren gerne über philosophische und gesellschaftspolitische Themen, wobei er mit Vorliebe auch tierische Figuren in dieser Funktion auf die Bühne bringt. 8 In Últimas palabras de Copito de Nieve, 2004 (Die letzten Worte Copito de Nieves) lässt er den weißen Gorilla “ Copito de Nieve ” aus dem Zoo von Barcelona, der den Spaniern durch eine beliebte Fernsehsendung bestens vertraut war, mit Michel de Montaigne über den Tod diskutieren. In La paz perpetua, 2007 (Zum ewigen Frieden) werden drei Hunde einem Selektionsprozess zur Aufnahme in eine antiterroristische Eliteeinheit unterzogen, wobei der Schäferhund Emanuel das Kantsche Konzept einer Ethik vertritt, in der die Folter als Waffe gegen den Terrorismus und zur Rettung unschuldiger Menschenleben ausgeschlossen wird. In La 54 Wilfried Floeck tortuga de Darwin, 2008 (Darwins Schildkröte) erzählt die Titelheldin ihre Flucht aus dem Garten des englischen Verhaltensforschers und ihre lange Reise von London durch ganz Europa bis zum Fall der Berliner Mauer, wobei sie über die wichtigsten politischen Ereignisse des 19. und 20. Jahrhunderts reflektiert, mit denen sie unmittelbar in Berührung kommt. Ethische, politische und soziale Probleme stehen im Zentrum von Mayorgas Theaterstücken. Die Darstellung komplexer Identitäten bis hin zu schweren Identitätsstörungen sowie die Versuchung der Macht und Machtmissbrauch sind häufig in seinem dramatischen Werk gestaltete Themen. In Cartas de amor a Stalin (1999) (Liebesbriefe an Stalin) modelliert er die konfliktive Beziehung zwischen Schriftsteller und Diktatur und die Zerstörung der Identität Bulgakows in dessen politisch-psychologischer Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Diktator. In Hamelin, 2005 (Der Rattenfänger von Hameln) gibt er Einblick in die komplexe Psyche eines Pädophilen und die ebenso komplexe Situation des Opfers und seiner Familie. Hier wie in allen seinen Stücken hütet Mayorga sich vor schlichter Schwarz-Weiß-Malerei und einfachen Urteilen. Vielmehr besteht sein Ziel darin, den Zuschauer an einer problematischen Erfahrung teilnehmen zu lassen und ihm verstörende Fragen zu stellen, die ihn zugleich verunsichern und bereichern und einen Prozess eigener Reflexion und Urteilsbildung in Gang setzen sollen. Wie die meisten seiner dramatischen Zeitgenossen sieht auch Mayorga in der Gewalt das Merkmal, das den Menschen seiner Zeit wie der Vergangenheit prägt. 9 In zahlreichen Interviews hat er das Thema der Gewalt in all seinen Schattierungen - als kollektiver wie individueller Konflikt - als zentrales Anliegen seines Theaters bezeichnet, wobei er mehr noch als die physische die moralische und psychologische Vernichtung des Menschen im Blickpunkt hat. In ihrer Denunzierung sieht er eine der wichtigsten Aufgaben seines Theaters. 10 In formaler Hinsicht ist das Theater Mayorgas durchaus auf der Höhe seiner Zeit. Die Rückkehr zum Text bedeutet keineswegs die Rückkehr zu dem konventionellen, realistischen Theatermodell der 1950/ 60er Jahre. Mayorga experimentiert vor allem mit dem theatralischen Potential der Sprache. Er versteht seine Dramentexte nicht als literarische Texte im traditionellen Sinn, sondern als Texte, denen eine unmittelbare Theatralität eingeschrieben ist. Für ihn ist das Wort Ursprung und Quelle von theatralen Bildern, Gesten und Körpern. Desgleichen experimentiert der Autor mit den Erfahrungen von Raum und Zeit, die in gleicher Weise wie das Wort zur Wahrheitsfindung und Sinnkonstruktion eingesetzt werden. Neben fragmentierten Strukturen stehen die Verfahren der Intertextualität und Metatheatralität, die Mayorgas Theater in direkte Beziehung zur Ästhetik der Postmoderne setzen. In die gleiche Richtung verweisen die Techniken, die den Zuschauer zur Partizipation an der Sinnkonstruktion der Stücke anregen sollen, sowie die offene Struktur seiner Stücke, die weniger Lösungen anbieten als den Zuschauer mit Fragen konfrontieren, mit denen er sich selbst auseinandersetzen soll. Mayorga sieht nicht nur die Gesellschaft der Gegenwart von der Gewalt geprägt. Für ihn ist die Gewalt ein Phänomen, das die gesamte Geschichte der Menschheit durchzieht, die Darwins Schildkröte als ein einziges “ Gemetzel ” bezeichnet. 11 Wie er in seinem Essay “ El dramaturgo como historiador ” bemerkt, war die Darstellung der Geschichte schon immer ein zentrales Thema des spanischen Theaters bis in die Gegenwart hinein. 12 Ähnlich wie schon Antonio Buero Vallejo, der Begründer des modernen historischen Dramas im Spanien der 1950er Jahre, betont auch er, dass er nicht an einer historizistischen Rekonstruktion der Ver- 55 Die Shoah im Zeitalter der Globalisierung. Juan Mayorga und das spanische Erinnerungstheater gangenheit interessiert ist, sondern dass er die Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart konstruiert und deutet. Die Absicht, das offizielle Geschichtsbild kritisch zu hinterfragen, teilt er mit seiner gesamten Generation. Mayorga widmet sich in erster Linie der kritischen Aufarbeitung nationaler Geschichtskonstruktionen, wie der Dekonstruktion des triumphalistischen Konquistadiskurses, der die spanische Literatur bis in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein beherrscht hatte. In dem Einakter Primera noticia de la catástrofe, 2006 (Erste Nachricht über die Katastrophe) bringt er im Stil einer dramatischen Chronik die Kritik der Benediktiner Antonio Montesinos und Bartolomé de las Casas an der Behandlung der Eingeborenen durch die spanischen Konquistadoren auf die Bühne. Mit besonderem Nachdruck aber widmet er sich der Aufarbeitung der traumatischen Jahre des Bürgerkriegs und des Francoregimes, ein Thema, dessen Behandlung unter Franco verboten und in den Jahren des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie (1975 - 1982) erfolgreich verdrängt worden war. José Sanchis Sinisterra war es, der mit Stücken wie ¡Ay, Carmela! (1987) und Terror y miseria en el primer franquismo 13 (Furcht und Elend im frühen Franquismus) als einer der ersten Dramatiker dieses Tabu durchbrach und in den 1990er Jahren auch im Theater einen wahren Boom der Erinnerung an die Ereignisse der jüngsten spanischen Zeitgeschichte in Gang setzte. Mayorga knüpfte unmittelbar an sein Konzept eines Erinnerungstheaters ( “ teatro de la memoria ” ) an: Sanchis schafft Erinnerung, überzeugt davon, dass es ohne sie keine Zukunft gibt. [. . .]. Nur wenn wir das Vergessen bekämpfen - sagt er - können wir die Gegenwart verstehen und eine Zukunft konzipieren. Daraus erwächst der Imperativ “ Vergessen verboten! ” . Daraus entsteht die Notwendigkeit eines Theaters der Erinnerung. 14 In Stücken wie Siete hombres buenos, 1990 (Sieben gute Menschen) und El jardín quemado, 2001 (Der verbrannte Garten) setzte er das Konzept eines “ teatro de la memoria ” selbst in die Praxis um. 15 Mayorga und die Shoah Im Zuge der erwähnten Universalisierung der Erinnerung an die Shoah wird dieses Thema Ende des vergangenen Jahrhunderts auch in der spanischen Literatur aufgegriffen, wobei dort die Verbindung mit der traumatischen Bürgerkriegserfahrung stets bewusst bleibt. Juan Mayorga hat der Shoah als erster spanischer Dramatiker zwei Stücke gewidmet: Himmelweg (Camino del cielo), 2003 und El cartógrafo - Varsovia, 1: 400.000 (Der Kartograph - Warschau, 1: 400.000), 2010. Für Mayorga stellt die Judenvernichtung den absoluten Höhepunkt in der Verwirklichung von Gewalt und barbarischer Entmenschlichung in der Menschheitsgeschichte dar. Er ist sich der Einzigartigkeit dieses Ereignisses stets bewusst. Der Autor hat sich auch intensiv mit der Problematik der literarischen Repräsentation dieser Thematik auseinandergesetzt. Gegenüber Adornos bekannter Aussage, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, hält er es eher mit Enzensbergers Erwiderung, dass sich die Dichtung gerade gegen jenes Verdikt behaupten müsse. 16 Besonders beeindruckt zeigt sich der Autor von den Schriften Primo Levis, die zu den ersten dokumentarischen Zeugnissen eines der Überlebenden gehören. Mit Levi teilt Mayorga die Auffassung von der Notwendigkeit der Erinnerung an die Shoah, da sie die beste Waffe im Widerstand gegen alte und neue Formen der Erniedrigung des Menschen durch den Menschen darstelle. 17 In seinem Drama La tortuga de Darwin lässt er die Schildkröte, die in einen der berüchtigten Gefangenentransporte in die Vernichtungs- 56 Wilfried Floeck lager gerät, angesichts dieser Erfahrung über ihre Angst vor und zugleich ihr Bedürfnis nach der Erinnerung an diese Barbarei reflektieren: Ich trage so viele Katastrophen, so viele Toten in mir. Um zu leben, muss man vergessen, und wenn man viel gelebt hat, muss man viel vergessen. Mein Gedächtnis ist widerstandsfähig wie ein zweiter Panzer und wiegt schwer, die Vergangenheit erdrückt mich. Plötzlich spüre ich die Last der vielen schrecklichen Erinnerungen, der vielen Toten. Aber ich erkenne auch, dass ich ihnen etwas schuldig bin, dass ich sie nicht vergessen darf, weil sie dann ein zweites Mal sterben müssten. Man muss ihrer gedenken, so weh es tut. 18 Gegen Levi ist Mayorga freilich der Überzeugung, dass eine authentische Erinnerung an die Shoah nicht nur über die dokumentarische Darstellung von Augenzeugen, sondern auch über eine fiktionale Gestaltung möglich sei. Dabei komme gerade seiner Generation, die nicht mehr zu den Augenzeugen gehöre und in der Zeit des Übergangs vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis lebe, die Aufgabe zu, die Erinnerung an diese Zeit mit Hilfe der Literatur für die Zukunft zu bewahren. Im Theater sieht er infolge von dessen öffentlichem Charakter, dadurch dass es sich vor einer Versammlung von Menschen abspiele, ein privilegiertes Medium, kollektive Erinnerungen zum Ausdruck zu bringen. Mayorga reflektiert auch immer wieder über die Gefahren der Erinnerung an die Shoah, die er vor allem in drei Aspekten sieht: in der sentimentalen Manipulation des Leidens, in der obszönen Ausstellung von Gewalt sowie in der Ausbeutung eines verhängnisvollen “ Lagerglamours ” . 19 Ferner bemüht er sich - wie in allen seinen Stücken - , jegliche simplistische Schwarz-Weiß-Malerei zu umgehen. Was ihn in erster Linie fasziniert, ist jene “ Grauzone ” , wie Primo Levi sie vor allem in seinem Buch Die Untergegangenen und die Geretteten eindrücklich beschrieben hat, die Zone der deutschen Mitläufer und der zwangsweisen jüdischen Helfershelfer in den KZs, in der die “ Gerechten ” und die “ Verdammten ” nicht mehr ohne weiteres unterschieden werden können. 20 Himmelweg (Camino del cielo) Himmelweg gestaltet eine Episode aus dem Lager Theresienstadt, das 1941 von den Nazis als Ghetto für die Juden aus dem Protektorat Böhmen und Mähren eingerichtet worden war, dann als eine Art Alterswohnsitz und Vorzeigeghetto für deutsche Juden propagiert wurde, in Wirklichkeit aber als Durchgangslager und Umschlagplatz für Juden aus Deutschland und ganz Europa diente, die zu Tausenden in den berüchtigten Todeszügen in die Vernichtungslager transportiert wurden. 21 Theresienstadt gehörte zu den Lagern, die vor allem auf ausländischen Druck von Delegationen des Internationalen Roten Kreuzes besucht wurden, denen von der nationalsozialistischen Lagerkommandatur eine geschönte Wirklichkeit vorgeführt wurde, die die Besucher in der Regel erfolgreich zu täuschen vermochte. Mayorga hatte in einem Vortrag von dem Besuch einer Delegation in Theresienstadt erfahren, die am 23. Juni 1944 stattgefunden hatte und an der neben zwei dänischen Regierungsvertretern der Delegierte des IRK in Berlin, der Schweizer Dr. Maurice Rossel, teilgenommen hatte. Die Delegation ließ sich offensichtlich von dem von den Nazis inszenierten Spektakel täuschen. Dieses war aus Anlass des Besuchs sowie eines geplanten Propagandafilms über das Vorzeigelager durch eine über Monate dauernde “ Stadtverschönerung ” vorbereitet worden, in deren Verlauf ausgewählte Stadtviertel hergerichtet, Läden, Kindergärten, Spielplätze, Cafés, ein Kino und Blumenbeete angelegt wurden. Zugleich 57 Die Shoah im Zeitalter der Globalisierung. Juan Mayorga und das spanische Erinnerungstheater wurden die Transporte in die Vernichtungslager intensiviert, um für die restlichen Bewohner mehr Platz und geräumigeren Wohnraum zu schaffen. Die Besucher wurden von dem Lagerkommandanten sowie dem Judenältesten, d. h. dem Leiter der jüdischen Selbstverwaltung, durch das Lager geführt. 22 Die Unsichtbarkeit des Horrors und die Manipulation der Opfer Im Zentrum des Stücks steht der Besuch der Delegation, die auf die Person des Vertreters des Roten Kreuzes reduziert wird. Der Besuch selbst aber wird nicht auf der Bühne vorgeführt; vielmehr besteht das Stück aus fünf sehr unterschiedlichen Teilen: einem langen an das Publikum gerichteten Monolog des Delegierten aus der Perspektive der Gegenwart, verschiedenen Szenen aus dem Judenalltag, die der Delegierte in seinem Monolog erwähnt hatte, einem längeren an die Delegation adressierten Monolog des Kommandanten, dem Hauptteil, in dem der Kommandant mit dem Judenältesten Gershom Gottfried die Vorbereitung und Durchführung der für den Besuch vorgesehenen Theaterszenen diskutiert, sowie einigen kurzen Probenszenen, in denen Gottfried das “ Spiel im Spiel ” mit seinen jüdischen Schauspielern einstudiert. Die Zeit des Stückes ist also zwischen der Gegenwart des Eingangsmonologs und den Monaten vor dem Lagerbesuch der Delegation situiert. Die Wirklichkeit des Ghettos wird nie unmittelbar vorgeführt, der Horror bleibt im Hintergrund, im Bewusstsein des Zuschauers, der die inszenierte Theaterwirklichkeit im Verlauf des Stückes allmählich erkennt und die “ wahre Wirklichkeit ” hinter der Theaterkulisse immer stärker wahrnimmt. Mayorga hat seine Vorgehensweise in einem Interview mit der elektronischen Zeitschrift Cultura BigBang selbst erläutert: Die Vorgehensweise des “ Theaters im Theater ” will nicht von der Tatsache der Judenvernichtung ablenken, sondern sich ihr vielmehr über eine Darstellung ohne jede physische Gewalt nähern. Eines der großen Themen von Himmelweg - das andere ist die Unsichtbarkeit des Horrors - ist das jener zweiten Form von Gewalt, die auf die Opfer ausgeübt wird, indem sie gezwungen werden, die Darstellung der Henker zu verteidigen. Himmelweg führt uns nicht das Leben der Opfer vor [. . .], sondern das falsche Leben, das der Kommandant für sie geschrieben hat. 23 In der Unsichtbarkeit des Horrors und der Manipulation der Opfer sieht der Autor demnach selbst die beiden entscheidenden Themen seines Dramas. In der Tat werden weder das Elend des Lagerlebens noch die Gewalt der Täter gegen die Opfer oder der Opfer untereinander gezeigt oder erwähnt. Sie werden nur symbolisch angedeutet, etwa im Pfeifen des Zuges, der jeden Morgen pünktlich um sechs die Opfer in die Vernichtung führt, in der von der SS zynisch als “ Himmelweg ” bezeichneten Rampe, die die Opfer angeblich zur Krankenstation, in Wirklichkeit aber in die Gaskammern leitet, oder in dem Rauch des Krematoriums, der über dem Lager liegt. 24 Sie werden evoziert, wenn der Kommandant in kurzen Andeutungen über die Endlösung philosophiert oder wenn Gottfried dem Kommandanten berichtet, dass die Angst angesichts des morgendlichen Pfeifens des Zuges und angesichts des beißenden Geruchs seine Schauspieler lähmt und ihr Spiel zu verhindern droht. Die Ausklammerung des unmittelbaren Horrors erfolgt nicht nur, weil die Gewalt der Shoah nicht darstellbar ist, sondern auch weil sie von der perfekten Inszenierung des Kommandanten verdeckt wird. Selbst im Nachhinein, Jahre nach Kriegsende, als der Delegierte des IRK längst um die Wirklichkeit des Ghettos weiß, besteht er noch darauf, dass der Horror für ihn damals nicht ersichtlich war. Aus der Per- 58 Wilfried Floeck spektive der Gegenwart versucht der Delegierte verzweifelt, sich vor sich selbst und dem Zuschauer zu rechtfertigen, obwohl er sich eingestehen muss, dass mehrere Anzeichen ihn hätten stutzig werden lassen müssen: so die abweisend anmutende Zurückhaltung der Ghettoinsassen ihm gegenüber, die fast automatischen Erläuterungen des Judenältesten, das künstliche Verhalten der Personen, die er auf dem Weg durch das Ghetto antrifft, oder ihr seltsamer Blick. Bei seinem Besuch im Ghettomuseum der Gegenwart empfindet er angesichts der Wahrheit Horror vor seinem damaligen positiven Bericht, doch einen Fehler will er sich nicht eingestehen: “ Heute fühle ich mich schrecklich hier zu sein, aber ich werde nicht um Verzeihung für das bitten, was ich geschrieben habe. Ich würde es wieder so schreiben, wie ich es geschrieben habe, Wort für Wort ” . 25 Der Autor selbst fällt in dem Stück kein Urteil über die Figur des Delegierten. Er stellt ihn als einen freundlichen, sozial engagierten Mann dar, der sich für das Schicksal der Gefangenen interessiert und ihnen helfen möchte, indem er dem Lager eine Sendung Medikamente zukommen lässt, zugleich aber auch als einen Mann, der nicht nachfragt, der eher dazu neigt wegzusehen, der nicht die Kraft hat, hinter die Kulissen der gespielten Wirklichkeit zu schauen, und der nur allzu leicht dazu neigt, sich der schönen Illusion einer vorgetäuschten Wirklichkeit hinzugeben. Mayorga interessierte sich für die Gestalt des Delegierten vor allem deshalb, weil er seiner Meinung nach repräsentativ für die große Mehrzahl der Zeitgenossen war, die die Gewalt der Nazis ablehnten, zugleich aber vor einer unvorstellbaren Wirklichkeit nur allzu gern die Augen verschlossen. In den folgenden Szenen wird das theatrale Spiel vorgeführt, doch der Zuschauer hat es leichter als der Delegierte, die Maskerade zu durchschauen, da er durch die Rückschau des Delegierten bereits über ein Vorwissen verfügt, das diesem anlässlich seines Besuchs nicht zur Verfügung stand. Dieses Vorwissen setzt ihn von Anfang an in die Lage, die Wirklichkeit hinter dem Spiel zu erkennen und den Horror zu imaginieren, der seinem physischen Auge vorenthalten wird. Dadurch wird der Horror keineswegs geringer, wohl aber erträglicher, da er in seiner Intensität und seiner konkreten Praxis von jedem nach seinem Belieben und seiner psychischen Belastbarkeit evoziert werden kann. Insbesondere wird der Zuschauer nicht von physischer Gewalt überrollt, sondern er wird zu eigener Imagination und Reflexion gezwungen. Mehr noch als der Delegierte interessierte Mayorga der jüdische Lagerverwalter, Gershom Gottfried, der als einziger in dem Stück einen Namen erhält. Gottfried ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Manipulation der Opfer, die das Repressionssystem der SS innerhalb des Lagers umsetzen mussten, dafür aber zugleich gegenüber den anderen Häftlingen eine privilegierte Stellung und einen gewissen Spielraum und Macht erhielten. Er gehört zu jener Grauzone, die Primo Levi in seinem Buch Die Untergegangenen und die Geretteten so eindrücklich beschrieben hat: Die hybride Klasse der Häftlinge als Vollzugspersonen bildet das Knochengerüst und weist gleichzeitig die am stärksten beunruhigenden Züge auf. Sie ist eine Grauzone mit unscharfen Konturen, die die beiden Bereiche von Herren und Knechten voneinander trennt und zugleich miteinander verbindet. Sie besitzt eine unvorstellbar komplizierte Struktur und enthält in sich soviel, wie ausreicht, um unser Bedürfnis nach einem Urteil durcheinanderzubringen. 26 Mayorga hegt eine ausgesprochene Abneigung gegenüber jeglicher Schwarz-Weiß- Malerei; er bevorzugt stets die Komplexität einer Wirklichkeit, in der sich das Böse nicht einfach vom Guten trennen lässt, in der es 59 Die Shoah im Zeitalter der Globalisierung. Juan Mayorga und das spanische Erinnerungstheater nicht “ hier die Gerechten und dort die Verdammten ” gibt, wie Levi sich ausdrückt. 27 Gottfried wird von dem Kommandanten gezwungen, aus seinen jüdischen Mitgefangenen Personen auszuwählen, die in dem für die Delegation konzipierten Theaterstück mitwirken und mehrere alltägliche Begebenheiten spielen, die der Delegation eine heile Wirklichkeit vorgaukeln sollen: das Spiel zweier pubertierender Jungen mit einem Kreisel, den Streit eines Liebespaares auf einer Parkbank, die rührenden Versuche eines kleinen Mädchens, seiner Puppe in einem Bach das Schwimmen beizubringen, das alltägliche Treiben auf einem belebten Platz. Als Belohnung wird den Beteiligten in Aussicht gestellt, dass sie den Zug, dessen morgendliches Pfeifen sie alle traumatisiert, nicht besteigen müssen. Wer sich weigert, das Spiel nach den Vorgaben des Kommandanten zu spielen und “ falsch ” spielt, geht unweigerlich den Weg zum Zug und zur Rampe. Gottfried hat die Macht auszuwählen, die Macht über Leben und Tod; er wählt möglichst viele und wird vom Kommandanten aufgefordert, die Liste der Erwählten ständig zu kürzen. Zugleich ist er gezwungen, die Spielanweisungen des Kommandanten gegenüber den Schauspielern durchzusetzen, da dies die einzige Möglichkeit ist, sein eigenes Leben und das seiner Mitspieler möglicherweise zu retten. Die Diskussionen zwischen Gottfried und dem Kommandanten über die Inszenierung des Spiels sowie die Gespräche Gottfrieds mit seinen “ Schauspielern ” zeigen die ganze Unmenschlichkeit eines Systems, das die Opfer in Täterrollen zwingt und sie unweigerlich dazu bringt, ihrer eigenen Menschlichkeit verlustig zu werden. Auch hier wird der Horror nicht offen gezeigt, doch der Zuschauer empfindet ihn in ähnlicher Weise wie der jüdische Lagerverwalter. Gottfried spielt mit, doch nicht ganz ohne vorsichtigen Widerstand. Er versucht immer wieder, seine “ Schauspieler ” vor den Vorwürfen des Kommandanten in Schutz zu nehmen, indem er beispielsweise ihr unkonzentriertes Spiel mit ihrer Angst vor dem Geruch des Rauchs und mit ihrer Traumatisierung durch das Pfeifen des Zuges entschuldigt. Sein eindrücklichster Widerstand gegen seinen Unterdrücker aber besteht nicht in Worten, sondern in deren Verweigerung, im hartnäckigen Schweigen. In dem zentralen vierten Teil, in dem der Kommandant mit Gottfried über die Inszenierung der einzelnen Szenen diskutiert, gibt dieser sich wortkarg. Nur wenn es darum geht, seine Leute zu verteidigen, kommen ihm zusammenhängende Sätze über die Lippen. Ansonsten äußert er sich lediglich durch bejahende und vor allem durch verneinende Kopfbewegungen; meistens aber durch trotziges, viel sagendes Schweigen. “ Silencio ” wird in den Bühnenanweisungen dieses Teils zu dem am häufigsten verwendeten Begriff. Stummes und zugleich doch beredtes Schweigen als ohnmächtige Waffe im Kampf gegen einen ungleichen Gegner, dem mit keiner Waffe beizukommen ist. In diesem System scheint offener Widerstand unmöglich, doch der Autor will den Zuschauer offensichtlich nicht ganz ohne einen Hoffnungsschimmer aus dem Theater entlassen. Er inszeniert eine Sekunde des offenen Widerstandes, so kurz und unscheinbar freilich, dass der ausländische Besucher, der ja, wie wir bereits wissen, gerne wegschaut oder weghört, sie gar nicht registriert zu haben scheint. Der Widerstand kommt von ganz unerwarteter Seite, nicht von Gottfried oder einem der erwachsenen Schauspieler, sondern von dem kleinen Mädchen, das die Rolle mit dem Puppenspiel am Bach spielen soll. Der Widerstand wird auch nicht auf der Bühne gezeigt, sondern lediglich von dem Kommandanten nach der Beendigung des Besuchs im Gespräch mit Gottfried verärgert kommentiert. Die Kleine fällt in der Aufführung aus der Rolle. Anstatt der Puppe beim Vorbeigehen der Delegation 60 Wilfried Floeck zuzurufen “ Sei höflich, Walter. Sag ’ diesem Herrn guten Tag ” , wirft sie sie ins Wasser und ruft: “ Flieh ’ , Rebecca, der Deutsche kommt. ” 28 Die Rolle des Widerstands fällt im Werk Mayorgas häufig den Frauen zu. In einem Interview bemerkte der Autor einmal: “ Im Theater wie im wirklichen Leben habe ich mehr Hoffnung in die Frauen als in die Männer. ” 29 In Himmelweg ist es gar ein kleines Mädchen, das aus der ihm aufgezwungenen Rolle fällt und dabei ihre männliche Puppe selbst in eine weibliche verwandelt. Sie ist der einzige Hoffnungsschimmer in einem von auswegloser Verzweiflung geprägten Drama. Mehrere Teile von Himmelweg sind Theater im Theater, Darstellungen von Probeszenen des geplanten Spiels. Selbst in den elf Szenen des zentralen vierten Teils dominiert der metatheatrale Charakter, da der Hauptteil der Szenen aus Diskussionen des Kommandanten über das zu inszenierende Spektakel besteht. Himmelweg ist eine Art von “ Großem Welttheater ” , indem allerdings nicht Gott, sondern der Teufel in der Gestalt des Lagerkommandanten der Spielleiter ist. Hier werden am Ende daher auch nicht diejenigen belohnt, die die Rolle ihres Lebens, ihrer Wirklichkeit spielen, sondern die Rolle eines trügerischen, falschen Spiels, das die Wirklichkeit verdeckt. Theater ist hier nicht Repräsentation des Menschen, der über einen freien Willen verfügt, sondern erzwungenes Spiel eines Unterdrückten, dem jede Verletzung der erzwungenen Spielregeln zum Tod gereicht. Die Welt des Ghettos ist eine Welt, in der nicht Gott, sondern in der allein der Teufel das Sagen hat. Interessant ist auch das Täterprofil, das Mayorga von dem Lagerkommandanten zeichnet. Der Kommandant entspricht in keiner Weise dem Klischee des unkultivierten, barbarischen SS-Mannes, der sich sadistisch an der von ihm verursachten Gewalt und dem Leiden der Opfer weidet, er ist vielmehr die Verkörperung des freundlichen, höflichen und hoch gebildeten Schreibtischtäters, der sich an der Lektüre der europäischen Klassiker und an seinem Traum einer einheitlichen, freien Welt der Zukunft erfreut. Die schmutzige Arbeit lässt er die anderen verrichten. Während er Gottfried beauftragt, sein “ Ensemble ” weiter zu reduzieren, sitzt er an seinem Schreibtisch und liest genüsslich in seinen geliebten Klassikern. “ Die Vorstellung, dass Kultur vor Barbarei schütze, ist spätestens seit Auschwitz dahin ” , schreibt Brigitta Elisa Simbürger. 30 Schon zehn Jahre vorher bekräftigt Mayorga dies in einem kurzen Beitrag für die Zeitschrift Primer Acto wie folgt: Nach der Erfahrung des Holocaust ist es eine gefährliche Naivität, Barbarei und Kultur einander entgegenzustellen. Man kann morgens die beste Musik hören und abends foltern. Man kann angesichts eines gemalten Körpers oder einer Skulptur vor Emotion weinen und völlig gleichgültig das Leiden eines Menschen betrachten. Eine Gesellschaft von Lesern sowie Museums- und Theaterbesuchern kann den Genozid befürworten. 31 Der Kommandant stellt sich der Delegation als überzeugter Europäer und Weltbürger vor, der jeden freien Augenblick nutzt, um die Texte seiner Lieblingsautoren Shakespeare, Calderón und Corneille zu lesen, oder der über die Ethik eines Spinoza meditiert und von der allumfassenden Liebe und dem ewigen Weltfrieden träumt. Wenn ihn der bürokratische Alltag des Lagers zu ersticken droht, setzt er sich ins Auto und fährt nach Berlin, um ins Theater zugehen. Doch der Weg in eine friedliche Zukunft sei lang und dornenreich und erfordere die gewaltsame Lösung einiger Probleme, die sich der Zukunftsutopie in den Weg stellten. Dazu gehöre auch die Lösung der Judenfrage, da die Juden die Hauptschuld an der Unzulänglichkeit der heutigen Welt trügen. Ein erster Schritt zur Lösung dieses Problems sei die Zusammenfassung aller europäischen 61 Die Shoah im Zeitalter der Globalisierung. Juan Mayorga und das spanische Erinnerungstheater Juden in Lagern wie Theresienstadt. Doch rasch wird deutlich, dass dies nur die Vorstufe für eine “ Endlösung ” ist, die sich heute noch niemand vorstellen könne: “ Das unmittelbare Ziel ist es, alle Hebräer Europas hierher umzugruppieren. Aber unser Endziel ist viel höher. Unser Endziel ist es zu beweisen, dass alles möglich ist. Alles ist möglich. Alles was wir uns erträumen können, wird geschehen. Hier, in dieser Welt. Sogar das, was wir uns nicht vorzustellen gewagt hätten. ” 32 Mehr wird nicht gesagt, doch dies genügt, um in der Phantasie der Zuschauer den Horror der Gaskammern aufleben zu lassen. Besser als in vorgeführter Gewalt kommt der Horror in der kalten, objektivierten technischen Terminologie des Kommandanten zum Ausdruck, der im Transportproblem die wichtigste Hürde zu einer raschen Endlösung sieht. Doch dieses Problem hält er mittlerweile durch die Effektivität eines Transportsystems für gelöst, das die Juden rasch und zuverlässig in hervorragend durchorganisierten und mit preußischer Pünktlichkeit ablaufenden Eisenbahntransporten in speziell eingerichtete Lager verfrachtet. Dabei ist sich der Zuschauer natürlich aufgrund einiger vorangegangener Szenen bewusst, dass die Züge ihre Insassen direkt zu der berüchtigten Himmelsrampe führen. In der metadramatischen Diskussion mit Gottfried offenbart der Kommandant seinen ganzen Zynismus, wenn er seinen Gesprächspartner einerseits über die Gesetze der aristotelischen Poetik und die Regeln des Theaters belehrt, und ihn andererseits zwingt, die Liste der Schauspieler zu kürzen, und ihn zugleich wissen lässt, dass er die Absicht hat, die von der Liste Gestrichenen auf den “ Himmelweg ” zu schicken, von dem alle wissen, dass er nicht zur Krankenstation, sondern in die Gaskammern führt. Gleichzeitig betont er, dass es dabei nicht um die Umsetzung seines eigenen Willens gehe, sondern dass sie alle auserwählte Glieder eines politischen und ideologischen Systems seien, dessen Befehle sie ausführen dürften: “ Meine Wünsche? Denkst du, dass ich Wünsche habe, Gershom? Berlin hat mich ausgesucht. Genauso wie dich. Berlin hat uns ausgesucht. ” 33 Wie bereits erwähnt, gliedert sich das Stück in fünf sehr unterschiedliche Teile, die im Wesentlichen aus Monologen und metadramatischen Darstellungen bestehen. Beide Verfahren schaffen Distanz zum Geschehen, das nicht unmittelbar vorgeführt wird, sondern lediglich über den Monolog berichtet oder auf einer zweiten Ebene als “ Spiel im Spiel ” dargestellt wird. Die komplexe Zeitstruktur und die fragmentierte Aufspaltung der Geschichte zwingen den Zuschauer, aktiv an der Konstruktion einer kohärenten Gesamtgeschichte mitzuwirken. Ferner ist er dazu aufgerufen, die Diskrepanz zwischen gespielter und historischer Wirklichkeit und hinter dem Theaterspiel die “ wahre ” Wirklichkeit zu erkennen und zu imaginieren. Die erwähnten Verfahren, einschließlich der Partizipation des Zuschauers an der Sinnkonstruktion des Stückes, sind typisch für die Ästhetik des postmodernen Theaters und prägen auch das spanische Gegenwartstheater allgemein. 34 Der Autor hat die genannten Verfahren auch in seinem zweiten Stück zur Shoah verwendet; dabei hat er dem Stück aber zugleich eine andere Fokussierung gegeben. Der Kartograph - Warschau, 1: 400.000 und das Erinnerungstheater Im Zentrum von Mayorgas Theater steht häufig eine spannende Geschichte. Der Autor erzählt aber nicht eine Geschichte um ihrer selbst willen, sondern um dem Zuschauer über die dramatische Intrige eine nachdrückliche persönliche Erfahrung zu vermitteln. Mayorga bietet freilich in der Regel keine einfach konstruierten, leicht zu 62 Wilfried Floeck durchschauenden Geschichten mit einem linearen Handlungsablauf; seine Stücke bestehen vielmehr aus zeitlich versetzten Handlungssträngen und -fragmenten, die der Leser/ Zuschauer im Verlauf der Lektüre oder Aufführung zu einem sinnvollen Ganzen zusammenführen muss. In dem 2010 entstandenen Stück El cartógrafo entfaltet er in 31 kurzen Sequenzen aus unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven und zwei ungleichen Personengruppen eine geradezu kriminalistische Intrige, die der Zuschauer erst im Verlauf des Stückes allmählich durchschaut. Ort der Handlung ist Warschau. Ein Teil der Sequenzen spielt im Warschau der Gegenwart; ihre Protagonisten sind ein spanisches Ehepaar. Der Ehemann Raúl ist ein Angestellter der spanischen Botschaft; die sensible und zu Depressionen neigende Ehefrau Blanca gerät auf einem Spaziergang durch die Stadt in eine Ausstellung über das Warschauer Ghetto aus der Zeit der deutschen Besatzung und erfährt dort von der nicht autorisierten Geschichte eines jüdischen Karthographen, der sich in einem Wohnungsverschlag versteckte, um nicht den Zug nach Auschwitz besteigen zu müssen, und der von seiner kleinen Enkelin versorgt wurde. Sein letzter und einziger Wunsch besteht darin, eine detaillierte Karte des Ghettos herzustellen, um auf diese Weise der Nachwelt das Zeugnis einer barbarischen Wirklichkeit zu hinterlassen: Warschau im Maßstab 1: 400.000, wie es im Untertitel heißt. Das Mädchen, das sich mit ihren neun bis zwölf Jahren noch relativ frei und unverdächtig in der Stadt bewegen kann, soll ihm dazu die erforderlichen Informationen beschaffen. Blanca ist von der Geschichte des Ghettos so gepackt, dass sie fortan ihre ganze Zeit der Erkundung des Ghettos und vor allem der Aufklärung der Legende des Kartographen und seiner Enkelin widmet. Der zweite Hauptteil der Sequenzen spielt im Ghetto in den Jahren 1940 bis 1943 und zeigt Szenen aus dem Leben eines alten Karthographen, der in einem Versteck eine Karte des Ghettos zu skizzieren versucht, wobei ihm seine kleine Enkelin die notwendigen Informationen verschafft. Dass diese Szenen das Geheimnis der Legende, auf die Blanca in der Gegenwart stößt, lösen könnten, wird dem Zuschauer erst ganz allmählich im Verlauf des Stückes bewusst; aber das Geheimnis wird nicht gänzlich gelüftet; es bleibt bis zum Schluss unklar, ob die beiden jüdischen Protagonisten wirklich existiert haben, was aus ihnen und vor allem was aus der geheimnisvollen Ghettokarte geworden ist. Zu den 31 Sequenzen hinzu kommen acht Standbilder, in denen zunächst der Alte und das Mädchen und schließlich die beiden jeweils allein oder gemeinsam mit Blanca bzw. mit Blanca und Raúl in eingefrorenen Posen zu sehen sind. In diesen Bildern mit einer höchst poetischen Ausstrahlung werden Vergangenheit und Gegenwart und werden die Protagonisten beider Zeitebenen von Anfang an eng miteinander verknüpft. Am Ende ihrer intensiven Erkundungen gelingt es Blanca, die jüdische Karthographin Deborah ausfindig zu machen, die einzige ihres Fachs, die das Ghetto überlebt hat. Sie erzählt ihr ihre Lebensgeschichte, die mit derjenigen des kleinen Mädchens aus den Szenen der vierziger Jahre übereinstimmt, bestreitet aber energisch, mit der Kleinen identisch zu sein, deren Geschichte sie in das Reich der Legende verweist. Doch die Hinweise auf die Identität der beiden Figuren sind so eindeutig, dass der Zuschauer ihr kaum Glauben schenken dürfte. Hauptthema des Dramas ist die Erinnerung an eine Zeit, deren Spuren nach der Niederschlagung des Ghettoaufstandes 1943 so stark verwischt wurden, dass sie in der Gegenwart nur noch mühsam rekonstruiert werden können. Die Erinnerung erfolgt aus einer doppelten Perspektive: aus der Zeitzeugenschaft zweier Betroffener sowie aus der Gegenwart einer Generation, die die Zeit des Nationalsozialismus selbst nicht erlebt 63 Die Shoah im Zeitalter der Globalisierung. Juan Mayorga und das spanische Erinnerungstheater hat. Einziges Ziel des Alten und seiner kleinen Enkelin ist es, eine Landkarte des Ghettos und seiner unmenschlichen Zustände zu erstellen, um auf diese Weise der Nachwelt die Wirklichkeit dieser Zeit zu vermitteln und ihr die Erinnerung an die Vergangenheit zu ermöglichen. Der Kleinen gelingt es, eine Kopie der fast fertigen Karte durch die geheimen Wege der Kanalisation in den freien Teil der Stadt zu bringen und in sichere Verwahrung zu geben. Als die Situation nach dem Aufstand immer bedrohlicher wird, bitte der Alte das Mädchen, sich selbst über die geheimen Fluchtwege zu retten, nicht zuletzt auch deshalb, um der Nachwelt gegenüber Zeugnis ablegen zu können: “ Wenn es dir gelingt, dich zu retten, musst du der Welt erzählen, was du gesehen hast. ” 35 Doch die Kleine lehnt jede Flucht ab; sie ist wie besessen, die unmenschliche Wirklichkeit zu erkunden und dem Großvater zu übermitteln, damit er alle Details in seine Karte aufnehmen kann. Die gleiche Besessenheit wie das Mädchen treibt auch Blanca, die Protagonistin der Gegenwart, an. Ihr ganzes Lebensziel scheint darin zu bestehen, die Erinnerung an die Zeit des Ghettos, an dessen Schauplatz sie selbst im modernen Warschau - zunächst ohne es zu wissen - eine Wohnung bezogen hat, wiederzubeleben und wach zu halten. In Raúl und Blanca hat Mayorga die beiden Reaktionsmöglichkeiten angesichts einer traumatischen Vergangenheit verkörpert: hier Vergessen und Verdrängen, dort Erinnern und Zeugnis ablegen. Es sind die Reaktionen, die der Autor in seinem eigenen Land angesichts der Erfahrung des Bürgerkrieges erlebt hat: Erinnerungsverbot unter Franco, der “ Pakt des Schweigens ” in den Jahren des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie sowie die ersten Bemühungen um die Vergangenheitsbewältigung seit den späten 1980er Jahren, die er seit den späten 1990er Jahren mit seinen eigenen Stücken zum Bürgerkrieg nachhaltig unterstützt hat. Raúl versucht alles, um seine Frau von ihrem Vorhaben abzubringen: “ Das einzig Wichtige ist, nichts zu tun, was belästigen könnte. Wir sind weder Polen, noch Juden, noch Deutsche. Welche Stadt hat nicht ihre Wunden, ihre Schattenseiten? ” 36 Raúl ist der Vertreter jenes “ pacto de silencio ” , den manche Spanier noch heute gegenüber ihrer eigenen Vergangenheit vertreten. Blanca dagegen kämpft entschlossen für die Aufdeckung der vergangenen Unmenschlichkeit und die Bewahrung der Erinnerung an diese Zeit, damit sie sich in der Gegenwart oder Zukunft nicht wiederhole. Es ist bezeichnend, dass auch hier wieder zwei Frauen die Vertreter jener Rebellen sind, die gegen die Unmenschlichkeit und ihre Verdrängung ankämpfen: ein kleines Mädchen - wie in Himmelweg - und eine hoch sensible junge Frau. El cartógrafo ist ein Modellfall jenes “ teatro de la memoria ” , für das José Sanchis Sinisterra seit seinem ersten Bürgerkriegsstück ¡Ay, Carmela! unermüdlich kämpft und das Mayorga ebenso hartnäckig vertritt und zugleich auf nichtspanische Themen und Zeiten ausdehnt. Mayorgas Imperativ “ Vergessen verboten! ” könnte auch als Motto über dem Stück El cartógrafo stehen. Auch in diesem Stück wird der Horror des Ghettos nicht auf der Bühne vorgeführt. Auch hier gilt Mayorgas Diktum von der “ invisibilidad del horror ” . Allerdings wird die Ghettowirklichkeit in El cartógrafo intensiv aus der Perspektive der Augenzeugen beschrieben. Nach ihren Streifzügen durch die Straßen berichtet die Kleine dem Großvater ausführlich von den Zuständen im Ghetto, von der Gewalt der Besatzer genauso wie von dem nicht minder gewalttätigen Lebenskampf der Opfer: Zwei kämpfen um ein Päckchen. Ein Junge stiehlt einer Frau ein Brot, die Leute verfolgen ihn, doch er steckt es sich in den Mund, bevor sie ihn ergreifen. Mancherorts gibt es keinen Strom, mancherorts kein Wasser. Es fehlt Wasser, um die brennenden Häuser zu 64 Wilfried Floeck löschen. Seit Wochen schon kommt keine Kohle mehr an; die Leute versuchen ein Zimmer zu heizen, in dem sie alle zusammen schlafen. Die Ärzte haben nichts, um die Schmerzen der Kranken zu lindern. In der Schule gibt es keine Kreide. [. . .]. Von hier kommen morgens diejenigen, die die Toten auf den Gehsteigen einsammeln. Es treffen weiter Menschen ein. Im ganzen Ghetto Gerüchte. Man kann sie nicht glauben. Ein Mann, dem die Flucht aus Lodz gelang, erzählt, dass dort . . . 37 Doch der Großvater unterbricht sie. Er will keine Gerüchte, sondern Tatsachen hören; und die Kleine erzählt vom Hunger, von der Ohnmacht der Bewohner, von den Verhaftungen und vor allem von den Deportationen, die vom Umschlagplatz ausgehen und nach Auschwitz führen. Sie erzählt vom Aufstand des Lagers und ihrer Angst vor der bevorstehenden Repression der Nazis. Dabei ist ihr Berichtsstil knapp, sachlich und nüchtern, geradezu emotionslos und distanziert, was den Horror beim Zuschauer nicht über die Sinne, sondern über den Intellekt und durch die Reflexion über den Inhalt der Mitteilung hervorruft. Besonders eindrücklich erscheint der Horror in einzelnen Standbildern, in denen Großvater und Enkelin atemlos und starr vor Schreck auf dem Boden ihres Verstecks liegen und dem bedrohlichen Geräuschen der nahen Razzien oder dem durchdringenden Pfeifen der Lokomotive lauschen. Solche Szenen sprechen auch die Sinne des Zuschauers an und zwingen ihn zugleich, sich die Wirklichkeit des Horrors mit Hilfe seiner Einbildungskraft vorzustellen. Wir hatten zu Beginn von dem jüngsten Phänomen der Universalisierung der Horrorerfahrung der Shoah gesprochen. Diese besteht nicht nur darin, dass die Erinnerung an die Schrecken der Shoah in internationalem Rahmen literarisch oder kinematographisch gestaltet wird, sondern dass sie auch auf andere Erfahrungen politischer Gewalt ausgedehnt wird. Dies ist auch in El cartógrafo deutlich zu erkennen, und zwar vor allem über die Gestalt Deborahs, die wohl mit der Kleinen aus dem Ghetto identisch ist. Mayorga hat noch weitere Zeitebenen in sein Stück eingeführt. Drei Sequenzen zeigen Deborah als Kartographin in der Zeit nach der Befreiung des Ghettos. Ende der 1960er Jahre (Sequenz 27) stellt sie Karten für ein staatliches Institut her. Doch sie will kündigen, da sie nicht länger ertragen kann, dass ihre Karten von der Staatssicherheit umgeschrieben werden, um mit ihrer Hilfe ausländische Staatsfeinde zu täuschen. Ihr Chef macht ihr unmissverständlich klar, dass eine Kündigung unangenehme Folgen für sie und ihre Familie hätte. Deborah ist vom Regen in die Traufe geraten. Die Zustände unter dem Kommunismus sind kaum besser als unter den Nazis. Sequenz 30 zeigt sie Anfang der 1980er Jahre. Sie wird von der Staatssicherheit verhört, die sie verdächtigt, dass sie Karten für die ausländischen Staatsfeinde zeichnet, was sie bestreitet. Mitte der 1990er Jahre (Sequenz 34) stellt sie bei der Ausländerbehörde ein Gesuch, nach Sarajevo reisen zu dürfen, um dort Informationen zu sammeln, die es ihr ermöglichen würden, eine Karte vom unterirdischen Kanalsystem der Stadt zu zeichnen, um den Bewohnern Fluchtwege aus der vom Bürgerkrieg heimgesuchten Stadt zu ermöglichen. Ihr Gesuch wird mit Hinweis auf ihr fortgeschrittenes Alter abgelehnt. In ihrer Begegnung mit Blanca, die in der Gegenwart stattfindet, erfährt der Zuschauer, dass sie unter der kommunistischen Herrschaft mehrere Jahre im Gefängnis saß. Er erfährt ferner, dass sie Landkarten und Pläne zum Exil spanischer Republikaner, zu Treblinka und Sarajevo oder europäische Landkarten zeichnete, die den nordafrikanischen Emigranten Wege zur Einreise aufzeigten: Deborah: Dies ist das Lager von Treblinka, Maßstab 1: 1000. Fietkau-Route: mit diesem Plan in der Hand gelang 65 Die Shoah im Zeitalter der Globalisierung. Juan Mayorga und das spanische Erinnerungstheater es einigen, rechtzeitig die Pyrenäen zu überschreiten. Es gibt Pläne, die töten, und Pläne, die retten. Sehen Sie sich diese beiden an. Blanca: Sarajevo. Und Sarajevo! Deborah: Dies ist der Plan der Heckenschützen. Glücklicherweise zeichnete jemand anders diesen anderen: die unterirdische Stadt. Blanca: Zwei Kartographen: ein Teufel und ein Engel . . . Und dieser? Deborah: Europäische Landkarte für Afrikaner. Seit ich im Ruhestand bin, zeichne ich nur noch nützliche Karten. Wie in ein Land kommen, wo man Hilfe erhält . . . Karten für Menschen auf der Flucht. Ich betrachte die Welt aus der Perspektive des Ghettos. 38 Die Botschaft ist klar: Horror und Ghetto sind allgegenwärtig, heute wie gestern, in Europa wie in Afrika. Der Kampf gegen Gewalt und um Erinnerung geht weiter. Mit seiner geradezu kriminalistischen Inszenierung der dramatischen Intrige, mit der Fragmentierung der Handlung, mit einer komplexen Zeitstruktur, mit den poetischen, stets unmittelbar auf die Handlung bezogenen Standbildern, mit seiner komplexen Figurenzeichnung und den metahistoriographischen Reflexionen über die Möglichkeit einer (Re-)konstruktion der Vergangenheit ist Juan Mayorga ein eindrückliches Drama gegen das Vergessen und Verdrängen und für das Hinsehen und Erinnern gelungen, das von der Shoah ausgeht und bei den Horrorszenarien der Gegenwart landet. Theater zwischen Postmoderne und Engagement Die Analyse der beiden Stücke Mayorgas hat gezeigt, dass seine entschiedene Rückkehr zu einem Texttheater sowie zu einer nacherzählbaren Geschichte keineswegs eine Rückkehr zum konventionellen realistischen Theater der 1950er und 1960er Jahre bedeutet. Das postfranquistische Theater eines Mayorga - und darin ist es durchaus repräsentativ für das spanische Gegenwartstheater 39 - arbeitet mit Techniken, die eher für die Ästhetik der Postmoderne charakteristisch sind. Mit seiner offenen Struktur, seiner Ablehnung jeglicher simplistischer Schwarz-Weiß-Malerei und seiner Aufforderung an die Zuschauer, an der Sinnkonstruktion mitzuwirken, steht es auch in deutlicher Nähe zu einer postmodernen Mentalität, der allzu sichere Wahrheiten und Überzeugungen abhanden gekommen sind. Allerdings vertrat das spanische Theater nie einen radikalen Postmodernismus, wie er in einigen Ländern des Westens ausgeprägt war, in dem epistemologischer Relativismus, die Haltung des “ any thing goes ” sowie ästhetizistische Spielerei und literarische Selbstreferenz dominierten. Dem spanischen Theater der Postmoderne war ein ethischer Anspruch stets inhärent. 40 Unter dem Eindruck neuerlicher Kriege und terroristischer Katastrophen kann man nicht nur in der spanischen Literatur der beiden vergangenen Jahrzehnte eine verstärkte Rückkehr zu ethischem und politischem Engagement beobachten. Der “ ethical return ” wird in den Kulturwissenschaften allenthalben registriert. 41 Dies gilt auch für das spanische Gegenwartstheater und in besonderer Weise für Juan Mayorga. Der Autor betont immer wieder, dass das Theater für ihn schon aufgrund seiner Aufführungssituation politisch ist. In einem persönlichen Manifest, das er zum Welttheatertag am 27. März 2003 unter dem Titel “ El teatro es un arte político ” veröffentlich hat, schreibt er: Das Theater ist eine politische Kunst. Theater geschieht vor einer Versammlung. Das Theater versammelt die Polis und tritt in einen Dialog mit ihr ein. Allein in der Begegnung von Schauspielern und Stadt, und nur dann 66 Wilfried Floeck findet Theater statt. Es ist nicht möglich, Theater zu machen, ohne Politik zu machen. 42 Allerdings ist politisches Engagement für Mayorga nicht gleichbedeutend mit der Verkündung einer politischen Botschaft oder mit der selbstgewissen Überzeugung, eine Lösung für die großen Probleme dieser Welt zu besitzen. Das Theater Mayorgas ist ein Theater der Fragen, nicht der sicheren Antworten und einfachen Lösungen. Er will dem Zuschauer mit seinem Theater eine Erfahrung vermitteln, mit der er sich selbst aktiv auseinandersetzen soll. Zudem spricht Mayorga lieber von Verantwortung als von Engagement. 43 In der Tat sieht er sich als Dramatiker in der Verantwortung, vor der Polis die drängenden Fragen der Gegenwart zu verhandeln. Die Probleme der Gegenwart haben nur allzu oft ihren Ursprung in der Vergangenheit. Daher sieht er sich auch in der Pflicht, die Erinnerung an die traumatischen Ereignisse vor allem der jüngsten Vergangenheit in seinem Theater wach zu halten. Politisches Theater und Erinnerungstheater sind für ihn nicht zu trennen. So heißt es konsequent in seinem Manifest weiter: Wir werden nicht schweigen, weil wir über die Erinnerung verfügen. Das Theater ist eine Kunst der Erinnerung. [. . .]. Wir werden nicht schweigen. Heute weniger als je zuvor werden wir schweigen. Nein. 44 Zur Rezeption von Mayorgas Theater in Deutschland Juan Mayorga ist in Spanien wohl der erfolgreichste Dramatiker der jüngeren Generation. Neben Sergi Belbel ist er der einzige, der sich auch international allmählich durchzusetzen beginnt. Ein Großteil seiner Stücke ist ins Englische, Französische, Italienische, Portugiesische und Griechische übersetzt, einige wenige liegen in rumänischer, russischer, bulgarischer, kroatischer, arabischer, dänischer und norwegischer Übertragung vor. Himmelweg wurde 2005 im Londoner Royal Court Theatre in der Regie von Ramin Gray, 2006 in Irland, 2007 im Teatro San Martín von Buenos Aires in der Regie von Jorge Eines, im Théâtre de la Tempête in Paris in der Regie von Jorge Lavelli und in Oslo, 2009 in New York und Kopenhagen sowie 2010 in Montevideo und Sidney aufgeführt. In Deutschland sind lediglich Darwins Schildkröte (La tortuga de Darwin) und Der Junge in der Tür (El chico de la ultima fila) von Stefanie Gerhold sowie Himmelweg von Herbert Fritz übersetzt. 45 Keines der Stücke erlebte bislang eine deutsche Erstaufführung. 46 Dieser Befund deckt sich mit der Situation des spanischen Gegenwartstheaters in Deutschland, um die es äußerst schlecht bestellt ist. Mit der großen Ausnahme von García Lorca wird kaum ein Autor des 20. Jahrhunderts auf deutschsprachigen Bühnen aufgeführt. Von den lebenden Dramatikern wird allein Sergi Belbel relativ regelmäßig gespielt. Ganz vereinzelt kann man das ein oder andere Stück von José Sanchis Sinisterra, Josep Maria Benet i Jornet, Javier Tomeo oder Jordi Galcerán sehen. Es scheint, als müsse man spektakuläres Bild- und Musiktheater im Stil von katalanischen Gruppen wie Els Comediants und La Fura des Baus oder provozierendes Bild- und Regietheater im Stil von Rodrigo García und Angélica Liddell bieten, um wenigstens auf Theaterfestivals präsent zu sein. Von den Regisseuren hat sich allein Calixto Bieito mit seinen provokanten Inszenierungen durchgesetzt. Doch in seiner jüngsten Inszenierung eines Spaniers in Mannheim ist auch ihm wieder einmal nur García Lorca eingefallen - und das noch in einer höchst konventionellen Aufführung. Als ob Spanien nicht mehr als Bernarda Albas Haus zu bieten hätte! Im Gegensatz zum Roman konnte sich das spanische Theater in Deutschland in der Tat nicht etablieren. Die Ursachen hierfür 67 Die Shoah im Zeitalter der Globalisierung. Juan Mayorga und das spanische Erinnerungstheater dürften vielfältiger Natur sein. 47 Die Kritik hat dies lange Zeit mit der allgemeinen politischen und kulturellen Isolierung Spaniens in Europa in Zusammenhang gebracht. Doch ist dieses Argument zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr gültig. Spanien unterscheidet sich heute nur noch wenig von Mitteleuropa. Wichtiger für die geringe Akzeptanz des spanischen Theaters scheint mir zu sein, dass die deutsche Bühne in Bezug auf das ausländische Theater in den letzten Jahrzehnten vor allem von einer angelsächsischen Tradition geprägt ist. Diese Situation hat natürlich auch etwas mit den Sprachbarrieren zu tun. In der deutschen Theaterlandschaft spricht und versteht man im Allgemeinen kein Spanisch. Dies gilt auch für die Theateragenturen als die zentralen Vermittler zwischen den Autoren und den Theatern und die verantwortlichen Auftraggeber für deutsche Übersetzungen. Diese Situation ist unbefriedigend, zumal innerhalb einer Europäischen Union, die sich die Überwindung politischer, kultureller und sprachlicher Barrieren auf ihre Fahnen geschrieben hat. Hier bleibt den Kulturvermittlern auf beiden Seiten der Pyrenäen noch viel zu tun. In Deutschland müsste es vor allem die Aufgabe von Theateragenten, Verlegern, Übersetzern, Hispanisten sowie Intendanten und Dramaturgen sein, die Hürden abzubauen und auch dem spanischen Gegenwartstheater mehr Gehör auf deutschen Bühnen zu verschaffen. Gute Autoren und Texte sind zur Genüge vorhanden. Juan Mayorgas Dramen zur Shoah hätten eine deutsche Aufführung mehr als verdient. Bibliographie Adler, Hans Günther (²1960). Theresienstadt 1941 - 1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Tübingen. Agamben, Giorgio (2007). Was von Auschwitz bleibt: Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt am Main. Bachmann-Medick, Doris (²2007). Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kuturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg. 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Übersetzung von Herbert Fritz u. a. (Manuskript). Mayorga, Juan (2008). La tortuga de Darwin. Ciudad Real: Ñaque. Zit. wird nach der deutschen Übersetzung von Stefanie Gerhold, Darwins Schildkröte, Berlin: Pegasus Theater- und Medienverlag (2008). (Bühnenmanuskript). Mayorga, Juan (2010). El cartógrafo - Varsovia 1: 400.000, in: Sucasas/ Zamora 2010: 349 - 390. Mayorga, Juan (1999 a). “ El dramaturgo como historiador ” , in: Primer Acto, 280: 8 - 10. Mayorga, Juan (1999 b). “ Cultura global y barbarie global ” , in: Primer Acto, 280: 60 - 64. Mayorga, Juan (2004). “ Sanchis y la memoria común ” , in: Las puertas del drama. Revista de la Asociación de Autores de Teatro, 20: 36. Mayorga, Juan (2007). “ La representación teatral del Holocausto ” , in: Raíces, 73: 27 - 30. Meier, Christian (2010). Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. München. Monleón, José (2004). “ Himmelweg de Juan Mayorga. La construcción de la memoria ” , in: Primer Acto, 305: 25 - 27. 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München, 2010, 7 ff. 2 Diner, Dan. “ Icons of European Memory Juxtaposed: The Spanish Civil War and the Holocaust. ” The Holocaust in Spanish Memory: Historical Perceptions and Cultural Discourse. Eds. Antonio Gómez López-Quiñones, Susanne Zepp. Leipzig, 2010, 33. 3 Levy, Daniel and Sznaider, Natan. Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt am Main, 2007, 9. Ähnlich: Thamer, Hans-Ulrich. “ Der Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur vor und nach 1989. ” Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Ed. Jens Birkmeyer, Cornelia Blasberg. Bielefeld, 2006, 93. 4 Levy, Szaider 2007, 9. 69 Die Shoah im Zeitalter der Globalisierung. Juan Mayorga und das spanische Erinnerungstheater 5 Vgl. Sucasas, Alberto and Zamora, José A. (Ed.). Memoria - política - justicia. En diálogo con Reyes Mate. Madrid, 2010; Gómez López-Quiñones/ Zepp 2010. 6 Zwar schrieb bereits Max Aub 1942/ 43 im mexikanischen Exil mit San Juan ein Stück über das Schicksal der Juden unter dem Nationalsozialismus, allerdings erfolgte dies noch ohne jede Kenntnis der Politik der Judenvernichtung in den Konzentrationslagern, wie der Autor später selbst betonte (vgl. Zepp, in: Gómez López-Quiñones/ Zepp 2010, 173). Für die Erinnerungskultur Spaniens ist bezeichnend, dass das Stück erst 1998 seine Premiere in Spanien erlebte. Am 3. März 2011 wurde im Madrider Teatro Español im Rahmen eines Triptychons über das Thema der Heiligkeit mit dem Titel Santo ein Stück von Ernesto Caballero mit dem Titel Oratorio para Edith Stein aufgeführt. Protagonistin des Dramas ist die zum Katholizismus konvertierte Jüdin Edith Stein kurz vor ihrer Ermordung in Auschwitz. Im Zentrum stehen vor allem ihre fiktiven Dialoge mit einem intellektuellen, agnostischen Nazi-Offizier, der im Gespräch mit dem Häftling Nr. 44075 sich vergeblich Themen wie Glaube, ewiges Leben oder Wahrheit zu nähern versucht. Das Thema des Holocaust spielt dabei nur sehr am Rande eine Rolle. Die beiden anderen Dramen von Ignacio del Moral und Ignacio García May haben mit der Holocaustthematik gar nichts zu tun. 7 Gabriele, John P. “ Juan Mayorga: una voz del teatro español actual. ” Estreno, 26.2 (2000), 9. 8 Gutiérrez Carbajo, Franciso. “ El animal no humano en algunas obras teatrales actuales. ” Anales de la Literatura Española Contemporánea. 34.2 (2009), 453 - 478. 9 Stehlik, Eva Maria. Thematisierung und Ästhetisierung von Gewalt im spanischen Gegenwartstheater. Hildesheim, 2011. 10 Als Beleg sei nur eine Stelle aus einem Interview mit John P. Gabriele zitiert: “ Ich glaube, dass es ein Thema gibt, das mein Werk beherrscht. Es handelt sich um die Analyse der Gewalt. Die Gewalt ist ein Thema, das mich sehr beschäftigt und das in irgendeiner Weise alle meine Texte durchzieht. Dabei verstehe ich unter Gewalt die Herrschaft eines Menschen über den anderen oder einer Wirklichkeit über ein menschliches Wesen, gleich ob Mann oder Frau. [. . .]. Die Gewalt ist das große Übel. Gewalt ist der Versuch, einen anderen zu vernichten, aber nicht durch den physischen Tod, sondern durch etwas, was viel perverser ist: der moralische Tod, die Erniedrigung, die moralische Vernichtung eines menschlichen Wesens ” (Gabriele, John P. “ Entrevista con Juan Mayorga. ” Anales de la Literatura Española Contemporánea, 25.3 (2000), 1097.) Soweit nichts anderes vermerkt ist, stammt die deutsche Übersetzung jeweils von mir. 11 Mayorga, Juan. La tortuga de Darwin. Ciudad Real, 2008. Zit. wird nach der deutschen Übersetzung von Stefanie Gerhold, Darwins Schildkröte. Berlin, 2008 (Bühnenmanuskript), 20. 12 Mayorga, Juan. “ El dramaturgo como historiador. ” Primer Acto, 280 (1999), 8. 13 Das Stück wurde zwar erst 2002 uraufgeführt und 2003 veröffentlicht, der Autor hatte es am zum Teil bereits 1979/ 80 verfasst. 14 Mayorga, Juan. “ Sanchis y la memoria común. ” Las Puertas del Drama. Revista de la Asociación de Autores de Teatro. 20 (2004), 36. 15 Zur spanischen Vergangenheitsbewältigung und zum Erinnerungstheater sowie der zu diesem Themenkomplex mittlerweile reichhaltigen Literatur vgl. Floeck, Wilfried. “ Del drama histórico al teatro de la memoria. Lucha contra el olvido y búsqueda de identidad en el teatro español reciente. ” Tendencias escénicas al inicio del siglo XXI. Ed. José Romera Castillo. Madrid, 2006, 185 - 209, und Floeck, Wilfried und García Martínez, Ana. “ Memoria y olvido entre bastidores: Guerra Civil y franquismo en el teatro español después de 1975. ” Escribir después de la dictadura. La producción literaria y cultural en las posdictaduras de Europa e Hispanoamérica. Ed. Janett Reinstädler. Frankfurt am Main/ Madrid, 2011, 97 - 119. 16 Zu der Diskussion um die Möglichkeit einer literarischen Repräsentation der Shoah vgl. etwa Simbürger, Brigitta Elisa. Faktizität und 70 Wilfried Floeck Fiktionalität: Autobiografische Schriften zur Shoah. Berlin, 2009, 29ff und 37 ff. 17 Mayorga, Juan. “ La representación teatral del Holocausto. ” Raíces, 73 (2007), 27 - 30. 18 Mayorga 2008, 41. 19 “ La manipulación sentimental del sufrimiento, la exhibición obscena de la violencia, la explotación del siniestro ‘ glamour ’ del Lager. . . ” (Mayorga 2007, 30). 20 Levi, Primo. Die Untergegangenen und die Geretteten. München, 1990, 33 - 68. Ferner: Agamben, Giorgio. Was von Auschwitz bleibt: Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt am Main, 2007, 18 ff. 21 Vgl. die monumentale Arbeit von Adler, Hans Günther. Theresienstadt 1941 - 1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Tübingen, ²1960; ferner Jäckel, Eberhard; Longerich, Peter and Schoeps, Julius H. (Eds.). Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. 3 Bde. Berlin, 1993, III, 1403 - 1407; Benz, Wolfgang. Der Holocaust. München, 1995, 81 - 92. 22 Zu dem Besuch dieser Delegation vgl. Adler 1960: 150 - 184. 23 Der Text des Interviews wurde mir freundlicherweise vom Autor zur Verfügung gestellt. 24 In der historischen Wirklichkeit war Theresienstadt kein Vernichtungslager. Von hier gingen die Transporte vielmehr in die Gaskammern von Auschwitz. Mayorga hat in seinem Stück Theresienstadt und Auschwitz miteinander verbunden. 25 Ich zitiere das Stück nach der deutschen Übersetzung von Herbert Fritz. Da diese nicht publiziert ist, gebe ich in den Klammern jeweils die Seitenzahl der spanischen Ausgabe in der Zeitschrift Primer Acto (2004) an. 26 Levi 1990, 34. 27 Levi 1990, 34. 28 Mayorga 2004, 54. 29 Henríquez, José. “ Entrevista con Juan Mayorga: El autor debe escribir textos para los que todavía no hay autores. ” Primer Acto, 305 (2004), 20 - 24. 30 Simbürger, Brigitta Elisa. Faktizität und Fiktionalität: Autobiografische Schriften zur Shoah. Berlin, 2009, 20. 31 Mayorga, Juan. “ Cultura global y barbarie global. ” Primer Acto, 280 (1999), 61. 32 Mayorga 2004, 43. 33 Mayorga 2004, 52. 34 Allgemein: Floeck, Wilfried. “ Das spanische Theater am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert. ” Spanien heute. Ed. Walther L. Bernecker. Frankfurt am Main, 2008, 454 ff. 35 Mayorga, Juan. “ El cartógrafo - Varsovia 1: 400.000. ” Sucasas/ Zamora 2010, 384. 36 Mayorga 2010, 358. 37 Mayorga 2010, 366. 38 Mayorga 2010, 388 f. 39 Floeck 2008. 40 Floeck, Wilfried. “ ¿Entre postmodernidad y compromiso social? El teatro español a finales del siglo XX. “ Teatro y Sociedad en la España actual. Eds. Wilfried Floeck und Ma. Francisca Vilches de Frutos. Madrid/ Frankfurt am Main, 2004, 189 - 207. 41 Vgl. jüngst: Bachmann-Medick, Doris. Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kuturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg, ²2007, 381; Pewny, Katharina. Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance. Bielefeld, 2011, 7 - 22; Waldow, Stephanie (Ed.). Ethik im Gespräch. Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute. Bielefeld, 2011, 7 - 19. 42 Zit. nach Paco, Mariano de. “ Juan Mayorga: Teatro, historia y compromiso. ” Monteagudo, 11 (2006), 59. 43 Paco 2006, 57. 44 Paco 2006, 60. 45 Darwins Schildkröte liegt als Bühnenmanuskript im Berliner Pegasus Theater- und Medienverlag, Der Junge in der Tür bei Hartmann und Stauffacher in Köln vor. Himmelweg wurde von Herbert Fritz gemeinsam mit einer Studentengruppe im Rahmen eines Seminars an der Universität Gießen übersetzt und liegt als Manuskript beim Übersetzer vor. 46 Das Staatstheater Wiesbaden kündigt für November 2014 die deutschsprachige Erstaufführung von Der Junge in der Tür an. 47 Floeck, Wilfried. “ Die Rezeption des spanischen Theaters des 20. Jahrhunderts im 71 Die Shoah im Zeitalter der Globalisierung. Juan Mayorga und das spanische Erinnerungstheater deutschsprachigen Raum. ” “ Die ganze Welt ist Bühne. ” “ Todo el mundo es teatro. ” Festschr. für Klaus Pörtl zum 65. Geburtstag. Eds. Matthias Perl/ Wolfgang Pöckl. Frankfurt am Main, 2003, 245 - 266. 72 Wilfried Floeck Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung Patrice Pavis (Paris) Ein Gespenst geht in Europa und der Welt des Theaters um: das Gespenst des Zuschauers. Dieses “ neue ” Konzept beschäftigt die akademische Reflexion und die Verwaltung der Theater derart, dass ihm allseits zahlreiche Bücher und Studien gewidmet werden. Dieses nur scheinbar gute Konzept, das für jeden offensichtlich und allen leicht zugänglich erscheint, wird leider schnell zum Albtraum des Theoretikers, eben weil das Offensichtliche zu keiner wirklichen Erkenntnis führt. Allerdings täte die Aufführungsanalyse tatsächlich gut daran, das Ende der theatralen Kette besser kennen zu lernen: die menschliche Person, der all diese unsinnige Arbeit von vorneherein und letztendlich gewidmet ist. Die folgenden Ausführungen und die kritische Synthese haben keinen anderen Anspruch als dem Leser (ein anderer vager Terminus! ) einige Schlüssel an die Hand zu geben, die ihm einen schnelleren Zugang zur Problematik und aktuellen Untersuchungen zum Zuschauer ermöglichen. 1. Der zur Debatte stehende Zuschauer 1.1 Der Zuschauer ist ein Subjekt Dieses “ zuschauende ” Subjekt ist zu konstituieren. Wir wissen beinahe nichts über den Zuschauer, außer dass er ein Objekt “ betrachtet ” : eine Bühne, eine Aufführung, einen Schauspieler, ein Ereignis, und noch viele andere, oft imaginäre Dinge. Das klassische Subjekt, beispielsweise das kartesianische, ist eines, das denkt und sich somit seiner Existenz versichert. Aus der marxistischen Perspektive ist das Subjekt ein Subjekt der Sprache, kultureller Codes, sozialer Konventionen, Institutionen; angesprochen/ angerufen durch das, was Althusser die ideologischen Staatsapparate nennt. Für Freud sieht das mit den tragischen Helden der Bühne konfrontierte Subjekt alles, verneint dabei aber die befreiten Teiles seines Ichs den “ Psychopathischen Personen auf der Bühne ” (1905). 1 Dieses eher intensivierte als unifizierte Subjekt projiziert seine Wünsche auf das, was es sieht und gelangt so zu ihrer Identifikation. Ähnlich wie das Kind im Spiegelstadium 2 in die symbolische Ordnung eintritt, indem es sich als von seiner Mutter verschiedenes Subjekt konstituiert, wird der Zuschauer erst er selbst, wenn er alle Ebenen dessen identifiziert, was er wahrnimmt. Nach dem Lacan ’ schen Spiegelstadium - ein quasihamletischer Spiegel - und nach der poststrukturalistischen Konzeption ist das Subjekt zugleich konstituiert und konstituierend, Effekt und Agens des Schauspiels, auf das es seinen Blick richtet. 1.2 Der Zuschauer im Mittelpunkt der Sozialwissenschaften Gerade erst konstituiert, ist der Zuschauer, ob er will oder nicht, aufgefordert, von den Errungenschaften der Sozialwissenschaften zu profitieren und sich der Reihe nach oder auch gleichzeitig zum Soziologen, Semiologen, Anthropologen, Politologen, interkulturellen Experten usw. zu machen. Der springende Punkt ist, herauszufinden, wie er ausgehend vom Theater Zugang zu diesen Wissensgebieten erlangt, wie er sie kombiniert, ihr Zusammenspiel interpretiert: er Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 73 - 97. Gunter Narr Verlag Tübingen tritt in den Konflikt der Interpretationen ein. Die Wahrnehmungen und ihre Interpretationen reihen sich in seinem Inneren mit einer Geschwindigkeit und einer außergewöhnlichen Flüchtigkeit aneinander. Alles ist im Fluss, eine illusorische Bilderfolge, flüchtige Eindrücke. 1.3 Der Zuschauer in der Geschichte Für den Zuschauer und a fortiori für den Theoretiker wäre das einzige Mittel, an der Oberfläche dieses stetigen Flusses zu bleiben, nach historischer, ja historisierender Weise vorzugehen: durch die Analyse, in welchen historischen, kulturellen, sozio-ökonomischen Kontexten das Schauspiel existiert und inwieweit sich die Fragestellung konstant verändert. Man müsste also die Geschichte der impliziten Theorien des Zuschauers nachzeichnen, auch wenn es nur geschähe, um zu verstehen, wie das Subjekt in verschiedenen Epochen polymorphe Theaterformen unterschiedlich wahrnimmt, die ihrerseits von Grund auf variieren. 2. Historische Bezüge Dank der Forschungsarbeit von Marie- Madeleine Mervant-Roux 3 oder Florence Naugrette 4 können wir besser nachvollziehen, wie jede Epoche die kritische Rolle ihrer Zuschauer definiert: l 1950er Jahre: Für Philosophen wie Henri Gouhier oder Regisseure wie Jean Vilar grenzt die Theatervorstellung an eine Zeremonie oder eine Kommunion, fähig, die Menschen einander näher zu bringen. Das Publikum der einfachen Leute ist noch zu überzeugen und zu gewinnen: “ beim Zuschauen agiert er (der Zuschauer) nicht als solcher, sondern als Repräsentant der Lebenswelt, aus der er kommt ” 5 , “ im Rahmen einer allgemeinen Identifikation des Theaters mit einem klassischen politischen Raum ” 6 . l 1960er Jahre: Der “ aktive ” , ja “ reaktive ” Zuschauer wird manchmal befördert zum politischen Aktivisten. Er ist aufgefordert, an der Bühnenhandlung teilzunehmen (Happening, Interventionen auf der Bühne). Das Theater ist ebenso Zeremonie wie populäres Fest, politische oder gewerkschaftliche Manifestation, öffentliche Intervention, Einladung, das Leben zu verändern. Der Zuschauer identifiziert sich mit dem gequälten Körper des Schauspielers; ein Schauspieler, der mehr von Artaud als von Brecht inspiriert ist. Der Zuschauer erhält seine Bedeutung in diesem spontanen, einzigartigen, nicht wiederholbaren Ereignis, untrennbar vom Spiel, indem er selbst versucht, dem zu entfliehen, was Derrida in Bezug auf Artaud die “ Geschlossenheit der Repräsentation ” nennt. l 1970er Jahre: Hier koexistieren eine Kultursoziologie marxistischen Ursprungs (Bourdieu, Lotman) und eine Semiologie der Kommunikation, ohne dass zwischen beiden immer die Verbindungen hergestellt werden. Die Soziologie von Bourdieu untersucht kulturelle Gewohnheiten, das symbolische Kapital, die Distinktionsmerkmale des Zuschauers, der vor allem als kultureller Konsument betrachtet wird. Die Semiologie sieht ihn vielmehr (allerdings bleibt die Nuance oft unmerkbar) als einen Dekodierer, einen Erzeuger und Beschreiber von Zeichen und Netzen, einen Mechaniker der Struktur. Zumindest gewöhnt sich der Zuschauer daran, die Zeichen der Aufführung in ihrer Gesamtheit zu interpretieren, mit ihr in eine “ theatrale Beziehung ” zu treten, eine fast mystische Union. Diese Interaktion wird sich als unerschöpfliches Thema von Reflexionen und Publikationen erweisen. 7 l 1980er Jahre: Sie markieren den Gipfel der dramaturgischen Analyse nach 74 Patrice Pavis Brecht und der “ autonomen ” Inszenierung (die keinem Text oder jeglicher vorangehender Spur untergeordnet ist). Der Zuschauer ist angeregt, alles wahrzunehmen, zu entziffern und dann in einem großen Regiebuch zu notieren, als ob die Inszenierung so ihren Metatext, ja ihren Fragebogen, lieferte. 8 Die deutsche Rezeptionsästhetik (Jauß, Iser) schließt an die Semiologie an: Sie erfasst den Austausch “ Sendung-Rezeption ” mit den neuen Begriffen “ Produktion-Rezeption ” , während die Theorie des interkulturellen Austauschs die Zirkulation zwischen Quellkultur und Zielkultur untersucht. Für die Rezeptionsästhetik tritt der Leser oder Zuschauer in einen Dialog mit dem Werk: einen Dialog zwischen einem gegenwärtigen Subjekt und einem vergangenen Diskurs bzw. der Frage, die ein zeitgenössisches Subjekt an ein vergangenes Werk stellt, um die Gegenwart besser zu verstehen. Diese “ dramaturgischen ” Jahre sind auch die empirischer Studien zum Publikum und dessen Reaktionen - vor, während und nach der eigentlichen Rezeption. 9 Die Massenmedien nutzen die objektiven, empirischen Angaben, die messbaren reception results. Diese Ergebnisse und quantitativen Werte tangieren allerdings nicht die qualitative Untersuchung der Rezeption durch Subjekte. Die Theaterpublika differenzieren sich mehr und mehr, sie spezialisieren und formen sich zu Gruppen, die untereinander nur wenig kommunizieren: Fans, gebildete Amateure und Professionelle des Theaters ersetzen das ehemals generalistische Publikum. Das damalige Publikum sammelte den Honig, die Zuschauer von heute begnügen sich mit Flatterhaftigkeit. Der Ideologie des kulturellen Relativismus, des “ tout culturel ” (Jack Lang) oder des Multikulturalismus gelingt es, den Zweifel im Geist des Publikums zu säen. Die neu eingeführten cultural studies haben es schwer, die Persönlichkeit und die symbolische Aktivität dieser Gruppen und dieser heterogenen Publika zu erfassen. In den von der Performance oder dem postmodernen Theater, die später den lieblichen Namen “ postdramatisches Theater ” erhalten sollten, induzierten Erfahrungen fühlt der Zuschauer sich ein wenig orientierungslos. Seine Rolle verändert und verkompliziert sich. Die Aufführungsanalyse wird problematisch, die Theorie rutscht in die Rezession. l 1990er Jahre: Der kulturelle Wendepunkt von 1989/ 90 (das Ende des europäischen Kommunismus) akzentuiert die Entpolitisierung des theatralen Lebens und, im Gegenzug, des Zuschauers. Die existierenden “ anti-theoretischen ” Theorien - postmodern, postdramatisch, “ Against Interpretation ” (Susan Sontag 10 ) - insistieren auf der persönlichen Erfahrung, der Sensation, dem Genuss des Moments, der Interaktivität des Zuschauers, der mehr ein (geheimer) Passagier oder ein abendlicher Besucher als ein Analytiker ist. Der Eindruck, selbst in seinen Vorlieben desorientiert zu sein, das Gefühl, das Schauspiel nicht mehr fassen zu können, vermitteln dem Zuschauer ein Gefühl der Desillusion und zugleich der unbegrenzten Freiheit. Er rechnet mit keinerlei Hilfe der Geisteswissenschaften mehr bei der Entzifferung der als irreduzibel, d. h. unlesbar konzipierten Aufführungen, aber er greift gerne auf die Lektionen von Philosophie und Ethik zurück, um das Werk in einen größeren ästhetischen Rahmen einzuordnen. l 2000er Jahre: Der Zuschauer wird mehr und mehr zum “ Philosophen ” , im populären Sinne eines Menschen, der sich abfindet und auf jeden Protest verzichtet. Er ist mehr und mehr Konsument und isoliert, obwohl er ständig von Künstlern 75 Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung und Kommentatoren aller Art umgeben ist, die aus dem Werk einen Spielplatz multimedialer Experimente machen. Aber sein Aktivismus, seine Interaktivität und seine Kreativität begnügen sich mit einer oberflächlichen und formalen Beteuerung. Die Soziologen werden kaum mehr gehört, geschweige denn konsultiert. Die Philosophen stellen ihnen Konzepte entgegen, die mehr Losungen oder fromme Wünsche sind: theatrale Versammlung oder Gemeinschaft, “ Die Aufteilung des Sinnlichen ” (Rancière), die Suche nach dem “ Gemeinsamen ” (und nicht mehr nach der “ Öffentlichkeit ” ). Lauter Begriffe, die schlecht in der Geschichte verankert und in eine politische Debatte eingeschrieben sind. Mervant- Roux sieht hier ein Abdriften ins Neo- Ritualistische und sie kontert, indem sie den Zuschauer weniger als denjenigen definiert, der eine gemeinschaftliche Erfahrung macht - so stark diese sein mag - denn als denjenigen, der diese Erfahrung in eine Erinnerung transformiert, eingegliedert in viele andere Erinnerungen, die ihr erst rückblickend ihre Bedeutung verleihen: “ Der Zuschauer ist weniger derjenige, der eine Aufführung sieht als derjenige der, viel später, an ihr teilgenommen haben wird, er ist eine Figur aus Schichten der Erinnerung. ” 11 Dieser Rückgriff auf das Gedächtnis, den Philosophen wie Myriam Revault d ’ Allonnes oder Marie-Josée Mondzain im Übrigen mit Marie-Madeleine Mervant-Roux teilen, relativiert die Kritik der letzteren an der Philosophie. 12 Für sie ist die Versammlung weder unbedingt vereinigend (wie es am einfachsten eine Gemeinschaft wäre) noch atomisiert, “ da sie ausgehend von einer momentanen Zusammenkunft einzelner Individuen betrachtet wird. ” 13 Der Zuschauer ist also dieses unsichere Wesen, zerrissen zwischen erdrückender Gemeinschaft und zehrender Einsamkeit, zurückgeworfen auf eine “ einsame Menge ” (Daniel Riesman). Diese Skizzierung der wechselnden Positionen des Zuschauers verdiente eine ausführliche Geschichte des Zuschauers und des Publikums. Diese Aufgabe sprengt den Rahmen der Aufführungsanalyse, sie zwänge uns, die Möglichkeiten und das Interesse einer Theorie der Aufführung in Bezug zur Produktion und zu den Erwartungen einer Epoche zu ermessen. 14 Es ist nützlich, zuerst auf die Hermeneutik des Zuschauers zurückzukommen und sie mit der des Lesers zu vergleichen. 3. Die Lektüre eines Textes, die Rezeption einer Aufführung Seit die “ Lust am Text ” von Roland Barthes 15 so meisterlich gefeiert wurde, ist die Theorie der Lektüre beinahe zu einer eigenständigen Disziplin avanciert und wir wissen sehr viel mehr über die Gewohnheiten und Strategien des Lesers. Natalie Piégay-Gros 16 hat grundlegende Texte zum Leser versammelt und selbst eine bemerkenswerte einleitende Untersuchung zum Leser verfasst. Ihre Studie wird uns als Basis dienen für den Vergleich von Lektüre und . . .? Es fehlt an einem Wort, das die Rezeption eines Schauspiels bezeichnet: “ spectaclecture ” wäre ein wenig eleganter Neologismus, wenn auch sehr treffend, um die Differenz zwischen Lesen und Sehen, zwischen “ é-lire ” und “ in-specter ” 17 zu bezeichnen. 1. Genauso wie es zahlreiche Typen von Lesern gibt, sind die Typen des Zuschauers unzählig: es gibt keinen idealen, universellen oder Modell-Leser! Die Lektüre des Dramaturgen (der Berater des Regisseurs und nicht der Autor) ist die umfassendste, da sie vom Text ausgeht, aber auf die Inszenierung gerichtet ist. 18 76 Patrice Pavis Sie ist allerdings keinesfalls die einzig mögliche: Man muss sich ständig fragen: Welcher Leser wird dieses Stück oder diesen Text lesen? Wie wird der Zuschauer reagieren? Was sind seine Rezeptionsgewohnheiten: kulturell, politisch, psychologisch, etc.? Ist man als Zuschauer ebenso aufmerksam wie als Leser? Der Leser kann Pausen machen, allerdings mit dem Risiko, die Lektüre zu “ zerhacken ” , den Faden zu verlieren. Im Theater hat man kein Anrecht auf Pausen, außer den von der Inszenierung herbeigeführten oder den kurzen Atempausen zwischen den Akten, den Bildern und den Szenen. 2. Die Inszenierungen - nicht mehr als die Texte - können ihre Interpretation weder voraussehen noch programmieren. Wir sehen und lesen immer etwas anderes als das, was die Texte und die Inszenierungen für uns vorausgesehen hatten. Kein Schlüssel zur Interpretation wird mit dem Werk mitgeliefert. Nichts ist voraussehbar oder “ vorauslesbar ” . Man liest, man sieht immer “ daneben ” . 3. Der Zuschauer, genau wie der Leser, ist mit einem mehr oder weniger offenen und unbestimmten Werk konfrontiert, mit Unbestimmtheiten, “ Leerstellen ” , Lücken, Löchern, Textstellen, wo die Interpretation ins Zögern gerät. Diese Stellen sind nicht für jeden genau gleich. 19 Die Bühne und ihre Komponenten multiplizieren die Möglichkeit dieser Leerstellen, aber sie sind auch in der Lage, die Lücken zu füllen, durch ein Detail des Bühnenbilds, des Kostüms, der Beleuchtung. Der Zuschauer braucht also ein breites Wissen über Codes unterschiedlicher Art. Der Leser schwieriger Texte, verschlüsselt oder esoterisch, benötigt ebenfalls ein breit gefächertes Wissen und Fähigkeiten, deren Beherrschung eine intellektuellere ist als die der verschiedenen künstlerischen Sprachen des Schauspiels. 4. Piégay-Gros spricht von “ Leserkunst ” , Brecht von “ Zuschauerkunst ” . Diese Metapher betont den Anteil der Fantasie und der Kreativität, die ein Kunstwerk (besonders das offene Kunstwerk) für seine Rezeption ebenso wie für seine Kreation verlangt. Der künstlerische Anspruch impliziert eine Interpretation, stets riskant, und nicht eine simple Technik, die ohne viel Imagination anwendbar wäre. Die potentiell unendliche Multiplikation der Materialien und Bühnensysteme vergrößert die Interpretationshypothesen und die Kombinationsmöglichkeiten der Zeichensysteme. 5. Wie der Leser angesichts des Textes versucht der Zuschauer zu verstehen, wie die Aufführung konzipiert und dann realisiert wurde, nach welcher “ Werkintention ” (und nicht nach der Autorintention, um die Unterscheidung von Eco aufzugreifen). Er rekonstruiert das System der Inszenierung, ob dieses System nun klar erkennbar und lesbar oder unauffindbar, versteckt, ja widersprüchlich oder zufällig ist. Er ist ebenfalls bestrebt, über die beobachtbaren Ergebnisse hinaus den Arbeitsprozess zu imaginieren, die Methode der Vorbereitung und die Einrichtungsstrategie. Wir können uns leicht die Komplexität dieser Operationen und ihrer Interpretation durch den Zuschauer vorstellen. 6. In den 1960er und 1970er Jahren proklamierten die Vertreter von Strukturalismus und Poststrukturalismus den “ Tod des Autors ” (Barthes) und die Aufwertung des Lesers (der alles neu entdecken muss, zumindest fast). Für die Theaterleute geht der Tod des Autors ans Ende des 19. Jahrhunderts zurück, als sich der Regisseur profilierte, um der neue szenische Autor zu werden, sich ihm anschließend und ihn schließlich ersetzend, um seine eigene textliche und szenische Interpretation zu liefern. Der Zuschauer kann seinerseits 77 Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung die vom Regisseur eingenommene Autorenposition herausfordern und seinen eigenen Weg durch das szenische Werk wählen. Der Regisseur weiß das nur zu gut, ihm ist bewusst, dass seine einzige Chance zu überleben darin besteht, seine Einbruchsspuren im Werk zu verwischen und es für verschiedene Lesarten zu öffnen, also die Inszenierung bewusst unlesbar zu machen, sondern nur individuell entzifferbzw. konsumierbar. 7. Der geschriebene Text, kommentiert Piégay-Gros, sagt nicht alles: Der Leser muss sich die Zusammenhänge zwischen den Teilen des Textes (oder der Aufführung) vorstellen, etablieren, behaupten. Dies gilt für die Fabel, die Erzählung ebenso wie für die Organisation von Teilen des Textes oder der Aufführung. “ Die Rolle des Lesers besteht also darin, diese oder jene Verbindung herzustellen, dieses oder jenes Textsegment zu kombinieren - und andere im Schatten zu lassen ” . 20 Das gleiche gilt für den Zuschauer, der mental diese dramaturgische Arbeit des Vergleichens ausführt, und so die Entscheidungen des Regisseurs rekonstruiert, dabei aber auch seinen eigenen dramaturgischen Weg durch das Schauspiel riskiert. Die Freiheit des Lesers oder Zuschauers ist durch die Zwänge der Zeichen eingeschränkt, die eine bestimmte Lesart erfordern. Dieser Handlungsspielraum ist weder vorhersehbar noch im Vorhinein genau bestimmbar. Lesen heißt verbinden. Sehen heißt, im Blick haben. 8. Einen Text lesen oder eine Aufführung sehen, bedeutet nicht einfach, die Handlung zu rekonstruieren, sich den Freuden des storytelling hinzugeben, es bedeutet auch, sich dafür zu interessieren, was der Text oder die Aufführung uns zu sagen und mit unserer Welt zu tun haben, welche Textualität und welche Textur sie gewählt haben, um dies zu erreichen.h 9. Nach Piégay-Gros ist der Leser zwischen der Kongruenz mit sich selbst und der Erfahrung der Alterität hin- und hergerissen. Der Zuschauer findet ebenfalls Situationen vor, vertraute Gesten, die bezeugen, was er vermutete. Manchmal entdeckt er auch unbekannte Dinge bzw. solche, die er nicht in sich ahnte. 10. Der Leser bedarf der Isolation, um zu lesen, der Zuschauer bedarf ebenfalls der Konzentration, muss aber zugleich um sich herum die Präsenz eines Publikums fühlen, das nicht immer eine reale Gemeinschaft ist, zumindest aber eine imaginäre und beruhigende. Der Leser, so sagt uns Piégay-Gros, kann aufhören zu lesen, den Kopf heben. Der Zuschauer ist im Gegensatz dazu in eine Temporalität hineingezogen, eine Folge von Handlungen, deren Verlauf er nicht bestimmen kann. Die Theateraufführung ist immerhin niemals so verfestigt wie die Aufnahme eines Films, und der Zuschauer wird jeden kleinsten herbeigeführten Freiraum nutzen, um durchzuatmen und zu denken. 11. Was bedeutet “ richtig lesen ” ? Ist es “ eine Sache sowohl der Weisheit wie des Wissens, der Arbeit an sich selbst und der Arbeit an der Literatur ” ? 21 Was heißt richtig schauen/ hören/ fühlen etc.? Es bedeutet, zusätzlich zu dieser doppelten Arbeit ununterbrochen präsent zu sein, seinen Körper und seine Affekte den Figuren und den Situationen zu leihen, sich zugleich innerhalb und außerhalb zu positionieren. 12. Leseschwierigkeiten sind noch häufiger als Schlafstörungen. Seit der Kindheit daran gewöhnt, im Netz zu surfen, hat der Cybernaut weder die Zeit, noch die Lust, noch die Fähigkeit, zu verlangsamen, um sich auf ein “ deep reading ” (eine fundierte Lektüre) eines literarischen oder philosophischen Werks einzulassen. Was den Zuschauer betrifft, so 78 Patrice Pavis ist er nur in der Lage ein “ deep watching ” (eine fundierte Beobachtung) auszuüben, wenn der Rhythmus des Schauspiels nicht zu schnell ist und die außertextuellen Elemente der Aufführung sich einfach einordnen lassen. Er muss das wahrnehmen können, was Jan Lauwers ein “ begrenztes Bild ” nennt: “ ein Bild, das die Zeit bekommt, das Gehirn des Beobachters dadurch zu imprägnieren, dass die normale Zeit der Wahrnehmung verlängert wird. ” 22 Dieser Vergleich von Leser und Zuschauer, so schematisch er sein mag, hilft uns, die Problematik des Zuschauers in den Schoß der Hermeneutik zurückzuführen, die Wissenschaft, oder besser die Kunst der Interpretation. Was uns dazu befähigt, einige generelle Schlussfolgerungen zu ziehen. Jeder Zuschauer ist ein Hermeneutiker. Seine Aufgabe hängt zum großen Teil von der Art des Schauspiels ab, dem er beiwohnt. Diese Aufgabe ist so variabel, dass es müßig wäre, generelle Regeln aufzustellen. Nicht nur kann er nicht alle Leerstellen ausmachen, nicht einmal die der anderen Zuschauer, sondern er wird unwillkürlich neue hinzufügen. Die Lesbarkeit hängt nicht nur von seinem Scharfsinn ab, sondern von der Inszenierung, ihrer Handschrift, der Schreibweise, wie man bei einem Text sagen würde. Wie der Leser folgt der Zuschauer einem Interpretationsparcours, den er zum Teil nach der Strategie rekonstruiert, welche die Inszenierung ihm zu verfolgen scheint. Dieser Parcours ist im Gegensatz zum Springreiten für Pferde nicht mit Pfeilen markiert; es ist am Zuschauer, die Hürden ausfindig zu machen, und weitere hinzuzufügen, um seiner Interpretation eine persönliche Wende zu geben. Ohne die Ermittlung des möglichen Wegparcours durch den Zuschauer existiert das Theater nicht, da es sein Publikum absolut erreichen muss, den Zuschauer auf die eine oder andere Weise berühren. 4. Die Multiplikation der Objekte und der Blick des Zuschauers Ebenso wie die Lektüre zum großen Teil vom gelesenen Objekt abhängt und daher keiner universellen Methode gehorcht, hängt auch das Sehen eines Schauspiels vom analysierten Objekt ab, und nicht nur von den Kapricen des Zuschauers. Nun nimmt dieses Objekt die verschiedensten Formen an, sich auf alle erdenklichen cultural performances erstreckend. Einige typische Beispiele: 1. Der Tanz: Jenseits der Zeichen existiert der Tanz in der Erfahrung der Bewegung, die der Zuschauer macht. Durch eine Identifikation mit der Bewegung (kinesthetic empathy) absorbiert und “ erfährt ” der Zuschauer den Tanz. Diese Identifikation mit der Bewegung ist selbstverständlich nicht auf die Choreographie beschränkt, sie gilt für alle Körperkunst. 2. Der Parcours: Das Publikum sitzt nicht bzw. nicht die ganze Zeit, es bewegt sich nach der von der Inszenierung vorgegebenen Reihenfolge von einem Ort zum anderen oder auch von einer Bühne zur anderen. Diese Mobilität wird oftmals mit der Interaktivität und dem Engagement des Zuschauers verwechselt, was implizit und irrtümlicherweise unterstellt, dass der sitzende Zuschauer passiv sei. Die Beweglichkeit des Publikums bedeutet nicht stärker das Ende des “ Sitztheaters ” , gleichgesetzt ipso facto mit einem Gemeinschaftserlebnis, wie gewisse Kritiker zu denken scheinen. 3. Straßentheater (Gonon, 2011). Siehe die Zusammenfassung weiter unten. 4. Das Event im Sinne Merce Cunninghams: “ Ohne Pausen präsentiert, besteht ein event aus einer Assemblage von Auszügen aus dem Repertoire, alt oder neu, oft kombiniert mit Sequenzen, die speziell entwickelt werden, um einen Ort und eine Aufführung zu kreieren, die es nur ein einziges Mal geben wird. Es geht 79 Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung mehr darum, eine Tanzerfahrung als einen Tanzabend zu kreieren. ” 23 Der Zuschauer muss sich an diese Forderung anpassen, keine endgültigen Resultate erwarten, sein Augenmerk auf den Arbeitsprozess richten. Im Idealfall kann er diese Hypothesen selbst überprüfen, indem er in einem bestimmten Moment des Events selbst in den Tanz eintritt. Der Begriff des theatralen Ereignisses ist neuerdings zum Instrument einer neuen Reflexion zur Integration von Produktion und Rezeption eines Schauspiels geworden. 5. Die Performance: Die Performance (oder Live Art, wie sie in Großbritannien genannt wird) bietet ihren Zuschauern starke Emotionen, eine einzigartige Erfahrung, angenehm oder traumatisierend, an der teilzunehmen sie eingeladen sind. Die Live Art zeichnet sich nach Reason durch die Präsentation des Lebendigen und Direkten ( ‘ live ’ ) aus: “ With the live packaged as that which is desirable, its signification becomes its facility in selling experiences to audiences - or is that to consumers? - in what has been termed an ‘ experience economy ’ . ” 24 Zeilenabstand? 6. Medien: Sie beeinflussen die kognitive und emotionale Aktivität des Zuschauers, seine Fähigkeit zur Aufnahme und Widerstandsfähigkeit wird konstant auf die Probe gestellt. Die Dramaturgie von Fernsehsendungen, Videospielen und Fernsehfilmen verändern und zerstreuen die Aufmerksamkeit des Zuschauers. Die Medien, ihre konstante Veränderung, zwingen den Zuschauer dazu, sich zu fragen, wo er sich in dieser immerwährenden Transformation, dieser “ remediation ” positioniert. 5. Der Zuschauer und die Vision des Schauspiels 5.1 Die deplazierte Figur des Zuschauers Der heutige Zuschauer ist “ eine deplazierte Figur ” : “ Zum Zuschauer als deplazierter Figur des Lesers kommt der Zuschauer als deplazierte Figur des Fernsehzuschauers, des Kinogängers, der Websurfers, des hypertexuellen Lesers oder auch des Videospielers. ” 25 Es ist also weniger der Zuschauer, der deplaziert ist, als sein Blick, der durch das Ensemble der Medien manipuliert wird. 5.2 Die Inszenierung der Vision Diese Deplazierung bzw. Verschiebung ist weder technischer noch physiologischer Art, sondern symbolischer: Sie ist abhängig von der Art und Weise, wie man “ den Blick erblickt ” , ihn inszeniert. Die Studien zum Zuschauer müssen durch die visual studies ergänzt werden. Maaike Bleecker definiert beispielsweise das Theater und seine Repräsentation als “ a practice of staging vision ” 26 . Es geht für das Theater (für alle Mitwirkenden des Schauspiels) darum, den Akt des Schauens, die Art, wie der Zuschauer das Schauspiel entdeckt, zu inszenieren. Sein Sehen, seine visuality sind von der Inszenierung organisiert. Die Rolle des Zuschauers ist also direkt verbunden mit der Inszenierung als ästhetisches und strategisches System, als das der Zuschauer sie erkennt. Es ist an ihm zu verstehen - mehr oder weniger bewusst - , wie der Regisseur den Blick des Zuschauers manipuliert und inszeniert hat. Wir sind von der Inszenierung als individueller Vision eines Regisseurs zum Prozess der Inszenierung als Art und Weise des Sehens gelangt. Viele postmoderne bzw. postdramatische Werke oder Schauspiele thematisieren den Vorgang des Sehens, das 80 Patrice Pavis ‘ spectating ’ . Sie rechnen mit der Bewusstwerdung des Blicks beim Zuschauer, um die Fabrikation und die Rezeption der Inszenierung zu erhellen. Der Zuschauer tut also mehr als an der Sinnkonstruktion teilzunehmen, er konstituiert das Werk selbst, indem er sein Funktionieren und seinen Sinn thematisiert: “ Spectators and audiences are not passive recipients of an experience, neither in terms of being unthinkingly manipulated by a performance nor in submissively receiving a prescribed meaning or affect. Instead of being dupes to either the medium or its message, spectators (both individually and collectively) actively interpret and place value upon what they see and experience. In doing so they actively construct what the performance (and what being part of an audience) means to them culturally and socially. ” 27 Diese Zuspitzung von Matthew Reason weist darauf hin, dass die kognitive Aktivität, aber auch die kulturelle und soziale, ein Mittel für jedes Individuum ist, sich zu konstruieren und zu rekonstruieren. Der Zuschauer als Hermeneutiker konstruiert zugleich den Sinn, das Werk und sich selbst als wahrnehmendes Subjekt. Es handelt sich aber nicht darum, das Sehen mit den anderen Zuschauern zu teilen, da “ gemeinsam sehen ” nicht bedeutet, die gleiche Sache zu sehen: “ Gemeinsam sehen heißt nicht, eine Vision teilen, denn niemals wird jemand das sehen, was der andere sieht. ” 28 Diese Formulierung von Mondzain, die sie der von Jean Desanti entnimmt ( “ Wir sieht nichts ” ), negiert nicht die Möglichkeit des Sehens, macht aber den Anspruch zunichte, den Text oder das Bild so zu interpretieren, dass alle einverstanden sind. (Zu dieser Formulierung siehe weiter unten die Besprechung des Buches L ’ Assemblée théâtrale, 2002). Das Wesentliche liegt im Dialog der Blicke, insbesondere der Blicke der Künstler und der Zuschauer, in der Dialektik von Schauspiel und Zuschauer. Diese implizite Dialektik ist auch diejenige zwischen dem Willen, das Publikum zu verführen und dem Willen, ihm etwas zu geben, ohne etwas im Gegenzug zu erwarten: “ Das Werk konstruiert sich in der Dialektik mit dem Publikum, und es ist die Synthese, die aufschlussreich ist. Das Stück nimmt Form an in der Spannung zwischen Werk und Publikum. Wenn das Werk sich nicht um das Publikum schert, wird es hermetisch, und wenn das Werk sich dem Publikum total zuwendet, produziert sich etwas, das der Demagogie zuzurechnen ist. ” 29 Wir, die Zuschauer, haben nicht mit uns selbst abgeschlossen: Wir laufen noch immer hinter unserem Schatten her. Aber wäre es nicht besser, wenn unser Schatten uns hinterherliefe? Können wir uns noch identifizieren? 6. Die neuen Identitäten des Zuschauers 6.1 Die aktuelle Aufwertung des Zuschauers Wir können immer weniger vom Zuschauer im Allgemeinen sprechen, selbst innerhalb eines spezifischen kulturellen Bereichs. Aber gleichzeitig entdecken viele Aufführungen und Studien den Zuschauer als Wundermittel, als letzte Instanz, die es möglich macht, an zeitgenössische Inszenierungen heranzutreten. Der Zuschauer ist tatsächlich nicht mehr der Empfänger einer neuen, radikalen Nachricht, auf die er, nach der ersten Überraschung, reagieren könnte. Daher seine Beförderung auf den Rang des Schöpfers, zum Beispiel in der Performance (Performance Art oder Live Art): “ Die Live Art hat die Möglichkeit, den Zuschauer in ein Ereignis und eine Situation einzubeziehen, statt ihn einen fiktiven Kosmos bewundern zu lassen. ” 30 Die so in das Ereignis eingeschlossenen postdramatischen Zuschauer zögern und alternieren zwischen Realität und Fiktion, sie positionieren sich in immer 81 Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung wechselnden Rahmen. Der postmoderne oder postdramatische Zuschauer wird als ein Konsument auf hohem Niveau gesehen, auf der ständigen Suche nach Sensationen und intellektuellen Bagatellmedikamenten. Vergängliches, aber intensives Vergnügen; schneller, aber oberflächlicher Konsum; garantierter Genuss, aber wahrscheinlicher Gewöhnungseffekt. 6.2 Die Erfahrung, aber nicht das Experiment Der französische Begriff der “ expérience ” (experience im Englischen, im Deutschen die Erfahrung) wird zum Schlüsselbegriff des zeitgenössischen Zuschauers: Weder die professionelle Erfahrung, die Frucht jahrelanger Arbeit, noch das Experiment im Labor, wo man neue Formeln erfindet, sondern die Erfahrung, der individuelle Genuss. Dieser Begriff der Erfahrung übersetzt und verrät den Transfer der Bedeutungsproduktion von der Inszenierung zur einsamen Rezeption, der individuellen Subjektivität. Diese Vokabel sieht nicht an sich die Art und Weise vorher - je nach Standpunkt positiv oder negativ - , wie man “ eine Erfahrung macht ” . Für einen avantgardistischen Autor wie Joël Pommerat ist die Erfahrung das, was der Zuschauer im Theater erleben soll: “ Wir können bestimmte Extreme der Existenz durchdringen, leben, fühlen, verspüren. Das ist eine Erfahrung, aber es ist auch ein Spiel. ” 31 Laut einem zeitgenössischen Kritiker wie Yves Michaud ersetzt die Erfahrung die Produktion des Werks, sie tauscht die solide Realität durch eine Erfahrung aus, die mit einer Kunst im gasförmigen Zustand vergleichbar ist. Die zeitgenössische Kunst - und man könnte hinzufügen: das postmoderne oder postdramatische Theater - privilegiert nicht mehr das konkrete Werk, sondern seine erlebnishafte, diffuse Seite der Erfahrung, die keiner stabilen Form mehr bedarf, da sie den sehr viel weniger zugänglichen, gasförmigen Zustand bevorzugt. Auf das Theater angewendet würde das heißen, dass die Inszenierung von nun an eine emotionale, ja sinnliche, Erfahrung “ verkauft ” , so wie man eine Kreuzfahrt auf der Maas oder einen Besuch im Disneyland verkaufen würde. Der Zuschauer ist kein Brecht ’ scher Richter oder ein Artaud ’ sches Opfer der Grausamkeit des Theaters mehr, sondern ein Genießer, ein Amateur großer Sensationen, nie dagewesener Erfahrungen. Daher die These Michauds, die leicht aufs Theater anwendbar ist: Die ästhetische Erfahrung tendiert dazu, das Kunstwerk selbst zu ersetzen. Bis zu den 1950/ 60er Jahren waren Kunst und Kultur Objekte einer kulturellen Aneignung durch den Zuschauer oder den Museumsbesucher, eine Akkumulation symbolischen Kapitals (Bourdieu). Seit den 1980er Jahren ist alles eins, alles ist kulturell, aber eher im normativen Sinne; seit den 1990er Jahren zählt nur noch die ästhetische Erfahrung. Der Zuschauer ist dazu aufgefordert, alles als eine persönliche Erfahrung zu schätzen, und nichts auf ästhetischer oder theoretischer Ebene zu beurteilen: “ Es ist nicht erforderlich, dass das Dispositiv ohne weiteres als ‘ Kunst ’ identifizierbar ist; was Kunst ist, ist die Wirkung. ” 32 Sicherlich kann man den Begriff der Erfahrung anders und sehr viel nuancierter aufschlüsseln. Lehmann unterscheidet zum Beispiel die “ ästhetische Erfahrung ” und die “ ethisch-politische Erfahrung ” 33 . Allerdings ist der Begriff der ästhetischen Erfahrung heute oft ein Mittel auszudrücken, dass man das postmoderne oder postdramatische Werk nicht mehr objektiv analysieren könne, nicht einmal kommentieren, und dass es also ausreiche, sich am Ort des Eintretens der individuell erlebten, d. h. schwer analysierbaren Sensationen des einzelnen Zuschauers zu positionieren. 82 Patrice Pavis 6.3 Der Zuschauer, neuer Herrscher oder neuer Schiedsrichter? Es wird viel über den Zuschauer gesprochen, zu viel findet Marie-Madeleine Mervant- Roux, die ihm jedoch selbst viele und brillante Jahre ihrer Recherche gewidmet hat! Wir neigen dazu, alles auf den Schultern des Zuschauers abzulegen, alles auf seine Eindrücke, seine Haltungen, seine Kategorien zu reduzieren (auf die Gefahr hin, “ das Unfassbare zu etikettieren ” 34 ), alles zu erklären durch die Atmosphäre, den Eindruck, das ‘ Feeling ’ . In der zeitgenössischen Kunst sind es die Attitüden, die “ Form werden ” , “ die als Kunst wirken und bald nur noch als Ästhetik, es sind die Attitüden, die die sinnliche Erfahrung bewirken. ” 35 Wir sind zu einem kritischen Impressionismus zurückgekehrt, dessen Glanzstück die postdramatische Theorie ist, zu einer Erklärung durch Atmosphäre: “ Kommunizieren, erziehen, erarbeiten, ausgleichen, verständlich machen, verstören: diese klassischen Komponenten der ästhetischen Erfahrung haben hier nicht mehr viel Bedeutung. ” 36 Was für die zeitgenössische Kunst gilt, gilt ebenso für die Inszenierung. Durch eine Art “ Präsentismus ” (eine Fixierung einzig auf die Gegenwart unter Ausblendung von Vergangenheit und Zukunft) macht der Zuschauer die Erfahrung eines sofortigen Vergessens seiner Empfindungen und Eindrücke: unmöglich, sich an das Schauspiel zu erinnern, außer als etwas im ersten Moment Angenehmes oder Starkes. Nathalie Heinisch konstatiert die Differenz vom “ Theater der Empfindung und des Spiels von Raum und Zeit gegenüber dem Sprechtheater und dem Spiel mit der Bedeutung: physisch versus metaphysisch. ” 37 Es ist amüsant, festzustellen, dass es oft die einstigen Semiologen 38 der 1970er Jahre sind, die heute die maximale Öffnung beim Zuschauer rühmen, als wären sie plötzlich von der “ Lust am Text ” 39 (Barthes) berührt, der postmodernen und postdramatischen Anmut, der Feinsinnigkeit der Dekonstruktion und der Wirkkraft der Performativität. Brauchen wir eine Typologie des “ Unfassbaren ” (Michaud), des Zuschauers als aufgesplitterten Subjekts, diesem Partner und Double des Schauspielers 40 ? “ Das Publikum verkörpert nicht mehr diese Art von außenstehendem Zeugen, sondern einen am Theater beteiligten Partner, der über den Erfolg der Kommunikation entscheidet. ” 41 6.4 Der Zuschauer und sein Double Ist der Zuschauer, der nun aktiv an der theatralen Kreation beteiligt ist - also von Rechts wegen Schöpfer des Schauspiels - noch ein Zuschauer? Müsste er nicht seinen Namen und seine Identität ändern? Die Liste der möglichen Bezeichnungen und Identitäten ist bereits lang: Jeder Künstler, jeder Theoretiker erweitert sie mit seiner Benennung und seiner Metapher, welche die Aktivität des homo spectator 42 bezeichnen soll. Die Anthropologen, bezaubert von unseren Schauspielen, reden vom Beobachter, vom Teilnehmer, vom teilnehmenden Beobachter, die subjektive Position des Ethnologen anerkennend. Die ironischerweise “ wissenschaftlichen ” Regisseure (wie Jean-François Peyret) schlagen diesen Begriff für die echten Wissenschaftler vor, die gekommen sind, um in deren Schauspielen Zeugnis abzulegen. Die “ Forscher ” und “ Experten ” legen in bestimmten Produktionen von Stefan Kaegi und seiner Gruppe Rimini Protokoll Zeugnis ab. Wohingegen die Zuschauer von einem Dramaturgen wie François Regnault mit Besuchern gleichgesetzt werden. Würde sich der Begriff des Flaneurs, in den 1930er Jahren von Walter Benjamin eingeführt, nicht auch für die Erleuchteten eignen, die das Theater frequentieren? “ Der Leser, der Denkende, der Wartende, der Flaneur sind ebensowohl Typen des Erleuchteten wie 83 Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung der Opiumesser, der Träumer, der Berauschte. ” 43 Wir sind nicht weit entfernt vom Hohepriester, Schamanen, den Künstlern zugeschriebene Eigenschaften, und, im weiteren Sinne, den Zuschauern, die es wagen, ihnen zu folgen. Die Kette der neuen Metaphern, um den Zuschauer zu beschreiben, ist unendlich: “ Zuschauer ” früher bei Boal; “ initiated or precipitated by the play ” bei Herbert Blau 44 ; “ Liebhaber der feinen Kunst des Rendezvous ” bei Ethis 45 , “ Spectracteur ” bei Sibony 46 ; “ Reisender auf der Durchfahrt ” für Wajdi Mouawad und das Festival d ’ Avignon; emanzipierte Zuschauerin, “ zur Entdeckung neuer künstlerischer Gegenden aufbrechend ” nach Florence March 47 . Lauter Benennungen, die eine Deklination der unausrottbaren Metapher der “ theatralen Beziehung ” sind, von der es schwierig, aber vielleicht nötig ist, sich zu entfernen. 6.5 Der Zeuge Aber kein Terminus ist zur Zeit so populär wie der des Zeugen. Es ist nicht mehr der Zeuge eines Autounfalls, der in der berühmten Parabel von Brecht die Ursachen und Umstände des Unfalls erklärt wie es ein kritischer Soziologe tun müsste, darum bemüht, die Welt zu verändern. Dieser Zeuge ist eher der Ethnograph, beauftragt, das Funktionieren einer “ primitiven ” , “ rückständigen ” Gesellschaft zu beschreiben, wie Sartre sagt: “ Der Zuschauer muss in der Situation des Ethnographen sein, der sich unter den Bauern einer rückständigen Gesellschaft niederlässt [. . .]. Er selbst ist es, was er studiert. ” 48 In den ersten zehn Jahren des Jahrtausends ist der Zeuge, im wörtlichen Sinne des witness der Anglophonen, in der Regel in das Ereignis involviert, quasi gezwungen einzugreifen, wenn der Performer sein Leben in Gefahr bringt (wie Gomez-Pena) oder eine andere Person bedroht. Es geht darum, seine Passivität herauszufordern. Zuschauer, ein obszönes Wort, sagte einmal Boal. Viele Künstler appellieren an die Zuschauer wie an Zeugen. Es ist sogar ein neues Genre geworden, nach dem Vorbild der englischen Gruppe Forced Entertainment: “ Das Kunstwerk, das uns zu Zeugen macht, lässt uns vor allem unfähig aufzuhören zu denken und zu berichten, was wir gesehen haben. ” 49 Die Zeugenschaft und die Aufgabe der Erinnerung sind während der letzten Jahre zu Reflexionsgegenständen der Historiker geworden, wie man es zuletzt anlässlich der Polemik um den Roman Jan Karski 50 von Yannick Haenel erfahren konnte. Haenel bekräftigte, dass der Zeuge derjenige sei, der das Wort ergreift: “ Ist es das Leiden, das den Zeugen ausmacht? Doch eher das Wort, der Gebrauch des Wortes. ” 51 Die Debatte um die Begriffe “ Publikum ” oder “ Zuschauer ” spiegelt sich in der Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung: “ Das Gedächtnis ist kollektiv. Die Erinnerungen sind individuell. ” 52 Viele andere Begriffe zur Charakterisierung des zeitgenössischen Zuschauers sind im Gebrauch. Das Wichtige dabei ist allerdings nicht das gebrauchte Wort, sondern das, was sein Gebrauch impliziert. So erlaubt der Terminus watcher (Beobachter, aber auch Späher) von Rachel Fensham 53 ihr, die Funktion des Zuschauers zu hinterfragen, die klassische Analyse des Schauspiels mittels der Beobachtung, der Aufmerksamkeit, der Differenz des Blicks, namentlich zwischen den Geschlechtern, zu erweitern, da in ihren Augen “ eine an die sexuelle Identität geknüpfte Dimension der Beobachtung ” 54 existiert, selbst wenn sie es versäumt, die Merkmale der Art und Weise, “ das Theater als Frau zu beobachten ” 55 , zu präzisieren. 84 Patrice Pavis 6.6 Der Platz des Zuschauers im öffentlichen Raum Lange Zeit hat man die Situation des Zuschauers auf seinen physischen Platz im Raum begrenzt: im Allgemeinen gegenüber der Bühne sitzend und mit etwas Abstand zu ihr. Diese Position diente oft als Definition der theatralen Beziehung, die auf der physischen Kopräsenz von Zuschauern und Akteuren beruht, die in einer Rückkopplungsschleife Energien austauschen. 56 Christopher Balme wundert sich mit Recht, dass “ die aktuelle Forschung zum postdramatischen Theater, selbst unter ihren Gründern und Befürworten, noch immer von der Vorstellung ausgeht, dass Zuschauer und Publikum den Schauspielern oder Performern von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. ” 57 Man wird diese Veränderungen der Grenzen des Publikums und der Rolle des Zuschauers nicht verstehen können, ohne auf den Begriff der Öffentlichkeit von Jürgen Habermas zurückzugreifen. Die Öffentlichkeit ist ein gemeinsamer politischer Raum. Sie ist auch ein öffentlicher Ort, “ ein Ort, wo man vor den Augen aller die Geheimnisse der Mächtigen enthüllt und aufdeckt. Es ist also ein Ort der Aufklärung, wo Menschen, die sich im Inneren befinden, gewissermaßen die Ihrigen verraten und Informationen beibringen (. . .). Nun treten wir heute in eine Phase ein, in der die Öffentlichkeit quasi verschwindet, nicht, weil autoritäre Formen der Abschirmung oder Versiegelung sie abschafften, sondern weil die Grenze zwischen dem Innen und dem Außen der Institutionen zum Verschwinden neigt, so dass der Vorgang der Enthüllung selbst seine Schärfe verliert bzw. unmöglich wird. ” 58 Diese These von Boltanski ließe sich anhand des theatralen Publikums und des Zuschauers verifizieren. Der Zuschauer neigt dazu, nicht mehr an der Bühne zu “ hängen ” , mit einem frontalem, perspektivischen Blick, er neigt dazu, sich vom realen Ort des Verbrechens zu entfernen, um auf der abstrakten Bühne der Welt Zuflucht zu suchen. Die Medien distribuieren 59 den Raum und die Zeit unterschiedlich: Sie erlauben dem Zuschauer, das Ereignis aus der Distanz wahrzunehmen, live, aber von sehr weit weg. Was auch die Ungewissheit bezüglich seines realen Ortes mit sich bringt: befindet er sich innerhalb der räumlichen, zeitlichen oder ideologischen Verankerung, oder in Distanz zu ihr, ohne tatsächliche Anteilnahme, isoliert, unsicher, was seinen Platz betrifft (ängstlich, ihn zu verlieren, ausgelagert und austauschbar)? Eine Unsicherheit, die auch seine Zukunft und seine zeitliche Situation im Jetzt betrifft: ist er live oder zeitlich versetzt, im Einklang mit der Gegenwart oder neutralisiert in einem no man ’ s land , das zugleich eine no man ’ s time ist? So macht der postmoderne Zuschauer die Erfahrung der Delokalisierung, zugleich räumlich und zeitlich, was ebenso bedeutet kulturell und existentiell. Weder drin noch draußen, weder davor nach danach, ist der Platz des Zuschauers in jedem Fall ungemütlich geworden. Desorientierter und ortloser als je zuvor, in beständiger Phasenverschiebung zur Welt und zur Kunst - wetten wir, dass der Zuschauer jedoch sein letztes Wort noch nicht gesagt hat. Literaturhinweise 2002. Gildas Milin (et al.). L ’ assemblée théâtrale. Les Editions de l ’ Amandier. Dieses kollektive Werk eignet sich gut zur ersten Sensibilisierung für die Problematik des Zuschauers. Der Leser ist eingeladen, Philosophen und Regisseuren zuzuhören, die während vier Sitzungen dies und das über den Begriff der “ theatralen Versammlung ” zusammentragen. Der Dramatiker Enzo Corman sieht als eine der Besonderheiten der “ theatralen Versammlung ” , dass sie “ si- 85 Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung multan aus Zuschauern und Schauspielern besteht ” . 60 Für den Regisseur Alain Françon sind Proben ein weiteres Beispiel einer Versammlung, da jeder versucht, dort “ einen Bedeutungshorizont aufrecht zu erhalten, eine Möglichkeit der Bedeutung und die Möglichkeit ihrer Zirkulation ” . 61 Diese Möglichkeit ist verbunden mit dem Begriff der “ guten Gemeinschaft ” und des “ Zusammenlebens ” , also mit “ der Demokratie ” . 62 Eine Philosophin wie Myriam Revault d ’ Allonnes fragt sich im Gegenzug, ob “ es überhaupt noch etwas wie ein “ gemeinsames Gutes ” gebe ” , 63 und meint, dass dieses “ die Matrix wäre, von der ausgehend man den öffentlichen Raum verteidigen müsse ” . 64 Für eine andere Philosophin, Marie-Josée Mondzain, spielt sich auf der Theaterbühne, in Analogie zur christlichen Inkarnation, die Frage “ der Präsenz und Absenz von Körper und Bild, das heißt eine ungefilterte Verwaltung, durch den Körper des Schauspielers, eines mit dem Publikum geteilten Raums, also einer Republik, einer öffentliche Sache ” ab. 65 Auch Milin - nicht eine Publik. v. Mondzain, oder? Ein solcher Vergleich ist inakzeptabel für Theoretiker wie Guy Walter, der “ diese Idee der theatralen Gemeinschaft, der theatralen Kommunion, und diese Form der Verkörperung, die man vom Zuschauer verlangt ” , ablehnt. 66 Walter fordert also, dass “ die künstlerische Politik sich in politischen Begriffen ausdrückt ” . 67 Mondzain antwortet ihm nicht direkt, aber sie verteidigt “ den Affekt in der Vermittlung der Bedeutung ab dem Moment, wo man sich auf der Bühne der Triebe, des Begehrens und der politischen Teilung befindet ” . 68 Welchen Blick richtet der Zuschauer auf das Schauspiel? Der gemeinsame Ausgangspunkt der Diskussionsteilnehmer ist die Formulierung von Jean Toussaint Desanti: “‘ Wir sieht nichts ’ . Aber, was sehen wir denn genau? Nichts, was jeder sieht und auf das sich alle einigen könnten. Man wird nur einig über das, was sich im Off abspielt, außerhalb dessen, was jeder sieht ” . 69 Vom Regisseur Michel Didym in Begriffe der Partizipation am Entstehungsprozess des Schauspiels übersetzt, bedeutet das, dass der Regisseur, die Schauspieler, die Mitarbeiter, aber auch die Zuschauer eine notwendige Vielzahl von “ Ichs ” bilden, und nicht “ eine Art übergreifendes, unumstrittenes ‘ Wir ’” . 70 Die Frage des Zuschauers geht auf in der Frage nach der Inszenierung, mehr oder weniger “ autorisiert ” durch einen Künstler, also einen “ Autor ” des Schauspiels, den Regisseur, denjenigen, der eine bestimmte Auffassung vom Schauspiel hat, eine Sicht, “ die an eine bestimmte Vorstellung der Kreation und der Souveränität gebunden ist, der Souveränität des Künstlers ” . 71 Mondzain verlängert und ergänzt die Aussage von Desanti: “ Das Wir sieht nichts, es ist das Zwischen-Uns, das sieht ” . 72 . Aber was ist zwischen uns? Die Gesprächspartner beziehen sich, ohne ihn zu nennen, auf Derrida und auf seinen Begriff der Dissemination. Der zeitgenössische, postmoderne oder postdramatische Zuschauer gilt als sehr zerstreut in seinen Wahrnehmungen. Aber, warnt Revault d ’ Allonnes, “ diese Gedanken der Dissemination sind ruinöse Gedanken für die Frage nach der Bedeutung der Gemeinschaft gewesen; wir sind von einer übergreifenden, einigenden Position zu ihrem Gegenteil, einem Gedanken der Zerstreuung, der Zersplitterung gelangt, der uns ebenso verbietet, die Probleme zu begreifen und einzuordnen. Und aus eben diesem Grund fällt es uns heute so schwer, an die Frage der Gemeinschaft zu denken. Wir sind in einer verheerenden Alternative gefangen: Die des ‘ symbiotischen Wir ’ oder der Dispersion und der Dissemination ” . 73 . Zwischen Copeau und Derrida, könnte man sagen. Die Diskussion um den Zuschauer verengt sich weiter, vor allem während des letzten Treffens, als der Austausch über die Modernität zur Frage nach der Legitimation des Theaters in der Unmittelbarkeit seiner 86 Patrice Pavis Rezeption führt. Guy Walter bezeichnet es als “ den aktiven Raum der Rezeption: die Tatsache, dass das Publikum das Ereignis der Aufführung konstruiert ” . 74 Wie lässt sich von da aus die Versammlung denken, auf die sich jedermann, hier und anderswo, beruft? Großzügig behauptet der Autor Corman, “ dass die Frage wohl eher sei, eine Versammlung zu konstituieren (um ein Objekt) als ein Objekt zu produzieren (imstande, die Versammlung zu provozieren) ” . 75 Der Regisseur Fisbach scheint sich nicht damit abfinden zu wollen, dass “ das Wir ” - seine Mitarbeiter und Zuschauer - “ nicht sieht ” . Er bevorzugt, eine “ Sache der Nebeneinanderstellung, d. h. des gleichzeitigen ‘ Wir sieht nicht ’ , ‘ Das Zwischen-Uns sieht ’ und ‘ Das Wir sieht schließlich doch ’” . 76 Diese aneinandergereihte zeitliche Folge lädt uns ein, die zeitliche Dimension wieder einzuführen, “ die theatrale Versammlung als einen historischen oder zeitlichen Seinsmodus, nicht nur als eine Versammlung im Raum zu betrachten ” , stellt Revault d ’ Allonnes fest. 77 Was Claude Régy, den Doyen und Fürsten unserer Regisseure, dazu veranlasst, die Grenzen des Schauspiels und damit der Intervention des Zuschauers zu überdenken, “ die Idee hinter sich zu lassen, dass das Schauspiel etwas ist, was man während einer bestimmten Zeit sieht ” . 78 Bleibt die Frage, ob diese Ausdehnung des Zuschauerraums und des öffentlichen Raums sich bis zum Raum der Gemeinschaft erstreckt, da, wo sich die Inszenierung einfügt, ja sogar, wie Fisbach vorschlägt, bis zum gesamten Menschengeschlecht. 79 Diese Diskussion über die Dimension und das Wesen der Gemeinschaft muss weiter verfolgt werden, umso mehr, als, wie Mondzain einräumt, das Theater nicht aufhört, sich zu fragen, “ wie Gemeinschaft produziert werden kann, wobei diese Gemeinschaft immer eine Fiktion bleibt ” . 80 Dieser lebendige und brillante intellektuelle Austausch liefert keine einfache Lösung, hilft aber dem Leser, sich über den flüchtigen Charakter des Zuschauers und die Herausforderungen für die zukünftige Entwicklung des Theaters bewusst zu werden. 2002. Florence Naugrette. Le plaisir du spectateur de théâtre. Rosny-sous-Bois, Editions Bréal. Dieses Buch ist eine allgemeine Einführung ins Theater, die trotz der Komplexität des Sujets stets lesbar bleibt. Sie enthält eine Reihe nützlicher und kluger Bemerkungen zur Rolle des Zuschauers, was zeigt, dass die Frage des Zuschauers auf allen Etappen der theatralen Kreation und der Produktion einer Inszenierung präsent ist. Im dritten Kapitel, “ Theorien zur theatralen Lust ” werden die Konzepte Katharsis, Identifikation oder Verfremdung erklärt und im Rahmen der Theatergeschichte verortet. Eine erste und hilfreiche Einführung in die Problematik im gesamten Kontext der Theaterforschung. 2006. Marie-Madeleine Mervant-Roux. Figurations du spectateur. Une réflexion par l ’ image sur le théâtre et sur sa théorie. Paris, L ’ Harmattan. Dieses Buch ist eine Fortsetzung und streckenweise eine Korrektur von L ’ assise du théâtre. Pour une étude du spectateur (CNRS Editions, 1998). Diese beiden Werke sind eine sehr gute kritische Einführung in die Problematik des Zuschauers. Mervant- Roux liefert eine historische Einordnung der Frage seit den 1950er Jahren. Sie stellt die angebliche Passivität des sitzenden Zuschauers ebenso in Frage wie die mutmaßliche Aktivität des Publikums, das zum Flanieren im Raum der Aufführung eingeladen ist. Ebenso hinterfragt sie das Dogma nach welchem “ die Natur der Verbindung zwischen Publikum und Theater eine fundamental relationale und im Wesentlichen in der Unmittelbarkeit der Begegnung realisierte sei ” . 81 Sie erklärt diesen Wandel in der Konzeption des Zuschauers durch das Ende des theatrologischen Modells des Dialogs, 87 Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung welches in seiner semiologischen Version schnell verworfen wurde, 82 aber in “ der Privilegierung von Ereignis, Unmittelbarkeit, des expressiven Körper. . . ” 83 wieder auflebt. Merkwürdigerweise schreibt sie dieses Aufleben der “ Herrschaft der Regie ” zu, obwohl es sich ganz offensichtlich durch das Aufkommen von Performance, Happening oder dem postdramatischen Theater in den 1960er und 1970er Jahren erklärt, während das Regietheater seit mindestens 70 oder 80 Jahren existiert. Ihrer Meinung nach entspringt “ das theoretische Monster des ‘ Zuschauers ’” 84 “ dem von bestimmten Leuten im Kreis des Volkstheaters im Rahmen einer generellen Gleichsetzung des Theaters mit einem klassischen politischen Raum erarbeiteten Traum ” 85 . Sie denunziert die große ritualistische Versuchung, die aus den Zuschauern Akteure macht, versammelte Zelebranten innerhalb einer Gemeinschaft und die kritische und politische Konzepte durch zu vage philosophische Begriffe ersetzt. All diese Positionen werden in ihren neuesten Artikeln und ihrem Beitrag zu About Performance (2010) nochmals bekräftigt, differenziert und entwickelt. 2009. Jacques Rancière. Der emanzipierte Zuschauer. Aus dem Französischen von Richard Steurer. Wien, Passagen Verlag. Von diesem philosophischen Essay sind keine Präzisierungen über den Theaterzuschauer in der konkreten Rezeptionssituation zu erwarten, sondern eine philosophische Reflexion auf hohem Niveau über die Position und die “ Aktivität ” des Zuschauers, eine hilfreiche Klarstellung einiger zeitgenössischer Mythen über die Aktivität und Gemeinschaft der Zuschauer, der naiven und irrtümlichen Diagnose, nach der “ Zuschauer sein bedeutet, zugleich von der Fähigkeit zur Erkenntnis und von der zur Handlung getrennt zu sein ” 86 . Das Theater, sei es auch nur seit Rousseau, würde seine Zuschauer manchmal gerne eliminieren, oder zumindest die Position des Zuschauers, um aus ihm einen Teilnehmer an einer Zeremonie oder ein Mitglied einer Gemeinschaft zu machen, die Schauspieler und Zuschauer zusammenfasst. Diese Kritik richtet sich ebenso gegen Brecht, der das Theater konzipiert als “ eine Versammlung, wo die Leute des Volkes sich ihrer Situation bewusst werden und ihre Interessen diskutieren ” wie gegen Artaud, der es definiert als “ das reinigende Ritual, wo eine Gemeinschaft ihre eigenen Energien in Besitz nimmt ” 87 . Das ganze Problem entspringt dem momentanen Willen, die Trennung von Zuschauer und Schauspieler aufzuheben, die Aktivität des Zuschauers auf seine physische Mobilität zu reduzieren. Hinzu kommt ein überholtes Konzept, das vorsieht, dass die Zuschauer exakt die vom Autor und dann vom Regisseur vorgegebenen Erklärungen verstehen. Wir befinden uns hier laut Rancière in der “ Logik der verdummenden Pädagogik, die Logik der direkten und identischen Übertragung ” 88 . Dem entgegen setzt er den “ Sinn des Paradoxes vom unwissenden Lehrmeister: Der Schüler lernt vom Lehrmeister etwas, was der Lehrmeister selbst nicht weiß ” 89 . Auf die Beziehung Regisseur/ Zuschauer übertragen bedeutet das, dass der Regisseur die meiste Zeit nicht weiß, was er tut, nicht einmal, was er versucht, begreiflich zu machen: “ [D]er Künstler [will] nicht den Zuschauer belehren [. . .]. Er verbietet es sich, die Bühne zu benutzen, um eine Lehre zu verpassen oder eine Botschaft rüberzubringen. Er möchte nur eine Bewusstseinsform erzeugen, eine Gefühlsintensität, eine Energie zum Handeln ” 90 . Rancière scheint hier die postmodernen Künstler und Zuschauer zu beschreiben, die nicht mehr darauf abzielen, eine Bedeutung zu konstruieren oder zu rekonstruieren. Im folgenden Satz überrascht allerdings, dass der Autor, aus Unkenntnis der aktuellen Theaterproduktion, dem Künstler die Freiheit entzieht, dem 88 Patrice Pavis Zuschauer nicht die Bedeutung aufzuzwingen, die “ er in seine Dramaturgie oder seine Performance hineingelegt hat. ” 91 Das ist umso bedauernswerter, als der Autor, selbst ohne ins Detail der Inszenierungen zeitgenössischer Performances zu gehen, eine treffende Typologie der interdisziplinären Praktiken der zeitgenössischen Kunst skizziert, darauf bedacht, alle Künste in seinen Korpus zu integrieren, insbesondere die bildenden, wobei er “ drei Arten, diese Vermischung der Genres zu verstehen und zu praktizieren ” 92 differenziert. Rancière unterscheidet: 1) jene, “ die die Form des totalen Kunstwerks wieder aufgreift ” , 2) “ sodann die Vorstellung von einer Hybridisierung der Kunstmittel, die der postmodernen Wirklichkeit des unaufhörlichen Austausches der Rollen und Identitäten, des Reellen und Virtuellen, der Organischen und der mechanischen und digitalen Prothesen eigen ist ” und 3) eine dritte Art, die am geeignetsten erscheint, die Rückkehr zum neo-ritualistisch Gemeinschaftlichen und dem aktiven, mit den Schöpfern des Schauspiels gleichgesetzten Zuschauer einzudämmen. Diese “ dritte Art, die nicht mehr auf die Steigerung der Wirklichkeit abzielt, sondern auf die Infragestellung des Verhältnisses Ursache-Wirkung selbst und des Spiels der Vorannahmen, das die Logik der Verdummung unterstützt ” 93 , versteht die Theaterbühne “ als eine Bühne der Gleichheit [. . .], wo unterschiedliche Performances sich ineinander übersetzen ” und die “ der Erzählung einer Geschichte, dem Lesen eines Buches oder dem Blick auf ein Bild ” 94 gleichgestellt ist. Dieses schwer zugängliche Buch zeichnet sich durch den Verdienst aus, die Problematik des Zuschauers und der Interpretation in den Kontext einer philosophischen Reflexion darüber zu verlagern, was der Zuschauer wissen kann oder im Gegenteil besser ignorieren sollte. Es wird leichter verständlich nach der Lektüre anderer Werke. 2008. Bénédicte Louvat-Molozay et Franck Salaün (Hrsg.). Le Spectateur de théâtre à l ’ âge classique. XVII° et XVIII° siècles. Montpellier, L ’ Entretemps. Die Herausgeber dieses wertvollen Buchs zeigen eindrucksvoll in ihren Einleitungen, wie “ die Erfindung der ‘ Situation des Zuschauers ’ bzw. ihre effektive Umsetzung zusammenfällt mit dem Durchbruch der klassischen Dramaturgie und den theoretischen Anstrengungen, die sie begleiten ” 95 . Ihrer Meinung nach drängen sich in dieser “ Archäologie des Zuschauers im Zeitalter des Klassik ” zwei Tatsachsen auf: einerseits die wachsende Wichtigkeit, die seit 1630 der Rezeption des theatralen Spektakels in der dramatischen Theorie zukommt; andererseits die Instabilität der Lexik, um die Instanz der Rezeption zu benennen: “ Zuschauer ” erscheint nur als eine der möglichen Bezeichnungen neben “ Volk ” und vor allem “ Zuhörer ” . 96 Die Autoren zeigen, dass “ der Zuschauer also ein Konzept aus dieser Zeit ist, das sich ins französische theoretische Feld seit den 1630er Jahren einschreibt. ” Dieser Terminus koexistiert mit dem häufiger gebrauchten des “ Zuhörers ” , ein Konzept, das auf die Rhetorik Bezug nimmt, die Redekunst und die Deklamation, die im 17. Jahrhundert noch das Spiel des Akteurs dominiert. “ Man kann festhalten, dass der Sieg des ‘ Zuschauers ’ sich durch die Autonomisierung der dramatischen Praxis und Lexik in Bezug auf das Feld der Rhetorik erklärt, an die sie vorher angelehnt waren, ebenso wie durch den Stellenwert, die das Bildliche und mit ihm die Bedeutung des Blicks in der klassischen theoretischen Reflexion erlangt ” . 97 Der Terminus und das Konzept des Zuschauers setzen sich im 18. Jahrhundert durch: “ Er erlaubt, mindestens drei Arten der Beziehung zu berücksichtigen, je nachdem, ob man die konkreten Zuschauer, den impliziten Zuschauer oder den vom Schauspiel transformierten Schauspieler betrachtet ” . 98 Diese dritte Funktion, 89 Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung die “ eine Theorie des nachhaltigen Effekts des Theaters auf den Zuschauer erforderlich macht ” 99 , ist diejenige, die uns besonders interessiert, wenn wir den auf den Zuschauer ausgeübten Effekt untersuchen und uns auf der Suche nach einer Theorie der Affekte befinden, inspiriert von der der Passionen, aber vor allem verbunden mit der der kinesthetic empathy (Identifikation durch Bewegung) - die Art und Weise, in der wir eine Bewegung, die wir als Zuschauer wahrnehmen, identifizieren und innerlich mitvollziehen,. Etwa zwanzig gelungene Fallstudien verfeinern und präzisieren diese Hypothesen und liefern eine exzellenten Gesamtüberblick. Es ist notwendig, die zeitgenössische Reflexion auf solche konzentrierten historischen Studien zu basieren. Unser Wissen über die Theatersäle, die Dramaturgie, die Gattungen und Stile des Schauspiels geht daraus gestärkt und besser ausgerüstet hervor, um die aktuellen Veränderungen der Funktion des Zuschauers zu erklären. 2008. Th. Hunkeler, C.Fournier Kiss und A.Lüthi (Hrsg.). Place au public. Les spectateurs du théâtre contemporain. Genf, Métis Presses. Dieses Buch kommt dem rein frankophonen Publikum sehr entgegen, da es Beiträge renommierter Autoren versammelt, die wenig ins Französische übersetzt oder vor allem auf Englisch zugänglich sind, wie Erika Fischer-Lichte, Malgozata Sugiera, Hans- Thies Lehmann oder Andreas Kotte. Leider schwankt die Qualität der Artikel sehr. Man findet eine exzellente Ausarbeitung von Marie-Madeleine Mervant-Roux, die auf ihren gesamten Parcours als mit der Publikumsanalyse konfrontierte Forscherin Rekurs nimmt. Lehmann liefert hier erhellende Präzisierungen über den prä- und postdramatischen Zuschauer und eine sorgfältige Analyse des Konzeptes der Anagnorisis, das ein besseres Verständnis der aktuellen Metamorphosen des Zuschauers erlaubt. Fischer- Lichte hingegen, willens die Aktivität des Zuschauers zu beweisen - als ob sie damit eine Entdeckung machte - beschränkt sich darauf, einige Regisseure der europäischen Avantgarde vom Beginn des 20. Jahrhundert zu zitieren, Partisanen der Aktivierung des Zuschauers, und, ohne zu argumentieren, zu wiederholen, wie sehr der Zuschauer ein “ Schöpfer einer neuen Bedeutung ” 100 sei, jemand für den “ ein Schauspiel betrachten immer bedeutet zu agieren, und im besten Fall, kreativ zu agieren ” 101 . Man findet eine herausragende Reflexion von Marco Baschera, “ Der Zuschauer im Angesicht der Geburt der Zeichen ” . Auf wenigen Seiten situiert der Autor die Problematik des Zuschauers, der auf der Bühne “ zugleich reale und irreale ” 102 Dinge wahrnimmt. Der Zuschauer definiert sich “ als dezentriertes Zentrum des Theaters: seine Aufmerksamkeit richtet sich weit von sich selbst auf die Akteure und ihr szenisches Spiel. Aus Sicht der Bühne, bedeutet das, dass sie ‘ sich exponiert ’ . So öffnet sie sich für den Blick des anderen, des Zuschauers. Ganz allein könnte sie nicht stehen. Der Schauspieler ‘ errichtet sie ’ vor den Augen des Zuschauers. Auf diese Weise kreiert die gesprochene oder gestische Handlung eine Leere, die der Zuschauer durch seine stumme Präsenz und seine Erwartungshaltung ausfüllen soll. Es geht um das Problem der Adresse dieser Aktion, die auf das Publikum abzielt, aber ohne dass es direkte Kommunikation oder Austausch gäbe ” 103 . Für die Analyse des Anfangs von Novarinas La Scène stützt sich Baschera auf die Arbeiten von Mondzain. Für diese “ heißt gemeinsam sehen nicht, eine Vision teilen, denn niemals wird jemand das sehen, was der andere sieht. Man teil nur das, was man nicht sieht. Das ist das Unsichtbare. Gemeinsam sehen heißt, die Unsichtbarkeit einer Bedeutung zu teilen ” (Voir ensemble, 2003, S. 140). Baschera formuliert die Hypothese, dass eine schwer zu erfassende Beziehung existiert, welche das 90 Patrice Pavis Unsichtbare auf der Bühne mit der stummen Präsenz des Zuschauers verbindet: “ der Zuschauer sieht durch das Ohr und umgekehrt ” 104 . In wenigen Sätzen tun diese beiden Autoren mehr für unser Verständnis des Zuschauers als viele Bücher, die ihm explizit gewidmet sind. 2009. Dennis Kennedy. The Spectator and the Spectacle. Audiences in Modernity and Postmodernity. Cambridge University Press. Eine sehr gelungene Studie, welche die Frage des Zuschauers aus historischer Sicht seit den Anfängen der Inszenierungspraxis in Angriff nimmt, mit Beispielen aus Shakespeare-Inszenierungen, namentlich in einer interkulturellen Perspektive, die die Untersuchung bis zur Partizipation von Gläubigen und Ungläubigen an Ritualen einer fremden Kultur verfolgt. Der Körper, die Subjektivität, die Erinnerung und der Glauben des Zuschauers werden sorgfältig und in kohärenter Weise erörtert, auch wenn das Buch auf bereits publizierte Artikel zurückgreift. Eine der besten Einführungen in die Analyse des postmodernen Zuschauers. 2009. Rachel Fensham. To Watch Theatre. Essays on genre and corporeality. Brüssel, Peter Lang. Dieses Werk, momentan das anspruchsvollste zur Frage des Zuschauers, hat sich zum Ziel gemacht, das Theater als “ an embodied activity ” 105 zu betrachten. Der Zuschauer ist fast immer als ein körperloser Dekodierer gesehen worden, nichts als sein Gehirn und seine Denkfähigkeit nutzend; vergessend, dass Körper sich nicht nur auf der Bühne befinden, sondern auch im Saal. Das Konzept der Inkarnation (Verkörperung, im Sinne von embodiment) wurde auf Schauspieler, Tänzer und Performer angewendet, aber selten auf die Zuschauer. Dem widmet sich die Autorin, indem sie eine “ Semiotik des Körpers ” vorschlägt. Ihre Untersuchung zeigt die Interaktion dreier Schlüsselkonzepte: “ genre, the formal term that establishes the structuring of theatricality that includes the textual grammar of a dramatic work, its performance style, theatrical frame, and mode of rhetorical address; corporeality, an assemblage of the troubling physical work of the actors, the figurative forms in the text, and the ambivalent bodies of the spectator; and performance, the presenting of theatre in a mobile, stratified terrain of symbolic and expressive action in the social world ” 106 . Nach dem Ursprung und den Verwendungskontexten des Begriffs “ to watch ” suchend, konstatiert Fensham, dass traditionell die Männer “ on the watch ” sind, während die Frauen ihr krankes oder schlafendes Kind behüten und bewachen. 107 “ Watching theatre ” bedeutet “ sensing, recognising, and responding to what happens between bodies ” 108 , was uns Körper in Bewegung und die Beziehung unseres Körpers mit dem des anderen bewusst macht. Die Autorin möchte erfassen, inwieweit die Erfahrung, etwas gemeinsam mit anderen zu sehen, eine Erfahrung ist, die auf Affekte zielt, auf die Kognition und die theatrale Gemeinschaft. Sie stellt fest, dass viele Forscher der postdramatischen Bewegung auf die Werkzeuge und Konzepte der Visual Studies zurückgreifen: Sie verzichten auf die Beschreibung der Aufführung in psychologischen Begriffen und verwenden stattdessen Stichworte wie “ Selbstreferenz, Gegenstandslosigkeit, abstrakte oder konkrete Kunst, Autonomisierung der Signifikanten, Serialität, Aleatorik ” . 109 Fensham konstatiert die Obsession der Kritik in einer Ära “ post-Peter Brook and Grotowski ” 110 mit dem Begriff der Zeugenschaft, das sie von ihrem eigenen Konzept des Sehens/ Beobachtens abgrenzt. Ihr Buch verfolgt drei Hauptstränge, die den drei oben genannten Schlüsselkonzepten entsprechen: 1) Der Effekt der Aufführung auf den Zu- 91 Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung schauer 111 , eine Wirkung, die zukünftige Recherchen noch weiter erhellen müssen, 2) “ the discrete elements in the mise en scène ” 112 und im Unbewussten der Inszenierung. Der “ watcher ” , dieser beobachtende Zuschauer, muss sich in einem Zustand “ somewhere between sleep and wakefulness ” 113 befinden. Es geht also darum, auf diese versteckten Elemente der Inszenierung zu achten und nicht auf die Konzepte von Personen oder des Textes: Wir verfügen über eine “ acute awareness of the material effects of a performance, not with whole units of meaning such as character or speech, but with discrete elements in the mise en scène. ” 114 . Diese Beobachtung unterstreicht den Willen, die Rolle des Zuschauers im Zusammenhang mit dem übergreifenden System der Inszenierung zu analysieren, und nicht anhand isolierter Elemente der dramatischen Struktur. 3) Die dritte verfolgte Richtung ist die der Theorie der literarischen und dramatischen Gattungen. Der Rückgriff auf die Gattung, ein Konzept, dass die Semiologie etwas zu schnell als zu normativ abgetan hat, markiert für Fensham eine Rückkehr zur Dramaturgie als leitendes Prinzip der Dramen- oder Aufführungsanalyse. Man versteht also ihre Vorgehensweise in der Analyse des Zuschauers: “ trace a path between the more formal theorising of genre towards the visceral, sensorial, and critical modes of watching required in an embodied relationship ” . 115 Das wird in diesem Buch exemplarisch in der Analyse von vier zeitgenössischen Inszenierungen von Tragödien angewendet, die Reaktionen des zeitgenössischen Zuschauers beobachtend. Die ästhetische Erfahrung des Sehens einer Tragödie erlaubt uns heute, unserer düsteren Epoche zu begegnen, d. h. “ add something to the collective dimension of this most civic, if uncivil, of genres ” 116 . Der große Verdienst dieser Untersuchung ist es, die Rolle des Zuschauers nicht wie üblich in abstrakter oder ahistorischer Weise neu zu bewerten, sondern in engagierter Weise, ebenso die Analyse der Affekte des Theaters betreffend, während sie sich produzieren, wie das Verständnis unserer Epoche, im Begriff, sich zu analysieren. 2010. Laura Ginters, Gay McAuley. About Performance, n°10. Diese Sondernummer der Zeitschrift des Department of Performance Studies der University of Sydney, liefert einen guten Überblick über die grundlegenden aktuellen Fragen zum zeitgenössischen Zuschauer, hauptsächlich aus britischer und australischer Perspektive. Der Zuschauer erscheint hier im Fenster aktueller Recherchen über das Theater von Heute, mit einigen Ausreißern zu Performances wie Cross-Country Mountain Biking Rennen (Kath Bicknell) oder der Art und Weise, wie die Balinesen sich als “ viewing subjects ” mit ihrer Erfahrung und Praxis als Zuschauer auseinandersetzen (Mark Hobart). Mehrere Autoren beziehen sich auf den Zuschauer als Zeugen innerhalb einer Gemeinschaft, wobei diese beiden Begriffe kaum kritisiert werden, außer aus einem kontinentalen, d. h. französischen Blickwinkel, durch Marie-Madeleine Mervant-Roux, die kritischste aller Autoren, denn “ in diesem durch neo-rituelle Werte der Kommunion oder kollektiven Handlung markierten Kontext haben wir der Rückkehr der alten Vorstellung vom Zuschauer beigewohnt - ein wiederkehrendes Thema seit den 1960er Jahren - , die physische Immobilität mit Passivität gleichsetzt ” 117 . Ein anderer “ Outsider ” , Wilmar Sauter, liefert eine differenzierte Bilanz von 30 Jahren Reception Studies und den empirischen, methodologischen und theoretischen Fortschritten. Eine zugleich zufriedene und noch unzufriedene Bilanz: “ Die Vorstellung, dass Publika integrale Bestandteile von theatralen Ereignissen sind, hat im Laufe der letzten Jahrzehnte feste Wurzeln geschlagen, doch die Forscher der 92 Patrice Pavis Theaterwissenschaft müssen diese theoretischen Evidenzen noch in ihre historische und empirische Analyse integrieren ” 118 . Für die Mehrheit der Autoren dieses Bandes ist dies schon seit langem erledigt. Unter ihnen Matthew Reason, der geduldig die Erfahrung des Zuschauers neu definiert und versucht, sie zu verlängern, durch Diskussionen nach der Aufführung oder Ateliers, in denen die Zuschauer eingeladen sind, ihre Erinnerungen an das Schauspiel, das sie gerade gesehen haben, zu zeichnen: “ Der Wunsch zu sprechen basiert auf dem Bedürfnis, die eigene Erinnerung an das Ereignis zu bestätigen, dessen Zeuge man war. ” Es handelt sich also, setzt Reason nach, “ um einen dringlichen Wunsch über die Schauspiele zu sprechen (und daher sich zu erinnern), die (der Zuschauer) erlebt hat ” 119 . “ Die Erfahrung wird zu etwas von uns selbst für die anderen konstruiertem, bzw. von uns selbst für die anderen innerhalb eines soziokulturellen Kontextes, da wir versuchen, die Welt um uns herum zu verstehen und verständlich zu machen ” . 120 Unter den Fallstudien dieses Bandes, allesamt überzeugend, ist die bemerkenswerte Studie von Heather Lilley hervorzuheben, der eine Verbindung zwischen der Rezeptionsästhetik eines Jauß oder Gadamer und der Idee der Gemeinschaft gelingt: der von Benedict Anderson entliehenen imaginierten Gemeinschaft ( “ imagined community ” ) und der von Stanley Fish vorgeschlagenen Interpretationsgemeinschaft ( “ interpretive community ” ). Diese unverhoffte Verbindung hilft den Forschern das fehlende Bindeglied vieler zeitgenössischen Untersuchungen zum Zuschauer zu finden: die Verbindung zur Dramaturgie und zur Poetik des Zuschauspiels, also zur Interpretation des Werks durch den Zuschauer. Lilley unterscheidet drei grundlegende Bereiche der Dramaturgie, welche die Rezeption der Inszenierung durch das Publikum beachtlich beeinflussen: “ (1) Die geteilte Wiedererkennung kultureller Symbole, die den psychischen Prozess der Interpretation formen; (2) die Verbindung ‘ Publikum-Aufführung ’ als Mittel, um eine Form von Zugehörigkeit (fellowship) zu kreieren ebenso wie eine soziale, festliche Erfahrung; und (3) die gemeinsame Erfahrung von Zeit und Raum, in dem Sinne, dass sie die sensorischen, körperlichen und imaginativen Reaktionen auf das Werk beeinflussen und einmal mehr eine geteilte Schätzung des Ereignisses als eine festliche oder kollektive Erfahrung ermöglichen ” . 121 Dank dieser Poetik und Dramaturgie wertet die Autorin den Zuschauer als denjenigen um, der mitgerissen wird “ in die Aktion durch die systematische Transformation des Publikums in eine temporär vereinte Interpretationsgemeinschaft ” 122 . Ihr Zugang, weit davon entfernt die zuschauende Instanz noch mehr zu metaphorisieren, sie auf vage, schlecht definierte Funktionen zu reduzieren, bemüht sich im Gegenteil den Zuschauer wieder in der Bedeutungsproduktion zu positionieren. Man hätte nur daran denken müssen! 2010. Florence March. Relations théâtrales. Montpellier, L ’ Entretemps. Dieser schmale Band von 90 Seiten, der feinsinnige Untersuchungen von in Avignon gesehenen Aufführungen vereint, hat den großen Verdienst, von aktuellen und konkreten Beispielen ausgehend nach der Lektüre der Analysen eine zukünftige theoretische Meditation und Reevaluierung des Zuschauers anzuregen, die sowohl die Arbeit von Philosophen (Mondzain, Didi-Huberman, Baudrillard) wie die provokantesten und engagiertesten Inszenierungen berücksichtigt. Es ist bedauernswert, dass Florence March ihre Neubewertung nicht über Habermas und Reason bis zu Lehmann oder Balme fortgesetzt hat, sondern sich mit dem Wiederaufgreifen des Konzepts der theatralen Beziehung aus den 1950er und 1960er Jahren von Vilar, Dort, Banu, Brook oder 93 Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung Grotowski begnügt; ebenfalls beklagenswert ist, dass sie die aktuelle Theaterpraxis nicht systematisch in einen weiteren theoretischen Rahmen fasst: den der Medien und der Intermedialität, der performances studies und der Interkulturalität. Glücklicherweise ist sie sich jedoch der Notwendigkeit bewusst, “ diesen Zuschauer in Aktion, der den konventionellen Rahmen der Aufführung in Scherben zerspringen lässt ” 123 aufzuwerten, da sie sehr treffend die Bemühungen der Groupe Miroir beschreibt, diese Zusammenkunft von Zuschauern, die über die “ spektatoriale Erfahrung ” reflektiert, die “ systematisch die raum-zeitlichen Grenzen verschiebt und sich bemüht zu beweisen, dass das Publikum außerhalb des Schauspiels existiert ” 124 . Ihre Mikroanalysen von CNN (Chartreuse News Network) - still und leise, tongue in cheek - dekonstruieren die alten Theorien ihrer eigenen Referenzen und ihren (schlechten) theoretischen Umgang. Ihre Analysen ebnen den Weg für eine zukünftige, mit Medien konfrontierte Theaterregie sowie für eine theoretische Reflexion, die bereits durch die Arbeiten von McLuhan, Reason, Auslander und Balme entworfen worden ist: “ Diese Suche nach den möglichen Interaktionen von Theater und Medien hinterfragt notwendigerweise die Natur der theatralen Beziehung ebenso wie unser Verhältnis zu neuen Technologien und zur Information ” . 125 2011. Anne Gonon. In vivo. Les figures du spectateur des arts de la rue. Montpellier, L ’ Entretemps. Ein wertvolles Werk, da es ein ziemlich präzises Bild der verschiedenen Typen von Zuschauern eines sowohl zahlenmäßig als auch symbolisch immer wichtiger werdenden Genre liefert: des Straßentheaters. Dank einer sehr guten praktischen Kenntnis des Milieus, identifiziert Anne Gonon nach feinen Kriterien die verschiedenen Zuschauertypen. Sie schlägt eine Kategorisierung vor, mit dem Risiko, die sehr feinen Kriterien auch ein wenig subjektiv und zu psychologisch zu konzipieren, und so nicht unbedingt den Erwartungen der Zuschauer noch der Besonderheit der Aufführungen zu entsprechen. Nach Gonon existieren drei verschiedene Zustände des Zuschauers auf der Straße: der entschlossene Zuschauer, der potentielle und der zufällige. Die Autorin unterscheidet anschließend verschiedene Parameter nach: 1) dem Kontext der Aufführung, 2) den zeitlichen Umständen, 3) der Theatralisierung des Zuschauers, 4) seiner Dramatisierung. Die spezifischeren Unterkategorien betreffen den Raum, mit dem Risiko manchmal künstlich bzw. wenig überzeugende Unterscheidungen anzuführen. Die Autorin ist sich bewusst, dass der Zuschauers der Straße “ exponiert ” ist, “ körperlich einbezogen ” , “ herumgeschubst ” , aber dass er trotzdem “ im Herzen der Partition ” verbleibt 126 . Schauspieler und Zuschauer sind stets “ Hand in Hand ” 127 , ja sogar “ Auge in Auge ” 128 - weiter geht die Intimität nicht. Die Autorin bedauert die Zeit, wo das Straßenschauspiel sich an den “ Einwohner ” richtete, an echte Passanten der allgemeinen Bevölkerung und nicht an Spezialisten. Sie rechnet mit dem Straßentheater für “ die Befruchtung der Gebiete und die Entwicklung des zeitgenössischen Schaffens ” 129 , ebenso wie für die Wiederherstellung eines lebendigen Teils dieses Schaffens für den “ Zuschauer-Bewohner ” . In vivo veritas. Weitere aktuelle Publikationen, die sich teils mit dem Zuschauer beschäftigen Die Theater- und Performance-Studien der letzten zwanzig Jahre nehmen häufig Bezug auf den Zuschauer. Es ist also ratsam, in ihnen nachzulesen, da die einzelnen Beobachtungen oft sehr erhellend sind. In diesem Zusammenhang erwähnenswert sind folgende Werke: 94 Patrice Pavis 2001, Marvin Carlson. The Haunted Stage: the Theatre as Memory Machine. Ann Arbor, University of Michigan Press. 2004, Vicky Cremona, Peter Eversmann et al. Theatrical Events: Borders, Dynamics, Frames. Amsterdam, Rodopi. 2004, Erika Fischer-Lichte. Ästhetik des Performativen. Frankfurt, Suhrkamp. 2006, Matthew Reason, “ Audience ” , Performance Research. A Lexikon, Volume 11, n°3, September. 2006, Nicolas Ridout. Stage fright, Animals and Other Theatrical Problems. Cambridge University Press. 2006, Susan Hayward. Artikel “ Audience ” , “ Spectator ” , “ Agency ” , Cinema Studies. The Key Concepts. London, Routledge. 2007, Christoper Balme. Pacific Performances. Palgrave. 2008, Christopher Balme. “ Spectators and Audiences ” , The Cambridge Introduction to Theatre Studies, Cambridge University Press. 2008, Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Paradoxien des Zuschauens. Bielefeld, Transkript. 2008, Jens Roselt. Phänomenologie des Theaters. München, Wilhem Fink Verlag. 2008, Maaike Bleeker. Visuality in the Theatre. London, Palgrave. 2008, Peter Rabinowitz, “ Audience ” , Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. Herausgegeben von D. Herman, M. Jahn und Marie-Laure Ryan, London. 2009, Helen Freshwater. Theatre and Audience. London, Palgrave. 2010, Erin Hurley. Theatre and Feeling. London, Palgrave. 2010 Matthew Reason. The Young Audience. Stoke on Trent, Trentham Books. Übersetzung: Katharina Knüppel Anmerkungen 1 Freud 1905: Keine Angaben. 2 (Lacan, 1966). 3 Mervant-Roux, Marie-Madeleine. Figurations du spectateur. Une réflexion par l ’ image sur le théâtre et sur sa théorie, Paris, 2006. Siehe Zusammenfassung am Ende. Vgl. außerdem von der gleichen Autorin: L ’ Assise du théâtre. Pour une étude du spectateur, Paris, 1998. 4 Naugrette, Florence. Le Plaisir du spectateur de théâtre, Paris, 2002. Siehe Zusammenfassung am Ende. 5 Mervant-Roux 2006 17. 6 Mervant-Roux 2006, 21. 7 Durand, Régis (Ed.). La Relation théâtrale. Lille, 1980. 8 Pavis, Patrice. Voix et Images de la scène. Lille, 1982. 9 Siehe die Werke von Willmar Sauter sowie aktuell: The Theatrical Event: Dynamics of Performance and Perception.Iowa, 2000. 10 Titel ihres Essays von 1964. 11 Mervant-Roux 2006, 30. 12 Mervant-Roux 2006, 64 - 67. 13 Revault d ’ Allonnes, L ’ Assemblée théâtrale, op.cit., S. 126. 14 Ein exzellenter Überblick findet sich in Balme Christopher B. “ Spectators and Audiences. ” The Cambridge Introduction to Theatre Studies. Christopher B. Balme. Cambridge, 2008. 15 Barthes, Roland. Die Lust am Text. Frankfurt a. M., 1974. 16 Piégay-Gros, Nathalie. Le Lecteur. Paris, 2002. 17 “ E-lire ” im Sinne von: aus einer Lektüre herausziehen, auflesen. “ In-specter ” im Sinne von: mit einem Blick durchdringen. 18 Pavis, Patrice. Le Théâtre contemporain. Paris, (2002), 2011. 19 “ Es handelt sich nicht nur um ‘ semantische Leerstellen ’ , fehlenden Sinn, sondern auch um Möglichkeiten der Assemblage und der Kombination, die immer in der Schwebe sind. Sie werden also aufgehängt (statt ‘ gefüllt ’ ), wenn diese Verbindung hergestellt oder jene Signatur präzisiert wird. ” (Piégay- Gros 2002 229) 20 Piégay-Gros 2002, 16. 21 Piégay-Gros 2002, 46. 22 Lauwers, Jan. “ Editorial. ” Bulletin de la Needcompany. Dezember 2011. 23 Le Monde. 25. Juni 1995. (Autor? ) 24 Reason, Matthew. “ Audience. ” Performance Research. Volume 11, n°3, September 2006, 8. 95 Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung 25 Bauchard, Franck. Bulletin du CNES. Villeneuve, 2001, 3. 26 Bleeker, Maaike. Visuality in the Theatre. The Locus of Looking. Hampshire and New York, 2008, 16. 27 Reason 2006, 9. 28 Mondzain, Marie-José. Le commerce des regards. Paris, 2003, 140. 29 Garcia, Emilio. “ Interview. ” Buenos Aires, génération théâtre indépendant, Besançon, 2010, 71 - 72. 30 Lehmann, Hans-Thies. Postdramatic Theatre. London, 2006, 43. 31 Pommerat, Joël; Gayot, Joëlle. Troubles. Un théâtre du doute, Paris, 2009, 65. 32 Michaud, Yves. L ’ art à l ’ état gazeux: essai sur le triomphe de l ’ esthétique. Paris, 2009, 35. 33 Lehmann, Hans-Thies. Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main, 1999, 471. 34 Michaud 2009, 167. 35 Michaud 2009, 167. 36 Michaud 2009, 171. 37 Autor? “ Avant-garde. ” Encyclopédie thématique de la culture. Encyclopaedia Universalis Ort? , 2004, 508. 38 Zum Beispiel Fischer-Lichte, Erika. Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main, 2004. 39 Barthes, Roland. Le Plaisir du texte. Paris, 1973. 40 Mervant-Roux 2006, 34. 41 Lehmann 2008, 245. 42 Vgl.: Mondzain, Marie-Josée. Homo spectator. De la fabrication à la manipulation des images. Montrouge, 2007. 43 Benjamin, Walter. Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Frankfurt, 1966, 213. 44 Blau, Herbert. The Audience. Baltimore, 1990, 25. 45 Ethis, Emmanuel “ Le cinéma, cet art subtil du rendez-vous. ” Communication et langage. n°154, Dezember 2007. 46 Sibony, Daniel “ Spectateur, Spectracteur. ” La position du spectateur aujourd ’ hui dans la société et dans le théâtre. Du Théâtre. n°5, März 1996, 45 - 52. 47 March, Florence. Relations théâtrales. Montpellier, l 2011. Die oben genannten Bezeichnungen werden von F. March in ihrem Werk auf den Seiten 20 - 25 zitiert. Siehe die Zusammenfassung in der Bibliographie weiter unten. 48 Sartre, Jean-Paul. Vers un théâtre de situations. Paris, 1992, 349. 49 Etchell, Tim, Certain fragments, New York, 1999, 17 - 18. 50 Haenel, Yannik. Jan Karski. Paris, 2009. 51 Haenel 2009, 31. 52 Hoog, Emmanuel. Mémoires années zéro. Paris, 24. Siehe ebenfalls das Buch von Wieworka, Annette. L ’ Ere du témoin. Paris, 1998. 53 Fensham, Rachel. To Watch Theatre. Brüssel, 2009. Siehe die Zusammenfassung weiter unten. 54 Fensham 2009, 19. 55 Fensham 2009. 56 Fischer-Lichte, Erika. Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main 2004, 59. 57 Balme, Christopher. “ Distribuierte Ästhetik. Performance, Medien und Öffentlichkeit. ” Netzkulturen - kollektiv. kreativ. performativ. Eds. Josef Bairlein, Christopher Balme, Jörg von Brincken, Wolf-Dieter Ernst, Meike Wagner. München, 2011, 41 - 54, 53. 58 Boltanski, Luc. Intervention anlässlich der Begegnung am 21. Mai 2001, L ’ Assemblée théâtrale, 13. 59 Zum Begriff der “ Distribuierten Ästhetik ” , siehe den Artikel von Christopher Balme in: Bairlein, Balme, et al. 2011, 41 - 54, so wie seinen Hinweis auf die Arbeiten von Munster, Anna und Lovink, Geert. “ Theses on Distributed Aesthetics: or What a Network is Not. ” Fibreculture, n°7, http: / / journal.fibreculture.org/ issue7_munster_lovink. html. 60 Milin, Gildas (et al.). L ’ assemblée théâtrale. Paris, 2002, 16. 61 Milin 2002, 28. 62 Milin 2002, 28. 63 Milin 2002, 22. 64 Milin 2002, 22. 65 Milin 2002, 39. 66 Milin 2002, 44. 67 Milin 2002, 44. 68 Milin 2002, 67. 69 Milin 2002, 71 - 72. 70 Milin 2002, 75. 71 Revault d ’ Allonnes in Milin 2002, 78. 72 Milin 2002, 85. 96 Patrice Pavis 73 Milin 2002, 87 - 88. 74 Milin 2002, 112. 75 Milin 2002, 118. 76 Milin 2002, 119. 77 Milin 2002, 120. 78 Milin 2002, 121. 79 Milin 2002, 123. 80 Milin 2002, 129. 81 Mervant-Roux, Marie-Madeleine. Figurations du spectateur. Une réflexion par l ’ image sur le théâtre et sur sa théorie. Paris, 2006, 11. 82 Mervant-Roux 2006, 11. 83 Mervant-Roux 2006, 11. 84 Mervant-Roux 2006, 21. 85 Mervant-Roux 2006, 21. 86 Rancière, Jacques. Der emanzipierte Zuschauer. Wien, 2009, 12. 87 Rancière 2009, 16. 88 Rancière 2009, 24. 89 Rancière 2009, 24. 90 Rancière 2009, 24 - 25. 91 Rancière 2009, 25. 92 Rancière 2009, 32. 93 Rancière 2009, 32 - 33. 94 Rancière 2009, 32. 95 Louvat-Molozay, Bénédicte and Salaün, Franck (Eds.). Le Spectateur de théâtre à l ’ âge classique. XVII° et XVIII° siècles. Montpellier, 2008, 23. 96 Louvat-Molozay, Salaün 2008, 23. 97 Louvat-Molozay, Salaün 2008, 27. 98 Louvat-Molozay, Salaün 2008, 29. 99 Louvat-Molozay, Salaün 2008, 30. 100 Hunkeler, Thomas; Fournier Kiss, Corinne and Lüthi, Ariane. Place au public. Les spectateurs du théâtre contemporain. Genf, 2008, 74. 101 Hunkler, Fournier Kiss and Lüthi 2008, 83. 102 Hunkler, Fournier Kiss and Lüthi 2008, 105. 103 Hunkler, Fournier Kiss and Lüthi 2008, 107. 104 Hunkler, Fournier Kiss and Lüthi 2008, 114. 105 Fensham, Rachel. To Watch Theatre. Essays on genre and corporeality. Brüssel, 2009, 11. 106 Fensham 2009, 19 - 20. 107 Fensham 2009, 11. 108 Fensham 2009, 11. 109 Lehmann, Hans-Thies. Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main, 2011, 161. 110 Fensham 2009, 14. 111 Fensham 2009, 14. 112 Fensham 2009, 15. 113 Fensham 2009, 14. 114 Fensham 2009, 15. 115 Fensham 2009, 15. 116 Fensham 2009, 167. 117 Ginters, Laura; McAuley, Gay. About Performance 10: Audiencing: the Work of the Spectator in Live. Sydney, 2010, 229. 118 Ginters, McAuley 2010, 261. 119 Ginters, McAuley 2010, 27. 120 Ginters, McAuley 2010, 32. 121 Ginters, McAuley 2010, 45. 122 Ginters, McAuley 2010, 48. 123 March, Florence. Relations théâtrales. Montpellier, 2010, 45. 124 March 2010, 46. 125 March 2010, 66. 126 Gonon, Anne. In vivo. Les figures du spectateur des arts de la rue. Montpellier, 2011, 169. 127 Gonon 2011, 172. 128 Gonon 2011, 173. 129 Gonon 2011, 186. 97 Zum aktuellen Stand der Zuschauerforschung MASKE UND KOTHURN INTERNATIONALE BEITRÄGE ZUR THEATER-, FILM UND MEDIENWISSENSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON WOLFGANG GREISENEGGER, UNIVERSITÄT WIEN, KLEMENS GRUBER, BRIGITTE MARSCHALL UND MONIKA MEISTER JG. 59, HEFT 3 (2013) NICOLE STREITLER-KASTBERGER, MAR- TIN VEJVAR (HG.) HORVÁTH LESEN 2013. 136 S. 16. S/ W-ABB. BR. € 16,90 | ISBN 978-3-205-79503-2 JG. 59, HEFT 1-2 (2013) BRIGITTE MARSCHALL, MARTIN FICHTER-WÖSS (HG.) WOLF VOSTELL LEBEN DÉ-COLL / AGIEREN 2013. 176 S. 61 FARB. UND S/ W-ABB. BR. € 29,90 | ISBN 978-3-205-79462-2 JG. 58, HEFT 4 (2012) KLEMENS GRUBER, ANTONIA LANT (HG.) TEXTURE MATTERS: DER TASTSINN IM KINO HAPTISCH / OPTISCH 1 2014. 120 S. ZAHLR. S/ W-ABB. 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Roland Schimmelpfennigs Das Reich der Tiere in der Inszenierung von Jürgen Gosch Stefan Tigges (Ruhr Universität Bochum) Ausgehend von der Grundannahme, dass sich die Vorstellungsräume von Künstlern und Publikum erst dann wirklich schöpferisch entfalten, wenn beide Seiten ihre ästhetischen Erfahrungen gemacht haben und die Spielregeln bzw. die “ Eigengesetzlichkeit des Bühnenraums ” (Edward Gordon Craig) durchschaut und wahrgenommen haben, werden am Beispiel von Jürgen Goschs Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs Das Reich der Tiere (Deutsches Theater Berlin 2007) die ästhetischen Maßverhältnisse im Spiel- und Kunstraum bestimmt. Dabei stellt sich u. a. die Frage wie der Autor bereits im Probenraum seinesTextes Regie führt, szenische Prozesse strukturell reflektiert und mit welchen Strategien die Regie im intensiven Zusammenspiel mit der Ausstattung (Johannes Schütz) die Darsteller spielerisch in einen performativ geprägten körperzentrierten und raumbildenden Diskurs verwickelt, der sowohl Fragen desVerwandlungsspektrums berührt als auch mit der Performanceart (Yves Klein) bzw. der aktionistisch geprägten Kunstpraxis (Wiener Aktionismus) in den Dialog tritt. Die Ginsterkatze: Lass uns etwas anders sein, als wir sein müssen. Der Löwe: Lass uns vergessen, was wir sind, und etwas anderes werden. Wir wollen aufbrechen, uns verwandeln, frei sein. 1 Die Maske fiel, und langsam trat der Schauspieler mit seiner Person in die Verwandlung ein. 2 In seiner Laudatio für Jürgen Gosch und Johannes Schütz anlässlich der Verleihung des Theaterpreises Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung am 03. Mai 2009 im Deutschen Theater, ihre letzte Zusammenarbeit Idomeneus liegt nur wenige Tage zurück, gewährt der Autor Roland Schimmelpfennig seinen Zuhörern Einblicke in die kollektiven Arbeitserfahrungen, indem er versucht ihre in den letzten Jahren entwickelte Theaterästhetik genauer zu bestimmen. 3 Unterstreicht die Auszeichnung die Bedeutung des intensiven Zusammenspiels von Regie und Ausstattung - Jürgen Gosch und Johannes Schütz arbeiteten seit ihrer ersten Möwe (Schauspielhaus Bochum, 1991) kontinuierlich zusammen - erstaunt Schimmelpfennigs Rede gleich mehrfach. In der in einem auffällig persönlichen Ton verfassten Laudatio, die gerade deswegen so frei und sinnlich nachklingt, da sie ohne theoretische Exkurse oder künstlerische Beglaubigungsmuster auskommt, gelingt es dem Dramatiker die höchst vergängliche Theaterkunst exemplarisch im Hier und Jetzt binnenperspektivisch aufzurufen und dort für einen Moment assoziationsreich zu verorten. Für eine Laudatio eher untypisch skizziert Schimmelpfennig (s)eine künstlerische Vision, d. h. ein (utopisches) ästhetisches Programm, wobei er die Zuhörenden dazu einlädt Vorstellungsräume zu betreten, um sich weitere von Gosch und Schütz realisierte Arbeiten vorzustellen. Schimmelpfennig fragt weniger “ Was war? ” sondern richtet sein Interesse auf die Frage “ Wohin Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 99 - 120. Gunter Narr Verlag Tübingen jetzt? ” , womit eine signifikante Aufbruchstimmung und eine Lust auf noch minimalistischere, d. h. noch radikalere Schreib-, Spiel- und Raumästhetiken spürbar wird, die Autor, Regisseur und Bühnenbildner teilen, die insgesamt zehn Mal zusammenarbeiteten und sich gegenseitig immer stärker künstlerisch befruchteten. Zu Beginn der Rede erinnert sich der Dramatiker an ein gemeinsames Gespräch, in dem es um die Frage ging, “ wie es wäre, wenn sich ein komplettes Ensemble von Schauspielern in einen Schwarm Vögel ” verwandeln würde oder wie sich Verwandlungen in Löwen, Wölfe, Krokodile, Skorpione oder in ein Spiegelei realisieren ließen, um darauf den Regisseur zu zitieren und eine zentrale Grundvorstellung von Gosch und Schütz zusammenzufassen: “ Alles ist spielbar, solange es im Text steht. Das Theater von Jürgen Gosch und Johannes Schütz ist ein Theater auf der Suche nach der vollkommenen Freiheit. Es ist ein Theater der Vorstellungskraft. ” Die Passage belegt, dass es in dem Gespräch auch um Das Reich der Tiere ging, das am 1. September 2007 in der bewährten Konstellation als siebte Zusammenarbeit im Deutschen Theater Berlin als Auftragsarbeit uraufgeführt wurde. Mit der angestrebten “ vollkommenen Freiheit ” , die ein “ Theater der Vorstellungskraft ” voraussetzt bzw. diese in Form von “ Ergänzungsenergien ” (Schütz) gleichermaßen von allen beteiligten Künstlern und Zuschauern einfordert, kommt auch das zentrale Moment der Verwandlung ins Spiel, die, so die These, die ästhetischen Maßverhältnisse in den Spiel- und Kunsträumen von Jürgen Gosch und Johannes Schütz maßgeblich mitbestimmt und in der gegenwärtigen Aufführungspraxis durch den z. T. überhitzten “ Authentizitätshunger ” - u. a. im Fall des Einsatzes von “ Experten ” bzw. Kleindarstellern (an Originalschauplätzen) - auf schauspieltechnischer Ebene wiederholt auf eine nüchterne, primär informative (politische) Eindimensionalität reduziert werden kann und nur eine Neben-Rolle zu spielen scheint. 4 Roland Schimmelpfennig, dies zeigt ebenso Das Reich der Tiere, entwickelt zunehmend ein Interesse, bereits als Autor in seinen eigenen Texten Regie zu führen, szenische Prozesse strukturell zu reflektieren, Figuren zu choreographieren, mit dem Raum zu spielen, die Zeit des Textes und die Zeit der Aufführung in ihrer Relationalität zu bedenken, Verwandlungsprozesse zu motivieren und damit eine Theater-Grundlagenforschung zu betreiben, die über die herkömmliche autoreflexive Arbeit des Autors am Text hinausgeht. 5 Dies liegt, so mein Vorschlag, auch an seinem Regiehintergrund sowie an den Arbeitserfahrungen mit Jürgen Gosch und Johannes Schütz. 6 Stellt Schimmelpfennig in seiner Laudatio fest, dass ihm die Arbeiten von Gosch und Schütz “ ungemein lustvoll und zugleich vollkommen illusionslos ” erscheinen, da dem Zuschauer nichts “ vorgemacht ” werde, formuliert er bei einer anderen Gelegenheit seinen eigenen Begriff von Theater: Theater ist eine direkte Kunstform. Theater ist eine Kunst, die sich bei ihrer Herstellung durch Schauspieler zusehen lässt. Spielen und Geschichte gehören untrennbar zusammen. Etwas Schöneres gibt es für mich nicht - solange das Theater nicht anfängt, mir etwas vorzumachen. 7 Seine geistige Nähe zu Gosch und Schütz wird durch die folgende Präzision noch deutlicher: Mich interessiert die Reduktion, die Verdichtung - oder auch die Auslassung, die Verweigerung bestimmter Details. Die Reduktion lässt den Zuschauer bestimmte Teile selbst zusammensetzen, entdecken, abwägen. [. . .] Das ist ein dialogischer Umgang mit dem Zuschauer. Es geht darum, die Geschichte so zu erzählen, dass man dem Zuschauer die Chance lässt, das Geschehen abzugleichen, zu 100 Stefan Tigges überprüfen. Ich mag Theater als offenes System. 8 Wie stellt sich nun das Prinzip des “ offenen Systems ” in Text und Aufführung dar und wie spielt dieses mit den von Autor und Regie/ Ausstattung gleichermaßen transparent gestalteten Verwandlungsformen zusammen? 9 Wie konstituiert sich ein “ Theater der Vorstellungskraft ” , das dem Zuschauer “ nichts vormacht ” aber spezifische Imaginations-, Assoziations- und Reflexionsräume (er-)öffnet? Äußerte Jürgen Gosch bereits 2006, dass ihn “ eher die Abwesenheit von dramatischen Äußerungen ” interessiere, so ist danach zu fragen ob sich dieser schlichte Kommentar primär auf seine Spielästhetik bezieht oder ob der Regisseur damit nicht auch sein Interesse an anders-, nichtbzw. postdramatischen Theatertexten bekundet. Und wieder auf Schimmelpfennig bezogen: In welcher Form unterzieht der Autor seine Texte dramatischen Transformationen und motiviert dabei zugunsten neuer Erzähloptionen Äußerungen, die nicht mehr als rein dramatisch zu bezeichnen sind? 10 Das Reich der Tiere, in dem bereits die von Schimmelpfennig in der Laudatio skizzierte künstlerische Utopie anklingt und sich im Text und in der Aufführung szenisch zu realisieren beginnt, eignet sich im Hinblick auf diese Fragen besonders, da der Autor die Funktion und Bedeutung der Verwandlung spielerisch in Form eines Meta-Theaters reflektiert und ausschließlich Künstler-Figuren, d. h. zwei Schauspielerinnen, drei Schauspieler sowie einen Autor-Regisseur auftreten lässt. Fällt auf, dass der Autor in seiner Preisrede insbesondere auf die Rolle der Schauspieler eingeht, die in den Arbeiten von Gosch und Schütz “ sehr nahe bei sich sind ” , in den “ Ensemble-Abenden ” eine große Verantwortung übertragen bekommen, nicht von der Regie “ verbogen ” werden, dass bei Gosch und Schütz die “ Darstellung des Menschen keines dramaturgischen Konzepts ” bedarf und dass im “ Zentrum des Textes bei Gosch und Schütz immer der Mensch steht, der Mensch im Stück, also die Figur, und der Mensch auf der Bühne, der Schauspieler ” 11 , stellt sich die Frage mit welchem Bewusstsein der Autor seine Figuren (szenisch) anlegt und die spielerischen Freiheiten und Verwandlungsmöglichkeiten der Schauspieler bereits im Vorfeld mitdenkt bzw. potenziert. Dies zeigt sich Im Reich der Tiere bereits in den für Schimmelpfennig eher ungewöhnlich präzisen Angaben zur Körpersprache und Präsenz der Schauspieler (-Figuren) als auch zu deren “ Kostümen ” , indem er Repräsentationsdiskurse, Verwandlungsmomente, performative Schwellen und (Rollen-)Zwischenräume fokussiert, womit er die Schauspieler, die Regie und Ausstattung subtil herausfordert und ästhetische Fragen anstößt, die Jürgen Gosch und Johannes Schütz speziell in ihrer Auseinandersetzung mit Shakespeare immer wieder beschäftigten. 12 Gilt die 2005 am Schauspielhaus Düsseldorf realisierte Macbeth-Inszenierung in der Rezeption allgemein als die radikalste Arbeit Jürgen Goschs, 13 so soll im Folgenden die Aufführung von Im Reich der Tiere als weiterführender körperzentrierter, szenischer Dialog verstanden und die These formuliert werden, dass speziell im Kontext der mitspielenden Ausstattung entgegen der zumeist negativen, das Stück und die Inszenierung fast gleichermaßen betreffenden Kritiken ein weiterer ästhetischer Radikalisierungsschritt vollzogen und eine signifikante künstlerische Selbstverortung vorgenommen wurde, deren experimentelles Moment erstaunlicherweise kaum wahrgenommen wurde. 14 Der Text als Probenraum: Freiräume und Verwandlungen. In Das Reich der Tiere, dem zweiten Teil der Trilogie der Tiere, entwirft Schimmelpfennig 101 Freiheit durch Verwandlung(en) in drei Akten mit insgesamt zwanzig Bildern eine Spielanordnung, die den gegenwärtigen Kunst- und (Stadt-)Theaterbetrieb strukturell sowie ästhetisch spiegelt und versucht, die in den konventionellen Rollenmustern eingeschlossenen Schauspieler-Subjekte wieder sichtbar zu machen, deren ermüdete Körper spielerisch zu reflektieren und in ihrer Präsenz, d. h. in ihren Rollenspielen bzw. Verwandlungsprozessen neu zu verorten. 15 In Anspielung auf Walt Disneys König der Löwen gewinnt der Leser Einblick in den monotonen Arbeitsalltag eines desillusionierten Schauspieler-Ensembles, das seit sechs Jahren täglich in der Show Das Reich der Tiere in Tierrollen schlüpfen muss und als Mensch und Künstler hinter seinen Masken verschwindet. Die in der Show verhandelten tierischen Machtkämpfe, Eifersüchte, Rivalitäten und Intrigen und sich dadurch ergebenden Feindschaften vergiften ebenso den Backstage-Bereich, der sich als zweiter zentraler Schauplatz entfaltet und immer wieder zwischen die “ Spiel ” -Szenen geblendet wird bzw. als aufschlussreicher Zwischenraum fungiert. Der zweite Akt spielt zumeist außerhalb des Theaters in der Wohnung von Frankie, der den Autor und Regisseur Chris beherbergt, der die Nachfolge- Produktion vorbereitet und mit der Leitung über die neue Besetzung verhandelt, womit ein weiterer menschlich-künstlerischer Konflikt motiviert wird. Schon zu Beginn des kurz vor der Absetzung stehenden Reichs der Tiere wird das hohe Frustrationspotential der Schauspieler spürbar, die sich wegen ihrer prekären Existenz misstrauisch untereinander fragen, wer in neuen Verhandlungen steht, sich gegenseitig demütigen, erniedrigen und strategisch etwas “ vorspielen ” , da ihr Spieltrieb in der Show unterbunden wird. Andererseits sind sie sich aber in ihrer wachsenden Skepsis bzw. in ihrem Unverständnis gegenüber der neuen Produktion “ Der Garten der Dinge ” einig, da der Grad ihrer künstlerischen Entfremdung in Form ihrer Unsichtbarkeit und beliebigen Austauschbarkeit maximal ansteigen wird, sie nur noch Objekte darzustellen haben und somit von der Kulturindustrie “ materialisiert ” werden. So äußert Sabine, Mitte dreißig, seit vier Jahren die Ginsterkatze stellvertretend: Ein Ei, ein Spiegelei, trotzdem kahl. Ebenso eine Ketchupflasche, eine Pfeffermühle, ein Toast, alle kahl, schweigend, sich gegenüberstehend. Sind das Gegenstände, oder sind wir Häftlinge? Gefangene? 16 Während sie sich im siebten Bild eine Bandage vom Fuß wickelt und sich einen blutigen abgefallenen Nagel vor den Augen ihres Kollegen wieder aufzusetzen versucht und dabei vor Schmerzen stöhnt, leidet Dirk, über vierzig, der sich innerhalb von sechs Jahren zu einem Marabu hochgearbeitet hat und zuvor Mitglied des Kolibri-Schwarms war, im zehnten Bild unter einem seit langem, durch das permanente Auf- und Abkleben der Federn bedingten offenen, eitrigen Rücken, worauf ihm seine Kollegin Sandra rät, die Federn doch einfach auf seinem Körper zu belassen. Hinterlassen die Kostüme lediglich körperliche Spuren, so stellen sich die vom Spiel ausgehenden seelischen Verletzungen noch verheerender dar, indem die Schauspieler darunter leiden, dass sie im eigenen Haus nicht erkannt oder verwechselt werden. So gestehen Frankie: “ Kein Mensch weiß überhaupt noch, wie Du aussiehst. Du, nicht das Zebra. Das Zebra kennt jeder. Kein Mensch erinnert sich noch daran, dass es dich überhaupt gibt ” und Dirk: “ [. . .] ich glaube immer, dass die überhaupt nicht wissen, wer ich bin, wie ich aussehe, meine ich, die glauben vielleicht, ich arbeite in der Verwaltung, wenn sie mich auf dem Flur treffen. ” 17 Noch schlimmer ergeht es Sandra, die mit Peter eine Affäre hatte, aus der ein Kind 102 Stefan Tigges entsprang, nach zehn Monaten Kinderpause wieder am Haus ist und von ihrem Ex- Partner nur aufgrund ihres “ Arsches ” wiedererkannt wird, als sie sich als Antilope an einem “ Wasserloch ” bückt. 18 Peter, der dank Frankies Mithilfe seit zwei Jahren den König im Tierreich gibt, liefert sich mit seinem nunmehr zum Kontrahenten gewordenen Kollegen, der als Zebra die zweite Hauptrolle spielt, den Löwen über einen Fluss trägt und vor einem Feuer rettet, bevor er am Ende nach einer tödlichen Hetzjagd von einem Berggipfel stürzt, einen erbitterten Kampf, wobei Schimmelpfennig deren Machtspiel doppelbödig entfaltet, indem sich ihre tierischen Rollenmuster “ backstage ” fortsetzen und sich ihre Spielgrenzen aufzulösen beginnen: Frankie: Ohne mich wärst du untergegangen. Peter: Ohne dich wäre ich - Frankie: Ohne mich wärst du längst verbrannt - Peter: Es gibt eine Grenze. Frankie: Eine Grenze - Peter: Ich habe - Frankie: Welche Grenze - Peter: Ich bin - Frankie: Du wärst nicht einmal - Peter: Ich bin dir - Frankie: Nicht einmal ein - Peter: Ich bin dir nichts, nichts - Frankie: Nichts, du wärst ein vollkommenes Nichts, Peter: Ich bin dir nichts schuldig - Frankie: Ohne mich wärst du nichts, und du wärst nirgendwo. Peter: Du kommst hier nicht weg. Kurze Pause. Ich habe nie verstanden, was du von mir willst. Ich bin dir nichts schuldig, nichts - Frankie: Ohne mich schaffst du es nicht. Ohne mich bist du nichts. 19 Der Konflikt zwischen Peter und Frankie verschärft sich noch in einem etwas versponnenen Subplot, den Schimmelpfennig splitterartig in sein Stück einblendet um den Theaterapparat erneut ironisch zu spiegeln und weitere Verwandlungsmuster zu skizzieren, die an Shakespeares Spiel mit den Geschlechter-Identitätenwechseln wie in Wie es euch gefällt oder Was ihr wollt erinnern. Frankie, der sich als geistiger Vater eines neuen, selbstbestimmten künstlerischen Projektes versteht und endlich seine “ eigene Geschichte ” erzählen möchte, 20 stellt den Plot während eines Monologes (Bild 9) vor: Die Idee ist ganz einfach: zwei Männer, Schauspieler, verlieren ihre Arbeit. Und sie finden keine neue Arbeit. Sie bewerben sich, verschicken Briefe, Photos, Lebensläufe. Einer der beiden kauft von seinem letzten Geld eine Karte für eine Benefizgala, um mit den richtigen Leuten in Kontakt zu kommen. Es gelingt nicht. Es gibt keine Jobs. Die einzigen Jobs, die es gibt, sind für Frauen. Also verkleiden sich die beiden arbeitslosen Schauspieler als Frauen. Sie landen bei einer Reinigungsfirma, die die beiden in eine Putzkolonne steckt. Eine Türkin, eine Bolivianerin, eine Polin, eine Deutsche, eine Italienerin. Keine der Frauen spricht dieselbe Sprache. Dazu die beiden Männer: der eine gibt sich als Libanesin aus, der andere als Iranerin. Beide tragen Kopftücher. Sie kommunizieren in einem erfundenen Arabisch. Lauter Frauen und zwei verkleidete Männer. 21 Nachdem Frankie in einem weiteren kurzen Monolog (Bild 15) den Erzählstrang präzisiert hat - die beiden Männer putzen schließlich in einem gläsernen Bankturm - spinnt Peter als künstlerischer “ Ideenklauer ” den Plot weiter: 22 Längst hatten die beiden verkleideten Männer beschlossen, die Bank auszurauben, in der sie jeden Morgen putzten. Schließlich überweisen sie, während sie scheinbar gerade in der Chefetage die Ledersessel reinigen, auf einem nicht verfolgbaren Weg Hundert Millionen Dollar auf ein Schweizer Konto. Natürlich 103 Freiheit durch Verwandlung(en) sind die anderen Frauen, die Bolivianerin, die Vietnamesin, die Polin und so weiter längst mit Teil des Plans - das stellt sich irgendwann überraschender Weise heraus - , und als sich die Frauen schließlich mit einem Boot über den Bodensee in die Schweiz absetzen, verkleiden sie sich alle als Geschäftsmänner. Im letzten Bild sehen wir sie in Nadelstreifenanzügen, mit Dreitagebärten, Sonnenbrillen und kurzen Männerhaarschnitten. Ihre Krawatten flattern im Wind. Und du stehst dann als Mann, der sich als Frau verkleidet, die sich als Mann verkleidet am Steuer eines Motorbootes auf dem Bodensee, auf dem Weg in die Freiheit. 23 Auch wenn dieser Erzählfaden Gefahr läuft auszufransen, den Theateranekdoten ein gewisser Karikaturgrad innewohnt, das (Betriebs-)System Theater dadurch nicht kontinuierlich gleich scharf gespiegelt wird und die Backstage-Comedie-Pointen einen (dramatischen) Leerlauf hervorrufen, - der jedoch vom Autor durchaus intendiert wird - interessieren diese als kurzweilige Projektionsflächen, denen in der Konfrontation mit der (szenischen) Wirklichkeit, d. h. im Raum der “ ausgeweiteten Kampfzone ” auf tragische Weise die Luft ausgeht bzw. diese darin brutal zersplittern. Anders formuliert: Schimmelpfennig spannt als Autor ein Netz von eingestreuten Anekdoten, Pointen und Schauspieler-Figuren-Schicksalen über die Oberfläche seines Textes, das auf binnenfiktionaler Ebene die Künstler-Figuren aus ihrer sequenzartigen Spielillusion aus dem Reich der Tiere reißt und diese durch Kommentare und Tierfiguren-(Über-)Spiegelungen vergrößert - aber die grundsätzliche Spielillusion “ spielende Schauspieler-Figuren reflektieren ihre Darstellung ” zunächst aufrecht erhält. Jedoch steuert der Autor kontinuierlich durch choreographierte Störungen, dramatische Krisenmomente bzw. ein verhindertes Spiel derart strukturell die Spielvorlage, dass die Spielillusion durch die Präsenz der realen “ Performer ” stark zersetzt wird, die Darsteller ihre Figuren abschütteln, jedoch in den Augen behalten und damit das Nicht-Spiel bzw. die adramatischen Äußerungen in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Wichtig ist hier, dass im Gegensatz zu zahlreichen Beispielen in der gegenwärtigen Aufführungspraxis, die Darsteller sich weder in undramatischen Lücken “ privat ” entfalten noch mit dem Publikum (in ihrer “ Nacktheit ” ) “ intim ” werden, sondern ausschließlich in ihrer Persönlichkeit anwachsen. 24 Damit motivieren die aus dem Drama springenden Schauspieler eine darstellungsbezogene Diskursform, die deswegen so komplex erscheint, da hier körperzentrierte ästhetische Fragen in (größtmöglicher) spielerischer Freiheit verhandelt werden. Jürgen Gosch arbeitet in seiner Inszenierung genau mit diesen vom Autor vorgegebenen Freiräumen, fokussiert den bereits im Text angelegten szenischen Diskurs (insbesondere den Auf- und Abbau des Spiels sowie die “ Zwischenspiele ” ), indem er das theatrale Verwandlungsspektrum ästhetisch und menschlich durchdekliniert, dabei seine Schauspieler schützt und zugleich in ihrer darstellerischen Freiheit bestärkt. In Bezug auf die von Schütz ausgehenden und die Spielästhetik prägenden Bühnenraumerfahrungen spricht Ulrich Matthes davon, dass ihm “ diese Räume ein enormes Selbstbewusstsein ” geben würden. Jens Harzer, der in Onkel Wanja (Deutsches Theater Berlin, 2008) die Rolle des Arztes Astrow spielt, fasst seine räumlichen Erfahrungen noch genauer zusammen: Der Raum, in dem wir das machen, hilft da sehr. Man könnte das ja auch auf einer leeren Bühne machen, diese Untersuchung, rechts und links und oben und unten ist alles frei, aber wahrscheinlich wäre man da relativ verloren und hätte viel mehr zu reflektieren. Dieser sehr geschlossene Rahmen entlastet völlig von der Überlegung, ob ich jetzt stehe oder sitze, rechts bin oder links. Dass das weggenommen wird, die Sache nach der formalen Lösung im Raum, schafft es, dass 104 Stefan Tigges man so unverstellt die anderen Figuren verfolgen kann 25 Dass diesen ästhetischen Fragen bzw. dieser Suche nach Freiheit durch Verwandlung(en) auch eine gesellschaftsbzw. arbeitssystempolitische Dimension innewohnt, zeigen Goschs zunehmende Versuche, den (Stadttheater-)Probenalltag in Form einer “ Workshoppraxis ” strukturell aufzubrechen, indem er konventionelle ergebnisfixierte Haupt- und Generalproben in Frage stellte und zusammen mit seinen Darstellern nach einem Gefühl der nach den Proben andauernden “ Augenblicksbezogenheit ” bzw. bewusst angestrebten “ Unfertigkeit ” suchte. Constanze Becker, die als Jelena mit Matthes und Harzer zusammenspielte, deutet ein utopisches Moment an, das sich für sie (im Idealfall) von Vorstellung zu Vorstellung weiter entfaltend verwirklicht und die Aufführungspraxis als eine fortgesetzte Probenarbeit erscheinen lässt: Weil man ja sowieso nie das Gefühl hat, man ist fertig. Das hätte auch noch drei Monate weitergehen können. Weil man immer im Prozess bleibt, der gar nicht ergebnisorientiert ist. 26 Johannes Schütz entwickelt, so soll sich nun zeigen, eine Kostümbzw. Ausstattungs-Ästhetik, welche die Auseinandersetzung über die absenten (abgestorbenen) und präsenten (re-vitalisierten) Körper ausschlaggebend motiviert und eine neue Spielästhetik einfordert. Zwischen Maske, Bühne und Atelier Für die Inszenierung stellt sich primär die Frage, wie Jürgen Gosch und Johannes Schütz die von Schimmelpfennig angebotenen Rollenein- und ausstiege bzw. Verwandlungsmomente ästhetisch umsetzen sowie szenisch fortschreiben. Dabei geht es einerseits darum, die Schauspieler aus ihren Masken und Kostümen lustvoll und befreit hervortreten zu lassen und andererseits darum, deren erstarrte Rollenmuster, toten Körper und künstlerische Unterworfenheit zum Ausdruck zu bringen, d. h. beide Zustände in einem relationalen Repräsentations- und Präsenzverhältnis spielästhetisch zu justieren. Verzichtete Jürgen Gosch in den letzten Jahren zunehmend darauf die Schauspieler konventionell aufsowie abgehen zu lassen und platzierte diese in “ Spielpausen ” in der ersten Parkettreihe in einer Stand-Bye- Position oder beließ sie zuletzt mit den wenigen Requisiten permanent im Bühnenraum - in Das Reich der Tiere operiert er mit beiden Strategien - , so entscheidet sich Johannes Schütz konsequent für eine weiß-graue Einraumbühne, welche die von Schimmelpfennig vorgegebenen Spielorte (Maske, Garderobe, Bühne, Frankies Wohnung) aufnimmt bzw. diese mittels der raumbildenden Schauspieler aufruft. Damit werden die Darsteller nicht als Bühnenarbeiter funktionalisiert, sondern die Raumtransformationen spielerisch mit einfachsten Mitteln vollzogen und immer wieder die “ leibhafte Räumlichkeit ” verhandelt sowie neu modelliert. 27 Ein vergleichbar hoher Transparenzgrad gilt speziell für die Kostüme, indem die Schauspieler auf offener Bühne zu ihren eigenen Masken- und Kostümbildnern werden und sich für ihre fließenden Verwandlungen die Zeit nehmen, die sie dafür benötigen. Entsprechend heißt es in Schimmelpfennigs anfänglichen Regieangaben, in denen sein Drang nach einer noch “ entschlackteren ” Theaterästhetik ganz im Sinne von Gosch und Schütz unmittelbar durchschimmert: Zwei Schauspieler in ihrer Garderobe, Peter und Frankie. [. . .] Beide sind gerade erst hereingekommen, sie tragen noch ihre eigenen Sachen. [. . .] Sie ziehen sich aus. Jetzt 105 Freiheit durch Verwandlung(en) verwandeln sie sich allmählich in Tiere: Sie schminken sich, sie bemalen ihre Körper, sie bekleben sich mit Haaren oder Federn oder Fellstücken. Peter wird am Ende der Szene zu einem Löwen geworden sein, Frankie zu einem Zebra. Die beiden folgen einer lang erprobten Folge von bedachten, sicheren Handgriffen. Ihre Bewegungen sind routiniert und verraten doch bei aller Sicherheit so etwas wie Stolz oder Selbstbewusstsein. Die Qualität und Originalität beider (und aller folgenden) Tier-Kostümentwürfe bei gleichzeitiger Einfachheit ist bestechend. [. . .] Die Szene dauert in jedem Fall so lange wie es dauert, bis sich beide ohne Hilfe von außen in ein Zebra oder einen Löwen verwandelt haben 28 Dass es Schimmelpfennig drauf ankommt, die Lächerlichkeit der Tierdarsteller überaus ernst zu nehmen bzw. störungsfreie dramatische illusionistische (Spiel-)Techniken abzubauen, zeigen schon seine ersten Regieangaben, die sich unmittelbar unter dem Personenverzeichnis befinden: Die Tierkostüme sind freie Erfindungen auf ethnologisch recherchiertem Niveau. Anregungen lassen sich bei den Urvölkern Nord- und Südamerikas und Afrikas finden. Kein Plüsch, keine Lächerlichkeit. Niemand geht oder spielt auf vier Beinen. Ein fließender Übergang von Mensch zu Fabelwesen oder Tierwie bei manchen ägyptischen oder aztekischen Göttern. 29 Ganz im Gegensatz dazu heißt es in einem Werbetext für die Hamburger Musical-Produktion von Der König der Löwen, der - wie vermutlich auch die Produktion selbst - keinen Einblick hinter die “ phantastischen Kulissen ” gewährt und die in ihren Rollen bzw. hinter ihren Masken verborgenen Schauspieler auf ein Schlumpfmaß reduziert: Atemberaubende Masken, fantastische Kostüme, mitreißende Klänge: Die bunte Tierwelt Afrikas erwacht vor den Augen des staunenden Publikums, der Zauber der Serengeti entfaltet sich auf geradezu magische Weise. Disneys König der Löwen lässt niemanden unberührt. Es ist mehr als ein Musical, es ist ein Bühnenkunstwerk, ein kreatives Feuerwerk der Emotionen. 25 verschiedene Tiere sind in der grandiosen Show zu sehen. Kunstvolle Masken erwecken sie zum Leben. Majestätisch thronen sie auf den Köpfen der Darsteller und schmiegen sich fließend an die kunstvoll geschminkten Gesichter. Mensch und Tier kommen so gleichermaßen zur Wirkung und bilden eine harmonische Einheit voller Kraft und Poesie. 30 Interessant ist nun insbesondere die Frage in welcher Form und mit welchen Strategien es Gosch, Schütz und den Schauspielern gelingt, Mensch und Tier zu berücksichtigen ohne diese ästhetisch zu einer vierbeinigen harmonischen Masse zu verschmelzen und stattdessen körper-sprachliche Bruchstellen, d. h. Transformationsbzw. Konfigurationsprozesse als konfliktreiche ästhetische Schwellenmomente erfahrbar zu machen. Werfen wir zunächst einen Blick in die ersten fünfundzwanzig Minuten der Aufführung, in denen sich die fünf Schauspieler einzeln oder in Zweierkonstellationen langsam aus der ersten Reihe des Parketts erheben, sich im Bühnenraum einfinden, dort lustlos und angewidert verweilen, aus ihren Wasserflaschen trinken oder Nachrichten auf ihren Handys abhören und sich jeweils äußerst wortkarg mental auf die ihnen verhassten Rollen vorbereiten. In den ersten Sequenzen, die durch ihre spezifische Zeitästhetik beim Publikum eine äußerst subjektive Zeiterfahrung hervorrufen, die in ihrer extremen Ausdehnung und Intensität eine Spielillusion erst gar nicht aufkommen lässt und die Aufmerksamkeit auf die Bühnenprozesse lenkt, zeigt sich, dass hier eine auffällig offene Theaterform intendiert wird, die sich viel Zeit nimmt und ein dramatisches Spiel(en) konsequent verweigert. Es wird dem Publikum hier als auch im Verlauf 106 Stefan Tigges der gesamten Aufführung bewusst vorgeführt, dass ihm nichts vorgemacht wird. Entsprechend lange dauern die Vorbereitungen sowie Verwandlungsprozesse der Schauspieler, die damit beginnen die Materialien für ihre nicht-textilen Kostüme zusammenzustellen um diese schließlich vor den Augen des zunehmend ungeduldig wirkenden Publikums akribisch herzustellen. Nachdem sich die ersten beiden Darsteller ausgezogen haben - jeder Schauspieler hat im Bühnenraum seinen persönlichen Garderobenbzw. Maskenplatz in Form eines Stuhls und einen Standspiegels - schüttet Ernst Stötzner Wasser auf eine feine sandfarbene Substanz, die er routiniert auf seinen Körper aufträgt, setzt sich eine zottelige Löwenmähne-Perücke auf und beginnt, sich in seine Königsrolle einzufühlen, indem er ein kurzes Brüllen andeutet und lächerlich, aber zugleich majestätisch durch den Raum schreitet, womit er am eigenen Körper bzw. durch seine Körpersprache seine Rollenkonflikte transparent verhandelt. Parallel dazu rührt Falk Rockstroh schwarze Farbe in einem Eimer an, schwärzt seinen Körper ein, schüttet zusätzlich Farbe an die Wand, reibt sich daran mit seinem Rücken und föhnt die Farbe trocken um sich schließlich als Zebra noch weiße Streifen anzupinseln. Gefühlte fünfzehn Minuten später betritt Dörte Lyssewski die Bühne, die im Gegensatz zu ihren Kollegen ein geschecktes Kleid anzieht, sich die Haare hochsteckt, sich eine Antilopenmaske über den Kopf zieht, eine hastige Zigarette gegen ihren Husten raucht, sich widerwillig warmläuft und sich in die erste Parkettreihe zurückzieht. Unmittelbar danach betreten Kathrin Wehlisch sowie Wolfgang Michael die Bühne, um sich als Ginsterkatze bzw. Marabu zu präparieren. Während sich ihr männlicher Kollege Kopf und Körper mit Honig bestreicht, sich mit weißen und roten Federn beschüttet und mit seinen schlaffen Armen qualvoll einige Flügelschläge initiiert, wälzt Kathrin Wehlisch ihren Rücken in von ihr ausgeschütteter gelber Farbe, trägt den Rest auf ihre Vorderseite auf, malt sich schwarze Punkte auf ihren Körper, dehnt diesen, wärmt ihre Stimme auf, faucht sich in ihre Rolle und beginnt ihr “ Revier ” zu markieren, indem sie ihren Körper an der Hinterwand reibt und dabei Farbspuren hinterlässt. Die in ihrem Detailreichtum hier nur unzureichend wiedergegebenen Verwandlungsprozesse der Schauspieler, die jeweils einen individuellen körpersprachlichen Ausdruck entwickeln und dabei diskursiv ihren Abstand zu ihren (Tier-)Rollen markieren, in die sie partout nicht schlüpfen möchten, führen zunächst dazu, dass das Publikum für die sich schrittweise konstituierende, in ihrer Komplexität anwachsende Bühnenwirklichkeit sensibilisiert wird, Erfahrungen unter der konventionellen “ Schwelle der Erfahrung ” (Brian O ’ Doherty) sammelt sowie hautnah Verwandlungsgesten miterlebt, die in ihrer Naivität und Einsichtigkeit debutantisch erscheinen und ein später behauptetes “ Spiel ” eigentlich schon im Vorfeld im Keim ersticken. Jedoch motivieren diese szenischen Ereignisse gerade das Glaubwürdigkeitspotential der Darsteller und ihrer Metamorphosen, da das Spiel von vornherein entlarvt, dies sichtbar gemacht wird und damit erst eine wirkliche Chance zu einem befreiten Ausbruch erhält. Eine zentrale Strategie des Autors, der Regie und der Ausstattung ist dem zur Folge, dafür zu sorgen, dass das Drama, das Spielgeschehen als auch der Bühnenraum nicht möglichst schnell (dramatisch) “ funktionieren ” , sondern sich vor-stellen und Sinn verweigern, um sich dann erst gegenseitig kunstvoll aufzuladen und miteinander situativ spielerisch ins Gespräch zu kommen. Anders ausgedrückt: Die Vorstellungsräume von Künstlern und Publikum können sich erst wirklich schöpferisch entfalten, wenn beide Seiten ihre ästhetischen Erfahrungen gemacht haben und die Spiel- 107 Freiheit durch Verwandlung(en) bedingungen, die Spielregeln bzw. die “ Eigengesetzlichkeit des Bühnenraumes ” (Edward Gordon Craig) durchschaut, d. h. zentrale performative Reibungsmomente wahrgenommen haben. 31 Liegt der Gedanke nahe, dass die Ausstattung Einsicht in die Maske, Requisite und Garderobe gewährt, diese entsprechend einer Back-Stage-Comedy auf die Bühne holt, um sie jeweils temporär zu beleuchten, erscheint die Raumordnung von Johannes Schütz zugleich einfach und komplex. Einfach, indem keine zusätzlichen (Theater-) Räume im Bühnenraum installiert werden, keine Dreh-, Hubbühne oder Videoprojektionen zum Einsatz kommen und sich ausschließlich auf das spielerische, raumbildende Spektrum der Schauspieler verlassen wird. 32 Komplex, da der schachtelartige Bühnenraum abgedichtet, nur nach vorne hin offen ist und in seiner Sterilität und Nüchternheit wie ein Kunstraum erscheint, der erst noch ästhetisch zu beleben und performativ zu bespielen ist - nicht unähnlich einer weißen Zelle in einem Ausstellungsraum einer Galerie oder eines Museums, in der bildende Künstler bzw. Performer für ihre Raummodulation mit einer carte blanche ausgestattet werden. Es handelt sich hier aber weniger um eine abgeschlossene white cube bzw. um ein starres Container-Konzept, 33 das ausschließlich als fixer Behälter zu denken ist, in das die Schauspieler gestellt werden, um sich darin künstlerisch zu entfalten. Eher geht es darum, dass der Raum in seinen Konstituierungsschritten erfahrbar wird und durch die spielerische Präsenz der Darsteller einen künstlerisch-phänomenologischen Stoffwechsel eingeht/ anregt. Zur Aktivierung des sinnlich-intellektuellen Transfers zwischen Bühne und Publikumsraum tragen auch die aus dem Spielbzw. Kunstraum gesendeten Referenz- und Assoziationsketten bei, womit der Dialog zwischen Theater und Bildender Kunst sowie der Happening- und Performance-Praxis, den Gosch und Schütz speziell in ihren körperzentrierten Arbeiten immer wieder suchten, deutlich wird. 34 Zu nennen sind hier u. a. aktionsorientierte Anthropometrien von Yves Klein aus den 1960er Jahren, in denen der Künstler mittels Körperbemalungen, die sich seine nackten Akt-Modelle (in seinem Atelier oder später in Galerien) selbst auftrugen um schließlich Körperabdrücke auf (Lein-)Wänden oder Stoffbahnen zu hinterlassen, ein wieder neu belebtes bzw. befreites Körperbild verfolgte. Obwohl bei einem Vergleich mit dem jeweils angestrebten hohen Grad an Unmittelbarkeit und Transparenz, d. h. der “ Enthüllung des künstlerischen Schaffensprozesses ” (Klein spricht vom “ Niederreißen des Tempelschleiers des Ateliers ” ) gemeinsame Zielvorstellungen deutlich werden - wobei in beiden Fällen gerade die undramatische “ Vermittlung der phänomenologischen Präsenz des Körpers ” im Mittelpunkt des künstlerischen Interesses steht - zeigen sich schnell fundamentale ästhetische Differenzen. 35 Begreift Yves Klein seine Modelle als “ lebende Pinsel ” , d. h. als kreative Agenten, laufen diese Gefahr in ihrer (körperlichen) Freiheit beschnitten und auf von Klein dirigierte Objekte reduziert zu werden, wohingegen sich die Schauspieler in der Aufführung in einem kollaborativ-kollektiven Prozess körpersprachlich frei entfalten können und sich mit Hilfe der Regie und Ausstattung mit ihrer spezifischen Körperschwere im Raum als aufgewertete Subjekte zentrieren. In Bezug auf Strategien, den eigenen Körper zu politisieren sowie diesen als gesteigertes “ Ausdrucks- und Reflexionsmedium ” zu verstehen und zu befreien, liegen neben Vergleichen mit aktuellen Performance-Praktiken Kontextualisierungen zum Wiener Aktionismus und zur Body Art ebenso nahe, da hier der (nackte) Körper mit seiner Unmittelbarkeit, Leiblichkeit und Zeitlichkeit in Form von “ Körperanalysen ” im Zentrum des Interesses steht, als “ Träger für Farb- und 108 Stefan Tigges Materialaktionen ” auftritt und die Subjekt- Objekt-Relationen als auch dessen (Material- )Status verhandelt werden. 36 Da sich der Wiener Aktionismus wiederum aus der Aktionsmalerei entwickelt, in der der Malvorgang in den Vordergrund rückt und das “ Malen damit nicht mehr an repräsentationalistisch motivierte Formen gebunden ” ist bzw. die “ Form von der Funktion des Inhalts ” , d. h. des Repräsentierten befreit wird, böten sich für die Analyse der Aufführung - insbesondere für Szenen, in denen die Körper durch Bemalungen und “ Materialaktionen ” zu einem erfahrungsreichen ästhetischen Schauplatz werden - auch Bezugnahmen auf den Tachismus oder das Action Painting an. 37 Wurde bereits darauf hingewiesen, dass in den ersten Szenen der Aufführung von der Regie und Ausstattung Sensibilisierungsprozesse motiviert werden, die gleichermaßen für die Künstler und das Publikum den Theaterrahmen bzw. die Bühnensituation schrittweise erfahrbar machen und dabei das Verwandlungsspektrum der Darsteller glaubwürdig bewusst gemacht wurde - wobei die Kunst darin liegt, sowohl die in der Spielvorlage thematisierte (corporale) Unfreiheit als auch die darstellerische Freiheit der Akteure zum Ausdruck zu bringen - fungiert diese Bewusstmachung, wie auch in aktionistischen Formen der Körperkunst, als Vorraussetzung für den Versuch der Wiederherstellung eines autonomen (politisierten) Körpers. Verfolgen wir den weiteren Verlauf der Aufführung und behalten dabei die Körper- und Materialaktionen der Wiener Aktionisten, die - trotz divergierender ästhetischer Strategien - den Körper als “ Aktionsraum ” verstehen, im Hinterkopf und beziehen den Körperraum-Begriff Maurice Merleau-Pontys in die Analyse mit ein: “ Die Räumlichkeit des Leibes ist die Entfaltung seines Leibseins selbst, die Weise, in der er als Leib sich realisiert ” . Damit motiviert der Phänomenologe eine doppelte Denkbewegung, indem er davon ausgeht, dass sich der Körper als Raum und als Körper im Raum konstituiert und daran anknüpfend zwischen einer “ Situationsräumlichkeit ” (des Körpers) und einer “ Positionsräumlichkeit ” (der Dinge) differenziert. 38 Nachdem sich der Streit um die Rolle des Königs im Reich der Tiere zugespitzt und sich die jeweiligen Lager herauskristallisiert haben, ruft die Antilope den ersten dramatischen Höhepunkt des ersten Aktes auf: Die Steppe brennt. Die Tiere fliehen, aber die Flammen sind schneller, der Wind treibt das Feuer immer weiter. Das Reich der Tiere steht in Flammen, und die Flammen jagen schneller über die Steppe als die Antilope und die Ginsterkatze springen können, schneller als der Marabu fliegen kann, schneller als das Zebra, schneller als der Löwe, die Gefahr kommt näher. 39 Darauf berichten der Marabu, das Zebra und der Löwe über den Fluchtverlauf, wobei sich zeigt, wie das Moment des Erzählens und Spielens zusammenarbeitet. Laufen die Schauspieler in Panik durch den Raum um schließlich über den rettenden Fluss überzusetzen, so erinnern diese Szenen durch ihre spielerisch-naive Darstellung an ein erwachsenes Kinderspiel, das deswegen so frei und grenzenlos erscheint, da die Spielillusion durch das bewusste Offenlegen der Theatermittel bzw. durch das Vertrauen auf die scheinbar begrenzten reinen darstellerischen Mittel gebrochen und die Aufmerksamkeit auf die Herstellung sowie die Entfaltung der Spielsituationen gelenkt wird. 40 Schimmelpfennig potenziert die Situationsgebundenheit der einzelnen Spielereignisse gerade dadurch, dass er diese abrupt abbricht und durch die Einfügung von Szenenfolgen, die nicht zum eigentlichen Stoff der Show gehören, aber die Konflikte auf einer anderen Ebene ausbauen, zerlegt. So hören wir zunächst durch wechselnde (sich selbst ver- 109 Freiheit durch Verwandlung(en) körpernde) Erzähler, wie das Zebra den wasserscheuen Löwen auf dem Rücken über den Fluss trägt, dabei von einem Krokodil bedroht wird, verfolgen darauf einen Monolog von Frankie (Skizze für ein eigenes künstlerisches Projekt) und werden Zeuge von einem Dialog zwischen Sandra und Dirk (Dirks Nackenverletzung), um dann die Szene nachträglich spielerisch vorgeführt zu bekommen, indem Falk Rockstroh Ernst Stötzner auf seinen Rücken aufsteigen lässt und ihn einige Meter durch den Raum trägt. 41 Nach einem erneuten Perspektivwechsel, hier bekundet Isabel ihre Abneigung gegenüber der Nachfolgeproduktion, erfahren wir vom Marabu, wie der Löwe mit einem Tatzenhieb das heranschwimmende Krokodil erschlägt und dieses auf das Bett des Flusses sinkt. Interessant ist nun die szenische Umsetzung und das damit verbundene Verwandlungsmoment von Wolfgang Michael, der sich über sein Marabu-Kostüm grüne Farbe schüttet, sich bäuchlings auf ein Rollbrett legt, Richtung Zebra und Löwe steuert, nach seiner erfolglosen Attacke tödlich getroffen zusammensackt, rote Farbe auf seinen Körper gießt und in dem Moment aus seiner zweiten Tierrolle springt und aufsteht, als er seinen Tod selbst in Frage stellt: “ Aber wenn der Löwe das Krokodil nicht getötet hätte- ” . 42 Die skizzierten Szenen deuten an, wie die Verwandlungsmomente seitens des Autors, der Regie und Ausstattung durch die Künstlichkeit, Transparenz und die dazwischen geschalteten Szenen in der Schwebe gehalten werden und wie die Darsteller immer wieder mit einfachsten Mitteln spielerisch neue (Vorstellungs-)Räume öffnen, in denen sich ästhetische Erlebnisse als Realerfahrungen ablagern, die weniger plotbzw. figurengebunden interpretativ erschlossen als sinnlich erfahren werden wollen. 43 Dass dabei vor allem die mehrsprachigen Körper im Zentrum stehen, zeigt, dass sich an diesen jeweils ihre leibgebundenen Geschichten spurenreich ansammeln, die durch neue Farbaufträge überschrieben werden können, wobei die alten Farbschichten nicht beseitigt werden und somit durchschimmernd in Erinnerung bleiben. Die bewusst herbeigeführten bzw. zwangsläufig eintretenden Abnutzungserscheinungen der nicht-textilen Kostüme - sei es durch das Spiel, indem die Schauspieler durch Kontakte mit den Wänden oder dem Boden Farbabbdrücke hinterlassen und Farbe verlieren, die schwitzenden Körper durch Berührungen untereinander Farben austauschen oder die Farben auf den Körpern austrocknen und verblassen - motivieren einen szenischen, d. h. körper-räumlichen Diskurs, der die jeweiligen Subjektkonstitutionen und deren Raum- und Zeitgebundenheit hinterfragt sowie ästhetisch kommentiert. Zentral erscheint hier insbesondere die Offenlegung der im Verlauf der Aufführung zunehmend unter den Farben durchschimmernden Haut der Akteure, die im Zusammenspiel mit den Bewegungsprozessen der Schauspieler ein Spannungsfeld erschließt, das sowohl die Körperoberflächen als auch die “ Fleischwerdung ” (in der Tiefe) der Körper einschließt womit die Körper im Sinne Jean Luc Nancys authentisch “ in der Gegenwart ankommen ” und nur im “ Plural ” zu fassen sind. 44 Die Dichte der Pluralität der Corporalität wird in der Aufführung auch dadurch potenziert, dass die von den Körpern ausgehende phänomenologisch-performative Dimension gegenüber der semiotischen Trägerlast signifikant gestärkt wird. 45 Es bleibt damit die Frage offen, inwieweit die Semantisierung des Körpers - trotz ihres erheblichen Abbaus - im Sinne Fischer- Lichtes auf einen “ Effekt ” oder ein “ Nebenprodukt ” zu reduzieren ist. Zu klären wäre ebenso noch genauer, ob sich einerseits die Performativität in der Aufführung im Vergleich zu anderen aktuell im Schauspiel realisierten performativ geprägten Arbeiten nicht differenzierter ausdrückt (da sie sich 110 Stefan Tigges nicht in sich selbst erschöpft) und ob andererseits im Fall der extremen Fokussierung eines performativitätstheoretischen Ansatzes nicht relevante Zeichenprozesse (zu) folgenschwer auf die Hinterbühne verbannt werden. Anders formuliert und konkret auf unser Beispiel bezogen: Jürgen Gosch und Johannes Schütz motivieren gemeinsam mit ihren Schauspielern die bereits von Schimmelpfennig reflektierte Körperdialektik (die (Re-) präsentation der Repräsentation des Körpers), indem sie - mit Helmuth Plessner gesprochen - den Dialog zwischen dem “ Leib-Sein ” und dem “ Körper-Haben ” offen legen, dabei die leiblich-phänomenale Ebene in ihren Konstitutionsprozessen betonen und damit (körperbildliche und -räumliche) Aspekte der Verwandlung sowie Verkörperung spielerisch hinterfragen. 46 Nachdem sich die Tiere über den Fluss gerettet haben und sich der Konflikt um die Machtfrage verschärft hat, kommt es zu einem weiteren spielerischen Höhepunkt. Während einer tödlichen Hetzjagd stürzt das vom Löwen ins Gebirge getriebene Zebra ab, womit der Löwe die Rolle des Herrschers einnimmt. 47 Entleeren die Schauspieler hier den mit Federn gefüllten Karton des Marabu- Darstellers, um den Schneesturm darzustellen und spielen damit einen weiteren Naturraum im Kunstraum, erscheint ihre raumbildende Funktion beim Wechsel vom ersten zum zweiten Akt noch eindrücklicher. Für den zweiten Akt, der in Frankies Wohnung spielt, aber durch drei Monologe unterbrochen wird, 48 räumen die Schauspieler den vorderen Bühnenbereich frei, bringen alle Requisiten nach hinten und stellen sich jeweils mit Stuhl und Spiegel in die Mitte des Raumes um den neuen Spielraum zu begründen. Als Frankie und der zuvor noch nicht aufgetretene Chris (Niklas Kohrt) aus der Tiefe des Raums kommen und Frankie beim gemeinsamen Hereintreten in sein “ Apartment ” das Licht anmacht, signalisiert die Lichtregie durch ein kurzes Black die Pause, worauf die Schauspieler den Raum wieder zurückbauen und die Bühne verlassen. Nach der Pause wird der Vorgang nochmals exakt wiederholt und eine unmittelbar neue Spielenergie sowie Bühnenrealität erzeugt, deren Grad sofort ansteigt, da hier die Raum- und Spielsituation erst wieder modelliert werden muss und die Schauspieler nicht in einen fixen Raum gestellt werden bzw. einen Raum behaupten müssen, den sie vor der Pause spielerisch hergestellt hatten. Die ästhetische Grundhaltung, Theater als “ offenes System ” zu verstehen, setzt sich auch in einer Sequenz gegen Ende der Aufführung fort, in der die Darsteller auf den Beginn der Vorstellung verweisen, schrittweise ihre Maske bzw. ihr Kostüm ablegen und sich rückverwandeln. Nachdem die Schauspieler Duschen im Raum installiert, die Wasserhähne aufgedreht und sich eingeseift haben, waschen sie sich jeweils solange bis sie die letzten (Farb-)Spuren auf ihrer Haut beseitigt haben um sich dann abzutrocknen und in Bademäntel zu schlüpfen, die sie sich bereits in Pausen ihrer Show übergezogen hatten. 49 Interessant ist hier erneut die Erfahrung der unmaskierten Realzeit - die Schauspieler nehmen sich von Aufführung zu Aufführung nach ihrem persönlichem Empfinden die Zeit, die sie benötigen - als auch die Authentizität der handelnden Körper sowie die zeitlich leicht versetzten Entwandlungsbzw. Rückverwandlungssprozesse (von der Tierzur Schauspielerfigur zum “ Performer ” ), die sich trotz des Theaterrahmens jeweils natürlich vollziehen und wiederum dazu beitragen, den Grad der Theatralität ästhetisch zu unterdrücken bzw. dramatisch abzubauen. Es geht hier weder um das Ausstellen von immer ungeschützteren nackten Körpern, die Bloßstellung von privaten, möglicherweise peinlich wirkenden (nicht-perfekten) Schauspieler-Körpern, die Produktion von Schamgefühlen noch um das Auslösen einer Provokation. 50 Stattdessen wohnen wir im Sinne der Spiel- und Ausstattungsästhetik einer reflexiven Offenlegung der, ihre eige- 111 Freiheit durch Verwandlung(en) nen Wege gehenden Körper und Leiber bei, die auch deswegen in ihrer Logik so frei bestimmt erscheint, da diese von Beginn an in ihrer Pluralität hervorgehoben und in ihrer Relationalität verhandelt wurde. Als die Schauspieler ins Foyer abgegangen und einige Zuschauer bereits vom Ende der Vorstellung ausgegangen sind, kommt es im Schlussbild zu einer letzten kollektiven Verwandlung, die hier nicht einsichtig für die Zuschauer ist. 51 Nach und nach kommen die Schauspieler auf die Bühne zurück, formieren sich in ihren Ganzkörperkostümen wie ephemere ready mades für “ Der Garten der Dinge ” in einer Reihe frontal zum Publikum, wobei sich das Spiegelei und das Toastbrot der Regieangabe entsprechend leicht aneinander reiben und die Ketchupflasche rote Flüssigkeit verliert bis sich alle Darsteller die Kostüme vom Leib reißen und diese dabei zum Teil bewusst zerstören. Auch wenn das hier ausnahmsweise verheimlichte Verwandlungsmoment möglicherweise technisch bedingt ist - die zuvor nicht eingesetzten aufwendigen und sperrigen Kostüme wären im Bühnenraum zu dominant gewesen - spricht nicht nur das ausgelöste Überraschungsmoment für diese ästhetische Setzung. Entsprechend der künstlerischen Unfreiheit, die jedem körperlosen bzw. “ vergegenständlichten ” Schauspieler-Objekt den letzten künstlerischen Atem raubt und in der neuen Produktion maximal ansteigen wird, sinkt auch der szenische Transparenzgrad - womit die Idee des Theaters als “ offenes System ” definitiv verabschiedet wird. Insgesamt unterstreicht die durch-schaubare Aufführung, in der konsequent die Illusionszugunsten von Reflexionsräumen abgebaut werden und trotzdem (über die mitspielenden Hautflächen bzw. Körperräume der Darsteller) neue Vorstellungs-Räume erschlossen werden eine erstarkte “ Wiederkehr der Körper ” , 52 womit sich die Darsteller dank ihrer gestiegenen Eigenverantwortung eine potenzierte Präsenz bzw. größere künstlerische (Verwandlungs-)Freiheit erspielen. Anmerkungen 1 Vgl. Schimmelpfennig, Roland. Das Reich der Tiere. Frankfurt am Main, 2006, 45. 2 Vgl. Plessner, Helmuth. “ Zur Anthropologie des Schauspielers. ” Lektionen 3. Schauspielen. Theorie. Ed. Bernd Stegemann. Berlin 2010, 52. 3 Die Laudatio wurde abgedruckt in: Theater heute 6 (2009), 36 - 39. 4 Vgl. dazu: Raddatz, Frank M. “ Authentische Rezepte für ein unvergessliches Morgen. Der Wunsch nach dem Echten in Zeiten globalen Wandels. ” Reality strikes back II. Tod der Repräsentation. Die Zukunft der Vorstellungskraft in einer globalisierten Welt. Eds. Katrin Tiedemann/ Frank M. Raddatz. Berlin, 2010, 139 - 162. Vgl. ebenso: Raddatz, Frank M. “ Die Vertreibung der Dichtung durch das Authentische. ” Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland nach 1945. Eds. Artur Pelka/ Stefan Tigges. Bielefeld 2011). 5 Gerda Poschmann diagnostiziert entsprechend grundsätzlich: “ Es gibt heute sowohl Regisseure, die sich als Autoren verstehen, als auch Autoren, die im Schreiben bereits Aufgaben der Regie übernehmen. Vgl. Poschmann, Gerda. Der nicht mehr dramatische Theatertext. Tübingen, 1997, 346. 6 Diese noch weiter auszuführende Arbeitsthese habe ich erstmals am Beispiel von Hier und Jetzt entwickelt, wo der Autor eine Raum und Zeit zentrierte szenisch-reflexive Versuchsanordnung entwirft und experimentell mit Narrationsformen spielt. Vgl. Tigges, Stefan. “‘ Der Sprung in der Scheibe, mit dem alles begann ’ . Wort-Regie-Theater. Roland Schimmelpfennigs Hier und Jetzt als polyphone Zeit-Raum-Variation. ” Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland nach 1945. Eds. Artur Pelka/ Stefan Tigges. Bielefeld. 112 Stefan Tigges 7 Vgl. Schimmelpfennig, Roland. “ Narratives Theater. ” Lektionen. Dramaturgie. Ed. Bernd Stegemann. Berlin, 2009, 315 - 317; hier: 316. 8 Vgl. Schimmelpfennig, Roland. “ Theater ist immer Eskalation. Ein Gespräch mit Uwe B. Carstensen und Friederike Emmerling. ” Trilogie der Tiere. Roland Schimmelpfennig. Frankfurt a. Main, 2007, 229 - 243; hier: 242. Ganz ähnlich äußert sich Johannes Schütz in einem Gespräch mit Siegfried Gohr: “ Man braucht die Kondition, Dinge nicht zu realisieren. Ich glaube nicht, dass das Theater der Ort ist, an dem man andere Orte nachbaut, weil es bereits Ort ist, und im Moment interessiert mich der Ort, der das Theater selbst ist. ” Vgl. Schütz, Johannes. Bühnen. Stages 2000 - 2008. Nürnberg, 2008, 6 - 25; hier: 23. In die gleiche Richtung zielt der Kommentar von Jürgen Gosch: “ Es geht immer um Theater. Das ist der Ort, an dem es spielt. ” Vgl. Jürgen Gosch in einem Gespräch mit Nina Peters, “ Mit Beckett auf dem Abstellgleis. Der Regisseur Jürgen Gosch über Natürlichkeit, Scham und den Sauerstoff des Textes. ” Theater der Zeit 05 (2006), 21 - 26. 9 Vgl. dazu auch Fischer-Lichte, Erika. “ Die Entdeckung des Performativen. Verwandlung als ästhetische Kategorie. Zur Entwicklung einer neuen Ästhetik des Performativen. ” Theater seit den 60er Jahren. Grenzgänge der Neo-Avantgarde. Eds. Erika Fischer-Lichte, Friedemann Kreuder, Isabel Pflug. Tübingen/ Basel 1998, 21 - 91. Fischer-Lichte formuliert hier als Grundthese, dass “ im Theater der westlichen Kultur seit den sechziger Jahren Verwandlung erneut zur zentralen Kategorie seiner Rezeptionsästhetik geworden ist ” und in der “ Performance-Kunst sowie in experimentellen Theateraufführungen ” eine “ Ästhetik des Performativen ” entwickelt wurde, “ für die der Vorgang der Verwandlung grundlegend ” sei. Zentral ist hier u. a. ihr Modell des “ energetischen Körpers ” , mit dem ein “ Abbau des semiotischen Körpers ” einhergeht, womit eine Negation des fixen Status der Verwandlung verbunden ist, was in Schimmelpfennigs Auffassung von “ Theater als offenes System ” mündet: “ Die Verwandlung, welche die künstlerische Performance bewirkt, meint daher auch nicht den Übergang von einem fixierten Status zu einem anderen, sondern die Negation eines jeden fixierten Status; sie intendiert ein Selbst, das sozusagen ständig im Fluß ist, das sich immer wieder neu konstituiert und so permanent wandelt. ” (47). 10 Peter Michalzik erkennt im Thema der Sichtbarkeit ein zentrales Motiv in Schimmelpfennigs Werken und bilanziert, dass es dem Autor seit einiger Zeit gelinge “ mehr Wirklichkeit einzufangen, als mancher Naturalist oder Aufklärer sich träumen lässt ” und attestiert dem Autor eine außergewöhnlich hohe Wirklichkeitsdurchdringung. Somit stellt sich u. a. die Frage, wie Schimmelpfennig das Thema der (Un-)Sichtbarkeit in Das Reich der Tiere weiterentwickelt, wie er im Text selbst Wirklichkeit produziert, das Stück dramatisch transformiert und sich damit der Haltung Jürgen Goschs nähert, der daran arbeitet (un-)dramatisch den “ Sauerstoff des Textes ” in den Schauspielern zu entfalten. Vgl. ebd. und vgl. Michalzik, Peter “ Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss. ” Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater. Ed. Stefan Tigges, Stefan. Bielefeld, 2008, 31 - 42; hier: 37 - 39. 11 Vgl. Laudatio von Roland Schimmelpfennig. 12 Hierzu zählen insbesondere Darstellungsfragen, d. h. wie die Schauspieler u. a. einen Sturm, ein Schiffsunglück (Was ihr wollt), einen Wald (Macbeth) oder Obstbäume, eine Lammgeburt sowie einen Braten (Wie es euch gefällt) spielerisch darstellen können. 13 Interessant wäre hier auch Jürgen Goschs ersten, 1988 an der Berliner Schaubühne realisierten und von der Kritik fast einstimmig für gescheitert erklärten Macbeth nochmals rückblickend aufzurufen und die jeweilige Spiel- und Aufführungsästhetik zu vergleichen, um damit die danach schrittweise eingetretene ästhetische Gratwanderung bzw. konsequente Weiterentwicklung des Regisseurs genauer zu bestimmen. Hellmut Karasek diagnostizierte damals in seinem Totalverriss im Spiegel - ganz im Gegensatz zum 113 Freiheit durch Verwandlung(en) späteren (ernst zu nehmenden) Rezeptionston - völlig unfreie Schauspieler, die als “ Rekruten mit lächerlichen Kostümen, in einer geschwollenen Diktion und hölzernen Bewegungen und Gesten über den Kasernenhof der Phantasielosigkeit robbten ” , vom “ Theaterfeldwebel Gosch ” ihrer Lebendigkeit und Individualität beraubt wurden und damit Shakespeares Tragödie zu einem “ bleichen ausblutenden Exerzitium bzw. Todesfall ” wurde, womit an der Schaubühne besonders deutlich die “ Symptome einer allgemeinen Krankheit, einer Bleichsucht des Theaters, das sich nicht zum Leben vorwagen möchte ” , zum Ausdruck kamen. Vgl. Karasek, Hellmut. “ Ein Feldwebel schleift Shakespeare. Spiegel- Redakteur Hellmuth Karasek über das Schaubühnen-Desaster mit Goschs ‘ Macbeth ’ . ” Der Spiegel 48 (1988) vom 28. 11. 1988. 14 Peter Michalzik, der die Stücke von Schimmelpfennig sowie deren/ den Inszenierungen von Jürgen Gosch wiederholt zu würdigen wusste und deren ästhetische Avanciertheit differenziert darstellte, soll hier stellvertretend für die negativen Kommentare aufgeführt werden. Michalzik bilanziert in seiner Kritik, dass vom Stück eine “ Banalität ” , eine “ aktive Spaßbemühung ” bzw. ein “ gehobener Schwachsinn ” ausgehen würden, es sich um “ aktive Theatersterbehilfe ” handele, das Theater hier versuche “ die allgemeine und freiwillige öffentliche Infantilisierung mitzumachen ” , um schließlich die Inszenierung als “ kongenial banal ” und den Regisseur als “ Meister der Nackerten ” zu bezeichnen. Vgl. Michalzik, Peter. “ Für den gehobenen Geschmack. Roland Schimmelpfennig witzloses ‘ Reich der Tiere ’ wurde am Deutschen Theater uraufgeführt ” Frankfurter Rundschau. 03. 09. 2007. 15 Besuch bei dem Vater, der erste Teil der Trilogie, wurde von Elmar Goerden im April 2007 am Schauspielhaus Bochum uraufgeführt. Der vom Autor zuerst geschriebene dritte Teil, Ende und Anfang, wurde von Nicolas Stemann im Oktober 2006 im Akademietheater/ Burgtheater Wien uraufgeführt. Im Folgenden wird ausschließlich der zweite Teil der Trilogie untersucht, da die Stücke trotz ihrer thematischen Verbundenheit und einiger wiederkehrender Figuren von Schimmelpfennig bewusst autonom angelegt wurden, formal disparat sind und in meinen Überlegungen die Wechselwirkungen der Zusammenarbeit von Gosch, Schütz und Schimmelpfennig im Zentrum stehen sollen. 16 Vgl. Schimmelpfennig Das Reich der Tiere. Frankfurt am Main, 2007, 37. Ihre Kollegin Isabel verschärft noch den Ton und nennt gleich drei Titel-Alternativen für die neue Produktion: “ Die Misshandlung ” , “ Die Folter ” , “ Das Lager ” . Vgl. Schimmelpfennig 2007, 13 f. Michel Foucaults Analyse der überwachten und unterworfenen Körper ließe sich hier “ frei ” und mit einem ironischen Unterton auf das Kerkersystem des herkömmlichen (Stadt-)Theaters übersetzen, in dem die Schauspieler-Körper immer wieder diszipliniert und ästhetisch abgestraft werden. Vgl. Foucault, Michel. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. Main, 1994. 17 Schimmelpfennig 2007, 9 f. u. 49. 18 Ähnlich ergeht es auch Frankie, der in seiner Rolle als Zebra für Chris unerkannt bleibt: Frankie: “ Das Stück heißt: Im Reich der Tiere. ” Chris: “ Das habe ich doch gesehen. Heute, vor der Lesung, die haben mir eine Karte besorgt - ich habe dich gar nicht erkannt. Entschuldige, ich habe dich gar nicht wiedererkannt. ” Pause. “ Wer warst du denn- ” Frankie: “ Nicht so wichtig- ” Chris: “ Nein, sag- ” Frankie: “ Ich war das Zebra- ” . Vgl. Schimmelpfennig 2007, 66. 19 Schimmelpfennig 2007, 17 f. 20 Entsprechend lautet Frankies “ Auto-Fiktion ” bzw. “ Auto-Illusion ” : “ Wir haben mal gesagt, wenn das hier vorbei ist, wenn das alles vorüber ist - nach der langen Zeit - dann machen wir etwas ganz anderes. Wenn die hier mal dicht machen. Wenn die uns auf die Straße setzen. Dann denken wir uns selber etwas aus, unsere eigene Geschichte. ” , in: Schimmelpfennig 2007, 32. 21 Vgl. Schimmelpfennig 2007, 32. 22 Dass innerhalb des Theaters nicht nur geistiges Eigentum den Besitzer wechseln kann, zeigt Frankie, der den Rucksack von Chris 114 Stefan Tigges stiehlt, um sich in seiner Wohnung bei dem Autor und Regisseur ins Gespräch zu bringen, dessen Hilflosigkeit auszunutzen und an seiner Karriere zu arbeiten, was ihm letztlich gelingt, indem er eine Rolle in dessen Werbefilm erhält. So wird er schließlich in New York als Modell eine Frau über eine Pfütze tragen, womit sein Gesicht - wenn auch nur in kommerzialisierter Form - als Landschaftsaufnahme endlich identifizierbar wird. Zugleich karikiert Schimmelpfennig mit der Figur von Chris, der seinen Rucksack immer mit auf der Bühne hat, da er den Sicherheitsstandards der Theatergarderoben nicht vertraut, heutige gehetzte und international vernetzte Künstlernomaden, die sich bei dem geringsten Fehltritt - wie dem Verlust ihrer persönlichen Dokumente, Arbeitspläne oder ihres Handys - in Raum und Zeit verlieren und dabei schnell vereinsamen können. 23 Vgl. Schimmelpfennig 2007, 44. 24 Völlig deplatziert erscheint mir dementsprechend die Diagnose von Gerhard Stadelmaier, der diese Subtilität nicht erkennt bzw. den verhandelten Körperdiskurs nicht durchschaut und der Inszenierung eine Fortsetzung der “ Ekeltheater ” -Debatte vorwirft: “ Die Schwabbel- oder Hungerhaken-Schniedelwutz-Anatomie der Schauspieler, das privatest Körperliche, macht aus dem Reich der Tiere, in dem die Schauspieler spielen, wie Schauspieler sich in Wesen einer anderen Welt verwandeln, kein Reich eines Gegenkosmos - sondern buchstäblich ein Reich der Schmiere. Leider auch im übertragenen Sinn. ” Vgl. Stadelmaier, Gerhard. “ Im Reich der Schmiere. Theaterquälerei als Intimitätshorror: Jürgen Gosch inszeniert die Uraufführung des neuen Stücks von Roland Schimmelpfennig in Berlin. ” Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03. 09. 2007. 25 Vgl. “ Warten auf die Wahrheit. Ein Gespräch mit Constanze Becker, Jens Harzer und Ulrich Matthes. ” Theater heute. Jahrbuch. 2008 (92 - 102, hier: 100 f.). 26 Theater heute. Jahrbuch, 2008, 103. 27 Vgl. Waldenfels, Bernhard. “ Architektur am Leitfaden des Leibes. ” Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Ed. Bernhard Waldenfels. Frankfurt a. Main, 1999, 200 - 215; hier 202. 28 Vgl. Schimmelpfennig 2007, 5, 8. 29 Schimmelpfennig 2007, S. 3. 30 Vgl. Anzeige: “ Disneys Der König der Löwen. Hamburg Tipp. ” Mobil. Das Magazin der Deutschen Bahn. 05 (2010), 34. Das sich auf Walt Disneys Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1994 beziehende Broadway-Musical Der König der Löwen von Elton John und Tim Rice, in dem sowohl Schauspieler in Tierkostümen (mit technischen Hilfsmitteln) als auch überdimensionale Puppen auftreten, wurde am 31. 7. 1997 im Orpheum Theater in Minneapolis uraufgeführt, darauf im gleichen Jahr an das New Amsterdam Theater an den Broadway in New York verlegt und läuft seit 2006 u. a. am Minskoff Theater. 31 Das reflexive Durchschaubarmachen des Theaters bzw. die Betonung der Realität als Bühnenrealität spielte bereits im “ Bremer Stil ” eine maßgebliche Rolle, womit sich die weiterzuverfolgende Frage stellt, inwieweit der ästhetische Einflussbereich zwischen Wilfried Minks - der unter der Intendanz von Kurt Hübner als Bühnenbildner frühe, wichtige Akzente setzte - und seinem Schüler Johannes Schütz zu bewerten ist bzw. inwieweit Jürgen Gosch sich mit dieser ästhetischen Tradition auseinandersetzt und diese weiterentwickelt. Andererseits ließe sich auch danach fragen inwieweit Jürgen Gosch mit dem Mittel des (reflexiven) Sichtbarmachens der künstlichen Theatermittel nicht auch an seine Theaterästhetik anknüpft, die er zwischen 1980 und 1985 gemeinsam mit Axel Manthey entwickelte, mit dem er in Bremen, Hamburg und Köln insgesamt neun Mal zusammenarbeitete. Zur Zusammenarbeit von Jürgen Gosch und Axel Manthey am Beispiel von Hamlet (Bremen 1980) vgl.: Kaesbohrer, Barbara. Die sprechenden Räume. Ästhetisches Begreifen von Bühnenbildern der Postmoderne. München, 2010, 51 - 64. 32 Ein aktuelles Gegenbeispiel wäre hier z. B. Ivo van Hoves Inszenierung von Molières Der Menschenfeind an der Berliner Schaubühne (P. 19. 09. 2010, Bühne: Jan Verseweyveld, Video: Tal Yarden), in der wiederholt 115 Freiheit durch Verwandlung(en) Einblicke in die Garderobenräume der Schauspieler bzw. die Maske gewährt werden, sich darin Spielszenen fortsetzen, indem von den Akteuren eine Rolllade hoch- und heruntergezogen wird, aus dem (behaupteten) Hinterraum zusätzlich Videobilder projiziert werden und (pseudo-)private Momente der Schauspieler in das Spiel integriert werden. 33 Brian O ’ Doherty berücksichtigt in seinen Reflexionen über den Bedeutungs- und Funktionswandel der white cube ebenso institutionelle sowie ökonomische Dimensionen und bilanziert u. a., dass die klinisch weiße Zelle mit ihrem gleißenden Licht jede Ausstellung in eine Warenpräsentation verwandeln könne, Kunst somit zu einem Objekt der universalen Tauschbarkeit degradiert würde und die weiße Zelle wiederholt Gefahr laufe zu einem Raum ohne Ort zu mutieren. Übersetzt man diese Lesart auf den Bühnenraum von Das Reich der Tiere, ließe sich entsprechend der vorangestellten Lesart folgern, dass Schütz hier die Form der white cube aufruft und bewusst eine Ästhetik wählt, die die kaum identifizierbaren, subjektlosen Schauspieler-Figuren und ihre finale Materialisierung bzw. Vergegenständlichung vergrößernd ausstellt. Vgl. O ’ Doherty, Brian. “ Der Kontext als Text. ” In der weißen Zelle. Inside the white cube. Eds. Wolfgang Kemp/ Markus Brüderlin, Berlin, 1996, 70 - 98. 34 In mir vorliegenden 2009 geführten und unveröffentlichten Gesprächen zwischen Jürgen Gosch, Johannes Schütz und Roland Schimmelpfennig betont der Regisseur sein Interesse an den Arbeiten (und Gesprächen) von Lucian Freud und Francis Bacon. Dies betrifft insbesondere die Frage der wahren, entfesselten Darstellung der (nackten) Körper, deren individueller konzentrierten Augenblicksbzw. Situationsgebundenheit sowie Fragen des Verhältnisses von Lebendigkeit und Künstlichkeit. Eine geistige Nähe belegt bereits Freuds folgende Vorstellung: “ Es interessiert mich nicht, etwas im Hinblick auf einen symbolischen oder übertragenen Sinn oder Ähnliches zu malen. Das Langweiligste, was man über ein Kunstwerk sagen kann, ist, finde ich, dass es zeitlos ist. ” Vgl. Lucian Freud im Gespräch mit Sebastian Smee, in: Holborn, Mark. Lucian Freud im Atelier. München, 2006, 11 - 42, hier: 33. Es verbleibt somit die Aufgabe - speziell in körperzentrierten Arbeiten von Gosch - weitere Spuren, Verweise und ästhetische Befruchtungsmomente herauszuarbeiten. 35 Vgl. Stich, Sidra. “ Anthropometrien ” Yves Klein. Katalog zur Ausstellung im Museum Ludwig, Köln und der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Ed. Sidra Stich. Düsseldorf, 1994, 171 - 192. 36 Vgl. Marschall, Brigitte. Politisches Theater nach 1950. Wien/ Köln/ Weimar, 2010, 421. Vgl. auch Tigges, Stefan. “ Die Haut als Bühne - der Körper als Aktionsraum: Jürgen Gosch und Johannes Schütz sezieren Shakespeares Macbeth. ” Politik mit dem Körper. Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968. Ed. Friedemann Kreuder/ Michael Bachmann. Bielefeld, 2009, 251 - 270. Hier habe ich in Form einer ersten Annäherung versucht, die Spiel- und Ausstattungsästhetik von Jürgen Gosch und Johannes Schütz mit spezifischen künstlerischen Strategien der Wiener Aktionisten zusammenzudenken. 37 Vgl. hierzu auch Jahraus, Oliver. Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Disponierung des Bewusstseins. München, 2001. 124. In der von Gosch und Schütz am Düsseldorfer Schauspielhaus realisierten Arbeit von Was ihr wollt (2007) wird eine Bezugnahme auf Formen der aktionistischen Malerei überaus deutlich, indem ein Schauspieler zu Beginn der Aufführung minutenlang eine gold glänzende Bühnenhinterwand schwarz anstreicht, wiederholt mit dem materiellen, spatialen und temporalen Moment des Raumes gespielt wird, was so weit führt, dass die Schauspieler (und Bühnenarbeiter) zur Pause die gesamte Wand abwaschen und in ihren ursprünglichen Zustand zurückführen bis sie später z. T. wieder mit Farbe beschüttet wird. 38 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice. Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin, 1974, 179 u. 125. Vgl. auch Jahraus 2001, 231. 116 Stefan Tigges 39 Vgl. Schimmelpfennig 2007, 30. Die jeweiligen Lager bzw. tierischen Verhaltensmuster setzen sich auch in Spielpausen des Ensembles fort, indem die Darsteller entweder vegetarische Snacks, wie einen Salat (Zebra) zu sich nehmen oder wie der Marabu als Aasfresser Hähnchenknochen abnagt. 40 Wie ein spielästhetischer Meta-Kommentar von Schimmelpfennig klingt auch der Kommentar von Chris, der als Autor und Regisseur für seine Arbeit “ Der Garten der Dinge ” fordert: “ Es geht um die Situation [Hervorhebung S. T.]. Was da passiert. Was die machen. ” Vgl. Schimmelpfennig 2007, 73. 41 Im 8. Bild des ersten Aktes heißt es: Der Marabu: “ Da erreichen die Tiere einen breiten Fluß. Schon nimmt ihnen der Rauch den Atem. Kommt doch, kommt doch, ruft der Marabu, der bereits über dem Wasser flattert, kommt doch, und dann stürzen sich die Gazelle und die Antilope ins Wasser, die Giraffe und die Ginsterkatze, die Mäuse, die Schlangen und der Skorpion, das Nashorn und der Elephant. ” Das Zebra: “ Nur das Zebra bleibt am Ufer zurück, achtsam besorgt, dass auch jedes Tier den Sprung in das rettende Wasser wagt - die Spinnen, der Vogel Strauß ” Der Löwe: “ Und der Löwe bleibt zurückt, denn der Löwe, das wilde Tier, kennt, anders als das Zebra, die Furcht. Der Löwe fürchtet die Peitsche des Menschen, der ihn sich im Zirkus Untertan machen kann, und der Löwe fürchtet das Wasser, denn er kann nicht schwimmen. ” Das Zebra: “ Spring auf, ruft das Zebra zu dem Löwen, zu seinem schlimmsten Feind, ich trage dich auf die andere Seite. Ich schwimme mit dir auf die andere Seite. ” Schimmelpfennigs Szenenanweisung für das 11. Bild lautet schlicht: “ Kurze Musik. Die Tiere. Das Zebra trägt den Löwen über den Fluß. Ein Krokodil kommt näher. ” Vgl. Schimmelpfennig 2007, 30, 36. 42 Vgl. Schimmelpfennig 2007 39. 43 Otto Muehl verfolgt mit dem Prinzip der totalen Transparenz zumindest in dieser Hinsicht ein identisches ästhetisches Ziel: “ [. . .] ab sofort wird dem publikum nichts mehr vorgemacht. alles was es gibt, wird direct (sic) hergestellt. ” Vgl. Muehl, Otto. Mama & Papa. Materialaktionen 63 - 69. Frankfurt a. Main, 1969. 11. Zitiert nach: Gorsen, Peter. “ Der Wiener Aktionismus in seinen Festen des psychophysischen Naturalismus. ” Wiener Aktionsismus. Sammlung Hummel Wien. Eds. Julius Hummel/ Edizioni Mazzotta. Milano, 2005, 77 - 90, hier: 77. 44 Vgl. Nancy, Jean Luc. “ Verklärter Leib. ” Corpus. Jean Luc Nancy. Berlin, 2003, 57. 45 Vgl. dazu auch Klein, Gabriele. “ Das Theater des Körpers. Zur Performanz des Körperlichen. ” Soziologie des Körpers. Markus Schroer. Frankfurt a. Main, 2005, 73 - 81. Gabriele Klein zeichnet hier u. a. die Geschichte des Abbaus der semiotischen Trägerlast des Körpers nach, entwickelt den Begriff der “ Doppelgesichtigkeit des Körpers ” , fragt nach der Handlungskompetenz des Körpers, wenn diesem eine Subjektposition eingeräumt wird und bilanziert im Kontext des Zusammenspiels von Performativität und Theatralität: “ Wenn Theatralität die Praxis der Bedeutungsproduktion meint, dann lässt sich Performativität als eine Strategie beschreiben, über die Prozesse der Bedeutungsproduktion wirklichkeitskonstituierende Kraft erlangen können. Verkörperung wäre demnach der Modus der Generierung von Praxis, die Semantisierung des Körpers wäre ihr Effekt. ” (83). Erika Fischer-Lichte beleuchtet die Relation von Theatralität und Performativität aus einem anderen Blickwinkel und unterscheidet zunächst zwischen den historischen und Neo-Avantgarden. Während für sie die historischen Avantgarden Performativität als Weg und Theatralität als Ziel wählen, ändert sich bei den Neo-Avantgarden die Strategie, indem nun Theatralität als Weg und Performativität als Ziel fungieren. Im Rahmen ihrer Aufwertung der Kategorie des Performativen unterstreicht Fischer-Lichte das Moment der “ metamorphotischen Konstellation ” deren Dynamik im vergrößerten Verwandlungsspektrum in Das Reich der Tiere nachvollziehbar wird: “ Wie auch immer, die Konstellation von Theatralität und Performativität enthüllt sich als eine per se metamorphotische Konstellation: Sie setzt voraus und begründet zugleich Verwandlung als 117 Freiheit durch Verwandlung(en) eine grundlegende theatrale und ästhetische Kategorie. ” Vgl. Fischer-Lichte, Erika. “ Verwandlung als ästhetische Kategorie. Zur Entwicklung einer neuen Ästhetik des Performativen. ” Theater seit den 60er Jahren. Grenzgänge der Neo-Avantgarde. Eds. Erika Fischer-Lichte/ Friedemann Kreuder/ Isabel Pflug. Tübingen, 1998, 89. 46 In neueren Überlegungen plädiert Erika Fischer-Lichte noch stärker für phänomenologisch geprägte Positionen, indem sie die Relation des “ phänomenalen Leibs ” und des “ semiotischen Körpers ” reflektiert und folgert, dass der phänomenale Leib bisher in kulturwissenschaftlich geprägten Untersuchungen von Aufführungen zugunsten des semiotischen Körpers “ praktisch ausgeblendet ” wurde obwohl beide “ unlösbar miteinander verknüpft ” sind, wobei, so Fischer-Lichte “ der phänomenale Leib durchaus ohne den semiotischen Körper ” gedacht werden könne, “ das Umgekehrte aber nicht möglich ” sei. In einem nächsten Schritt bezieht Fischer-Lichte mit dem Begriff der Verkörperung (embodiment) beide Momente unmittelbar aufeinander: “ Vielmehr meint der Begriff der Verkörperung diejenigen körperlichen Prozesse, mit denen der phänomenale Leib sich immer wieder selbst als einen je besonderen hervorbringt und damit spezifische Bedeutungen erzeugt. [. . .] Das Konzept der Verkörperung erweist sich noch in anderer Hinsicht als folgenreich für die Kulturwissenschaften. Er setzt den Jahrtausende gültigen Dualismus von Leib- Seele, Körper-Geist/ Bewusstsein außer Kraft. Denn es verdeutlicht, dass es Geist bzw. Bewusstsein nicht außerhalb des Körpers geben kann, dass Geist nur als ein in diesem Sinne verkörperter zu denken und zu haben ist. Der Mensch ist nicht aus dem Dualismus von Körper und Geist zu begreifen, sondern nur als verkörperter Geist, als embodied mind. ” Vgl. Fischer-Lichte, Erika. “ Theatralität als kulturelles Modell. ” Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften. Eds. Erika Fischer-Lichte/ Christian Horn/ Sandra Umathum/ Mathias Warstat. Tübingen und Basel, 2004, 7 - 26, hier: 20. Vgl. auch: Fischer-Lichte, Erika. “ Vom Theater als dem Paradigma der Moderne zu den Kulturen des Performativen. Ein Stück Wissenschaftsgeschichte. ” Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Christopher Balme/ Erika Fischer-Lichte/ Stephan Grätzel. Tübingen und Basel, 2003, 15 - 32. Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels bezieht sich ebenso auf Plessner und spricht von der “ Doppeltheit unseres Leibes, der als Leib eine Welt eröffnet und vermittelt, in der er zugleich als Körper vorkommt ” . Interessant ist nun auch das Modell der “ Selbstverdoppelung eines leiblichen Wesens ” das nach Waldenfels “ zugleich sieht und gesehen wird oder berührt und berührt wird ” , wiederum einer “ räumlichen Verdopplung ” entspricht und für eine noch komplexere Aufführungsanalyse fruchtbar sein könnte. Vgl. Waldenfels, Bernhard. Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhafter Erfahrung. Frankfurt a. Main, 2009, 97. 47 In der vierten Szene des dritten Aktes kommt es zu einer erneuten Verwandlung eines Tieres, indem nach dem Ausfall des Zebra-Darstellers - Frankie hat das Ensemble verlassen um in einem Werbespott von Chris in New York mitzuspielen, weswegen die Rolle in der auslaufenden Show nicht neu besetzt wird - Wolfgang Michael als Marabu den Löwen über den Fluss trägt und Kathrin Wehlisch als Ginsterkatze die Rolle des Krokodils übernimmt. Schimmelpfennig kommentiert diesen Rollenwechsel zusätzlich ironisch über den Löwendarsteller Peter: “ Das glaubt doch keiner. ” Vgl. Roland Schimmelpfennig, Das Reich der Tiere, 2006, S. 91. 48 Die nicht unmittelbar aufeinander folgenden drei Monologe (Marabu, Peter, Antilope) üben verschiedene Funktionen aus. Einerseits wird durch die eingebauten Störungen ein sich einstellender zu fixer Spiel-Illusionsgrad sowie eine zu autonome (psychologisierte) Figurwerdung von Frankie und Chris unterbunden. Andererseits werden durch die Kommentarfunktionen auslösenden Einblendungen bzw. durch die sprungartigen Perspektivwechsel die Machtdiskurse szenisch verdichtet und ineinander geblendet kurzgeschlossen. So sprechen der Marabu 118 Stefan Tigges und die Antilope ihre Monologe im 2. bzw. 6. Bild jeweils in der dritten Person und erzeugen durch ihre an Brehms Tierleben angelehnte Charakterisierungen einen weiteren Rollenzwischenraum, den die Schauspieler und das Publikum hier gleichermaßen reflexiv betreten: Der Marabu: “ Der Marabu ist ein Tier, das trotz seiner Größe immer in Angst lebt. [. . .] Der Marabu hat neben dem chilenischen Condor die größte Spannweite aller Vögel, mehr als ein Adler. [. . .] Aber er ist kein Jäger. Der Marabu ist ein Aasfresser. Und deshalb weiß er nicht, zu wem er gehört. Er nagt die verwesenden Knochen ab, die andere Tiere übriggelassen haben. ” Die Antilope: “ Die Antilope lebt in scheinbarem Frieden, aber in Wahrheit lebt sie, wenn sie mit ihrer Herde in der Weite der Steppe grast, in ständiger Angst, denn eine Vielzahl von Tieren ist auf der Jagd, um sie, das herrliche Geschöpf, zu erlegen, sie wird immer gejagt, sie ist in jedem Moment ihres Lebens in Gefahr. ” Unmittelbar daran anschließend werden nochmals die beiden Spielräume kurzgeschlossen, indem die Antilope Frankies Widersacher, d. h. den Löwen- Darsteller Peter küsst, mit dem sie eine Affäre hat(te). Vgl. auch Schimmelpfennig, 2006, S. 60 u. 78. Zugleich wird hier auch die binnendramatische zeit-räumliche Logik zugunsten des spielästhetischen Diskurses außer Kraft gesetzt, indem in die nächtliche Szene in Frankies Wohnung Figurenanalysen der an der Show beteiligten Kollegen projiziert werden, die während ihrer Monologe auf der “ Bühne ” aus ihren Rollen gleiten, ihre Kostüme aber anbehalten und im Hier und Jetzt agieren, obwohl das Publikum diese zeitlich mehr oder weniger noch in der Abendshow situiert. 49 Währenddessen kommt es nochmals zu persönlichen Dialogen zwischen einigen Schauspielern, die ihre Sorgen um ihre künstlerische Zukunft sowie materielle Absicherung zum Ausdruck bringen, über Umschulungsoptionen nachdenken aber auch familiäre Probleme ansprechen. Interessant ist hier einerseits die sich einstellende Privatheit der Schauspieler-Figuren, die während der intimen kollektiven Duschszene jedoch nicht voyeuristisch vergrößert werden. Andererseits richtet sich die Aufmerksamkeit des Publikums zunehmend auf die realen Performer, die nach der fast dreistündigen Aufführung erschöpft sind, kurz vor Vorstellungsende ihre doppelten Rollen abstreifen und jeweils individuell schrittweise aus der Vorstellung aussteigen. 50 Vgl. dazu auch: Traub, Ulrike. Theater der Nacktheit. Zum Bedeutungswandel entblößter Körper auf der Bühne seit 1900. Bielefeld, 2010. Die Autorin kommt in ihrer wenig hilfreichen Studie zu dem fragwürdigen Ergebnis, dass sich bei einer “ chronologischen Betrachtung der Nacktheit auf der Bühne eine tendenzielle Verschiebung von schön nach hässlich ” bemerkbar mache und sich der “ nackte Leib hauptsächlich auf zwei Weisen inszenieren ” ließe: “ [. . .] idealisiert und schön im Sinne der Entindividualisierung oder schonungslos und authentisch, was sich bis in das bewusst Hässliche steigern kann. ” (360). Für Traub erweist es sich nach wie vor als problematisch einen “ nackten, naturbelassenen und somit freien Körper zu zeigen ” (359) weswegen die Nacktheit auf der Bühne heute notwendig sei, “ um zu zeigen, wie unfrei der Körper und damit letztlich der Mensch ” sei (366). Dabei greift sie auch auf Arbeiten von Gosch zurück, missversteht dessen Theater wiederholt grundlegend und bilanziert, dass “ durch die Identifizierung des Zuschauers mit dem Körper des Schauspielers wie in Macbeth oder dem Reich der Tiere eine höhere Identifikationsmöglichkeit des Zuchauers mit den Bühnenfiguren ” entstehe, um dann eine weitere ästhetische Fehleinschätzung zu leisten, indem sie diagnostiziert, dass sich “ die Nacktheit in einer Gosch-Inszenierung nach dem Macbeth [. . .] somit dem Anfangsverdacht des Ekeltheaters ” stellen müsse (326). Wesentlich gehaltvoller erscheinen dagegen die Reflexionen von Giorgio Agamben, der zu “ äußerster Nüchternheit ” rät, “ wenn man die Nacktheit von dem Schema befreien will, die sie lediglich als plötzliche Beraubung zu denken erlauben ” und eine zentrale Problematik auf den Punkt bringt: “ Die Nacktheit des menschlichen Körpers ist 119 Freiheit durch Verwandlung(en) sein Bild, also das Erzittern, das ihn erkennbar macht, ohne dass er deshalb fassbarer würde. ” Vgl. Agamben, Giorgio. Nacktheiten. Frankfurt a. Main, 2010, 110, 138. 51 Roland Schimmelpfennig tendiert in seinen letzten Regieanweisungen wohl eher für eine offene Form der schauspielerischen Verwandlung: “ Sobald sie mit dem Duschen und dem Abtrocknen fertig sind, beginnen die vier sich neue Kostüme anzuziehen. Peter steigt in ein Spiegelei-Kostüm, Dirk wird zu einer Ketchupflasche, Typ “ Squeeze ” , Isabel hat ein Pfeffermühlen-Kostüm, das wie die anderen Kostüme auch nicht ganz leicht anzuziehen ist, das Kostüm, das Sandra anzieht, ist DAS TOASTBROT. Anders als die Tierkostüme sind diese Kostüme viel weniger zeichenhaft, viel eindeutiger. ” Vgl. Roland Schimmelpfennig, Das Reich der Tiere, S. 99. Hier wieder: Ist das Schimmelpfennig 2007, 99? 52 Vgl. auch Kamper, Dietmar/ Wulf, Christoph (Ed.). Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt a. Main, 1982. 120 Stefan Tigges How to think a puppet Melissa Trimingham (University of Kent) There is a growing awareness of the relevance of cognitive neuroscience to performance studies, but little attention has been paid to puppetry in this context. In an attempt to open up the field of puppetry to McConachie ’ s ’ ‘ cognitive turn ’ , a cognitive approach is here taken to Blind Summit ’ s ‘ The Table ’ . The solo puppet protagonist Moses is described here as a ‘ brain on legs ’ , a lively, funny and poignant figure who hovers on the brink of epic greatness but remains forever fixed to his table top. ‘ The Table ’ is analysed from three angles: firstly the use of environmental ‘ affordances ’ in James Gibson ’ s sense; secondly kinesthetic empathy as described by Antonio Damasio, Shaun Gallagher et alia; and thirdly, intimately linked to both, emotion. It is by virtue of Moses ’ s limitations that we are able to glimpse our own potential as human beings, richly embedded as we (and his operators) are in a world of limitless ‘ affordances ’ or ‘ opportunities for action ’ in James Gibson ’ s sense; and able to grow cognitively and emotionally through our contact with others. The opening up of performance to cognitive studies was prepared towards the end of the 1980 s with the gradual turn from reliance on semiotic analysis of the stage towards phenomenological approaches as a tool for the rigorous analysis of first person experience. 1 During the same period, cognitive neuroscientists turned their attention to consciousness and began to study subjective experiences of the mind 2 . Panksepp, a leading affective neuroscientist and perhaps the best known researcher into emotions through his practical research into the neural circuits and chemical changes in the brain, describes the need for flexible approaches to understanding the whole person in relation to the problem of consciousness: . . . science only clarifies functional parts of a complex phenomenon. Other disciplines, from art to philosophy, are needed to reconstruct an image of the whole . . . 3 (emphasis in original) As neuroscience started to listen to other disciplines, a reciprocal field of cognition studies opened up that takes account of developments in hard (neuro)science, and this field embraces psychology, philosophy, anthropology - indeed potentially almost any humanities discipline, including, recently, performance studies. These scholars are interested in neuroscience for what it tells us about how we may cognize our being in the world, tending to draw on controversial essentialist insights into how the mind works 4 . This dialogue promises to advance embodied understandings of the mind deriving from philosophy, by using firmer evidence from neuroscience about how our consciousness is formed. 5 While the dialogue is perhaps rather one sided currently, 6 in performance studies it is becoming evident that, in the face of cognitive understandings, many writers may have to modify well-worn theories rooted within psycho-analytic and social constructivist thinking. 7 Scenography and puppetry have always yielded more readily to phenomenological, rather than (for example) Freudian or Marxist interpretations, and it seems a natural development to examine more closely the ‘ first person ’ approaches within cognitive neuroscience, in Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 121 - 136. Gunter Narr Verlag Tübingen an attempt to tease out key aspects of how meaning emerges on stage through its visual and haptic components. One key aspect, and increasingly so in the contemporary theatre, is puppetry. Steve Tillis, in 1992, made an exhaustive critique of the then current and largely semiotic definitions of the puppet and what he judged to be the hitherto unworkable taxonomies based either on variations in manipulating techniques or on diachronic categorisations through history, geography, or both. 8 His study illustrates the difficulties in defining the enormous and diverse field that is puppetry and warn against any assumed definition of a ‘ puppet ’ : these include rod, string, glove, ‘ table top ’ , and Bunraku puppets. 9 Moreover Tillis ’ s book dates from 1992, before digital puppetry and computer aided design had been developed, all of which further complicate notions of what a puppet is or might be. 10 To these varieties of ‘ 2D ’ puppets we might add simple cut out, shadow, and UV puppets. Jurkowski offers perhaps the most useful definition of a puppet, since he acknowledges the semiological and ultimately dramaturgical impact of what he describes as variations in the ‘ power sources ’ : . . .[T]he speaking and performing object makes temporal use of the physical sources of the vocal and motor powers, which are present outside the object. The relations between the object (the puppet) and the power sources . . . change all the time and their variations are of great semiological significance. 11 Importantly for my purpose, Jurkowski ’ s definition is able to encompass a relatively recent phenomenon, the ‘ manipulactor ’ who is part puppeteer and part visible ‘ independent ’ performer interacting with it 12 . ‘ Manipulacting ’ is a development from the visible puppeteer who began to appear on our stages after World War Two. In manipulacting, the ‘ relations between the object (the puppet) and the power sources. . .change all the time ’ with, as Jurkowski notes, changed semiological - and I would add, dramaturgical - significance. In de-emphasising what a puppet is in favour of what a puppet does, Jukowski prepares the ground for a cognitive approach. I argue that it is the intentionality of operator and audience that ultimately makes the puppet ‘ do ’ . In this sense, recent developments in cognitive science, which is closely allied to phenomenology and first person experience, is a promising tool to analyse kinesthetic, empathic, and emotional responses when a puppet moves. I should offer a caveat: this article is largely concerned with the study of a single anthropomorphic puppet and his ‘ manipulactors ’ . Although an attempt will be made towards the end to widen the scope of the cognitive insights here presented, a full study is outside the scope of this article. I am concerned here to extract a few key pointers which may map out an initial pathway in this largely untried approach to puppetry. Jurowkski draws attention to the ‘ motor powers ’ outside the puppet/ object that move it (i. e. the motor powers of the operator). The somato-sensory area of the brain appears to be closely allied, as we shall see, to emotion, empathy, and memory. 13 Tillis ’ s syncretic analysis is, in the end, limited by the failure to explain the ‘ psychological desire ’ of the audience to ‘ imagine that the perceived object does, in fact, have life ’ (Tillis 1992: 64). The psychology of the audience often reduces theorists to vague speculation of what they think is happening 14 , whereas neuro-science may offer a more precise tool of analysis. The singular puppet I have chosen to look at through this lens is Moses: the marionette porté or ‘ table top puppet ’ (photo 1) who stars in The Table (2011), the creation of Blind Summit Theatre. As cognitive studies is a lens to look at Moses, so Moses is our lens (and not as a universal representative of ‘ the 122 Melissa Trimingham puppet ’ ) to look at puppetry. In my case study, Moses, a table top figure, a little man with a large head and tiny legs and no clothes, moves through physical sources ‘ present outside the object ’ : the three operators who grip his head, body, feet, and hands. In addition to ‘ manipulacting ’ , The Table is an example of what Roman Paska describes as the ‘ Primitivist ’ rather than ‘ Illusionist ’ use of puppetry. In ‘ Illusionism ’ , the ‘ puppet-asobject ’ succumbs to pure character representation and ‘ the signifying puppet dematerialises into pure simulation ’ . 15 Paska argues that the twentieth century brought a sea change from ‘ Illusionism ’ to ‘ Primitivism ’ : puppets became flexible and resonant theatrical tools where, as Jukowski describes it, ‘ the performer does not serve the puppet anymore; he makes the puppet serve him and his ideas ’ . 16 Similarly, Didier Plassard has argued that the physical relationship between puppet and puppeteer has changed from ‘ vertical ’ to ‘ horizontal ’ , that is, the manipulator and manipulated hold more equal presence on stage. 17 The Table exploits - and deconstructs - this ‘ new ’ dramaturgy of the puppet. In (post)modern puppetry, typically the human figure, most frequently but not always as operator, appears alongside the puppet, complicating audience perception and multiplying levels of interpretation through the visible juxtaposition of living flesh and the plastic object that flesh causes to move. Moses is the star, but ‘ his ’ existential life problems that are the life blood, poignancy, and black humour of this piece only exist by virtue of the presence of his three operators (and silent female visitor to his table), and only have meaning in relation to them - and the audience. As always in theatre, the metaphor is not a literary or abstract one, but one acted out in flesh and blood and objects in front of our eyes. What is particularly apposite in this discussion on puppets and cognition is that Moses is a huge head on a small body (see Fig.1). He threatens to perform to us his epic on the last twelve hours of Moses ’ s life, in ‘ real time ’ , the ostensible reason for the performance. Before we realise who he is and what he intends, his large cardboard head and tiny body impact upon us. The audience reception of Moses can be treated as a rich ‘ conceptual blend ’ that resonates throughout the piece. Conceptual blending is a notion borrowed from cognitive linguisitics 18 and the ‘ network model ’ is adapted here to explain the physical and tactile and essentially phenomenological ‘ blend ’ that Moses offers us. 19 Conceptual blending describes the ‘ conceptual integration ’ 20 of existing mental spaces (broadly comparable to thoughts) which make up new mental spaces. According to Fauconnier and Turner, a new blend begins with (however many) input spaces, and ‘ cross-space mapping ’ connects what is common between the input spaces to create the ‘ generic space ’ . (The process is not linear and isolated, although it has to be described that way - blending and crossmapping is a continual and complex process.) The fourth mental space is the creative leap: the ‘ blended space ’ or ‘ the blend ’ , i. e. a new mental space. New ‘ emergent structure ’ is developed through the blend, so that ‘ composition of elements from the inputs makes relations available in the blend that do not exist in the separate inputs ’ . 21 In the words of Edwin Hutchins, ‘ As is the case with all blends, cross-space mappings between conceptual and material elements link the two spaces and selective projection from the inputs into the blended space give rise to emergent properties. ’ 22 When we first see Moses on the table, one ‘ input space ’ is, I suggest, the large headed figure/ puppet, and another ‘ input space ’ is our ‘ body image ’ , which is the perception of our own bodies we carry in our heads, i. e.we feel our own heads and especially our faces to be much huger than they actually are. 23 Moses reminds us of our unnoticed shaping of our large headed 123 How to think a puppet ‘ window ’ to the world, the world which is also our own ‘ table top ’ . This is what Fauconnier and Turner describe as ‘ the flash of comprehension ’ . 24 Moses, though a very different ‘ other ’ , is also us, and, despite the bizarre nature of his appearance, we feel strangely empathic with him. In all puppets that work particularly well, the exact choice of material nuances the meaning. The huge head is made of corrugated card, a massive and impressive bulk, but essentially empty. The unseen kinks and whorls of the familiar material of corrugated card, faintly ridged on the surface and carefully crafted into the angled and rigid shapes making up a head, remind us of a brain on legs. The table itself, comprising the entire staging of this piece, present throughout, and Moses ’ s ‘ stage ’ , home, and entire universe, is, in Lakoff and Johnson ’ s definition, a basic level concept. 25 Basic level concepts are a way the mind categorises objects: these concepts do not change, and they derive from bodily experience. Basic level concepts are the ‘ lowest ’ generic form of an object that we can visualise, for example, ‘ chair ’ - or table - rather than ‘ furniture ’ ; to put it succinctly, ‘ categories of the mind fit the categories of the world ’ (emphasis in the original). 26 They are ‘ human sized ’ and depend ‘ not on the objects themselves, independent of people, but on the way people interact with objects, the way they perceive them, image them, organize information about them, and behave towards them with their bodies ’ . 27 The ‘ visualisation ’ of basic level categories derives from ‘ handlings ’ and interaction with the environment. In this sense, the word ‘ visualise ’ is very deceptive and inadequate, and ignores the physical and haptic dimensions of thought. Alva Noë describes seeing as ‘ much more like touching than it is like depicting ’ . 28 In handling a puppet like Moses, there is, for the puppeteer, a curious mixture of the haptic and the visual, internal proprioreception and an external sense of touch/ vision. Working a puppet draws on sensori-motor memory, especially the stringed marionette and figures half worn and incorporating the hand (s) or feet (or both) of the puppeteer, or, as in Moses, figures grasped and manipulated by up to three operators (a Bunraku style puppet or a marionette porté). For the puppeteer, the effort of moving the puppet into positions that resemble the actual creature they are imitating inevitably and always draws upon such body memory, as well as an acute visual and haptic empathy with what is being seen by the audience: 29 the better they are able to embody these memories, the better the puppetry produced. It is no accident that Moses moves or rather is moved on a ‘ basic level category ’ object, a table, returning both puppeteer and audience member to a ‘ human sized ’ object, rehearsing early stages in the brain ’ s development of concepts - up and down, over and under, edges and surfaces, and so on. Neuro-scientist Antonio Damasio believes: ‘ There is no such thing as a pure perception of an object within a sensory channel . . . To perceive an object, visually or otherwise, the organism requires both specialized sensory signals and signals from the adjustment of the body, which are necessary for perception to occur ’ 30 (i. e. the shift of the head upwards in order to see a bird in flight, the bending of the body into a chair, the curving of a hand to work a puppet ’ s head). Even witnessing such interaction, as an audience, is a similar experience: this motor element in perception or proprioreception survives vividly when we even think of that object: 31 ‘ The records we hold of the objects and events that we once perceived include the motor adjustments we made to obtain the perception in the first place and also include the emotional reactions we had then. They are all co registered in memory . . . You simply cannot escape the affectation of your organism, motor and emotional most of 124 Melissa Trimingham all, that is part and parcel of having a mind ’ . 32 These proprioreceptive, haptically strong body memories are writ large upon the stage, especially in the use of puppets: so too is affect or the rousing of emotion, prompted, as Damasio says, by an object - or puppet. Leaving aside for the time being the important element of emotion that Damasio attaches to motor memory here, my suggestion is that Moses has connection via motion (of puppet, puppeteer, and watcher) with basic level concepts. Similarly, Moses also reminds us of basic patterns of motion such as the impulse of SOURCE-PATH-GOAL. These patterns were first identified by the philosopher Mark Johnson 33 and developed through his work with linguist George Lakoff. 34 These patterns develop from babyhood onwards and are now accepted by many neuroscientists (but by no means all) 35 as the structural scaffolding, via metaphorical mappings, for abstract thinking: in other words, our reason and our imagination are founded in a necessary and essentialist bodily relation with, and use of, the material world. 36 We cannot, they maintain, do much thinking without metaphor, and they ground metaphor in bodily experience. Metaphors identified by Lakoff and Johnson include many ‘ spatial relations concepts and image schemas ’ . 37 One such spatial relation, at least in Western culture, is the container image schema. 38 For example when we say ‘ the bee is in the garden ’ we are ‘ imposing an imaginative container structure on the garden ’ ; 39 such structure emerges from numerous experiences when young, such as being wrapped up in a blanket as a newborn baby, learning to pour water in and out of beakers in the bath, and playing hide and seek. Another structure, again Western culturally specific, is the strong ‘ front and back ’ image schema: in an expression such as ‘ the cat is behind the tree ’ , we are actually imposing a front and back on a tree, which is directly derived from our own body image of front and back and where we are placed in relation to the tree. Moses continually operates on the level of these basic and to us familiar culturally specific patterns of bodily orientation, confined as he is on a very limited surface in the centre of a void. Prepositions for Moses seem particularly important as he shows us around his flat, rectangular world: he needs the geometry of his table top to have any sense of space. When Moses shows us around his ‘ garden ’ on the table top, we feel he is ‘ in ’ it; moreover he has a very clear idea when standing at the edge of the garden/ table that he is contemplating the ‘ garden ’ spread out before him.The container metaphor is strongly present throughout: the table itself, of course, is Moses ’ s ‘ container ’ in the void of the stage that surrounds him. Lakoff and Johnson demonstrate how metaphorical thinking derives from such bodily experience and it begins before birth in the unborn child as s/ he moves in the womb. Moreover, the very perception of objects is shaped by bodily interactions with them, and it is this that The Table, by reason of Moses ’ s incredibly limited physical world, plays with. When you and I look at an object outside ourselves, we form comparable images in our respective brains. We know this well because you and I can describe the object in very similar ways, down to fine details. But that does not mean that the image we see is the copy of whatever the object outside is like. Whatever it is like in absolute terms, we do not know. The image we see is based on changes which occurred in our organisms-including the part of the organism called brainwhen the physical structure of the object interacts with the body. The signalling devices located throughout our body structure-in the skin, in the muscles, in the retina, and so on, help construct neural patterns which map the organism ’ s interaction with the object. The neural patterns are constructed according to the brain ’ s own conventions, and are achieved transiently in the multiple sensory and motor regions of the brain that are suitable to process 125 How to think a puppet signals coming from particular body sites, say the skin, or the muscles, or the retina. The building of those neural patterns or maps is based on the momentary selection of neurons and circuits engaged by the interaction. In other words, the building blocks exist within the brain, available to be picked up and assembled. The part of the pattern that remains in memory is built according to the same principles . . . . . . There is a set of correspondences between physical characteristics of the object and modes of reaction of the organism according to which an internally generated image is constructed. 40 The development of the basic capacity to grasp and make use of the environment is the shared and essentialist basis of different cultures and civilisations, but the capacity to do this does not determine the nature of cultures themselves. The theories of James Gibson, an ‘ ecological psychologist ’ , go some way toward explaining why cultures develop so differently and so richly. 41 Gibson coined his own word in connection with ‘ useful ’ features of the environment: ‘ affordances ’ . 42 Passthroughability (openings that one can pass through), climbability (places one can climb on), and swimability (substances that one can swim in) are all ‘ affordances ’ in Gibson ’ s sense: we might add the ‘ graspability ’ of a piece of rag, a stick of wood that becomes a puppet. This theory is grounded on information, invariant properties of optic, haptic, acoustic structure that are relevant to an organism ’ s action capabilities. Information is out there and available to a suitably attuned organism. 43 One way of looking at a puppet is that it is an ‘ affordance ’ to the puppeteer. Affordances describe material substance with the extra dimension of use and potential use. ‘ Ordinary physical units won ’ t do ’ 44 since each feature has to be measured relative to the organism and is specific to the organism. 45 The notion of affordances goes some way toward describing the shaping of the mind by physical interaction with the environment and the variety of cultures which emerge. The organism is not responding to the environment via a ‘ pre-programmed ’ structure in the brain: to gloss Gibson, the stick offers itself as graspable because we have hands. Even if we do not handle or touch the object (or puppet) at the time of seeing it, because of our embodied minds, we mentally gear into its possible affordances via its shape and form, and our perception of it is constructed, as Damasio described above, by body memory of interaction with the environment (the ‘ climabilities ’ and 'passthroughabilities ’ etc.). Arguably, a puppeteer draws strongly on these (potentially creative) ‘ gearings ’ into the physical world, both in the physical act of performing and in communicating with an audience. The puppet is a conduit for the puppeteer, an interface between operator and environment, a tool for a performer to discover interesting and amusing and unexpected affordances in the environment. This is part of the exploratory play of rehearsal with a puppet. Ironically, although Moses ’ s world is the stage, and in theory a world of boundless imagination, in this case, at first glance, it is a world of no affordances, in Gibson ’ s sense, whatsoever. Indeed Mark Down, director, described the process of prolonged rehearsing on the table as ‘ pretty grim ’ . 46 As an audience at the start of the performance we see little prospect of a decent puppet show and the threatened epic poem looms large. Moses ’ s ‘ niche ’ 47 or set of affordances is, as he touchingly shows us round it, a flat surface a short distance from the floor about (as he calculates) half a metre by one metre, with four surrounding ‘ cliffs ’ or ‘ falling off ’ places 48 and that is that: no views, no horizon, no vision, no imagination and, we fear, no possibilities. As it turns out, 126 Melissa Trimingham however, the puppeteers, of course, find plenty of rich ‘ imagined affordances' on the tabletop - not only its surface (which is in turn racked with wind, coated with ice, transformed into a record player turntable that slowly revolves Moses round, a CD player that throws him off, and a running machine that he can ’ t keep up with), but also they exploit the whole mysterious and metaphysical (or existential) dimensions of his world (on stage and off stage, the air he sometimes floats in, the cavernous space beneath and around the table top) (photo 3). Moses ’ s body schema (in a human, we remember 49 , this is the non-conscious emergent movement patterns of one ’ s body - such as ‘ source path goal ’ already described - deriving from interaction with the environment) is nonexistent. To state the obvious, the body schema is nonexistent because he is a puppet: but Moses ’ s poignant tragedy is that he could never have a body schema, and thus a mind, because his outer/ material environment, his niche, so essential to the formation of consciousness, is so impoverished of affordances. Later on he jokes that his Stanislavkian ‘ back story ’ is a cardboard box. Moses is a puppet that is moved by and close to the body and he seems to draw our attention to the primary metaphors as defined by Lakoff and Johnson, all deriving from bodily experience. Primary metaphors are metaphors such as affection is warmth, important is big, more is up, difficulties are burdens, causes are physical forces - and knowing is seeing. He does this because he is smaller than ourselves and we re-experience, whether as puppeteers or audience, a tiny child ’ s body and its relationship to the environment and objects, an experience that we have forgotten and from which these metaphors derive. Puppets expose the origin of primary metaphor ‘ thinking ’ that has become obscured by habit. For example, a child (and a puppet) has to try very hard to move something ‘ heavy ’ . This child experience develops via ‘ conflation ’ into the adult idea that difficulties in life are heavy burdens. ‘ Conflation ’ therefore is the development of a child ’ s thinking beyond the physical literal experience: another example is actually seeing something ( ‘ I see it ’ ) conflating into the primary metaphor ‘ Knowing is Seeing ’ ( ‘ I see what you mean ’ ). 50 Puppets, I suggest (and here I risk a generalisation) do not usually operate on this post-conflation level of metaphorical thought: they tend to be very literal in their actions. Moses literally tries to push away physically the problem that appears in his world in order to rid himself of it - the silent woman reading (photo 2). This is appealing to some audiences, since the literalism can be a source of great humour in puppetry, and irritating to others. 51 Nevertheless, I suggest the appeal of the miniature, the delight in things made on a small scale, is in all of us. It holds a charm that is hard to explain except through this appeal to primary level metaphors, the very basis of our thought. A miniature physical object reminds us of a child-like level of operating in the world that we have forgotten, but which comforts us with its familiarity. Moses shares this child-like connection and also, despite his addressing an audience, inhabits an infinitely lonely world. Into this world suddenly breaks another: a being, a possibility of change from his solipsistic, narcissistic life. A woman comes and sits at his table, and reads a book. 52 Moses ’ s sudden introduction to an empathic other neatly parallels Gallagher ’ s ‘ disruptive moment ’ that mirror neurons introduce into ‘ the supposed indifferentiation of the earliest hours ’ of an infant. 53 Mirror neurons are hard scientific evidence of the shaping of our consciousness through interaction with others. It is now a respected theory (though again not universally accepted) that from soon after birth the brain is capable of empathising with the action of 127 How to think a puppet another through the physical process of firing mirror neurons in the same area of the brain that would activate if the witness were actually themselves doing the goalorientated action being viewed, for example reaching for a cup. 54 It seems that we only become fully human through seeing or sensing others. 55 In cognitive terms, this means that empathy is a naturalistic process that does not, in contrast to Simon Baron-Cohen ’ s theory of mind, involve inference or judgement of the other person ’ s state of mind. 56 Empathy within mirror neuron theory is an interactive mode, and, in Thompson ’ s words, it involves ‘ the direct pairing or matching of the bodies of self and other ’ . 57 In other words, if the theory is right, we cannot help but empathise with another. And so a silent woman comes and sits at Moses' table, opening up the possibility of an empathic other, and a potential for growth in Moses ’ s sense of self. At first outraged by the cheek of this intruder, Moses gradually senses the possibility of his own self emerging differently, warmly, empathically, from this encounter. Sadly, it seems this is an encounter from a parallel universe, as the woman, blind to his addresses (photo 2), suddenly ups and leaves as strangely as she arrived, without ever noticing him. There is no ‘ direct pairing or matching ’ of bodies. They exchange no speech. It is not just a fresh perspective on his loneliness that such a loss entails, it is that the Beckettian world of the table top which he inhabited more or less contentedly and innocently before now seems unbearably bleak to himself as well. In short it offers no possibility, ever, of change, growth, and ‘ seeking ’ , either through the barren environment he is in or the solitary existence he leads. In the beginning, that is, at the time of our birth, our human capacities for perception and behavior have already been shaped by our movement. Prenatal bodily movement has already been organized along the lines of our own human shape, in proprioceptive and cross ‐ modal registrations, in ways that provide a capacity for experiencing a basic distinction between our own embodied existence and everything else. As a result, when we first open our eyes, not only can we see, but also our vision, imperfect as it is, is already attuned to those shapes that resemble our own shape. More precisely and quite literally, we can see our own possibilities in the faces of others. The infant, minutes after birth, is capable of imitating the gesture that it sees on the face of another person. It is thus capable of a certain kind of movement that foreshadows intentional action, and that propels it into a human world. 58 Moses ‘ has ’ no distinction between his own embodied existence and everything else; there are no shapes that resemble his own shape; he is not given the chance to see his own possibilities in the faces of others. Moses is drawn towards a human world and then torn back into existential grief and a world of no other faces. The humour in this piece prevents a descent into bathos. We are dimly aware of the irony that the puppeteers behind Moses do have a clear distinction between their embodied existence and that of the puppet; that they are perfectly attuned to the shape that resembles their own shape, and see their possibilities in the faces of each other - and of the puppet. They habitually imitate the gesture, via the puppet, that they see on the face of the other person; their intentional actions are directed into a puppet and propel it into a human worldwhere it fails always and ever to be human. In this case, the puppeteers have made use of minimal affordances in the environment to express complex meanings that in the end can never be reduced to language - or to mere physicality. Puppets have the capacity to draw attention to the existence of the ‘ lived body ’ alongside the ‘ objective body ’ , and Moses does exactly this. The objective body is our body (and that of others, and indeed of a 128 Melissa Trimingham puppet) considered as an object - we all have the capacity for this external perspective on the workings of the body: it is how the body is treated in all manner of disciplines, such as physiology or neurology. 59 The lived body, on the other hand, is the embodied body, our personal experience of the body we inhabit. Within Evan Thompson ’ s interactive model of consciousness, 60 as Gallese says, ‘ [e]mpathy is deeply grounded in the experience of our lived body ’ . 61 The puppeteer experiences their own ‘ Leib ’ or ‘ lived body ’ by, through, and in the puppet, and at the same time perceives the puppet itself as ‘ Körper ’ or ‘ objective body ’ . The use of a material object in this way to draw attention to our predicament as material objects ourselves adds layers of complexity to the meanings offered. If the brain finds stability to perform complex and creative thought through the constant presence of the body, 62 the material bodies of puppets have the ability to remind us that this stability is only seemingly robust and frighteningly fragile when it is disturbed. We are, in the end, material ourselves. Gallagher and Zahavi describe a game of tennis. ‘ Your body tightens in order to return the ball in a masterful smash, but suddenly you feel a sharp and intense pain in your chest. Your smashing opportunity is lost and the pain is now demanding all your attention . . . There is nothing that reminds us of our embodiment (our vulnerability and mortality) as much as pain ’ . 63 Gallagher and Zahavi see this experience as one that objectifies the body suddenly and gives us access to what is normally lost to us: ‘ the smooth functioning of our body in perception and action as the constant and pervasive support system for our cognitive life ’ . 64 There is nothing more fragile than Moses ’ s body as he stands in an agony of loneliness while the woman retreats from his table. Emotion in relation to the puppet takes us beyond - or further into - its materiality. Gibson concentrates on the physical or ecological level of psychology, and so offers us only a limited insight into the formation and experience consciousness which is imbued with emotion. 65 For humanity, working of materials is so much more than physical. The puppet, for example, as a material ‘ affordance ’ to the puppeteer, clearly involves emotion and thought, adding cognitive complexity beyond simple physical interaction. The objective body of a puppet, clearly, can arouse empathy: it does this, as Gallese suggests above, via the lived body that animates it and the audience that watches. In Gallagher ’ s book Brainstorming, he interposes ‘ A Short Robotic Interlude ’ amidst his exploration of consciousness via motion, intersubjectivity, emotion, empathy, and language. 66 At one point, scientists describe a project where robots are used to help autistic children relate to the world, since they avoid the subtle, unpredictable, and potentially confusing social behaviours of humans. However, Gallagher states: ‘ Currently there is good evidence to suggest that mirror neurons, which are activated when we see others engaged in intentional actions, are not activated when we see mechanical things do the things that could be done by people ’ . 67 There is, however, every reason for mirror neurons to fire when we see a puppet reach for something, because it is not mechanical: when held, it takes on, to a greater or lesser extent, the embodied force of the puppeteer ’ s bodily movements, more obviously since puppeteers are rarely hidden in contemporary performance, and activate the body memory of the audience - with some of the unpredictability and pleasing redundancy of organic motion that robots lack. Panksepp 68 identifies basic animal (mammalian) emotions (which Moses experiences) as anger and fear of abandonment; the basic emotional systems are rough and tumble play (which is comparable to Moses on his turntables and running ma- 129 How to think a puppet chines), and the ‘ seeking ’ mechanism, that is, the ‘ high ’ we get from fully engaging in an activity we really enjoy ( ‘ seeking ’ which can also lead to drug abuse): arguably Moses gets a taste of this when he meets the silent woman, though it is snatched from him. Emotions are, basically, chemical releases into the brain. 69 Whether, as Panksepp claims, emotions originate deep in the brain or in the somato-sensory cortex (which is where Damasio, in contrast to Panksepp, would place emotions) matters not for my main point here, namely that the physical and emotional are linked, each affecting the other: ‘ Emotive circuits change the sensitivities of sensory systems that are relevant for the behavioural sequences that have been aroused ’ . 70 In turn, body memory can trigger past emotion. This reveals something about the emotional engagement that puppets arouse, and may have relevance to other modes of ‘ low ’ or popular performance, namely masks, clowning and slap-stick. Because puppets have a limited physical range distilled from the subtleties of the somatomotor system of the puppeteer, they always begin their physical encounter with us differently, and hence, I would argue, provoke a different level of emotional response from, say, Hamlet or Hedda Gabler. The quality of their physical movement is comparable, and linked, to their tendency to operate at the pre-conflation level that precedes metaphorical language explored earlier. This does not make them childish, but it often makes them child-like, that is, simple (in the best possible sense) and direct conduits of basic emotion. Puppets can be emotionally engaging characters, but our empathy may be rooted in the nature of the physical gestures they are able to make, which ultimately are always childlike. Ronnie Burkett ’ s crafted string puppets (such as those in Happy 2001) or Handspring Theatre ’ s marionette portées (such as the lead characters in Or You Could Kiss Me (2010)) overlay sophisticated and thus ‘ post conflation ’ language so that, as well as having complex emotional lives, they also seem to engage with us at a child-like emotional level that can be upsetting, and even deeply disturbing. In the case of Handspring ’ s Or You Could Kiss Me the child-like dimension is sensitively dealt with, even exploited through the vulnerability of the leading characters. Burkett, despite his brilliance in operating the puppets, does not always get the balance right when he gives his characters such full adult lives, including sexuality. Faulty Optic ’ s roughly (but ingeniously) made Mabel (Snuffhouse Dustlouse [1991]1999) busies herself one handedly, clumsily, obsessively - and pointlessly - around her dimly lit rubbish strewn house, her sad existence deriving from an abusive childhood. The emotion aroused by a puppet, an object in motion, is connected to the type of movement it makes. The puppet keys us emotionally into an affective level that only puppets - and objects - can touch. Fauconnier and Turner ’ s conceptual blending, which was adapted earlier as a model to analyse audience reception of Moses ’ s appearance, is rigorous, scholarly, and insightful: it is also largely abstract (ignoring the body) and almost entirely linguistic. The challenge is to penetrate non-linguistic ‘ thought ’ , that is, the ‘ thought ’ that arises with no verbalisation at all, such as sculpting, weaving, or painting - or creating and watching a puppet. Mandler ’ s work indicates that, in babies, thought precedes language and can exist without being translated into words. 71 A promising start on expanding the notion of conceptual blending into non-verbalised thought has been made by Hutchins ’ s demonstration of the way material anchors can expand thinking. 72 Inspired by Hutchins ’ s work on navigation as a complex space of ‘ shared cognition ’ dependent on material objects or instruments, Evelyn Tribble has applied this to Shakespeare ’ s Globe Thea- 130 Melissa Trimingham tre. 73 Puppetry is an example of a space of shared cognition almost entirely dependent on expanding thought through the use of material objects. This is evident in Blind Summit rehearsing The Table as the puppeteers play, endlessly improvising with the puppets and props, discovering new affordances, some of which move the piece along, and some of which prove dead ends that cannot dramaturgically be absorbed and so are abandoned. 74 Their rehearsal is a space of active and shared cognition where thought is developed through objects in a social space: children do this in play continually, 75 but it is also apparent in performance. Here, the space of shared cognition is obvious, active, and energetic. It is often signalled by laughter in the audience as performers push ideas further in response to audience reaction. When an extract from The Table was performed at the Wellcome Collection ’ s ‘ Objects of Emotion ’ , 76 Moses (in deconstructive mode) was demonstrating what can go wrong in the connection between puppet and puppeteer and, after sliding around the surface of his table and illustrating various other cardinal sins of poor puppeteering, the hapless Moses not only floated away off his surface, but travelled further and further up the aisles of the lecture theatre. The audience were fully contributing to the shared space of cognition with the puppeteer as they encouraged him to push the idea to extremes. In exploring a cognitive approach to puppetry I have done so largely through a specific example of The Table, arguably well suited to such an analysis. In doing so, I have referred in passing to other puppeteers and companies, but the caution I exercised in doing so makes me fully aware of the difficulties Tillis demonstrated so long ago, that exceptions can usually be found to any generalisations about a ‘ puppet ’ . Even so, I believe the cognitive analysis could be usefully applied widely within puppet and object theatre to help our understanding of its enigmatic dynamics. Puppets clearly demonstrate the basic priciple of theatre, that ideas are not necessarily expressed in language: meaning may be expressed visually, experienced haptically, and may never become articulated in words. This is much harder to grasp and justify than a superficial reading suggests. It demands carefully unpacking it in terms of consciousness, the sense of self, Damasio ’ s ‘ feeling of what happens ’ , and the phenomenological moment of so-called non-thinking. 77 Since 90 % of the mind ’ s activity is, neuroscience claims, subconscious (and not in a Freudian sense), I suggest that theatre has the power - momentarily, richly, and sometimes delicately - to expand our consciousness into these unperceived reaches of the mind. In this way, we experience on stage the very essence of creative thinking and the imagination in action, a moment that can subsequently be analysed, if we wish, in terms of conceptual blending, metaphorical truth, and basic schemas of thought. With this in mind, puppetry, as a physical medium of communication, can key into what is normally lost to us, so that we notice both the normally unremarked and also precarious nature of our selfhood. Hutchins claims that stability amidst cognitive complexity can emerge from material anchors in conceptual blends, objects that extend thinking out into the material world, and the stronger the anchor, the more daring the brain can be in its blending. 78 Puppetry ’ s ‘ conceptual blends ’ and those of our protaganist Moses are, indeed, daring, imaginative, and complex, and the more so, as Hutchins might suggest, because of their anchoring in environmental affordances, materials, and the lived and living body. 131 How to think a puppet Photo 1 (©Blind Summit Theatre 2011. Photo: Nigel Bewley) Photo 2 (©Blind Summit Theatre 2011. Photo: Nigel Bewley) 132 Melissa Trimingham Notes 1 It is not surprising that scholars, while beginning investigations in phenomenology, progress to the insights of cognitive neuroscience: “ Indeed there is a remarkable convergence between the two traditions [of phenomenology and cognitive science] not simply on the topic of intersubjectivity, but on virtually every area of research within cognitive science, as a growing number of scientists and philosophers have discussed ” . Evan Thompson. “ Empathy and Consciousness. ” Between Ourselves, second person issues in the study of consciousness. Ed. Evan Thompson. Thorverton (UK)/ Charlottesville (USA), 2001, 1 - 32, 2. 2 Notable leaders in this field are F. Varela, E. Thompson and E. Rosch. The Embodied mind: cognitive science and human experience. Cambridge, Mass., 1993; Antonio Damasio. Descartes ’ Error: Emotion, Reason and the Human Brain. London, [ 1 1994] 1996 and The Feeling of What Happens; body, motion and the making of consciousness. London, [ 1 1999] 2000; Vittorio Gallese. “ The Shared manifold Hypothesis: From Mirror Neurons to Empathy. ” In Thompson 2001, 33 - 50 and Shaun Gallagher. How the Body Shapes the Mind. Oxford, 2005. 3 Jaak Panksepp. Affective Neuroscience: The Foundations of Human and Animal Emotions. Oxford, 1998, 3. 4 See for example Jonathan A. Lanman. “ How ‘ Natives ’” Don ’ t Think: The Apotheosis of Overinterpretation. ” Religion, Anthropology and Cognitive Science. Ed. Harvey Whitehouse and James Laidlow. Durham, North Carolina, 2007, 105 - 132. Lanman ’ s application of ‘ cognitively costly ’ and ‘ cognitively optimal ’ representations in the mind problematises but by no means resolves what he rightly considers to be overly simple interpretations of Captain Cook ’ s visit to (and death in) Hawaiian Islands in 1779. Photo 3 (©Blind Summit Theatre 2011. Photo: Nigel Bewley) 133 How to think a puppet 5 See for example Shaun Gallagher/ Dan Zahavi. The Phenomenological Mind: an introduction to philosophy of mind and cognitive science. London/ New York, 2008. 6 Whilst there have been recent UK conferences and symposia where neuro-scientists were invited to share a platform with artists we are a long way from artists addressing a room full of neuro-scientists eager to discover what the arts can offer them. These events include “ Kinesthetic Empathy: Concepts and Contexts ” , Manchester April 2010; “ Objects of Emotion ” , Wellcome Collection, London, 2012; “ Affective Science and Performance ” symposium, University of Kent, September 2012; and “ Cognition Kinesthetics and Performance: Interdisciplinary Dialogues ” , Institute of Contemporary Arts, London, September 2012. 7 The stress is on modify, but by no means abandon: see Elizabeth F. Hart. “ Performance, Phenomenology and the Cognitive Turn. ” Performance and Cognition: theatre studies and the cognitive turn. Ed. Bruce McConachie/ Elizabeth Hart London, 2006, 29 - 51. 8 Steve Tillis. Toward an Aesthetics of the Puppet: Puppetry as a Theatrical Art. New York, 1992. In this seminal study of the aesthetics of the puppet Tillis takes a synchronic approach to what is common in the art, builds his own aesthetic of the puppet on the “ ontological paradox ” (66) which he identifies as the ‘ double vision ’ we have when watching puppetrythe oscillation between the illusion of life and the apprehension of an object. 9 See also Penny Francis. Puppetry A Reader in Theatre Practice. Basingstoke, Hampshire, 2012, 49 - 74. 10 He addresses this in 2001: Steve Tillis. “ The Art of Puppetry in an Age of Media Production. ” Puppets Masks and Performing Objects. Ed. John Bell Cambridge, Mass., 172 - 185. 11 Henryk Jurkowski. Aspects of Puppet Theatre. London, [ 1 1983] 1988, 79 - 80. 12 See Paul Piris. The Rise of Manipulacting. The Puppet as a Figure of the Other. Unpublished PhD thesis, Royal Central School of Speech and Drama, 2011, to whom I owe much for identifying the phenomenon of ‘ manipulacting ’ and tracing its history. An example is ‘ Twin Houses ’ by Compagnie Mossoux- Bonté and the work of Neville Tranter, both of whom Piris analyses: and of course Blind Summit which forms the backbone of this article. 13 Vittorio Gallese/ George Lakoff. “ The Brain Concepts: the Role of the Sensory-Motor System in Conceptual Knowledge. ” Cognitive Neuropsychology 22.3 (2005), 45 - 79 and Damasio 2000, 147 f. and 161. 14 See Tillis 1992, 59 - 66 for examples of this. 15 Roman Paska. ‘ Notes on Puppet Primitives and the Future of an Illusion. ’ Quoted in Francis 2012, 138. 16 Henryk Jarkowsky: Aspects of Puppet Theatre. London, 1988, 17. 17 D. Plassard. “ Marionette Oblige: Ethique et Esthétique sur la Scène Contemporaine. ” Théâtre/ Publicla Marionette? Traditions, Croisements, Décloisonnements 193 (2009), 22 - 25. See Piris 2011, 16 f. 18 See Gilles Fauconnier/ Mark Turner. The Way We Think: Conceptual Blending and the Mind ’ s Complexities. New York, 2002, 40 - 50. 19 Fauconnier/ Turner 2002, 40 - 44. Bruce McConachie adapts the broad notion of conceptual blending into embodied experience to explain the phenomenon of the actor. See Bruce McConachie. Engaging Audiences. A Cognitive Approach to Spectating in the Theatre. New York, 2008. 20 Fauconnier/ Turner 2002, 40. 21 Fauconnier/ Turner 2002, 42. 22 E. Hutchins. “ Material Anchors for Conceptual Blends. ” Journal of Pragmatics 37 (2005), 1555 - 1577, esp. 1561. 23 Our sense of our own body is called our ‘ body image ’ . For an explanation of the difference between body schema (which controls our ability to move) and body image (our more or less conscious view of our own body) and a history of the blurring of these terms, see Shaun Gallagher. How the Body Shapes the Mind. Oxford, 2005, 19. 24 Fauconnier/ Turner 2002, 44. 134 Melissa Trimingham 25 George Lakoff/ Mark Johnson. The Embodied Mind and its challenge to Western thought. New York, 1999, 26 - 44. 26 George Lakoff. Women, Fire and Dangerous Things. Chicago, 1987, 34. 27 Lakoff 1987, 51. 28 Alva Noë. Action in Perception. Cambridge, Mass., 2004, 72 f. 29 This sense of kinesthetic empathy in the audience has been explored in relation to dance: see Matthew Reason and Dee Reynolds. ‘ Kinesthesia, Empathy, and Related Pleasures: An Inquiry into Audience Experiences of Watching Dance ’ . Dance Research Journal, 42.2 (2010) 49 - 75. 30 Damasio [1999] 2000, pp.147 - 8. 31 Gallagher does not accept this aspect of Damasio ’ s theory: see Gallagher 2005, p.135. 32 Damasio [1999] 2000, 148. 33 Mark Johnson. The Body in the Mind: The Bodily Basis of Meaning, Imagination and Reason. Chicago/ London, 1987. 34 Lakoff/ Johnson 1999. 35 See Gallagher 2005, 133 - 136, and Aarre Laakso. “ Embodiment and Development in Cognitive Science. ” Cognition Brain and Behavior, XV.4 (2011), 409 - 425. 36 See Jean Mandler. “ How to Build a Baby: 11. Conceptual Primitives. ” Psychological Review 99.4. (1992), 587 - 604. 37 Lakoff/ Johnson 1999, 117. 38 Sinha and Jensen de L ό pez demonstrate the cultural specificity of embodied learning by overlaying a Vygotskian sociocultural perspective on to cognitive linguistic evidence: Zapotec children do not use cups as Western children do as concave containers but rather use them as convex ‘ covers ’ . See Chris Sinha/ Kristine Jensen de L ό pez. “ Language, Culture and the embodiment of spatial cognition. ” Cognitive Linguistics 11.1 - 2 (2001), 17 - 41, esp. 35. 39 Lakoff/ Johnson, 1999, p.117. 40 Damasio 2000, 320 f. 41 James Gibson. The Ecological Approach to Visual Perception. Boston, 1979. 42 See Teemu Paavolainen. “ From Props to Affordances: an Ecological Approach to Theatrical Objects. ” Theatre Symposium 18 (2010), 116 - 134. Since this article was written and submitted, Paavolainen has also published Theatre/ Ecology/ Cognition. Theorising Performer-Object Interaction in Grotowski, Kantor and Meyerhold. New York 2012. 43 J. A. Scott Kelso. Dynamic Patterns. The Self- Organization of Brain and Behavior. Cambridge, Mass. 1995, 189 44 Scott Kelso 1995, 195. 45 See also Noë 2004. Noë is generally supportive of Gibson. 46 Interview conducted with Mark Down at Jackson ’ s Lane Community Centre, London, 2 April 2012. 47 Gibson 1979, 128. 48 Gibson 1979, 132. 49 See p. 5 of this article. 50 Lakoff/ Johnson 1999, 48 - 50. 51 This further suggests a connection between puppet humour and slapstick, and may explain the appeal of both to autistic children. 52 In later versions of this performance such as the “ The Other Seder ” , Jackson ’ s Lane Community Centre, April 2012, details of this interaction changed but the essential observation remains valid. 53 Gallagher 2005, 84. 54 Evan Thompson. “ Empathy and Consciousness ” in Thompson, 2001, 1 - 32 and Gallese 2001, 35 - 39. 55 Thompson 2001, 6 - 20. 56 Thompson 2001, 10 f. 57 Thompson 2001, 9. 58 Gallagher 2005, 1. 59 Gallager/ Zahavi 2008, 135. 60 Thompson 2001. 61 Gallese 2001, 43. 62 Noë 2004, 214; Damasio 2000, 141. 63 Gallagher/ Zahavi 2008, 147. 64 Gallagher/ Zahavi 2008, 148. 65 Neuroscientists have criticised him for this. See Kelso 1995, 194. Similarly Gibson ’ s limitaitons as well as his strengths are highlighted by Roy D. Pea. “ Distributed Intelligence and designs for education. ” Distributed Cognitions: Psychological and Educational Considerations. Ed. Gavriel Salomon. Cambridge, 1993, 47 - 87, especially 51 - 3. 66 Gallagher 2008, 156 - 170. 135 How to think a puppet 67 Gallagher 2008, 157. There is research taking place on our ability to empathise with avatars and CIGs: see for example Hunt, D., Moore, J., West, A., Nitsche, M., “ Puppet Show: Intuitive Puppet Interfaces for Expressive Character Control." Medi@terra 2006, Gaming Realities: A Challenge for Digital Culture, Athens 4 - 8 (October 2006), pp.159 - 167. 68 Panksepp 1998. 69 For Jaak Panksepp, an emotion ‘ is not dependent on sensory inputs. It is an endogenous urge of the brain ’ (Panksepp 1998, 290): chemicals originating from the lower brain levels activate other parts of the brain and he offers hard evidence to support this. Damasio, on the other hand, does not accept this as the origin of emotion. 70 Panksepp 1998, 49. 71 See Mandler 1992. 72 Edwin Hutchins. Cognition in the Wild. Cambridge, Mass./ London, 1995 and Edwin Hutchins. “ Material Anchors for Conceptual Blends. ” Journal of Pragmatics 37 (2005), 1555 - 1577. 73 Evelyn Tribble. Cognition in the Globe: Attention and Memory in Shakespeare ’ s Theatre. Basingstoke 2011. 74 I was privileged to watch Blind Summit in rehearsal adapting “ The Table ” for the performance “ The Last Seder ” at Jackson ’ s Lane Community Centre April 2012. 75 See Chris Sinha. “ Objects in a Storied World: Materiality Normativity, Narrativity. ” Journal of Consciousness Studies 16.6 - 8 (2009), 167 - 190. 76 See earlier note. 77 See Bert O.States. “ The Phenomenological Attitude: ” Critical Theory and Performance. Ed. Janelle Reinelt/ Joseph R. Roach. Ann Arbor 1992, 369 - 379, esp.370. 78 Hutchins 2005, 1562; see also Pea, in: Salomon1993, 64 f. and 76 f. 136 Melissa Trimingham Das Theater der Hunderttausend historisieren Evelyn Annuß (Bochum) Re-enactments haben Konjunktur in der zeitgenössischen Theater-, Performance- und Videokunst - von Marina Abramovic über Omer Fast bis zu Gob Squad, Milo Rau oder Wael Shawky. 1 Dabei offenbaren jene Reinszenierungen, die sich ihrer Lesbarkeit als “ verkörperte Vergegenwärtigungen vergangener Ereignisse ” 2 widersetzen, den Akt der Nachals Entstellung und machen so unseren Begriff von Geschichte reflektierbar. Das gilt auch und gerade für das performative Zitieren chorischer Aufführungen, die sozusagen naturgemäß auf nichtdramatische Darstellungsregister setzen und das Moment ästhetischer Vergemeinschaftung untersuchen. 3 Hier nämlich korrespondiert die reflexive Potenz des Zitierens, die Transposition in der Wiederholung, mit jener der chorischen Darstellung, die den Akt der Figuration im konstitutiven Fehlgehen kollektiven Verkörperns exponiert. Das zeigt sich am Nachleben einer Massenchoreografie aus dem Jahr 1936. Das Hamburger Performancelabel Ligna zitiert sie zunächst in Leipzig (2010) auf der grünen Wiese und später in Hellerau (2012) unter dem Titel Die Unterbrechung noch einmal herbei. 4 Diese Re-performance eröffnet den Ausblick auf die arbiträre Formgeschichte der Chorfigur im Nationalsozialismus. Darin wiederum ist sie einer aktuellen Diskursverschiebung verwandt, die die Tragfähigkeit Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 137 - 152. Gunter Narr Verlag Tübingen Abb. 1: Die Unterbrechung (Ligna, Richard-Wagner-Hain, play! Leipzig Festival 2010, © Marcel Ruge) unserer Vorstellung von einer klar bestimm- und umgrenzbaren ‘ faschistischen Ästhetik ’ 5 als Komplement nationalsozialistischer Gewaltherrschaft aus unterschiedlicher Perspektivik befragt: Untersucht die zeitgenössische kulturhistorische Forschung etwa die Präfiguration von Nazi-Masseninszenierungen in republikanischen Feiern und schenkt der Ästhetik der Zwischenkriegszeit jenseits totalitarismustheoretischer Verkürzungen neue Aufmerksamkeit, so wird zugleich der Topos des Undarstellbaren als Kehrseite nationalsozialistischer Selbstpräsentation revidiert; zudem wird von Seiten der Philosophie dasjenige, was als genuin faschistische “ Ästhetisierung der Politik ” 6 firmiert, einer erneuten Lektüre unterzogen, die das Moment der Anästhetisierung, der Verstellung, des Inszenierungscharakters von moderner Repräsentationspolitik akzentuiert. Vor diesem Hintergrund zielt der folgende, von Lignas Unterbrechung ausgehende Vorschlag darauf, erstens der massentheatralen Inszenierung des Phantasmas ‘ Volksgemeinschaft ’ den Anstrich monolithischer Singularität wie Statik zu nehmen und zweitens auch und gerade im Hinblick auf den Nationalsozialismus für einen reflexiven Begriff von Theaterhistoriografie zu plädieren, der um die eigene Arbitrarität und Nachträglichkeit weiß und damit zugleich die Frage der Rezeptionspraxis aufwirft. 7 1. Nachals Entstellung Lignas ‘ Radioballett ’ 8 Die Unterbrechung ruft die bewegungschorische Arbeit Rudolf von Labans ins Gedächtnis. Neben der Mannheimer Inszenierung Alltag und Fest aus dem Jahr 1929 wird die Massenchoreografie Vom Tauwind und der neuen Freude zitiert, die 1936 ‘ Volkwerdung ’ in getanzter Form repräsentieren soll: Nach einjähriger Probenphase wird Labans Arbeit im Vorfeld der Olympischen Spiele versuchsweise auf der Dietrich-Eckart-Bühne - der heutigen Berliner Waldbühne - aufgeführt. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels allerdings lässt dieses von über 1.000 Laien aus 30 Städten getanzte sogenannte Weihespiel nach seinem Besuch der Generalprobe kurzfristig aus dem offiziellen Rahmenprogramm der Olympischen Spiele streichen. 9 Labans Versuch, den Ausdruckstanz den Nazis anzudienen, scheitert also Mitte der 1930er Jahre. So zeugt er bereits vom komplizierten Verhältnis zwischen kollektiven Darstellungsformen und ihrer nationalsozialistischen Instrumentalisierung. Daran erinnert Die Unterbrechung, indem das Re-enactment Vom Tauwind und der neuen Freude mit Alltag und Fest verschränkt. Die Aktion funktioniert als eine audiomedial gesteuerte, flashmobähnliche Nachstellung im öffentlichen Raum. Hierbei bringt die Re-performance durch ein zufällig zusammengewürfeltes Publikum die überlieferten Fotos wieder zum Tanzen und fragt darüber nach den Zäsuren und Kontinuitäten in der Geschichte des Ausdruckstanzes. Unterbrochen von dialogischen Kommentaren, die das Nachgestellte von unterschiedlichen Positionen aus reflektieren, werden über Mp3-Player allen Interessierten, in Teilchöre unterteilt, die jeweiligen Bewegungsanweisungen gegeben. Die von Laban anvisierte chorische Vermittlung von Kollektivität im Medium geteilter Gesten ist in der technisch fortgesetzten Übertragung des Zitierten als fremdbestimmter Akt markiert. Und natürlich ist die gestische ‘ Gleichschaltung ’ der Körper in dieser Konstellation zum Scheitern verurteilt; die Synchronisation der Bewegungen geht - dem Kalkül der Versuchsanordnung entsprechend - fehl. Im Zitat unterläuft das Geschehen den labanschen Einsatz der Körper, der 1936 völkische Vergemeinschaftung vor Augen stellen soll und lässt zugleich nach dem Verhältnis von bewegungschorischer Formation und faschistischer Repräsentation fragen. 138 Evelyn Annuß In der von Ligna entworfenen Re-performance fehlt der szenische Rahmen der Massenchoreografie. Während die technische Vermittlung der Bewegungsanweisungen für Distanz zwischen den Mitspielenden sorgt, wird die Trennung von Darstellenden und Zuschauenden aufgehoben. Damit löst die Aktion auf den ersten Blick das partizipatorische Versprechen der Chorfigur ein, das auch deren volksgemeinschaftlicher Mobilisierung in der ersten Hälfte der 1930er Jahre unterliegt. 10 Zugleich aber lässt sie gerade dadurch den Chor im Sinne einer geschlossenen Kollektivfigur in seine Bestandteile zerfallen. Die Re-performance funktioniert als gestisch vermitteltes undoing der phantasmatischen Figur einer naturwüchsigen, gewissermaßen aus der Landschaft kommenden und sich in einem Rhythmus bewegenden Volksgemeinschaft, als deren Ausdruck Labans 1936er Massenchoreografie bis zu Goebbels ’ Intervention verkauft werden soll. 11 Denn genau dieses undoing im gestischen Zitat exponiert den Charakter kollektiven Gemachtseins der Figur. So ist die Repräsentationsfunktion der Körper im Nachvollzug unterbrochen. Von Ligna wird das Phantasma ‘ Volksgemeinschaft ’ , als deren leibhaftiger Referent der Bewegungschor 1936 erscheinen soll, im auditiv vermittelten Mitspielen als Effekt szenischer Figuration erfahrbar gemacht beziehungsweise für Passantinnen und Passanten als merkwürdige Störung im öffentlichen Abb. 2: Vom Tauwind und der neuen Freude (Probe), Rudolf von Laban, Dietrich-Eckart-Bühne, Berlin 1936, © Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln 139 Das Theater der Hunderttausend historisieren Raum zu sehen gegeben. Durch dieses doppelte Unterbrechen gestisch dargestellter Vergemeinschaftung verweist Lignas Laban-Zitat auf die Frage nach der Medialität ebenso wie nach der Formspezifik von Massendarstellungen im Nationalsozialismus und eröffnet die Einsicht in die reflexive Potenz des theatralen Chors. Im Freilufttheater der Nazis hingegen wird der Chor bis zu jenem Jahr, in dem auch Laban scheitert, zunächst imaginiert, als ob der Auftritt der Massen die Ineinssetzung von Kollektivfigur und Publikum in einer geschlossenen Gestalt erlaubte; das gilt nicht nur für bewegungschorische Auftrittsformen, die in der Tradition des Ausdruckstanzes stehen, sondern auch und gerade für sprechchorische Spielarten des Massentheaters, die an die Weimarer ‘ Kampfzeit ’ erinnern. Doch möglicherweise zeugt das frühe Scheitern szenischer Vergemeinschaftung in diesen beiden Varianten nationalsozialistischen Chortheaters von heute aus betrachtet noch von jener Potenz, die Lignas entstellende Nachbearbeitung evoziert. 12 In diesem Sinn gilt es, die Geschichte des nationalsozialistischen Massentheaters einer Revision zu unterziehen. 2. “ Theater der Hunderttausend ” Wer wagt zu bezweifeln, daß es in Deutschland einmal ein Theater der Hunderttausend geben könne, daß einmal kulturelle Schöpfungen aus diesen gärenden Vulkanen herausquellen, die so überwältigend sind, daß sie das ganze Volk in Bann halten, daß sich das große athenische Beispiel bei uns einmal wiederholt, daß das Volk nicht nur zum Kampfe der Wagen, sondern auch zum Kampfe der Gesänge wieder hinpilgert, daß wirklich wieder eine Millionenmasse aufsteht, um diese Kunst zu seinem inneren Gesetz zu machen. 13 Am 8. Mai 1933, einen Monat nach Erlass des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, mit dem die Ausschlusspolitik der Nazis rechtlich abgesichert und ein so genannter ‘ Arierparagraph ’ eingeführt wird, hält Goebbels vor 350 Theaterleuten diese programmatische Rede im Berliner Kaiserhof. 14 Implizit Max Reinhardts Ruf nach einem “ Theater der Fünftausend ” 15 überbietend hat er bereits ein Millionenpublikum im Auge, ohne sich zu formalen Gesichtspunkten näher zu äußern. Das nationalsozialistische Theater der Zukunft wird zunächst einmal als Massenmedium für die ‘ Volksgenossinnen ’ und ‘ Volksgenossen ’ begriffen. Von Ministerialrat Otto Laubinger, Leiter der Abteilung Theater im Reichspropagandaministerium und Präsident des Reichsbundes der Deutschen Freilicht- und Volksschauspiele e. V., in dem alle Open-Air- Bühnen ab Juli 1933 gleichgeschaltet sind 16 , wird dieselbe Rede zwei Monate später entsprechend noch einmal zitiert: Wir Nationalsozialisten werden Volk und Bühne wieder zusammenbringen, wir werden das Theater der Fünfzig- und der Hunderttausend schaffen, wir werden auch den letzten Volksgenossen in den Bann der dramatischen Kunst ziehen und ihn durch sie immer von neuem für die grossen Gegenstände unseres völkischen Lebens begeistern. 17 Bereits 1933 experimentiert man mit ersten Stadionspielen, die als eine Art nationalsozialistisches Aufmarschtheater im Freien funktionieren. Im Januar 1934 träumt Laubinger schließlich exemplarisch von einem Berliner “ Bilderbogen aus der märkischen Geschichte in grossen Massenszenen ” 18 . Der von Laubinger evozierte Bilderbogen soll auf einer “ Kultstätte für den Sonntag ” 19 , einem Platz für mindestens 5.000 Personen, aufgeführt werden. Ziel ist die Popularisierung eines genuin nationalsozialistischen Theaters als Festspiel zum Zweck der Volks-Bildung - und zwar im doppelten Sinn von Unterrichtung und Vergemein- 140 Evelyn Annuß schaftung. Laubinger fordert eine “ Volksschule des Theaters ” : Wir werden nicht ruhen und nicht rasten, bis der Auftrag des Führers, den letzten Volksgenossen auch durch das künstlerische Erlebnis in die Volksgemeinschaft einzugliedern, erfüllt ist. Wir wollen diese geistige Eingliederung bewirken, indem wir gewissermassen die Volksschule des Theaters schaffen, die Theaterform, die in ihrem Inhalt und in ihren Darbietungen auch dem letzten unserer Volksgenossen verständlich ist und die an Orten dargeboten wird, die ihm nicht fremd sind, sondern vertraut und heilig, und zu denen es ihn hinzieht, zu denen er gern kommt, wenn der Ruf an ihn ergeht. 20 Reichsweit soll ein chorisches Paralleltheater im Freien geschaffen werden - an Orten, an denen die Schwellenangst gegenüber dem Guckkastentheater als bürgerlicher Bildungsanstalt noch für “ den letzten Volksgenossen ” , wie es immer wieder heißt, überwindbar wird. 21 Man initiiert ein gigantisches, vom Arbeitsdienst getragenes Programm zum Bau so genannter ‘ Thingstätten ’ , deren Name die rhetorische Brücke zum zeitgenössischen Bild germanischer Vergangenheit ist. Dabei handelt es sich um Amphitheater für bis zu 20.000 Zuschauer, die zugleich für kultische Weihespiele und Aufmärsche genutzt werden und zu denen architekturgeschichtlich auch die von Laban bespielte Dietrich-Eckart-Bühne auf dem Berliner Olympiaareal zählt. Der Weg weist also zunächst Vom Stadionzum Thingspiel, wie es Gustav Goes, Autor des ersten repräsentativen Stadionspiels, das im Nationalsozialismus aufgeführt wird, 1935 rückblickend formuliert. 22 An besonderen Orten und zu besonderen Anlässen sollen ab 1934 im Rahmen völkischer Festspiele die Protagonisten von Berufsschauspielern, die Figur Volk wiederum von Laien verkörpert werden. Man will - und in diesem Zusammenhang ist auch Labans von Ligna zitierter bewegungschorischer Versuch zu sehen - mit Hilfe der Kunst die Heimatals Erlebnisgemeinschaft herstellen. Hierbei setzt die Thingbewegung im Unterschied zu Laban vor allem auf die kollektive Dramatisierung der Figur Volksgemeinschaft. Die politische Funktion der bereits seit Sommer 1933 offiziell so genannten Thingspiele 23 besteht in der performativen Eingliederung breiter, als arisch definierter Bevölkerungsschichten in die Figur Volksgemeinschaft mit Hilfe des Sprechtheaters; “ durch das künstlerische Erlebnis ” , also durch die fiktionale Form, soll in diesem Rahmen vom chorischen Auftritt auf das Publikum ausstrahlend ideologische Bindungsenergie produziert werden. Die mit Hannah Arendt gesprochen ohnehin “ fiktive Welt der Bewegung ” 24 , wird gewissermaßen massentheatral verdoppelt. Nun verabschiedet man sich von dem Programm allen vollmundigen Proklamationen zum Trotz Mitte der 1930er Jahre ebenso wie von Labans getanztem Gemeinschaftskult. Der Thingbegriff wird bereits im Herbst 1935 per Verordnung ad acta gelegt. 25 Vor allem aber wird die Darstellung der Figur Volk im Sprechtheater um ihr zentrales Mittel gebracht. Im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 1936 lässt Goebbels nicht nur die labansche Massenchoreografie, sondern zuvor bereits den Einsatz von Sprechchören untersagen. 26 Damit allerdings ist weder die Geschichte des nationalsozialistischen Massentheaters noch seiner chorischen Form zu Ende. Es handelt sich vielmehr um eine Art Scheidungsfall, an dem sich die Notwendigkeit einer Formgeschichte nationalsozialistischer Inszenierungen zeigt. 3. Formwandel Auf den ersten Blick scheint sich Laubingers Vision einer faschistischen Volksschule des Theaters postum - er stirbt im Oktober 1935 141 Das Theater der Hunderttausend historisieren - im Olympiastadion 1937 zu erfüllen. Vor 100.000 Zuschauerinnen und Zuschauern wird ein märkischer Bilderbogen in Massenszenen uraufgeführt: Berlin in sieben Jahrhunderten deutscher Geschichte heißt das bewegungschorische Festspiel mit insgesamt 10.000 Darstellerinnen und Darstellern unter der Regie von Hanns Niedecken-Gebhard, das Goebbels ’ Überbietungsprogramm des reinhardtschen Massentheaters einlöst. 27 Es handelt sich um den Höhepunkt der 700- Jahr-Feier in der damaligen Reichshauptstadt. 28 In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre werden Ortsjubiläen im Gegensatz zu kultischen Weihespielen und auch vielen Festen des nationalsozialistischen Feierkalenders zunehmend populär. Als Regierungssitz und Spielort der vorjährigen Olympischen Sommerspiele kommt der Reichshauptstadt im Jubiläumsjahr zudem zentrale repräsentative Bedeutung zu. Gerade das Finale des postolympischen Berliner Bilderbogens zur 700-Jahrfeier, das weder dramatische Handlung noch Sprechchor kennt und stattdessen die Massenszenen mit der Verlautbarung von Zitaten berühmter Dichter und Denker samt Hitlers Reichsparteitagsreden untermalt, liefert den Ausblick auf das Fortleben des nationalsozialistischen Massentheaters nach dem Ende seiner explizit kultischen Spielformen im Zusammenhang mit Ausdruckstanz und Thingspiel. Während zu Marschmusik die am Festspiel beteiligten Abordnungen des Reichsarbeitsdienstes, aller Gliederungen der NSDAP und der Wehrmacht einrücken und zusammen mit 2.000 Schulkindern schließlich die Spielfläche rahmen, bilden 1.500 weiß gekleidete Mädchen, ihre Körper wie in einer Revue schlagartig krümmend, unter einem aus Flakscheinwerfern erzeugten Lichtdom das Hoheitszeichen des Reichs: ein von Eichenkranz umgebenes Haken- Abb. 3: Berlin in sieben Jahrhunderten (Schlussbild), Hanns Niedecken-Gebhard, Olympiastadion, Berlin 1937, © Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln 142 Evelyn Annuß kreuz, darüber ein Adler mit geöffneten Flügeln und nach rechts gewendetem Kopf. 29 Mit einem lebenden Hakenkreuz also endet Berlin in sieben Jahrhunderten deutscher Geschichte. Das neue Deutschland ist diese Schlüsselszene betitelt. Sie gerät zu Niedecken-Gebhards Markenzeichen: 1939 wird sie im Münchner Stadion anlässlich des Festspiels Triumph des Lebens zum Tag der deutschen Kunst von ihm entsprechend erfolgreich recycelt. Sie löst in einer von Laubinger so nicht antizipierten Weise die Forderung nach einer Form des Massentheaters ein, die für alle verständlich ist; zugleich präfiguriert sie die fortschreitende Ornamentalisierung der Massen im Nationalsozialismus, die sich etwa am drehenden Hakenkreuz aus Fackelträgern anlässlich der 1938 zentralisierten Sonnwendfeier im Berliner Olympiastadion zeigt und gemeinhin undatiert in heutige Dokumentationen über den Nationalsozialismus eingeht. Der Auftritt der Figur Volk, Charakteristikum des Thingspiels und der labanschen Massenchoreografie, wird in die bewegungschorische Präsentation eines Herrschaftssymbols verwandelt und damit das Dargestellte von der vermeintlich unmittelbaren Referenz auf seine Träger abgelöst. Von heute aus betrachtet kann das lebendige Hoheitszeichen nicht bloß als ein politisches Symbol gelesen werden. Als stummes Ornament wie eine Art Label von Tausenden in Szene gesetzt, allegorisiert es vielmehr den Wendepunkt einer nationalsozialistischen Ästhetisierung der Massen in der Vorkriegszeit. Zwar gibt es bereits seit der Machtergreifung nicht nur große Aufmärsche, sondern auch kleine Hakenkreuzformationen. Dokumentiert sind beispielsweise Fotos von etwa hundert Polizisten, die schon 1933 während einer Probe für ein Fest im Berliner Sportpalast eine Swastika bilden. In seiner Artifizialität und Monumentalität aber überbietet Niedecken- Gebhards Bewegungschor diese kleineren Ornamente ebenso wie die in seinem Festspiel nur mehr als Rahmen fungierende militaristische Aufmarschpraxis der Parteigliederungen, die Inszenierung sogenannter Marschsäulen. Niedecken-Gebhards durchaus an den bewegungschorischen Experimenten des Ausdruckstanzes geschulte Massenchoreografie 30 setzt hier die noch mit dem Thingspiel verknüpften Vorstellungen vom einfachen Mitmarschieren der organisierten ‘ Volksgenossen ’ zur Demonstration gemeinschaftlicher agency außer Kraft. Entsprechend sind Darstellende und Publikum anders als in den frühen Thingversuchen, in denen das Volk vom Chor zum Teil mit dem Rücken zu den Zuschauern stehend 31 repräsentiert wird und damit als Vermittlungsglied zwischen Szene und Theatron fungiert, wieder klar voneinander getrennt. Im nationalsozialistischen Festspiel Niedecken-Gebhards kommt der ins Monumentalistische gesteigerten Formierung der Körper zum abstrakten Label eine neue Funktion zu: Das ornamentale Spektakel löst die Dramatisierung der Kollektivpersona Volksgemeinschaft ab. Im Rahmen eines profanierten Stadionspiels, das in der Raumfrage scheinbar wieder hinter die Thingversuche zurückgeht und damit erst die Möglichkeit eines Theaters der Hunderttausend schafft, wird der politische Aufmarsch ins ‘ schwergewichtige Zeichen ’ übersetzt. Hier nun wird dem Chor mit der volksgemeinschaftlichen Repräsentationsfunktion auch jenes Reflexionspotenzial entzogen, das sich gerade im Scheitern der Synchronisation von Stimmen und Bewegungen der inszenierten Volksgemeinschaft zeigt. Denn Niedecken-Gebhards Hoheitszeichen reduziert den einzelnen Körper im Bewegungschor auf ein nur mehr optisches Darstellungsmittel. Das Schlussbild offenbart also den Form- und Funktionswechsel jener Massenchöre, die das Bestimmungsmoment der von Laubinger geforderten “ Volksschule des Theaters ” sind. 143 Das Theater der Hunderttausend historisieren Hier aber kommt das nationalsozialistische Freilufttheater bei einer Inszenierungsform an, die jener von Walter Benjamin so genannten “ Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt ” 32 , im Ansatz bereits vorausgeht. Siegfried Kracauer hat diese Darstellungsform mit Blick auf die Sternbilder in weltweit aufgeführten Stadioninszenierungen in den 1920er Jahren als “ rationale Leerform des Kultes ” 33 bezeichnet. Inwiefern lässt sich dieser Wandel als bestimmte Reaktionsbildung sowohl auf das Formproblem des Chors als auch auf die zeitgenössische massenmediale Entwicklung lesen? 4. Massentheater und -medien In der Frühphase des NS-Theaters dienen die Sprechchöre dazu, Volkes Stimme auch rhetorisch ein Gesicht zu verleihen. Die Vorstellung von der kollektiv ratifizierten Resonanz der protagonistischen Rede in politischen Massenveranstaltungen wird zunächst auf den theatralen Kontext übertragen und so die Hintergrundfigur Volk im fiktionalen Rahmen selbst zum Handlungsträger gemacht. Die Suche nach einer nationalsozialistischen Form des Freilufttheaters ist dabei entsprechend von Beginn an maßgeblich von der medialen Entwicklung und den neuen technischen Verbreitungsmöglichkeiten volksgemeinschaftlicher Propaganda bestimmt. 34 Immerhin geht es um eine Form des Theaters, die - als Massenmedium begriffen - noch ‘ den letzten Volksgenossen ’ eingemeinden soll. Der Sprechchor zielt auf die akustisch vermittelte Einstimmung des Publikums. Wenn nun zwei Jahre später diese tragende Säule der Thingkonzeption über den Haufen geworfen wird, deutet sich darin nicht nur die von Hitler im Rahmen seiner Kulturrede auf dem Reichsparteitag von 1938 formulierte Abkehr vom Kult an. 35 Vielmehr trennt man das Festspiel von der sprechchorischen Darstellung der Volksgemeinschaft. Ab 1936 nämlich bleibt der Sprechchor weitgehend den Reichsparteitagen vorbehalten. Das Theater der Hunderttausend findet hier gewissermaßen beim Nürnberger Appell statt. 36 Dort wird der Sprechchor - mit dem neuen Instrument des Lichtdoms wirkungsästhetisch potenziert - in der Inszenierung des Gelöbnisses einzelner Parteifraktionen eingesetzt. 37 Retrospektiv zeigt sich an dieser Scheidungsgeschichte von Sprechchor und nationalsozialistischem Theater nun möglicherweise, welches Problem, das Reflexionspotenzial des Chors im Rahmen einer offenkundig fiktionalisierten Aufführung mit sich bringt: Über den ausgestellten Fiktionscharakter der Inszenierung nämlich wird das doing Volksgemeinschaft, umso deutlicher, sobald das Publikum bereits politisch eingemeindet ist. So eröffnet in dem Moment, in dem sich nach der ersten Experimentierphase mit der Chorfigur, der Machtbefestitung des Staatsapparats und dem zunehmenden Ritualisieren der Parteiinszenierung die Abkehr vom kultischen Massentheater durchzusetzen scheint, die Entwicklung der damals neuen Medien den Ausblick auf andere, zeitgemäßere Varianten. Der daraus resultierende Formwandel greift letztlich auf Bewährtes zurück. Er befreit die chorische Darstellung vom Kultischen und der Kampfzeitästhetik des Thingspiels. Nicht nur “ Kaders von Hunderttausenden lassen sich von der Vogelperspektive aus am besten erfassen ” 38 , wie Benjamin es mit Blick auf die Reichsparteitage formuliert, sondern auch jenes Ornament der Massen, das der vermeintlich unmittelbaren Referenz auf die Volksfigur nicht mehr bedarf. Das chorische Massentheater verlangt Mitte der 1930er Jahre nach einer Raumlösung, die das Spektakel von allen Seiten in gleicher Weise einsehbar macht: 144 Evelyn Annuß Unsere ‘ Bühne ’ ist nicht erhöht vor dem Zuschauer errichtet, sondern liegt tief unten auf grüner Rasenfläche weit ausgedehnt. Aus der ‘ Vogelperspektive ’ betrachtet der Zuschauer alles Geschehen 39 . Im Programmheft zur Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele beschreibt Niedecken- Gebhard so seine chorische Gesamtgestaltung von Carl Diems Festspiel “ Olympische Jugend ” im Stadion. 1936 skizziert er eine Strukturierung des Blicks, die offenkundig in Anlehnung an die Möglichkeiten des Kinos gedacht ist. 40 Und so findet sich hier bereits eine Massenchoreografie des Olympiazeichens, auf die die späteren ausgetüftelteren stagings des Nazi-Labels zurückgehen. Das lebende Hoheitszeichen samt Lichtdom ist Fortentwicklung der Stadioninszenierung von 1936, die unter anderem die Eröffnungsfeierlichkeiten der Olympischen Spiele bis heute formal bestimmt und auf ein neues Blickregime verweist. Uwe-Karsten Ketelsen weist bereits auf den Stellenwert der zeitgenössischen Massenmedien für Gustav Goes ’ Inszenierungsvorstellung von 1932 hin: Sein Stadionspiel Aufbricht Deutschland! denkt Goes sozusagen als “ Radio und Stummfilm ” 41 in einem, weil hier die Spielenden die von anderswo gesendeten Reden und Gesänge im Stadion nur bewegungschorisch begleiten sollen. Die Bildung des stummen Hoheitszeichens am Ende von Berlin in sieben Jahrhunderten deutscher Geschichte, das 1937 den Aufmarsch der Figur Volksgemeinschaft ins Ornament transponiert, wird nun in verwandt erscheinender Weise durch einen auf der Marathontreppe platzierten Sprecher, der auch aus den Reden des ‘ Führers ’ zitiert, vorbereitet und dann von Marschmusik begleitet. Nachdem man schließlich den Lichtdom aufgeblendet hat, sind Böllerschüsse, die Nationalhymnen und läutende Glocken zu hören. Auch hier also sind Bild und Ton voneinander getrennt. Bei Niedecken-Gebhard allerdings wird diese Trennung der Elemente im Zusammenhang inzwischen veränderter Wahrnehmungsmuster lesbar: 1936 liegt mit der erfolgten Einrichtung von Fernsehstuben, vor allem aber mit der ihr nur wenige Jahre zuvor vorangegangenen Etablierung des Tonfilms und der durch den Sound ermöglichten Rhythmisierung der Bilder ein Paradigmenwechsel szenischen Denkens in der Luft, der eine andere Raumlösung als das Thingtheater impliziert. 42 Diese Umbruchphase bringt auch und gerade die Einsicht in die propagandistischen Möglichkeiten ornamentaler Masseninszenierungen mit sich, die ‘ das Volk ’ gewissermaßen von der Bühne vertreiben. Kracauer liest die Reichsparteitage bereits als Aftereffekte filmischer Massendarstellungen. 43 In der Tat finden sich geometrisch angeordnete Figurengruppen und crowd scenes aus der Vogelperspektive schon in den 1920er Jahren - etwa in Fritz Langs Nibelungen (1924) oder Sergej Eisensteins Oktober (1927). Schließlich werden sie von den nationalsozialistischen Auftragsarbeiten Leni Riefenstahls zitiert, deren spezifischer Einsatz es ist, bestehende innovative Perspektivführungen technisch aufgerüstet zu perfektionieren und in den so genannten Dokumentarfilm einzuspeisen. Darüber hinaus aber entsteht in Hollywood zu Beginn der 1930er Jahre ein neues Genre: die Filmrevue. Sie hält nicht einfach die Broadwayspektakel auf Zelluloid fest, sondern experimentiert mit Aufnahmetechniken, die den Wandel szenischen Denkens maßgeblich mitbestimmen, die crowd scenes aus einem neuen Blickwinkel zeigen und sie entsprechend ins labelartige Ornament übertragen. Dieser neue Blickwinkel hallt in Niedecken- Gebhards zitierten Überlegungen und den ab 1936 von ihm orchestrierten Inszenierungen nach. “ In its cynical belief that it offered people what they wanted, Nazi mass culture emulated and replicated American patterns of 145 Das Theater der Hunderttausend historisieren recognition ” 44 , befindet bereits Eric Rentschler in The Ministry of Illusion (1996). Das gilt auch und gerade für die Filmrevue. Es sind weniger die von Fritz Lang vogelperspektivisch inszenierten Nibelungen, die Kracauer als Vorlage für die Reichsparteitage interpretiert, als die Top shots Busby Berkeleys von bis dahin aus diesem Winkel nicht gesehenen lebenden Ornamenten, die einen Paradigmenwechsel in der Betrachtung der theatral inszenierten Massen einläuten. Am Beispiel der von Berkeley choreografierten Revueszene Shanghai Lil aus dem Backstage- Film Footlight Parade von 1933 wird die Schnittstelle zur politisch-propagandistischen Inszenierung am sinnfälligsten: Darin formieren sich die direkt von oben aufgenommenen Tanzenden zunächst zu einem Adler, in diesem Fall dem Hoheitszeichen der USA; schließlich bilden sie aus von den einzelnen hochgehaltenen Puzzleteilen das Gesicht Präsident Roosevelts. Nicht zuletzt dank derartiger Top shots, so möchte ich vorschlagen, rückt der Ausblick auf die Möglichkeiten eines spektakulären Branding auch im nationalsozialistischen Massentheater an die Stelle der permanenten Reinszenierung der Volksfigur. Es ließe sich mithin behaupten, dass die Revuefilme Hollywoods unbeabsichtigt auch zum Formwandel des nationalsozialistischen Massentheaters und schließlich der Parteiinszenierungen beitragen. 45 Gerade Niedecken-Gebhards Arbeit mag von dieser Reperspektivierung des musikalisch begleiteten Massenornaments geprägt sein: Da er schon in den 1920er Jahren mit Bewegungschören arbeitet und sich mit seinen am Ausdruckstanz orientierten Choreografien von Händeloratorien einen Namen Abb. 4: Shanghai Lil, Busby Berkeley, Szenenfoto aus Footlight Parade, 1933 146 Evelyn Annuß macht, hat gerade Niedecken-Gebhard ein gesteigertes Interesse an Tanzszenen. Von 1931 bis 1933, in jener Zeit also, in der die Filmrevue mit dem Broadway zu konkurrieren beginnt, ist er an der New Yorker Metropolitan Opera als Regisseur tätig. Nach der Machtergreifung nimmt er im Unterschied zu vielen seiner Kollegen den umgekehrten Weg über den Atlantik, engagiert sich zunächst als Regisseur eines Laienspiels in der Provinz, um dann seine Karriere als Thingspielleiter zu starten. Nachdem seine geplante Modell-Inszenierung von Euringers Deutsche Passion 1933 zum Fiasko gerät, weil der Heidelberger Thingplatz nicht rechtzeitig fertig gestellt werden kann, konzentriert sich Niedecken-Gebhard nicht länger auf sprechchorische Inszenierungsformen, sondern auf das, was er schon in den 1920er Jahren seinen ‘ tänzerischen Stil ’ 46 nennt. Dieser wird nun sportlich modernisiert und zur bewegungschorischen Formierung der Massen jenseits ihrer kultischen Kostümierung eingesetzt. Damit trifft Niedecken-Gebhard schließlich den Nerv der Zeit. 47 Neben weiterhin stattfindenden, auch nach 1936 offenkundig ausdruckstänzerisch beeinflussten Aufführungen von Händel- Oratorien inszeniert er nun Stadionspiele, deren räumliche Bedingungen dank der von allen Seiten einsehbaren Spielfläche anders als das Thing mit dem neuen Blickwinkel des Revuefilms korrespondieren. So trägt Niedecken-Gebhard maßgeblich zum Formwandel des nationalsozialistischen Massentheaters bei. Diese von ihm geprägte Variante des Freilufttheaters vor dem Zweiten Weltkrieg lebt im Gegensatz zum Thingspiel unter veränderten politischen Vorzeichen nach 1945 fort - nicht nur in den Eröffnungsfeiern der Olympischen Spiele. In den 1950er Jahren legt Niedecken-Gebhard einen wortlautlich weitgehend mit 1937 identischen, nur kleineren und ideologisch modifizierten Entwurf für ein Festspiel anlässlich des Kölner Stadtjubiläums vor. Das Schlussbild, das Kölner Wappen, soll nun von 350 Schulkindern gebildet werden. 48 Am Beispiel Niedecken-Gebhards wird das nationalsozialistische Massentheater nach dem Thing als Vorreiter moderner Marketingstrategien lesbar - freilich jener Wirkmacht entkleidet, die ihnen das NS-Regime und auch dessen Rezeption oftmals zuschreibt. 49 5. Historisierung An den Arbeiten Labans und Niedecken- Gebhards zeigt sich, dass es der differenzierenden Historisierung zeitgenössischer kollektiver Darstellungsformen bedarf; von heute aus gilt es, den Ausblick auf den Formwandel und das je spezifische Vorwie Fortleben der Chorfigur zu schärfen, den die von den Nazis bereits in Anspruch genommene Marke ‘ faschistische Ästhetik ’ geradezu verstellt. Nun institutionalisiert sich die deutsche Theaterwissenschaft nach ihrer Begründung durch den im Kontext des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 1933 entlassenen Max Herrmann als eigenständiges Fach überregional erst im Nationalsozialismus. 50 Diese Prägung trägt möglicherweise mit dazu bei, dass sie in weiten Teilen lange Zeit jenem dem 19. Jahrhundert entstammenden Historismus verpflichtet bleibt, den maßgebliche Fraktionen im Nationalsozialismus volksgemeinschaftlich propagieren. Dass sich jedoch auch ein anderer Begriff von Geschichte denken lässt, führt Benjamin als Zeitgenosse in Reaktion auf den Mythos von der Ewigkeit nationalsozialistischer Herrschaft bereits vor. In seinem letzten, im Exil entstandenen Text Über den Begriff der Geschichte stellt er dem vermeintlich unvergänglichen “ Bild der Vergangenheit ” 51 , das der Historismus zeichnet, einen Begriff von Geschichte entgegen, der diese als von der Gegenwart aus zitierte begreift. Wenn man Benjamins Absage an 147 Das Theater der Hunderttausend historisieren die Rekonstruktionsversprechen historistischer Forschung folgt, ist Theatergeschichtsschreibung nicht ohne Selbstverständigung über den eigenen Standort in angemessener Weise zu denken. Die Einsicht, dass wir die Vergangenheit aus der Gegenwart heraus - aus dem Zusammenspiel von Archivlage, heutigen Wahrnehmungsmodi, entsprechender Forschungsperspektive und Form der Darstellung - neu erfinden, wäre Benjamin Rechnung tragend gerade im Umgang mit dem von der NS-Propaganda als Volksschule begriffenen ‘ Theater der Hunderttausend ’ ins Gedächtnis zu rufen. Einen Anstoß hierzu gibt das eingangs genannte Re-enactment von Ligna, das durch die Verwendung neuer Medien hindurch den Ausblick auf das Reflexionspotenzial des Chores und die Möglichkeit eines nachträglichen undoing der volksgemeinschaftlichen Figur eröffnet. So geraten Aktionen wie Die Unterbrechung, die mit Benjamin korrespondierend Nachstellung als Entstellung begreifen, zu einer Art historiografischer pre-school for critical performance studies. Anmerkungen 1 Vgl. Roselt, Jens/ Otto, Ulf, Hg. Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektive. Bielefeld, 2012. Siehe bereits Arns, Inke/ Horn, Gabriele, Hg. History Will Repeat Itself. Strategien des Reenactment in der zeitgenössischen (Medien-) Kunst und Performance. Berlin, 2007; Lüdeken, Sven, Hg. Life, once more. Forms of Reenactment in Contemporary Art. Rotterdam, 2005. 2 Fischer-Lichte, Erika. “ Die Wiederholung als Ereignis. Reenactment als Aneignung von Geschichte. ” Roselt/ Otto 2012, 13 - 52, hier S. 13; zum Reflexionspotenzial von Re-performances siehe in anderem Zusammenhang S. 49. 3 Vgl. hierzu auch Annuß, Evelyn. “ Public Movement. ” Maske & Kothurn 1 (2012): 31 - 46. 4 Auf der grünen Wiese wird es zunächst im Rahmen des von Patrick Primavesi organisierten play Leipzig Festivals 2010, dann für Hellerau 2012 neu adaptiert. Zu Ligna siehe auch Frahm, Ole/ Michaelsen, Torsten. “ Hört die anderen Wellen! Zur Verräumlichung der Stimme im Radio. ” Radio-Kultur und Hör- Kunst. Zwischen Avantgarde und Popularkultur 1923 - 2001. Hg. Andreas Stuhlmann, Würzburg, 2001. 39 - 61; “ LIGNA in conversation with Sandra Nöth. The Collective That Isn ’ t One. ” Emerging Bodies. The Performance of Worldmaking in Dance and Choreography. Hg. Gabriele Klein/ Sandra Nöth, Bielefeld, 2011, 61 - 72. 5 Zur Begriffskritik vgl. bereits das Standardwerk von Reichel, Peter. Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus. Frankfurt a. M., 1993, 365. 6 Walter Benjamin. “ Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. ” (Erste und Dritte Fassung) Gesammelte Schriften. Bd. I.2 (Abhandlungen). Frankfurt a. M., 1991, 431 - 508, hier S. 467, 507. Zur kritischen Lektüre der benjaminschen Ästhetisierungsthese und ihres Nachlebens vgl. Rebentisch, Juliane. Die Kunst der Freiheit. Frankfurt a. M., 2012, 342 - 374. Zur Ästhetik der Zwischenkriegszeit vgl. Rossol, Nadine. Performing the Nation in Interwar Germany. Sports, Spectacle and Political Symbolism, 1926 - 1936. Basingstoke, 2010; Krammer, Stefan [et al.], Hg. Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen. Bielefeld, 2011. Zur Historisierung des Undarstellbarkeitstopos vgl. Buchenhorst, Ralph. Das Element des Nachlebens. Zum Argument der Undarstellbarkeit der Shoah in Philosophie, Kulturtheorie und Kunst. München, 2011; Didi-Huberman, Georges. Bilder trotz allem. München, 2007. 7 Dieser Vorschlag reiht sich ein in die gegenwärtige Diskussion um theater- und tanzhistoriografische Reperspektivierungen. Zur Theatergeschichtsschreibung vgl. etwa Hulfeld, Stephan. Theatergeschichtsschreibung 148 Evelyn Annuß als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht. Zürich, 2007; Hulfeld, Stefan [et al.], Hg. Theaterhistoriographie. Kontinuitäten und Brüche in Theorie und Praxis. Tübingen, 2007; Lazardzig, Jan/ Tkaczyk, Victoria. Theaterhistoriografie. Eine Einführung. Tübingen/ Basel, 2012. Zur Tanzhistoriografie siehe die entsprechenden Themenhefte von Ästhetik und Kommunikation 146 (2009) und Forum Modernes Theater 1 (2008), hierin etwa Klein, Gabriele. “ Inventur der Tanzmoderne. Geschichtstheoretische Überlegungen zur tanzwissenschaftlichen Forschung. ” Forum Modernes Theater 1 (2008): 5 - 12; Thurner, Christina/ Wehren, Julia, Hg. Original und Revival. Geschichts- Schreibung im Tanz. Zürich, 2010. 8 So der Titel jener Aktion, mit der Ligna zunächst bekannt geworden ist und der in Hellerau wieder aufgegriffen wird. Zum Radioballett vgl. Eikels, Kai van. “ This Side of the Gathering. The Movement of Acting Collectively: Ligna ’ s Radioballet. ” Performance Research 13. 1 (2008): 85 - 98; “ Diesseits der Versammlung. Kollektives Handeln in Bewegung: Ligna, Radioballett. ” SCHWAR- MEMOTION. Bewegung zwischen Affekt und Masse. Hg. Gabriele Brandstetter [et al.], Freiburg i. Breisgau [etc.], 2007, 101 - 124. 9 Vgl. Müller, Hedwig/ Stöckemann, Patricia. “ . . .jeder Mensch ist ein Tänzer. ” Ausdruckstanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945. Gießen, 1993, 164 - 167. Siehe auch Dörr, Evelyn. Rudolf Laban. Das choreographische Theater. Norderstedt, 2004, 448 - 468. Dies im Unterschied zu Hardt, Yvonne. Politische Körper. Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik. Münster, 2004, 255. Zur Nationalisierung des Bewegungschors in den 1930er Jahren vgl. Baxmann, Inge. Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne. München, 2000. Hier v. a. S. 238 - 252. 10 Zur Kritik dieses gegenwärtig nicht zuletzt in vielen Re-enactments fortlebenden Partizipationsversprechens siehe im Anschluss an Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie (Frankfurt a. M. 1973) Düttmann, Alexander García. Teilnahme. Bewusstsein des Scheins. Konstanz, 2011. Siehe auch Diedrich Diederichsens Polemik wider den “ Fetischismus der Lebendigkeit ” in Eigenblutdoping. Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation. Köln, 2008. V. a. S. 256 - 279, hier S. 279. 11 Vgl. als Gegenmodell Ulrike Hass ’ Lesart des antiken Chors als Figur des Schon-Da, die die Frage nach der Gattungszugehörigkeit im nicht-genealogischen Sinn stellt ( “ Woher kommt der Chor ” , Maske und Kothurn 1 (2012): 13 - 30, hier S. 19 - 20). 12 Zur entsprechenden politischen Bestimmung des Unterbrechens vgl. Lehmann, Hans- Thies. DAS POLITISCHE SCHREIBEN. Essays zu Theatertexten. Berlin, 2002, 11 - 21. Implizit greift diese Bestimmung auf die Gedankenfigur des Zitats als Unterbrechung in der benjaminschen Lesart des epischen Theaters zurück; vgl. Benjamin, Walter. “ Was ist das epische Theater (2). ” Gesammelte Schriften. Bd. II.2 (Aufsätze, Essays, Vorträge), a. a. O., 532 - 539, hier S. 534. 13 Göbbels (sic), Josef. “ Aus der Rede an die deutschen Theaterleiter. ” Das moderne völkische Drama. Grundsätzliches und Proben. Bearbeitet von Konrad Lindemann. Würzburg, 1934, 34 - 51, hier S. 50. Vollständig abgedruckt in der Festnummer des Theater- Tageblatts: Der Weg zum deutschen Nationaltheater vom 10. Juni 1933 anlässlich des fünfjährigen Bestehens, 50 - 54, hier S. 54. 14 Vgl. “ Die Intendanten bei Dr. Goebbels. Politische Voraussetzungen des Deutschen Nationaltheaters. ” Theater-Tageblatt 10. Mai 1933, 1 - 2. In einer anschließenden Rede erklärt der Preussische Ministerpräsident Göring, dass er das Gesetz über das Berufsbeamtentum auf staatliche und kommunale Theater beziehen wird. Bereits am 4. März meldet das Theater-Tageblatt ein erstes Theaterverbot gegen die kommunistische “ Truppe 1931 ” auf Grundlage der Ende Februar erlassenen “ Verordnung zum Schutze von Volk und Staat ” (Theater-Tageblatt vom 4. März 1933, 2). Am Tag von Goebbels ’ Rede wird das Theater-Tageblatt gleichgeschaltet (Theater-Tageblatt vom 8. Mai 1933, 1). Zum Wortlaut des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 149 Das Theater der Hunderttausend historisieren siehe http: / / www.documentarchiv.de/ ns/ beamtenges.html (12. Oktober 2012). 15 Reinhardt, Max. “ Das Theater der Fünftausend. ” [1911] Ich bin nichts als ein Theatermann. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus Regiebüchern. Hg. Hugo Fetting, Berlin, 1989, 446 - 447. 16 Zur Gleichschaltungsgeschichte des Freilichtspiels vgl. Dultz, Michael. “ Der Aufbau der nationalsozialistischen Thingspielorganisation 1933/ 34. ” Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell. Hg. Henning Eichberg [et al.], Stuttgart, 1977, 203 - 212; Rischbieter, Henning. “ NS-Theaterpolitik als Prozeß. ” Theater im “ Dritten Reich ” , Theaterpolitik - Spielplanstruktur - NS-Dramatik. Hg. ders. Seelze-Velber, 2000. 34 - 41; Stommer, Rainer. Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die “ Thing-Bewegung ” im Dritten Reich. Marburg, 1985, 23 - 48. 17 Laubinger, Otto. “ Deutsche Freilichtbühnen. ” Rede zur Eröffnung der Ausstellung “ Deutsche Freilichtbühnen ” in Köln am 7. Juli 1933. Theater-Tageblatt 1218/ 19 vom 7. Juli 1933, 3 - 5. Wiederabdruck in Theater von A-Z. Handbuch des deutschen Theaterwesens. Herausgegeben von den Schriftleitern des Theatertageblatts. Archiv-Ausgabe, Berlin, 1934, Xid1, Bl. 1 - 8, hier Bl. 2. 18 “ Deutsche Festspiele 1934. Otto Laubingers Programmrede. ” Theater-Tageblatt 1347/ 48 vom 25. Januar 1934, 1 - 8, hier S. 8. Wiederabdruck in Theater von A-Z. 1934, XId2, Bl. 1 - 23, hier Bl. 23. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Zum Freilufttheater im Nationalsozialismus vgl. neben den genannten Standardwerken von Eichberg [et al.] 1977, Rischbieter 2000, und Stommer 1985, etwa Dücker, Burckhard. “ Das Thingspiel - eine nationalsozialistische Literaturform zwischen Theatralität und Ritualität. ” Nichts als die Schönheit. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Hg. Jan Andres, Frankfurt a. M., 2007, 242 - 289; Fischer- Lichte, Erika. Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre. London, 2005, 122 - 158; Fischer-Lichte, Erika. “ Tod und Wiedergeburt - Zur Verklärung der Volksgemeinschaft in Thingspielen und nationalsozialistischen Feiern. ” Körper im Nationalsozialismus. Hg. Paula Diehl, München, 2006, 191 - 210; Strobl, Gerwin. The Swastika and the Stage. German Theatre and Society, 1933 - 1945. Cambridge, 2007, 65 - 88. 22 Vgl. Goes, Gustav. “ Vom Stadionzum Thingspiel. ” Bausteine zum deutschen Nationaltheater 3. 1935, 141 - 144. 23 Zur Begriffsprägung durch den Kölner Theaterwissenschaftler Carl Niessen vgl. u. a. Dultz 1977. 214, und Dücker 2007. 251 - 257. 24 So Arendt, Hannah. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München/ Zürich, 1986, 571. 25 Zur Verordnung vom 23. Oktober 1935 vgl. Lurz, Meinhold. Die Heidelberger Thingstätte. Die Thingbewegung im Dritten Reich: Kunst als Mittel politischer Propaganda. Heidelberg, 1975, 40. 26 Vgl. Goebbels ’ Verordnung in Das Deutsche Volksspiel. Blätter für Jugendspiel, Brauchtum und Sprechchor, Volkstanz, Fest- und Freizeitgestaltung. 1936, 220; zur Rolle des Sprechchorverbots siehe bereits Annuß, Evelyn. “ Inszenierungen des Kollektivsubjekts im Thingspiel. ” Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion. Hg. Friedemann Kreuder [et al.], Bielefeld, 2012, 507 - 517. 27 Vgl. den Nachlass Hanns Niedecken-Gebhards, Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln, Box 3; siehe hierzu auch Helmich, Bernhard. Händel-Fest und “ Spiel der 10.000 ” . Der Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard. Frankfurt a. M., 1989, 213 - 217. 28 Vgl. die als Katalog zum 775. Geburtstag Berlins konzipierte Veröffentlichung von Krijn Thijs, die allerdings die Bedeutung von Niedecken-Gebhards Inszenierung unterschätzt und von Oberbürgermeister Julius Lippert organisierte 700-Jahrfeier nur als lokale Veranstaltung liest (Thijs, Krijn. Party, Pomp und Propaganda. Die Berliner Stadtjubiläen 1937 und 1987. Berlin, 2012, 15 - 41, hier v. a. S. 18). Zur 700-Jahrfeier siehe bereits Thijs, Krijn. Drei Geschichten. 150 Evelyn Annuß Berlin, 2007, 71 - 93; zur Rolle Berlins vgl. S. 83. 29 Vgl. Hitlers Verordnung über die Gestaltung des Hoheitszeichens des Reichs vom 7. März 1936, veröffentlicht im Reichsgesetz I am 11. März 1936, S. 145; Wiederabdruck in Sösemann, Bernd. Propaganda. Medien und Öffentlichkeit in der NS-Diktatur. Stuttgart, 2011. 386 (Dok. 323); http: / / www.documentarchiv.de/ ns/ 1936/ hoheitszeichen-reichgestalt_vo.html (12. Oktober 2012). 30 In der Forschungsliteratur wird immer wieder fälschlicherweise Niedecken-Gebhard als Schüler Labans dargestellt. Zutreffend allerdings ist, dass Niedecken-Gebhards Arbeit maßgeblich vom Ausdruckstanz beeinflusst ist, wie sich bereits an seinen bewegungschorischen Inszenierungen von Händels Oratorien in den 1920er Jahren und der Zusammenarbeit mit dem 1933 im Gegensatz zu Niedecken und Laban emigrierten Choreografen Kurt Jooss nachzeichnen lässt; vgl. zuletzt Jahrmärker, Manuela. “ Händel- Renaissance - Händel-Renaissancen. ” Das Händel-Handbuch. Hg. Arnold Jacobshagen/ Panja Mücke, hrsg.v. Hans Joachim Marx, Bd. 2 (Händels Opern, Teilbd. 1), Laaber, 2009, 408 - 422, hier S. 412. Zu Kurt Jooss vgl. Hardt 2004, 172 - 201. 31 Vgl. Ketelsen, Uwe-Karsten. “ Theater - Hörspiel - Thingspiel. Versuch eines medialen crossing over im Theater der frühen dreißiger Jahre. ” Literatur intermedial. Paradigmenwechsel zwischen 1918 und 1968. Hg. Wolf Gerhard Schmidt/ Thorsten Valk, Berlin/ New York, 2009, 247 - 266. 32 Benjamin 1991, 469. 33 Kracauer, Siegfried. “ Das Ornament der Masse [1927]. ” Das Ornament der Masse. Hg. ders. Frankfurt a. M., 1977, 50 - 63, hier S. 61. 34 Vgl. Döhl, Reinhard. Das Hörspiel zur NS- Zeit. Darmstadt, 1992, 51 - 54; und Ketelsen 2009. 35 Vgl. auch die kommentierte Fassung in Domarus, Max. Hitler. Reden und Proklamationen 1932 - 1945. Bd. 1 (Triumph), Halbbd. 2 (1935 - 1938), Wiesbaden, 1973, 892 - 894. 36 Vgl. v. a. den Auftritt des Reichsarbeitsdienstes während des 1938er Parteitags: Kerrl, Hans, Hg. Reichstagung in Nürnberg 1938. Der Parteitag Großdeutschland. Bearbeitet von Kurt Maßmann, Berlin, 1939, 94 - 95. Zur Entwicklung der Reichspartteitagsregie siehe auch Markus Urban, Die Konsensfabrik. Funktion und Wahrnehmung der Reichsparteitage 1933 - 1941. Göttingen, 2007. Zur These von der Präfiguration der späteren Nürnberger Inszenierungen durch das Thingspiel siehe auch Hiß, Guido. Synthetische Visionen. Theater als Gesamtkunstwerk von 1800 bis 2000. München, 2005, 164. 37 Das zeugt von seinem liturgischen Erbe, das seine nationalsozialistische Verwendung vom agitatorischen Einsatz der kommunistischen Sprechchorbewegung unterscheidet. Dies im Unterschied etwa zu Eichberg, Henning. “ Thing-, Fest- und Weihespiele im Nationalsozialismus, Arbeiterkultur und Olympismus. Zur Geschichte des politischen Verhaltens in der Epoche des Faschismus. ” Eichberg 1977, 19 - 180. Zur Kritik seiner totalitarismustheoretisch bestimmten These von der Strukturähnlichkeit nationalsozialistischer und proletarischer Massenspiele siehe bereits Warstat, Matthias. Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918 - 33. Tübingen/ Basel, 2005, 380 - 381. 38 Benjamin 1991, 469. 39 Niedecken-Gebhard, Hanns. “ Die Gesamtgestaltung des Festspiels Olympische Jugend. ” Olympische Jugend. Festspiel zur Aufführung im Olympia-Stadion am Eröffnungstage der XI. Olympischen Spiele in Berlin. (Programmheft), Berlin, 1936, 31 - 32, hier S. 31. 40 Zur Rolle der Medien im Kontext der Olympischen Spiele vgl. Eckhardt, Franck. “ Olympia im Zeichen der Propaganda. Wie das NS- Regime 1936 die ersten Medienspiele inszenierte. ” Medien im Nationalsozialismus. Hg. Bernd Heidenreich/ Sönke Neitzel, Paderborn, 2010, 234 - 251. 41 Ketelsen 2009. 263. 42 Zur Infragestellung bestimmter Darstellungsregister mit dem Umbruch zum Tonfilm vgl. Steiner, Ines. “ The voice behind the curtain. Zur Inszenierung der Stimme in Singin ’ in the Rain. ” Medien/ Stimmen. Hg. 151 Das Theater der Hunderttausend historisieren Cornelia Epping-Jäger/ Erika Linz, Köln, 2003, 176 - 208, hier S. 178. 43 Zum Zitat von Fritz Langs Nibelungen vgl. Kracauer, Siegfried. “ Nationales Epos. ” Von Caligari bis Hitler. Hg. ders., Hamburg, 1958. 264 - 287, hier S. 287. Siehe daran anknüpfend die auf den deutschen Film verkürzte Studie von Bartetzko, Dieter. Illusionen in Stein. Stimmungsarchitektur im deutschen Faschismus. Ihre Vorgeschichte in Theater- und Filmbauten. Reinbek bei Hamburg, 1985; zu Fritz Lang S. 243 - 272. 44 Rentschler, Eric. The Ministry of Illusion. Nazi Cinema and its Afterlife. Cambridge (USA), 1996, 22. 45 Vgl. aus etwas anderer Perspektive bereits Witte, Karsten. “ Gehemmte Schaulust. Momente des deutschen Revuefilms. ” Wir tanzen um die Welt. Deutsche Revuefilme 1933 - 1945. Hg. Helga Belach, München, 1979, 7 - 52. 46 Vgl. Niedecken-Gebhard, Hanns. “ Der Tanz und die Bühne. ” Jahrbuch des Preussischen Theaters. Leipzig, 1925, 41 - 43, hier S. 43. 47 Der Formwandel kann auch als Zugeständnis des NS-Regimes an das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums gelesen werden; vgl. im allgemeinen Zusammenhang die entsprechende These von Bussemer, Thymian. Propaganda und Populärkultur. Konstruierte Erlebniswelten im Nationalsozialismus. Wiesbaden, 2000, 79. 48 Siehe den Nachlass Niedecken Gebhards in der Kölner Theaterwissenschaftlichen Sammlung, Box 6. Dass diese Inszenierung nicht zustande kommt, ist offenkundig weniger Niedecken-Gebhards Vergangenheit als seiner fehlenden Vernetzung in Köln geschuldet; vgl. bereits Kirschner, Thomas. “ Ein Thingspiel zum Stadtjubiläum? Die Wurzeln des Kölner Jubiläumsfestspiels 1950. ” Köln in den 50er Jahren. Zwischen Tradition und Modernisierung. Hg. Jost Dülffer, Köln, 2001, 251 - 260. 49 Zum Statuswandel von Propaganda in hochmodernen Gesellschaften und der praxeologischen Revision der Persuasionsforschung vgl. Bussemer, Thymian. Propaganda. Konzepte und Theorien. Mit einem Vorwort von Peter Glotz. Wiesbaden, 2005, 392 - 404. 50 Vgl. Hausmann, Frank-Rutger. “ Theaterwissenschaft. ” Die Geisteswissenschaften im “ Dritten Reich ” . Hg. ders., Frankfurt a. M., 2011, 646 - 656, hier S. 648. Der Historismuskritik war vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Erbes der deutschen Theaterwissenschaft auch Ulrike Hass ’ bislang unpublizierter Vortrag Historismus und Gegenwartsfisxierung in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft des 20. Jahrhunderts gewidmet, den sie im Rahmen des Symposions NSals Mediengeschichte am 1. Februar 2012 in Bochum gehalten hat. Zur Geschichte der Theaterwissenschaft siehe außerdem Englhart, Andreas. “ Theaterwissenschaft. ” Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus. Hg. Jürgen Elvert/ Jürgen Nielsen-Sikora, Stuttgart, 2008, 863 - 898; Hulfeld, Stefan/ Peter, Birgit, Hg. Theater/ Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Wien, 2009. (= Maske & Kothurn 1 - 2 (2009).) 51 Benjamin, Walter. “ Über den Begriff der Geschichte. ” Gesammelte Schriften. Bd. I.2 (Abhandlungen). Frankfurt a. M., 1991, 691 - 704, hier S. 702. 152 Evelyn Annuß “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod Jörn Etzold (Bochum) und Maud Meyzaud (Hagen) Choreographie des Texts Dieser Aufsatz behandelt die zeitgenössische Inszenierung eines kanonischen Theatertexts. Er geht also von einer Grundannahme aus: Die Emanzipation der theatralen Mittel seit den historischen Avantgarden mag zwar die absolute Vorgängigkeit des Dramentextes aufgehoben haben - doch hat sich damit keineswegs die Frage erledigt, welche Rolle der Text und die Sprache für das Theater der Gegenwart spielen und spielen können. Mag man auch in vielen neueren Theaterformen eine Abkehr vom Text erkennen, so lässt sich auf der anderen Seite keineswegs übersehen, dass jener in vielen entscheidenden Arbeiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine eminent wichtige Rolle spielte, so in den Inszenierungen von Klaus Michael Grüber, Heiner Müller, Robert Wilson oder Dimiter Gotscheff oder in den Filmen von Jean-Marie Straub und Danielle Huillet. Zwar wurde hier auf verschiedene Weise mit den Darstellungskonventionen des 19. Jahrhunderts gebrochen: Es wurde ein Sprechen erprobt, das nicht nach Ausdruck einer Innerlichkeit suchte, sondern die Physis der Sprechenden mit der Physis der Sprache konfrontierte. Dennoch aber blieben diese Arbeiten Arbeit am Text, Arbeit mit dem Text. Sie behandelten den Text nicht bloß als sinnliches Material, sondern schlossen ihn gerade dadurch auf, dass sie etwas anderes in ihm hörbar machten als Figurenrede und dramatische Handlung. In jüngerer Zeit haben vor allem die Inszenierungen von Laurent Chétouane auf besonders intensive Weise mit dem Text gearbeitet. Dies ist vielleicht kein Zufall: Denn ganz so wie Grüber oder Straub ist Chétouane (ein französischer Muttersprachler) mit der französischen Tradition der Deklamation vertraut, mit einem gefügten Sprechen also, dessen Ideale weniger Natürlichkeit und Ausdruck, als vielmehr Eleganz und Formvollendung sind. Zugleich aber ist Chétouane ausgebildeter Ingenieur: Sein Zugriff auf Sprache (und neuerdings auf Tanz) ist derjenige eines Menschen, der gelernt hat, Sachen auseinanderzubauen und wieder zusammenzuschrauben. Gerade als Ingenieur aber fand Chétouane auch seinen Zugang zur deutschen, ihm eigentlich fremden Sprache: Denn es ist ja gerade das Prinzip des Deutschen, dass in ihm die einzelnen Worte zusammengesteckt werden wie Elemente eines Baukastens. Die Konfrontation der französischen Tradition der Deklamation mit der Ingenieurskunst und dem Baukastenprinzip des Deutschen scheint uns recht eigentlich den idiosynkratischen Zugang Chétouanes zu den “ großen ” Texten der klassischen deutschen Moderne zu bezeichnen, zu Goethes Faust, Hölderlins Empedokles und Brechts Fatzer oder auch zu Arbeiten Büchners wie Woyzeck, Lenz und zuletzt Danton ’ s Tod. Dabei ist auffällig, dass diese Inszenierungen schon von Beginn an die Grenze zwischen einem vermeintlich “ konventionellen ” Texttheater und einem oft als “ postdramatisch ” bezeichneten, von Malerei, Tanz, Musik, Videokunst, Kino und Performance Art inspirierten Bühnengeschehen ignoriert haben. Im Fall seiner Inszenierung von Büchners Danton ’ s Tod aber, die im Frühling 2010 im Schauspiel Köln gezeigt wurde, ergibt sich aus diesem Zusammentreffen eine besonders glückliche Konstellation. 1 Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 153 - 167. Gunter Narr Verlag Tübingen Chétouanes Inszenierung stellt Büchners Text nämlich nicht einfach im Sinne einer Theorie des “ Postdramatischen ” auf die Bühne - indem sie also den Text als bloßes Material behandelt, die Physis des Textes mit der Physis der Sprechenden konfrontiert, sein klangliches und rhythmisches Potential zu Gehör bringt. Freilich, sie tut dies auch. Doch indem sie dies tut, schließt sie zugleich eine kulturgeschichtliche Tiefendimension des Textes auf. Gerade weil Chétouane Büchners Text nicht als “ Drama ” inszeniert - die Inszenierung hat viel mehr mit einem Tanzstück gemein als mit traditionellem Sprechtheater und verweist insofern darauf, dass Chétouanes weiterer Weg in die Choreographie führen wird - , geht der Status des Textes über den eines mit den anderen theatralen Mitteln gleichwertigen Materials hinaus. Denn eben durch dieses “ choreographische ” Inszenieren wird es möglich, den Text Büchners auf besondere Weise zu hören, wahrzunehmen und zu verstehen. Denn uns scheint, dass jener Text, obgleich er freilich auch eine dramatische Handlung erzählt - den Fall und den Tod Georges Dantons - , doch viel grundlegender etwas zur Darstellung bringt, was nicht als Handlung gefasst werden kann. Genauer: Büchner unternimmt eine problematische Situierung des Menschen und seiner Physis in einem neuartigen Kosmos, den die Modernität eröffnet hat. In seinem Text sprechen sich Körper aus, die aus jeder Heilsökonomie herausgefallen sind und als solche zugleich Gegenstand einer spezifischen neuen Politik werden. Danton ’ s Tod ist ein Stück, das eine moderne Politik der Körper in Szene setzt. Diese Politik aber formte sich eben in jenen Umbrüchen “ um 1800 ” , die wiederum, auf der “ dramatischen ” Ebene, den “ Inhalt ” oder die “ Fabel ” des Stückes bilden. Damit ist auch gesagt, dass es hier nicht ausreicht, bloß zu konstatieren, dass die Sprache ein theatrales Mittel unter anderen ist, dem, wie dem Licht, dem Raum oder der Musik einzig sinnliche Qualitäten zukommen. Vielmehr bietet die Inszenierung Chétouanes eine Lektüre des Textes an, sie ist intensivste Textarbeit, welche geschichtliche und politische Sinnpotentiale des Textes aufschließt. Es geht also um ein auf doppelte Weise gespanntes Verhältnis zur Form des Dramas, das die Dichotomie zwischen “ dramatisch ” und “ postdramatisch ” nicht vollständig fassen kann. Diese Spannung betrifft sowohl den Text wie auch die Inszenierung. Denn zunächst lässt sich Büchners Text selbst - gegen den Anschein und der gängigen Bezeichnung in philologisch ansonsten einwandfreien Editionen - keineswegs unproblematisch der Gattung des Dramas zuordnen. Vielmehr gehört Danton ’ s Tod neben etwa den Schriften Hölderlins und Kleists eminent zu einer Tradition der Moderne, die vor der “ Krise des Dramas ” und der Theorie des “ postdramatischen ” Theaters einen ambivalenten Austritt aus dem Dramenformat bedeutet. Genauer: Obgleich freilich eine “ dramatische ” Handlung und Figurenrede vorliegen, entspricht der Text nicht den von Peter Szondi für das Drama geforderten Kriterien des Absoluten und des Primären. Er tut dies vor allem deswegen nicht, weil er zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Zitaten der geschichtlichen Akteure montiert ist, welche Büchner unter anderem Carl Strahlheims Die Geschichte unserer Zeit und Louis-Adolphe Thiers ’ Histoire de la Révolution Française entnahm. “ Das Drama kennt ” , so Szondi, jedoch “ das Zitat so wenig wie die Variation ” . 2 Das Zitat eröffnet den Bezug zu etwas, das außerhalb des Dramas liegt, zu einem vorgängigen politischen und sozialen Geschehen. 3 Und doch wird dieses Geschehen bei Büchner nicht einfach zum Material für eine theatrale Umsetzung. Vielmehr wird den Reden der Revolutionäre eben deswegen die Form eines Theaterstücks gegeben, weil sie selbst theatral waren - und zwar theatral auf eine Weise, die mit dem Begriff des Dramas nicht ausreichend gefasst 154 Jörn Etzold / Maud Meyzaud werden kann. Was Büchner in seinem Danton ’ s Tod aufzeigt, ist weniger das Handeln der Figur Danton, es ist auch kein “ reiner Bezug ” , 4 sondern vielmehr eine Theatralität des Politischen, die wiederum nicht um ihre ureigensten - theatralen - Effekte wissen will. Ihrem Selbstbild nach war die Französische Revolution freilich genau kein Theater, sondern Befreiung einer “ Menschennatur ” , die Jahrhunderte lang unter dem “ Joch des Despotismus ” litt und sich nun durch universell gültige, weil in die Herzen geschriebene Gesetze geltend machen soll. Und doch zeugt sie wie kein anderes historisches Geschehen davon, dass jene moderne Politik, die sich dem nackten Menschen verschreibt, theaterförmig ist. Denn sie findet immer dann statt, wenn ein Redner - sei er Mitglied des Konvents, sei er einfacher Bürger - auf einer Bühne das Wort ergreift - sei es der Konvent, sei es der Jakobinerklub, sei es eine Gasse. Dieses Wort aber wird immer ein zitiertes sein. Nach Karl Marx ’ Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, der fünfzehn Jahre nach Büchners Stück entstand, beschwören die Menschen gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise [. . .] ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. 5 Büchner schreibt ein Theaterstück, welches diese Theatralität moderner Politik in Szene setzt. Was in dieser mise en abîme indes vor allem gezeigt wird, ist, dass Körper und Sprache sich in der Moderne völlig neu definieren. Denn Büchner interessiert sich in Danton ’ s Tod für die Schreckensherrschaft oder Terreur, das heißt: für jenen Moment der Geschichte, an dem die neue Verfassung, die ein erneuertes, seiner Natur gemäß handelndes Volk “ verfassen ” bzw. umgestalten sollte, nicht in Kraft tritt. Im Quasi-Ausnahmezustand der Terreur erscheinen die Körper der Geschichtsakteure auf zwei sukzessiven Bühnen: zunächst auf der Bühne politischer Rede im römischen Drapé, dann auf jener anderen Bühne, die nicht mehr Bühne sprechender Körper ist: dem Guillotinengerüst. Es scheint ein zwingender Zusammenhang zu bestehen zwischen dem Glauben an eine Politik, die vorrangig durch Worte formt und dabei ununterbrochen Bedeutungsfülle, eindeutige Bedeutung produziert, ja sich als diese Produktion versteht - und dem seriellen Mord, der unter der Jakobinerherrschaft faktisch Kern aller politischer Handlungen geworden ist. Büchners Intuition, so scheint uns, gilt just diesem Zusammenhang zwischen politischer Rede und politischem Mord; die politische Rede im römischen Drapé entfacht ihre Wirkungsmacht, indem sie tötet. Anders formuliert: Wenn der Menschenkörper in dieser modernen Politik, die das Zeitalter der Demokratie in Europa eröffnet, zum Vorschein kommt, dann als dem Tod bereits geweihter Körper oder genauer noch: als ein vom (zitierten) Sprechen dem Tod geweihter Körper. “ Dantons Tod ” , so schrieb einst bereits Peter Szondi, “ heißt das Werk nicht allein, weil es die letzten Tage seines Helden darstellt, sondern weil der Tod [. . .] hier problematisch geworden ist ” . 6 Er hat nämlich in der Moderne ein anderes Gesicht bekommen. Einer berühmten Stelle bei Hegel zufolge ist die französische Revolution jener Moment, an dem ein Tod möglich wird, der “ keinen inneren Umfang und Erfüllung hat; [. . .] der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers ” . 7 Dieser Tod ist nicht mehr Übergang in die Transzendenz, er ist Gegenstand medizinischer Bestimmung und Instrument politischer Maßnahmen. Noch genauer (wir werden dies im Folgenden ausführen): Der Tod in der Terreur, der Tod, den Büchner in Dan- 155 “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod ton ’ s Tod untersucht, definiert einen Zwischenraum, eine Übergangsphase: Gehört er zum einen noch der souveränen Strafe der alten Ordnung an, so ist er zum anderen schon in vielem der Tod in der Moderne, welcher im Namen des Lebens, der Gesundung, der Revitalisierung, kurz: jener “ Biomacht ” ausgesprochen wird, die Michel Foucault im letzten Kapitel von Der Wille zum Wissen vorstellt. 8 Was also für Büchner die Terreur ausmacht, ist das in ihr zur ultimativen Sichtbarkeit erhobene Scheitern einer spezifischen politischen Praxis der Sprache. Die Terreur versteht Sprache nicht als das, was das politische Band entstehen lässt, einen gemeinsamen Raum schafft, sondern als das, was politisch sortiert und tötet; sie versteht Sprache nicht als ein Geteiltes, sondern als das, was die Körper in taugliche und untaugliche Subjekte (auf )teilt. Eine poetologisch zentrale Formulierung des Stückes bezieht sich ausdrücklich auf die Schreckensherrschaft als jene Herrschaft der Sprache über die Körper: “ Geht einmal euren Phrasen nach ” , lässt Büchner seinen Doppelgänger, den Schriftsteller Louis Sébastien Mercier den Dantonisten zurufen, als sie im Gefängnis über die schiere Anzahl der dem Tod geweihten Körper staunen, “ bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden./ Blickt um euch, das Alles habt ihr gesprochen, es ist eine mimische Übersetzung eurer Worte ” . 9 Die Revolution hatte den Anspruch, den Menschen vom “ Joch der Vergangenheit ” zu befreien. Und doch gelingt es ihr nicht, das Band der Menschen untereinander als Sprache neu zu erfinden, denn dies würde freilich ein Denken von Sprache voraussetzen, das in ihr mehr erkennt als die schiere Bedeutungsmacht. Die Revolutionsrhetorik, jene römische Pose, die Marx dazu veranlasst hat, Geschichte als Theater zu verstehen, rührt her von der Blindheit ihrer Akteure für jene prinzipiellere Gemeinsamkeit zwischen Theater und Politik und speziell demokratischer Politik: Beide setzten die Bühne sprechender Körper voraus, beide setzen sprechende Körper in Szene. Genau diesem Problem aber widmet sich, so unsere Grundannahme, auch Laurent Chétouanes Inszenierung. Und auf diese Weise setzt sie auch den ambivalenten Austritt aus der Dramenform, der in Büchners Stück sichtbar wird, auf szenische Weise um. Denn wenn Büchner - in einem Stücktext mit fünf Akten, der durch Figurenrede und Handlung gekennzeichnet ist - doch keine in sich geschlossene dramatische Handlung darstellt, sondern vielmehr die Politik der Moderne als eine Politik der sprechenden Körper exponiert, dann wird bei Chétouane eben die Bühne zu jenem Ort, an dem gezeigt wird, was geschieht, wenn ein Text - der Text Büchners - auf die Körper trifft, die sich auf ihr aufhalten. Auch hier steht das Verhältnis von Sprache und Körpern auf dem Spiel. “ Man kann sich nicht mit der Sprache im Bühnenraum beschäftigen, ohne den sprechenden Körper zu sehen ” , 10 so Chétouane selbst in einem Interview mit Nikolaus Müller-Schöll. So wird der Text hier nicht allein als “ Material ” eines “ postdramatischen ” Theaterereignisses behandelt; vielmehr schließt gerade die Inszenierung, die die Darstellungskonventionen des Dramatischen immer wieder verlässt, die theoretischen, geschichtlichen und politischen Sinndimensionen des Textes auf: Die Inszenierung führt das Verhältnis von Körpern und Sprache, das in Büchners Text angelegt ist, vor Augen, macht es sichtbar und hörbar. Freilich: nicht nur diese eine Inszenierung. Doch dieser gelingt es auf besondere Weise, weil sie den Text nicht als Darstellung einer Handlung in Figurenrede versteht, sondern ihn choreographiert: weil sie ihn auf Körper treffen lässt, die sich im Raum bewegen, die sitzen, liegen, stehen, atmen, sich dehnen, singen und tanzen - die sich also, kurz gesagt, als Körper wahrnehmbar machen. 156 Jörn Etzold / Maud Meyzaud Unsere Fragestellung an Chétouanes Danton ’ s Tod ist also eine doppelte, von der Theaterwissenschaft und der Literaturwissenschaft ausgehende Fragestellung. Sie lautet: Inwiefern wird in dieser Inszenierung die Aktualität Büchners für das Gegenwartstheater und für das gegenwärtige Denken über Sprache, Körper und Politik sichtbar? Und zum zweiten: Inwiefern schließt uns gerade ein zeitgenössisches choreographisches Verfahren wie jenes Chétouanes Büchners Text aufs Neue auf? Im Folgenden möchten wir dieser Spur nachgehen. Dabei wollen wir zunächst durch eine kurze Analyse des Bühnenbilds und der Diktion und Bewegungen der Darsteller auf der Bühne herausstellen, wie Chétouanes Inszenierung Elemente von Büchners Text exponiert, die aus dem vermeintlichen Drama ein Medium der Reflexion über das Theater - über das Erscheinen von sprechenden Körpern auf einer Bühne - machen. Indem Chétouane und sein Bühnenbildner Patrick Koch die Bühnensituation unterstreichen, indem Chétouane die Darsteller auf eine Weise sprechen lässt, die den Zusammenhang zwischen Sprache und Physis ausstellt, ermöglicht er den Zuschauern auch eine Reflexion über diese andere Bühne: den Raum moderner Politik. Anschließend sollte deutlich werden, inwiefern Chétouanes Inszenierung einen epistemologischen Wandel inszeniert, der sich in Danton ’ s Tod vor den Augen der Rezipienten vollzieht: Der Ausgang aus der Monarchie bedeutet eine unerhörte Gottesferne, er lässt die Einsamkeit der ihrer Sterblichkeit bewussten Kreatur auf einmal nackt erscheinen. Dieses Hervortreten der nackten Kreatur aber steht in engem Zusammenhang mit den anderen Umbrüchen “ um 1800 ” in Politik und Ökonomie. Denn letztlich verhandelt Büchners Text demokratietheoretische Probleme, die allesamt gravierende Folgen für das Bild vom Menschenkörper haben. Chétouanes Bühnengeschehen spielt mit einer neuen Politik des Körpers und der Körper, die bestimmte Erwartungen an die Körper ihrer Glieder knüpft, vor allem aber in der Vielheit der Körper nur den einen Staatsbzw. Volkskörper erkennt und diese Gleichung überall sichtbar machen will. 11 Indem der Ort des Körpers in dieser neuen Politik bestimmt wird, welche Büchner als einer der ersten hellsichtig darstellte, soll die Frage gestellt werden, was für Körper auf der Bühne Chétouanes erscheinen. Körper im Bühnenraum Kommen wir zunächst zum Bühnenraum von Patrick Koch. Bereits jener Raum, in dem sich die Körper aufhalten, in dem sie sprechen, gehen, agieren, trägt zu einer Meditation über die Bühne als tertium comparationis zwischen Theater und Politik bei. Der Raum und die unterschiedliche Weise, auf die er durch sprechende Körper besetzt wird, exponiert die Frage, inwiefern auch ein solches Geschichtsgeschehen wie die Französische Revolution eine Bühne braucht und inwiefern der Bühnencharakter der Politik, weit davon entfernt, lediglich Rahmenbedingung zu sein, eigenständige Effekte erzeugt. Wir befinden uns im großen Haus des Kölner Schauspiels. Die Wände der breiten Bühne sind mit gebauschtem weißem Tuch verhangen. Auf dem Bühnenboden wurde bis zum eisernen Vorhang weißer Tanzboden ausgelegt; ausgespart ist die Rampe, die gerundet in den Zuschauerraum hineinragt, dort wurde der schwarze Bretterboden nicht überdeckt. In den Bühnenraum ist ein zum Zuschauerraum hin offenes Viereck aus schwarzem Stoff eingehängt, welches gewissermaßen eine Bühne in der Bühne definiert; der Stoff ist etwa sieben oder acht Meter hoch und er reicht nicht ganz bis zum Boden, etwa ein Meter bleibt frei. Die Darsteller treten auf und ab, indem sie unter dem Stoff hindurch gehen, sich bücken oder sich unter ihm 157 “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod hindurch rollen. Etwa auf der Hälfte dieser Bühne in der Bühne, zwischen der Rampe und der Rückbahn des schwarzen Stoffes, hängt eine Eisenstange, die hoch und runter gefahren werden kann und auf der halblinks eine weiße Leinwand eingehängt ist, die zu Projektionen von Stichen aus der französischen Revolution und von Texten - so des Monologs der Julie vor ihrem Selbstmord - genutzt wird. Vorne rechts steht eine Guillotine. Die Bühnensituation - die Tatsache, dass die Handlungen auf einer Bühne stattfinden - wird durch diese Bühne in der Bühne betont, verdoppelt und reflektiert: Und dies passt zur Situation der Sprechenden in Büchners Stück. Die Figuren Büchners zitieren die Reden der französischen Revolution. Doch bereits jene wurden im Bewusstsein dessen gehalten, auf einer Bühne zu stehen. “ [W]ir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden ” , 12 sagt Danton bei Büchner. Chétouane und Koch setzen diesen Theatercharakter der geschichtlichen Handlung bereits in der gedoppelten Bühne in Szene; und auch die Kostüme unterstreichen dies: Sie werden anprobiert, getestet, von außen an den Körper gehalten; sie dienen nicht der Charakterisierung einer Rolle, vielmehr unterstreicht das Spiel mit den Kostümen den Inszenierungscharakter des Dargestellten. Das Licht von Jürgen Kaptein ist hell, klar und kühl, oft mit einem Tageslichtfilter leicht blau gefiltert; die Lichtwechsel finden langsam und schleichend statt; nur zwei Lichtwechsel sind wirklich bemerkbar, und beide begleiten den Tod von Frauenfiguren. Das Saallicht wird während des ganzen Stückes nicht gelöscht - und somit wird auch die Zuschauerposition des Zuschauers nicht gelöscht; jener soll sich seiner Situierung im Raum bewusst bleiben und nicht identifikatorisch mit dem Bühnengeschehen verschmelzen. Gerade diese bewusste Unterstreichung der räumlichen Aufteilung in Bühne und Publikum und deren Aufhebbarkeit erzeugt einen Resonanzraum zu einem Problem, das im Stück verhandelt wird. Was ist der Ort des neuen Souveräns - des Volkes? Ist dieses auf Seite des Publikums oder auf der Bühne oder auf beiden Seiten anzusiedeln - und wie? Wenn das Licht im Zuschauerraum nicht gelöscht wird, dann wird damit der aporetische Charakter der Frage unterstrichen, die Büchners Stück in den Raum stellt: Wer kann hier - in dem von der Volkssouveränität errichteten Raum - “ wir ” sagen und unter welchen Bedingungen? 13 Wer bildet den neuen Souverän? Dabei ist bemerkenswert, dass in der Strichfassung von Chétouane und dem Dramaturgen Jan Hein jene Sequenz ausgespart wird, in der die Frage, von welchem Ort aus gesprochen wird, wenn der Volkssouverän sich äußert, auf dem Spiel steht: das Wortgefecht zwischen Robespierre und zwei Bürgern in der zweiten Szene des ersten Aktes. Doch gerade diese Auslassung verweist als solche auf den Wechsel von einer Lesepraxis des Stückes hin zum Erleben der Inszenierung: Man kann die These aufstellen, dass dieses in Aporien mündende Problem deshalb nicht auf der Bühne ausgesprochen wird, weil es bereits in den theatralen Raum eingeschrieben ist. Auf der Bühne befinden sich vier Männer und vier Frauen. Drei der Frauen sind ausgebildete Tänzerinnen und keine Muttersprachlerinnen, sie sind ganz offensichtlich - dies wird durch ihren jeweils starken, je unterschiedlichen Akzent ohne weiteren genderspezifischen “ Kommentar ” dem Publikum zu denken gegeben - jener Welt der Revolutionspolitik fremd. Viel mehr als sie sprechen die Männer; sie sprechen überdies akzentfrei, sind also in der Sprache zunächst scheinbar selbstverständlich daheim. Damit aber soll keinesfalls behauptet werden, dass die männlichen Schauspieler sich in ihre Rolle einfühlten. Zwar können über weite Strecken die Sprechrollen einzelnen Schau- 158 Jörn Etzold / Maud Meyzaud spielern zugeordnet werden (so spricht Devid Striesow über weite Strecken den Text Dantons, Robert Gwisdek jenen Camilles); doch es geht nicht darum, dass die Schauspieler eine Rolle verwahrscheinlichen, sich gar in sie verwandeln, wie es die bürgerliche Schauspieltheorie von Diderot über Martersteig bis Strasberg gefordert hat. Vielmehr artikulieren die Darsteller den Text, das heißt: Der vor-geschriebene, überlieferte Text trifft auf ihre Körper, ihre Stimme, ihren Atem, ihre Artikulationswerkzeuge und wird somit als Text gewissermaßen in den Raum gestellt. Sprechen ist hier vor allem eine Tätigkeit der Körper, welche ihm mehr oder weniger Widerstand entgegen bringen. Diese Körper aber, die hier sprechen, werden selbst gezeigt oder exponiert: nicht als transparente Medien eines inneren Ausdrucks, einer Intensität, die sich auf die Zuschauer übertragen soll, sondern in ihrer spezifischen Konstituiertheit als Körper. Jene Körper auf der Bühne sind die meiste Zeit in Bewegung, auch wenn sie sprechen. Ihr Bewegungsrepertoire besteht zu einem großen Teil aus Lockerungsübungen, in denen die Gelenke bewegt, die Sehnen gedehnt, die Muskeln kurz angespannt und dann wieder gelöst werden. Hände und Füße werden ausgeschüttelt, die Körper werden trainiert, als würden sie sich auf irgendetwas vorbereiten, was nicht eintritt. 14 Viele Tanzbewegungen werden von anderen Gliedmaßen ausgelöst: Ein Arm nimmt den anderen und führt ihn in eine Bewegung; oder ein Darsteller nimmt den Arm eines anderen, der dann die Bewegung fortsetzt. Neben diesen Tanzbewegungen gibt es wenige, isolierte Gesten politischer Rede: So wedeln die Darsteller mit dem Zeigefinger, als von Robespierre die Rede ist, der auf der Tribüne “ fingerte ” , oder sie ballen die erhobene Faust in der Volksszene, die mit Dantons Verurteilung durch das Volk endet. Während diese Gesten leicht lesbar sind und wie gestische Schlagwörter wirken, dienen die meisten Bewegungen einzig dazu, den Körper zu zeigen, seine Organisation und Artikulation, und durch die Bewegung der Körper den Raum zur Darstellung zu bringen, in dem sie sich bewegen. Die Körper werden somit als fragile und vergängliche Einheiten zur Erscheinung gebracht, die sich bewegen können, weil sie Gelenke haben und die sprechen und singen können, weil sie Lungen und Stimmritze besitzen. Eben deshalb aber wird Büchners Text auf besondere Weise hörbar. Denn jener artikuliert eben den Zusammenhang von Sprache und Physis im Kontext einer neuen Politik, der Politik der Moderne, die von den Umbrüchen “ um 1800 ” eröffnet wurde, für die die französische Revolution emblematisch einstehen kann. Jene Revolution erscheint bei Büchner als ein Theater, als ein Zitieren von “ Phrasen ” , wie es heißt - bei Büchner ebenso wie bei Marx - , von Phrasen jedoch, die eine unmittelbare Wirkung auf die Körper haben, die Körper erzeugen, dressieren, formieren und - wenn sie nicht dem neuen Begriff des Lebens entsprechen - töten. Diese Körper, die erzeugt und formiert werden, sind, und dies ist ihnen wesentlich, aus der Heilsgeschichte herausgefallen. Ihre Bedürftigkeit und Gebrechlichkeit, ihre Kreatürlichkeit verweist nicht mehr auf eine umso mächtigere, vollendetere und vollendendere Erlösung. Büchners Körper können ihre Endlichkeit nicht transzendieren. Sie sind bei ihm - überall, in der berühmten Zirkusszene des Woyzeck, im Märchen der Großmutter ebenso wie in der Gefängnisszene von Danton ’ s Tod - die Körper gottverlassener Kreaturen. Darum ergeben sich auf Chétouanes Bühne nur flüchtige Gruppenbildungen, kein Chor, keine tableauxvivants, keine durch die Vielzahl der Körper gewonnenen geometrischen Formen: Meist erscheinen die einzelnen Körper zerstreut und verausgaben sich in zwecklosen Bewegungen, in denen die Einsamkeit der Kreatur durchbricht. Als endliche Körper können sie 159 “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod sich nicht zu einem Kollektivkörper formieren; zu einer höheren Einheit, die ihre jeweilige Endlichkeit transzendierte. Sie bleiben, weil sie endlich sind, irreduzibel viele. Sterben ohne Gnade Diese Körper sind aber nicht einfach nur materiell da. Sie haben eine Geschichte, sie sind historisch entstanden - und Büchners Theatertext behandelt und exponiert genau jenen geschichtlichen Umbruch, an dem sie gebildet werden. Seit den viel diskutieren Umbrüchen “ um 1800 ” bezieht sich auf die Körper eine neue Form der Politik, welche sie nicht mehr als erlösungsbedürftige und der Erlösung fähige Hülle der Seele ansieht - als eine Hülle, die nicht zuletzt gequält werden kann, nur um die Seele zu retten. Denn über die Körper herrscht nicht mehr das Wort des Monarchen als des Stellvertreters Gottes, welches strafen und töten kann. Michel Foucault hat die neue Politik der Körper in Abgrenzung zur souveränen Herrschaft des Monarchen als “ Biomacht ” bezeichnet. Büchners Stück spielt genau in jenem Zwischenraum, in jener epistemologischen Übergangsphase zwischen der alten, souveränen Ordnung und dem neuen Regime der “ Biomacht ” - und Büchners Klarsicht besteht darin, jenen Übergang genau aufgezeichnet zu haben. Der Körper ist zwar noch Gegenstand einer möglichen Todesstrafe: So erbt der Volkssouverän in Büchners Stück - oder präziser: jene Herrschaft des Schreckens, die meint, im Auftrag des Volkes zu handeln - das ultimative, von Foucault prägend formulierte Merkmal des alten Souveräns: “ das Recht über Leben oder Tod ” . 15 Doch diese Bestrafung der Bösen erhält eine vollkommen andere Bedeutung, die sich bei Büchner, dem schriftstellerisch tätigen Medizinstudenten, treffend in einem organizistischen und medizinischen Vokabular artikuliert: Stets ist im Stück die Rede von der Guillotine als “ Kur ” , die den Volkskörper von der ihn schwächenden Seuche reinigt. Entsprechend korreliert die Strafe bzw. Tötung nicht mehr mit der Vorstellung von einer möglichen Gnade. Der moderne Körper, dem die Möglichkeit der Gnade für immer entzogen wird, wird vielmehr untersucht, durchleuchtet und seziert; sein Funktionieren wird erforscht, seine Geheimnisse werden ihm entrissen. Er wird zum Gegenstand des wissenschaftlichen Experiments, das Büchner in den Arzt-Szenen des Woyzeck weniger parodiert als vielmehr ins Extrem steigert. Und er wird formiert, trainiert, überwacht, er soll gebessert, erzogen und diszipliniert werden. 16 Jener Körper unterliegt also nicht mehr der souveränen Strafe, sondern der Norm. 17 In Büchners Stück sind es die Jakobiner, die jenen normierenden Diskurs vertreten, es ist vor allem Robespierre: Der formierte und normierte Körper ist in der Sprache des Stückes wie auch in der Sprache der jakobinischen Schriften und Reden selbst der “ tugendhafte ” Körper - während die lüsternen und schweren, tugendlosen Körper der Dantonisten diesem Modell zu widerstehen versuchen. Freilich übersetzt Chétouane die Tugendhaftigkeit in das aktuellere Register der Fitness: Während des ganzen Stückes werden die Körper - unter dem distanzierten Blick der Zuschauer, in kühlem Licht - trainiert, formiert, fit gehalten. Devid Striesow scheint, wenn er mit ausgestreckter Brust wie ein Bulle über die Bühne marschiert, gar nicht zu wissen, wo er in diesem geschlossenen Raum seine Energie loswerden soll. Doch das Training läuft ins Leere, es bleibt bei Dehnungs- und Lockerungsübungen: Diese Körper trainieren letztlich nur noch für ihren Tod. Als Körper, in ihrer Schwere und Trägheit, möchten sie sich dem Training, der Formierung entziehen: “ Wir sollten uns nebeneinander setzen und Ruhe haben ” , 18 sagt Danton, den die Melancholie zu Boden zieht. Tatsächlich sitzen die Dar- 160 Jörn Etzold / Maud Meyzaud steller oft. Doch irgendwann stehen sie, ohne durch eine Intention motiviert zu sein, wieder auf. Unruhig bewegen sie sich, bis ihr Elan wieder ausgebremst wird, in einem geschlossenen Raum, in dem nicht geblieben werden kann, der aber zugleich auch nicht verlassen werden kann, da er der einzige ist. Und eben deswegen beginnen sie immer wieder aufs Neue zu sprechen. Denn die Differenz zwischen Jakobinern und Dantonisten, zwischen moralischem Rigorismus und Hedonismus - die der Jakobinische Apparat zu nutzen weiß - verstellt letztlich den Blick für die gemeinsame Grundlage der historischen Akteure. Auf einer viel elementareren, nämlich ausschließlich physischen Ebene, vor jeder vertretbaren Position über das Verhältnis von Politik und Moral zueinander innerhalb eines bestimmten historisch gegebenen Felds, sind Büchners Körper bereits in einer Zeit angekommen, in der ihnen die Aussicht auf Erlösung abhanden gekommen ist. Danton ’ s Tod handelt nicht zuletzt von der (neuen) Unmöglichkeit zu sterben, d. h. von der Unmöglichkeit, das Sterben mit etwas anderem in Verbindung zu bringen als mit dem Prozess der Fäulnis irdischer Körper auf der einen Seite ( “ Da ist keine Hoffnung im Tod, er ist nur eine einfachere, das Leben eine verwickeltere, organisiertere Fäulnis, das ist der ganze Unterschied! ” 19 ) und jenen medizinischen Verfahren auf der anderen Seite, die das Sterben abwenden, herauszögern, schmerzfrei machen sollen, die es aber auch als „ Kur ” verordnen, wenn die Gesundheit des “ Volkskörpers ” danach verlangt. Die Melancholie des Politischen in Danton ’ s Tod rührt daher, dass unter der Schreckensherrschaft zwischen der Bühne politischer Rede und der Bühne des allgegenwärtigen öffentlichen Sterbens ein zwingender Zusammenhang besteht. Die Guillotine - die bei Chétouane von Anfang an die Szene beherrscht - bekommt eine besondere Rolle für die anbrechende Modernität. Büchner lässt ahnen, inwiefern sie den Status der menschlichen Sterblichkeit mitverändert. Denn allein der mediale Einsatz der Guillotine hat der Französischen Revolution und ihrer Nachwelt einen neuen Zugang zum Menschenkörper ermöglicht, dessen Radikalität von den Geschichtsakteuren in keiner Weise geahnt wurde. Wie Daniel Arasse in seiner wichtigen Studie zur Guillotine gezeigt hat, führte die Guillotine als neues technisches Medium der öffentlichen Hinrichtung zu Folgen, die von ihren eigentlich philanthropisch gesonnenen sukzessiven Erfindern, den französischen Medizinern Antoine Louis und Joseph Ignace Guillotin, nicht antizipiert worden waren: Dadurch, dass der Zeitpunkt, an dem der Tod eintritt, durch die Geschwindigkeit des Fallbeils unkenntlich gemacht wird, wird dem Sterbenden auf dem Guillotinengerüst auf einmal die in der hora mortis zuvor gegebene Möglichkeit der Reue schlechthin entzogen. 20 Damit fällt aber die darauf antwortende Gnade Gottes ebenfalls weg - und überhaupt die Möglichkeit einer Adresse an Gott. Büchner weiß dies sehr wohl, wenn er die wahnsinnig gewordene Ehefrau des gerade hingerichteten Camille Desmoulins zum Guillotinengerüst führt und sie in der Guillotine die Gestalt des höchsten Souveräns - den Tod - erkennen lässt: “ Es ist ein Schnitter, der heißt Tod,/ Hat Gewalt vom höchsten Gott ” . 21 Kulturhistorisch bedeutet die Guillotine, anders als von den Jakobinern behauptet, nicht den Sieg der Tugend über das Laster und sie ist auch nicht lediglich, wie von den Dantonisten angenommen, als Instrument der Vergeltung zu verstehen. Vielmehr eröffnet sie eine Welt der Gottesferne, in der der Tod als alleiniger Souverän über die neuen irdischen Souveräne - die Völker - herrscht und die Kreatur in ihrer Sterblichkeit alleingelassen wird. Diese Gottesferne oder - nach der prägnanten Formulierung des jungen Lukács ’ - 161 “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod “ transzendentale Obdachlosigkeit ” 22 macht für Büchner der Raum der Moderne aus: Er konzipiert diesen Raum auf eine eigentümliche Weise als entleert und dennoch vollgestellt. “ Die Erde ist weit und es sind viel Dinge drauf, warum denn grade das eine? Wer sollte mir ’ s nehmen? Das wäre arg. Was sollten sie auch damit anfangen? ” , 23 fragt Lucile aus Angst um Camille. Doch “ sie ” können ihr dieses eine Ding nehmen, weil es auch nur ein Ding unter anderen in einem homogenen Raum ist. In diesem Raum stehen sehr viele Dinge herum: Der Raum der Moderne ist bei Büchner nicht erfüllt von Sinn, aber er ist auch alles andere als weit und frei. Ständig stößt man sich an irgendetwas, und auch die Entfernungen zu den Sternen schrumpfen, so dass sie, wie im “ Märchen ” der Großmutter in Woyzeck, ganz einfach besucht werden können und sich als “ klei golde Mücke ” herausstellen, “ angesteckt wie d. Neuntödter sie auf die Schlehe steckt ” . 24 Die Straßen, Häuser, der Wind oder auch die Bühnenwände befinden sich in keiner anderen ontologischen Ordnung als die Sterne, die Sonne oder (abermals in Woyzeck) die Unterwelt: Alles ist auf eine merkwürdige, indifferente Weise da; es ist berührbar, ohne dass die Berührung irgendwelche Folgen hätte. Der Raum öffnet sich zum Kosmos, aber nicht zu einer Transzendenz; er beherbergt eine große, indifferente Anzahl von Sterblichen. In Chétouanes Inszenierung ist dieser Raum, den Büchners Sprach-Figuren und Sprach-Körper bewohnen, eben derselbe Raum, in dem sich auch die Zuschauer aufhalten. Auf der Bühne wird kein Illusionsraum eröffnet, vielmehr öffnet sich der Raum, in dem sich Darsteller und Zuschauer gemeinsam aufhalten, auf jenen kosmischen und dennoch engen Raum hin: “ Die Himmelsdecke mit ihren Lichtern hatte sich gesenkt, ich stieß daran, ich betastete die Sterne ” , 25 sagt Camille in der letzten Nacht in der Conciergerie, in einer langen und äußerst intensiven Szene der Inszenierung. Und über diesem Raum aber thront die Guillotine als Metonymie des bedeutungslosen Todes. In Chétouanes Inszenierung ist ihre ultimative Herrschaft bereits dadurch markiert, dass das Todesinstrument von Anbeginn leblos und stumm am Bühnengeschehen teilhat. Während die Männer sie nicht berühren, sondern nur die lange Nacht in der Conciergerie über zu ihren Füßen liegen und dort schließlich singen, nehmen die Frauen sie ihn Besitz und spielen auf ihr. Das Fallbeil fällt nur einmal - ganz zum Schluss: Dies ist in Chétouanes Version die einzig denkbare Antwort auf jenes idiosynkratische “ Gegenwort ” “ Es lebe der König! ” , das die wahnsinnig gewordene Ehefrau des Camille Desmoulins ruft. 26 Chétouane lässt diesen Satz von der neuseeländischen Tänzerin Anna Macrae auf Französisch - als markiertes Zitat - aussprechen: “ Vive le roi ” . Und nur dieser Ruf vermag es, das Bühnenelement zu beleben, dessen einmalige Bewegung den Theaterabend abschließt: Das Fallbeil fällt und ersetzt somit nicht nur den “ Namen der Republik ” , auf den sich in Büchners Stück eine Bürgerpatrouille beruft, um anschließend Lucile festzunehmen, sondern auch den traditionellen Fall des Vorhangs. Auf sein Fallen folgt ein Black. Repräsentation versus Zirkulation: Die Physis des Staates und ihre Bühne Die Politik der Körper “ um 1800 ” hat jedoch eine zweite Seite, und sie ist für Büchners Text und Chétouanes Choreographie-Inszenierung ebenfalls von großer Bedeutsamkeit. Denn im gleichen Maße, wie der Körper Gegenstand einer neuen Politik wird, wird auch diese Politik selbst nach dem Bild eines neuen Körpers modelliert. Die theatrale Repräsentation als Politikmodell des Ancien Régime wird abgelöst vom Bild des Staates als Körper, der seine Einheit nach außen wie nach innen durch ein Immunsystem sicher- 162 Jörn Etzold / Maud Meyzaud stellen muss, das Eindringlinge abweist und Parasiten wie innere Feinde bekämpft. Fand zuvor der Staat in der Figur des Königs seine vereinheitlichende, verbindende Repräsentation, so soll er nun selbst zu einem disziplinierten, formierten, tugendhaften Körper werden. Auch der Körper des Staates soll sich, wie jeder einzelne Körper, gegen sein Außen immunisieren - ein Vorgang, der in Büchners Text schon deswegen zum Scheitern verurteilt ist, weil nahezu das gesamte Personal des Stückes (die zwei Anführer der Jakobiner, Robespierre und Saint-Just ausgenommen) an der Syphilis leidet. Indem sie auf die scheiternde Immunisierung des politischen Körpers, auf eine Infektion seines Blutkreislaufs hinweist, kann die Syphilis als Index für die neu entstandene Lage gelten, auf welche die Terreur im weitesten Sinne reagiert. Denn die Allgegenwart der Geschlechtskrankheit im Stück verweist zum einen darauf, dass der Feind längst im Inneren des Körpers ist. Zum anderen geht sie mit der Prostitution einher, die im Zuge der entstehenden, durch die Revolution des Bürgertums beschleunigten kapitalistischen Ökonomie an Ausmaß gewonnen hat und sich diametral zu dem Glücksversprechen verhält, das die politische Emanzipation aller ehemaligen Untertanen bringen soll. “ Syphilis ” , sowie auch “ Prostitution ” , sind also keine bloßen Motive in Büchners Stück. Vielmehr verweisen die Zirkulation von Geschlechtskrankheiten, auf die im Stück stets angespielt wird, und die Teilnahme von Grisetten am Drama metonymisch auf zwei geschichtliche Vorgänge ersten Rangs. 1. Zum einen wird die Französische Revolution, in dem Maße, in dem sie die Macht, die das Bürgertum gesellschaftlich faktisch längst gewonnen hat, politisch “ implementiert ” , die Beschleunigung und Steigerung der kapitalistischen Ökonomie zur Folge haben: Dies weiß Büchner als Kind der Restauration all zu gut. Mit Benjamin gesprochen, kann die Prostitution nun “ in dem Augenblick den Anspruch erheben, als ‘ Arbeit ’ zu gelten, in dem die Arbeit Prostitution wird ” . 27 Das heißt für Benjamin, dass der Warencharakter der Prostituierten - anders als bei der früheren Kurtisane - in den Vordergrund gerät. Diese unverdeckte, derbe Käuflichkeit des weiblichen Körpers kontrastiert nun aufs Heftigste mit der römischen Tugendhaftigkeit, die von der neuen Ordnung proklamiert wird. Dem langen Monolog der Grisette Marion räumt Chétouane viel Platz ein, womit dem Publikum ein inszenatorisches Leseangebot der Neukodierung von Geschlecht in der modernen Politik gemacht wird. Denn wie bereits eingangs erwähnt, sind alle Frauen bei Chétouane Nicht-Muttersprachlerinnen, die durch das Ausbleiben kosmetischer Maßnahmen - etwa der Übung eines akzentfreien Deutsch - zu Figuren einer irreduziblen Fremdheit werden. In der monologischen Sequenz, in der die Grisette Marion Danton von sich fernhält, um ihm von ihrem Leben zu erzählen, kommt diese Besonderheit im Sprechen der neuseeländischen Tänzerin und Choreographin Lisa Densem deutlich zur Geltung. Sie spricht diesen Text sehr langsam, nicht als Ausdruck eines Inneren, sondern als auswendig gelernte, irreduzibel fremd bleibende Sprache, gegen deren harte Konsonanten sich ihre Zunge und ihre Lippen zu sträuben scheinen. Die Verbindung zwischen fremdem Akzent und anzüglichen körperlichen Bewegungen evoziert Berichte vom Straßenstrich im gegenwärtigen Europa, von marginalisierten, staatenlosen Frauen, die aus der Ordnung der bürgerlichen Repräsentation herausfallen, an den ökonomischen Vorgängen aber freilich teilnehmen müssen - und dies in Gestalt der Ware tun. 2. Zum anderen eröffnet die Französische Revolution in der politischen Geschichte die Epoche der Volkssouveränität und damit eine neue Verfasstheit des politischen Körpers, in 163 “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod den nun alle Körper aller Bürger “ aufgehen ” sollen. Während der königliche Leib, wie Ernst Kantorowicz in seiner berühmten Studie The King ’ s Two Bodies gezeigt hat, zugleich empirischer, sterblicher Leib und Body Politic war und durch dieses doppelte Wesen die Funktion innehatte, die Einheit des Gemeinwesens zu figurieren, 28 wird in der Französischen Revolution die Kopplung zwischen der Einheit des Körpers des Volkes und der Vielheit der empirischen Leiber der Bürger zum Problem. Stets und überall müssen die einzelnen Leiber von der Einheit des “ großen Körpers der Bürger ” zeugen. 29 Auch diese Perspektive auf das Revolutionsgeschehen lässt die Grisetten in den Vordergrund rücken: Die von Chétouanes Inszenierung hervorgehobene Intimität zwischen Grisetten und Politikern ist im Angesicht der Aufgabe, einen einheitlichen, integeren, unteilbaren Volkskörper zu errichten, ein Skandalon. Vor dem Hintergrund des rigoristischen Verständnisses von Moral und Öffentlichkeit, das die Jakobiner pflegen, vor allem aber der Erzählung von der politischen und sozialen Emanzipation aller Glieder des Staates, erscheint die Prostitution als strukturelle Schändung. In der intimen Vermischung zwischen den Repräsentanten der neuen politischen Ordnung und den Prostituierten, die Lust entfachen und sanguinische Krankheiten übertragen, treffen gewissermaßen zwei Aspekte des neuen politischen Körpers aufeinander, die in der Übergangsphase, die Büchners Stück zeigt, gerade im Begriff sind, sich auszudifferenzieren, aber bis heute parallel existieren: Es sind einerseits das aus der Monarchie und letztlich der Theologie übernommene Prinzip der Repräsentation, welches unter den Vorzeichen der Volkssouveränität in unauflösbare Aporien gerät, andererseits das Prinzip der Zirkulation, des Austauschs, der Infektion, das einen Körper betrifft, den Geld- und Warenströme wie der Blutkreislauf durchziehen. Dieser Aufteilung entspricht bei Chétouane ein feiner genderspezifischer Unterschied auf der Ebene der Körperhaltungen: Auch wenn die Männer freilich keine Rollen im Sinne des bürgerlichen Theatermodells repräsentieren, sondern einen choreographierten Text sprechen, halten sie doch stärker als die Frauen am republikanischen Körperbild und damit an der problematisch gewordenen Repräsentation fest: Sie nehmen die Bühne vor allem als Podium wahr und posieren auf ihr. Die “ alte Ordnung ” der Repräsentation erscheint somit gewissermaßen als Zitat im choreographierten Bühnengeschehen. Die Frauen aber erschließen viel deutlicher eine Tanzfläche, einen durchlässigen Raum, der im Wesentlichen offen ist und sich durch die Bewegungen, die in ihm ausgeführt werden, erst konstituiert. Die Männer zitieren die Repräsentation, die Frauen aber durchmessen einen Raum der vielen, der in der männlichen Repräsentation längst nicht mehr aufgehen kann, einen Raum des Austauschs, der Teilung, aber auch der potentiellen Ansteckung. Chétouanes Inszenierung macht somit eine Spannung szenisch wahrnehmbar, die viel grundsätzlicherer Art ist als der Streit innerhalb der sogenannten Montagne: Es ist das Auseinanderklaffen zwischen dem republikanischen Bild eines immunen, integeren Staatskörpers und dem Körperbild, das der Lehre der Physiokraten nahesteht, also zwischen der als Aufteilung der Aufgaben bzw. der Arbeit verfassten Repräsentation und der Geld- und Warenströme charakterisierenden Zirkulation. Jene auf der Bühne experimentierte Auseinandersetzung mit den Körpern (jener Konflikt zwischen dem skulpturalen, starren republikanischen Körperbild und der Zirkulation) trifft auf einen Text, der die Körpermetapher für die politische Gemeinschaft selbst explizit problematisiert. So erklärt Dantons Freund Camille Desmoulins in einer frühen Szene: “ Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht 164 Jörn Etzold / Maud Meyzaud an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muß sich darin abdrücken ” . 30 Hier werden der physische Körper mit seinen Adern, Muskeln und Sehnen und der politische Körper zusammengeschoben: Auch das Volk bekommt einen Leib, den die Verfassung einkleiden soll. Und während man diesen Text hört, sind Adern, Muskeln und Sehnen von Robert Gwisdek, der ihn spricht, und der Frauen, die sich um ihn bewegen, deutlich sichtbar. Die Problematik der Körpermetapher wird somit zweifach vor Augen geführt: zum einen durch Büchners Text selbst, welcher die hehre Idee der Verfassung in den Dienst des Hedonismus und des Voyeurismus stellt (und den Körper des Souveräns unter der Hand in den Körper einer Grisette verwandelt), und zum anderen dadurch, dass sie auf die konkreten Körper auf der Bühne trifft, die sich ganz offensichtlich nicht zu einem Körper zusammenfügen lassen. Denn während die Dantonistische Staatsverfassung, die die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte parodistisch variiert, ausgerufen wird, erfährt die beschriebene Gemeinschaft eine diskrete choreographische Umsetzung: Durch Bewegungen, die rhythmische Akzente setzen, entsteht zwar eine Gruppengestalt. Doch diese Gestalt bleibt offen, sie bietet keine Bildfläche, keine Konturen und ist vor allem nicht von Dauer. Diese optimistische Version des Zugriffs der Politik auf den physischen Körper bekommt später eine dunkle Wendung. Saint- Just hält vor dem Konvent eine Rede, in der Büchner eine sprachpolitische Apologetik des Schreckens einbaut: In Saint-Justs Metapherlehre der Terreur gleichen die sogenannten journées révolutionnaires der Interpunktion im Grundsatz der Gleichheit. 31 Der Tod soll also buchstäblich die Zwischenräume zwischen den Morphemen füllen. Es scheint uns endlich an der Zeit zu betonen, wie sehr - und gewissermaßen: wie still - Chétouanes Ästhetik einer solchen politischen Instrumentalisierung von Sprache Widerstand leistet. Denn Chétouanes Raum ist zwar keineswegs unendlich und in ihm ist kein Platz für die Parolen der politischen Emanzipation. Doch dieser Raum ist gleichzeitig einer, der sich öffnet - indem die Körper der Darsteller ihn ausprobieren und erschließen, sich flüchtig gruppieren, um wieder auseinanderzugehen, indem der Publikumsraum beleuchtet bleibt, indem vor allem zwischen den Wörtern - zwischen diesen Morphemen, in deren syntaktischer Beziehung Saint-Just den allgegenwärtigen Tod erkennt - Platz für Atem und Denken gelassen wird. Wo bei Saint-Just die Satzzeichen sind, die Todesurteilen entsprechen, da öffnet sich bei Chétouane die Sprache, das Ohr, das Denken, da wird Raum geschaffen. Bei Büchner wird das neue politische Subjekt plötzlich und unvermittelt aus der Heilsökonomie gelöst und so, wie es ist, nackt und als Kreatur, in den Kosmos geworfen: Der Tod des Königs, in dessen Nachhall Danton ’ s Tod spielt, bringt nicht nur eine Verlorenheit im Land oder in der menschlichen Gemeinschaft mit sich, sondern sofort und ohne jede Vermittlung eine Einsamkeit im Kosmos, der eine bemerkenswerte Enge aufweist. Auf der Bühne Chétouanes sieht man gewissermaßen eine vollkommene Immanenz der Sprechsituation, die keinen Konflikt erzählt und kaum eine “ Imagination ” erzeugt, sondern die jenen immanenten Sprechraum merkwürdig ausweitet, ohne dass er jemals seine Enge verlieren würde. Man sieht Körper, die sich nicht zu einem politischen Körper fügen, sondern viele bleiben; man sieht die Vorbereitung auf einen Bühnentod, der keinen Bezug zur Transzendenz mehr hat; man sieht Frauen, die der Ordnung der republikanischen Repräsentation fremd bleiben und tanzen. Und man hört, wie der Text Georg Büchners gesprochen wird. Doch zwischen den Wor- 165 “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod ten, den Gesten, den Bewegungen ist immer ein wenig Luft - in diesen Zwischenräumen wird nicht konstituiert, verfasst oder entschieden, aber durch sie wird überhaupt erst Bewegung, Sprechen, Denken möglich. Etwa zwei Stunden haben sich Darsteller und Zuschauer in diesem gemeinsamen Raum aufgehalten. Wenn das Stück dann vorüber ist, legen die Darsteller keine Rollen ab und kein illusorischer Raum verwandelt sich mit dem Applauslicht in den realen Raum: Vielmehr wurde der Raum der politischen Moderne, in dem alle, Darsteller wie Zuschauer, gemeinsam leben, während dieser zwei Stunden vermessen, ausgesprochen und ein wenig - stets ein wenig - geöffnet. Anmerkungen 1 Wir beziehen uns auf die Aufführung vom 23. 05. 2010 sowie auf einen Videomitschnitt der Premiere vom 15. 01. 2010, für den wir dem Schauspiel Köln herzlich danken. 2 Szondi, Peter. “ Theorie des modernen Dramas 1880 - 1950. ” Schriften 1. Frankfurt, 2006. 9 - 148: 18. 3 Zu Büchners Poetik des Zitats vgl. Niehoff, Reiner. Die Herrschaft des Textes. Zitattechnik als Sprachkritik in Georg Büchners Drama “ Danton ’ s Tod ” unter Berücksichtigung der “ Letzten Tage der Menschheit ” von Karl Kraus. Tübingen, 1991. Campe, Rüdiger. “ Johann Franz Woyzeck. Der Fall im Drama. ” Unzurechnungsfähigkeiten. Diskursivierungen unfreier Bewußtseinszustände seit dem 18. Jahrhundert. Ed. Michael Niehaus [et. al.]. Frankfurt, 1998. 209 - 236. Campe, Rüdiger. “‘ Es lebe der König! ’ - ‘ Im Namen der Republik ’ Poetik des Sprechakts. ” Rhetorik. Figur und Performanz. Ed. Jürgen Fohrmann. Stuttgart, 2004. 557 - 581. Müller-Sievers, Helmut. Desorientierung. Anatomie und Dichtung bei Georg Büchner. Göttingen, 2003. 4 Szondi 2006. 17. 5 Marx, Karl. “ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. ” Werke 8. Berlin, 1960. 111 - 207: 115. 6 Szondi, Peter. “ Versuch über das Tragische. ” Schriften 1. Frankfurt, 2006. 149 - 260: 260. 7 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Phänomenologie des Geistes. Werke 3. Frankfurt, 2001. 436. Druckfehler korrigiert. 8 Foucault, Michel. Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt, 1983. 159 - 190. 9 Büchner, Georg. “ Danton ’ s Tod. ” Dichtungen. Ed. Henri Poschmann. München, 2006. 11 - 90: 62. 10 Laurent Chétouane im Dialog mit Nikolaus Müller-Schöll: “ Die Suche nach dem Körper und das Drama der Präsenz. ” Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance. Ed. Stefan Tigges [et al.]. Bielefeld, 2010. 437 - 455: 449. 11 Zu diesem Problem vgl. Meyzaud, Maud. Die stumme Souveränität. Volk und Revolution bei Georg Büchner und Jules Michelet. Paderborn, 2012. 12 Büchner 2006. 40. 13 Mit diesem Problem hat sich Clemens Pornschlegel in einem Aufsatz auseinandergesetzt, der die von Büchner exponierte Logik der Volkssouveränität - jene Logik einer Konstitution, die immer zugleich Dekonstitution wäre, - erläutert: Pornschlegels terminologischer Vorschlag bezieht sich erklärtermaßen auf die staatsrechtliche Theorie des “ pouvoir constituant ” und auf das “ Paradoxon des gesetzlosen bzw. referenzlosen Gesetzes ‘ im Namen des Volkes ’” , das Büchners Danton ’ s Tod in I, 2 theatral ausbeutet. Pornschlegel, Clemens. “ Das Drama des Souffleurs. Zur Dekonstitution des Volkes in den Texten Georg Büchners ” . Poststrukturalismus, Ed. Gerhard Neumann. Stuttgart, 1997. 557 - 574. 14 “ Laurent Chétouanes Theater kann man in seinen besten Momenten beim Denken zuschauen. [. . .] Der Regie-Ingenieur bleibt fasziniert von Konstruktionen, Proportionen, Ab- und Ausmessungen. Bereit sein ist alles. Aber das aus Schauspielern und Tänzerinnen bestehende Ensemble scheint sich diesmal nicht sicher zu sein, wofür. Befangen wie in Selbstüberprüfung, strecken sie die Arme wie Wegweiser aus, tasten, schlackern sich aus, 166 Jörn Etzold / Maud Meyzaud greifen nach dem Nächsten, kuscheln sich aneinander, ohne eine rechte Position zu finden. ” Wilink, Andreas. “ Der, den das Morden ekelt. ” Nachtkritik. 16. Jan. 2010 (10. Jun. 2011) ‘ http: / / www.nachtkritik.de/ index.php? option=com_content&task=view&id=3788 ’ . 15 Foucault 1983. 161. 16 Foucault, Michel. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt, 2001. 17 Vgl. Horn, Eva. “ Der nackte Leib des Volkes. Volkskörper, Gesetz und Leben in Georg Büchners Danton ’ s Tod. ” in: Bilder und Gemeinschaften. Ed. Beate Fricke [et. al.]. München, 2011, sowie auch das jüngst erschienene Büchner-Handbuch, in dem ein Beitrag von Armin Schäfer den Zusammenhang zwischen “ Biopolitik ” und naturwissenschaftlicher Position bei Büchner erläutert - wobei dieser Zusammenhang nicht an Danton ’ s Tod gezeigt wird, sondern überwiegend an Woyzeck. Schäfer, Armin. “ Biopolitik ” . Büchner Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Ed. Roland Borgards [et. al.]. Stuttgart, 2009. 176 - 181. 18 Büchner 2006. 39. 19 Büchner 2006. 73. 20 Vgl. Arasse, Daniel. Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit. Reinbek bei Hamburg, 1988. 52 - 57 ( “ Das sterbende Haupt ” ). 21 Büchner 2006. 89. 22 Lukács, Georg. Die Theorie des Romans. Neuwied, 1965. 35. 23 Büchner 2006. 46. 24 Büchner 2006. 185. 25 Büchner 2006. 80. 26 Durch das zitierte Bekenntnis zum König, das “ im Namen der Republik ” (so die Replik der Soldaten, die Chétouane gestrichen hat) mit dem Tode geahndet wird, gibt sich Lucile selbst den Tod, nachdem ihr erster Versuch, die Welt mit einem Schrei zum Stehen zu bringen, gescheitert ist. Zum “ Gegenwort ” s. Celan, Paul. Der Meridian. Frankfurt, 1999. 27 Benjamin, Walter. Das Passagenwerk. In: ders., Gesammelte Schriften V,1. Frankfurt, 1982. 439. 28 Kantorowicz, Ernst. Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München, 1990. 29 Zu dieser vom Abbé Sieyès geprägten Metapher, vgl. de Baecque, Antoine. Le corps de l ’ histoire. Métaphores et politique (1770 - 1800). Paris, 1993. 30 Büchner 2006. 15. 31 “ Wir schließen schnell und einfach: da Alle unter gleichen Verhältnisse geschaffen werden, so sind Alle gleich, die Unterschiede abgerechnet, welche die Natur selbst gemacht hat. Es darf daher jeder Vorzüge und darf daher Keiner Vorrechte haben, weder ein Einzelner, noch eine geringere oder größere Klasse von Individuen. Jedes Glied dieses in der Wirklichkeit angewandten Satzes hat seine Menschen getötet. Der 14. Juli, der 10. August, der 31. Mai sind seine Interpunktionszeichen ” (Büchner 2006. 55). Mit den Daten des 14. Juli, des 10. August und des 31. Mai spielt Büchner auf große insurrektionelle Bewegungen an (den Sturm auf die Bastille, den Sturm auf die Tuilerien und die Festnahme der Girondins). 167 “ Politik der Körper, Körper der Politik. ” Laurent Chétouane inszeniert Büchners Danton ’ s Tod Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! Anke Detken / Anja Schonlau (Hrsg.) Rollenfach und Drama Forum Modernes Theater, Vol. 42 2014, 258 Seiten, €[D] 68,00 / SFr 87,60 ISBN 978-3-8233-6842-7 Komische oder ernste Alte, erste und zweite Liebhaber und Liebhaberinnen, Intriganten und Charakterdarsteller, Deutschfranzosen und Soubretten - das Rollenfachsystem strukturiert die europäische Theaterpraxis vom 17. bis zum 19. Jahrhundert und prägt die Dramenproduktion maßgeblich. Dies gilt Schröder ebenso wie für kanonische Dramen von Lessing, Goethe und Schiller. Der Sammelband geht der Frage nach, welche Bedeutung das Rollenfachsystem für das deutschsprachige Drama im europäischen Kontext hat. Hinzu kommen Analysen zu ausgewählten französischen, spanischen und englischsprachigen Theaterstücken. Die literatur- und theaterwissenschaftlichen Beiträge untersuchen in historischer und systematischer Perspektive, wie sich Dramentext und Theaterkonvention zueinander verhalten. 168 Jörn Etzold / Maud Meyzaud Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden Das choreografisch-diskursive Format “ walk+talk ” von Philipp Gehmacher Constanze Schellow (Bern) Das postdramatische Theater, verstanden als eine “ bestimmte ” , nicht eine “ abstrakte ” Negation des Dramatischen, ist, so Christoph Menke, gekennzeichnet durch eine Einsicht in die strukturelle Differenz zwischen Spiel und Handeln, Theater und Praxis (Menke). Im Diskurs über zeitgenössischen Tanz wird “ Praxis ” etwa zeitgleich mit Menkes Feststellung zu einem zentralen Begriff aufgewertet: Im Umfeld postdramatischer Performance verortete Stücke werden als Diskurs einer Praxis selbst-reflexiver Denkbewegungen beschrieben (Lepecki; Husemann; Sabisch). Vor dem Hintergrund dieses scheinbaren Widerspruchs wird das Verhältnis von Handlung und Spiel in dem seriellen Format walk+talk des Wiener Choreographen Philipp Gehmacher untersucht. Er lädt ChoreographInnen ein, ihre Praxis vor Publikum zu reflektieren, und zwar, indem sie diese performativ ausführen und dabei über sie sprechen. Bisher taten dies u. a. Meg Stuart, Boris Charmatz, Antonia Baehr, Mette Ingvartsen und Martin Nachbar im Wiener Tanzquartier (2008) und den Kaaistudios Brüssel (2011). Auf einer mit minimalen Interventionen präparierten Bühne akkumulieren sich im Lauf jeder Serie, wenn nicht Handlungen, so doch Handhabungen und Lokalisierungen. Sie aktualisieren sich wechselseitig in einem Prozess, der sich anders vollzieht als zeitlich linear und räumlich konsistent: relational (Löw) und durational (Bergson). Was so vorgeschlagen wird, so die These, ist eine Neu-Be-Gründung von Bewegung im Theaterraum. This is not a lecture. Don ’ t trust my words. (Oleg Soulimenko) Es gäbe keine besseren ersten Worte für einen Text über walk+walk als die ersten Worte von walk+talk #1 von Oleg Soulimenko. Sie scheinen eine Antwort auf die Frage zu geben, was von diesem, von dem Choreographen und Tänzer Philipp Gehmacher konzipierten Format zu erwarten ist. Kein Vortrag, glaubt man Soulimenko. Der Sprecher selbst rät davon, ihm zu glauben, ab. Andererseits: Traut man seinen Worten also nicht, denen zufolge dies keine ‘ Lecture ’ ist - worauf anders gründet sich unser begründetes Misstrauen dann als auf seine Worte? Alle mit (Namen) markierten Aussagen sind meinen Notizen zu den Performances und den Videoaufzeichnungen der walk+talks #1-#10 entnommen. Im März 2008 lud Gehmacher neun Choreographinnen und Choreographen ein, sich im Tanzquartier Wien in einem für alle gleichen räumlichen Setup mit zentralen Triebkräften und Parametern ihrer künstlerischen Arbeit in actu zu befassen. Die Herausforderung bestand in der Vorgabe, die im Titel mit “ walk ” und “ talk ” benannten Spielarten von Reflexion dabei möglichst eng geführt anzuwenden: Sprache und physische Performance, Reden und Tun. Beides verstanden als reflexive Äußerungen über eine tänzerisch-performative Praxis im Modus dieser Praxis selbst. Teil nahmen damals in der Reihenfolge ihres Auftretens an fünf je zweiteiligen Abenden wichtige Akteure des zeitgenössischen Tanzes in Europa: Oleg Soulimenko, Meg Stuart, Gehmacher selbst, Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 169 - 180. Gunter Narr Verlag Tübingen Antonia Baehr, Rémy Héritier, Sioned Huws, Boris Charmatz, Jeremy Wade, Milli Bitterli und Anne Juren. Im Februar 2011 gab es in den Studios des Kaaitheaters Brüssel eine Fortsetzung u. a. mit Martin Nachbar und Mette Ingvartsen. Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist die erste Version in Wien. Zur Diskussion gestellt werden soll die Frage, inwiefern es sich bei walk+talk um mehr als eine Serie von Lecture Performances oder Improvisationen handelt, nämlich um den choreographisch-diskursiven Prozess einer Neu-Aus-Handlung der Bühne als Spiel- Raum. Why don ’ t you just follow the wall? (Anne Juren) Erika Fischer-Lichte hat den Begriff der Aushandlung im Kontext ihrer Ästhetik des Performativen verwendet, dort bezogen auf die je neu in der Aufführung zu vereinbarenden partizipativen und rezeptiven Anteile im ko-präsenten Verhältnis von Akteuren und Zuschauern. 1 Der hier vorgeschlagene Begriff der Aus-Handlung meint dagegen etwas anderes, nämlich das Handeln als per definitionem aus dem Spiel- Raum Bühne ausgeschlossene Tätigkeit oder sagen wir vorsichtiger: die Spielart eines solchen Handelns. Dabei werden die Begriffe von Handeln und Spiel in walk+talk über spezifische Operationen an den Raum- und Zeit-Dispositiven ‘ Bühne ’ und ‘ Performance ’ in ein verändertes Verhältnis gebracht, ohne ihren strukturellen Gegensatz aufzulösen oder zu überdecken. Pirkko Husemann begründet die etwa um das Jahr 2000 beginnende Etablierung der Lecture Performance als vielgebräuchliches Format in der europäischen Tanzszene mit deren zunehmender Tendenz zur Selbstreflexivität: In einer Zeit, in der Choreographen sich weniger als Autoren eines Werks, denn als “ Initiatoren, Mediatoren und Forscher ” 2 verstünden, setze die choreographische Praxis das Arbeiten selbst als Aufführung in Szene und schaffe so einen “ doppelt kompatiblen Hybrid zwischen (theater-)wissenschaftlichem Diskurs und Theateraufführung ” . 3 Bei aller Skepsis gegenüber der Kategorie der Autorschaft ist der Lecture Performance damit eine charakteristische Ich-Bezogenheit eigen in Gestalt ihrer Rückbeugung auf das jeweilige künstlerische Selbst ihrer Reflexivität, das die Zuschauer vom Meta-Standpunkt seines Interesses aus adressiert. Husemann spricht an anderer Stelle von einer “ gemeinsam geteilten Meta-Reflexion ” . 4 I think about movement with options. (Milli Bitterli) In walk+talk hört man ständig das Wort “ I ” , doch wird hier jede verbale oder nonverbale Äußerung anstelle frontaler Präsentation zu einer raumzeitlichen Geste des Verweisens. Diese Gesten repräsentieren weniger im wörtlichen wie im übertragenen Sinn die Position ihrer AutorInnen im künstlerischen Feld oder im Bühnenraum, als dass sie als wahrnehmende, erinnernde und dabei alles andere als Ichzentrierte Anstrengung einer Verortung zwischen multiplen möglichen Positionierungen lesbar werden. rethinking the mouthspace. (Boris Charmatz) Wenn ich im Folgenden aus dem ‘ talking ’ der walk+talks zitiere, dann nicht, um die Künstler als Fürsprecher in meine Analyse einzuspannen. Seit im Tanzfeld im Zuge der von Husemann benannten Entwicklung Choreographen selbst massiv ihre eigene Theoretisierung oder zumindest Kontextualisierung betreiben - etwa durch die offene Kommunikation philosophischer Einflüsse oder die Veröffentlichung von Texten zur Ethik von Produktionsprozessen - steht die Tanzwissenschaft vor einem Problem. Teilte sie ihr Selbstverständnis als der Ort des analytischen Tanz-Diskurses zuvor allein mit der Tanzkritik, muss sie sich nun auch zu einem von den Künstlern, wie einige Kollegen sagen würden, ‘ inszenierten ’ Diskurs verhalten. This space is very scary to us. (Antonia Baehr) Dabei ist dieses tanzwissenschaftliche Problem nur insofern neu als 170 Constanze Schellow die Disziplin noch nicht lange an ihrer akademischen Institutionalisierung arbeitet. 5 Dennoch scheint ein Format wie walk +talk auf die beschriebene zeitgenössische Tendenz zu verweisen. Gleichzeitig interessiert es sich mehr für das Reflexivwerden in seiner körperlichen Dimension als möglichunmögliche Bewegung als für den Inhalt der auf dem Weg dorthin getroffenen Statements - und es ist damit ein im Kern choreographisches Projekt. Ich habe mich vor diesem Hintergrund für eine Textform entschieden, die die prinzipielle Gleichzeitigkeit der tanzwissenschaftlichen und der künstlerischen Artikulation aufrecht erhält. Beide Ebenen bilden wechselseitig Bezugspunkte füreinander. Sie fungieren dabei weniger als Belege, denn als Unterbrechungen, Perforationen, eben nicht als Fürsondern als Einsprecher. Do you understand me? It ’ s ok. You don ’ t have to get it. (Meg Stuart) Dasselbe gilt für die Diversität und gleichzeitige Aufeinanderbezogenheit der zehn Stimmen innerhalb der Serie. Keine steht (und spricht), so meine These, einfach ‘ für sich ’ . Mich interessieren hier weniger Inhalt und Form der einzelnen Versionen, sondern die Resonanz und Widerständigkeit, die sie innerhalb des gesetzten Rahmens an- und ineinander erzeugen. Ich betrachte walk+talk als ein kollektives choreografisches Gefüge, in dem auf der Bühne wie im Zuschauerraum mit Fragen von Aneignung und Widerstand, Einschreibung und Erinnerung, Geschichtlichkeit, Dauer und Projektion umgegangen werden muss. I. I walk. I walk and. I walk and talk. (Antonia Baehr) Antonia Baehr nimmt sich vor, den Titel beim Wort zu nehmen. Zumindest sagt sie das. Sie geht und spricht dabei aus, dass sie geht und dass sie spricht. Jeden Schritt, jedes Wort regelt der Beat eines Metronoms, das Baehr in der Bühnenmitte platziert hat und um das ihre Umlaufbahnen kreisen. Es dauert nicht lange, und Beat, Wort und Schritt zerfallen mit der Zeit unwillkürlich in ihr. Lücken tun sich auf zwischen der vorgeschriebenen Handlung und ihrer ungenügenden Realisierung. Sie kommen der Performerin mehr als entgegen. In ihrer Arbeit mit Handlungsanweisungen und Scores erhofft sich Baehr ähnliche, mit dem Kollaps von Situationen unter dem Druck überdeterminierter Strukturen auftretende Er-Öffnungen. 6 Imagine that you are crossing the room . . . (Anne Juren) Anweisungen sind deshalb so nützliche Werkzeuge, weil sie sprachlich quasi-materielle und im Austinschen Sinne faktische Realitäten schaffen, zu denen man sich verhalten muss. Handlung und Spiel, Sagen und Tun Das postdramatische Theater, verstanden als eine “‘ bestimmte ’ , nicht eine ‘ abstrakte ’ Negation des Dramatischen ” 7 , ist, so Christoph Menke, gekennzeichnet durch eine postavantgardistische Einsicht in die “ strukturelle Differenz ” 8 zwischen Spiel und Handeln, Theater und Praxis. I spend a lot of time observing my hands. (Meg Stuart) Hinter sich lässt ein solches Theater nicht das Dramatische als solches, wohl aber den dialektischen Rahmen des Projektes der Avantgarden mit seinem Anspruch, “ durch theatrale Selbstreflexion zur Lebenskunst eines experimentellen Selbstverständnisses beizutragen ” 9 : “ Ein postdramatisches Theater, das sich selbst und damit im Verhältnis zur Praxis begreifen will, ist ein Theater, das in sich einen Streit zwischen Handlung und Spiel, zwischen Dramatischem und Theatralem austrägt ” . 10 So kollidiert auch in walk+talk jeder Versuch eines Bewegungshandelns auf der Bühne zunächst mit der 171 Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden spezifischen Geologie der Spielfläche, dies jedoch im Modus einer Aus-Handlung. And she will press “ Play ” . (Antonia Baehr) Baehrs Ausdruck, als ihr klar wird, dass der falsche Track beginnt, weil sie versehentlich den falschen von zwei Ghettoblastern bedient hat, ist eine der genannten Er-Öffnungen. Sich selbst nun den Weg zum anderen, richtigen Gerät ein zweites Mal laut in aller Kleinteiligkeit vorhersagend - wie sie zur anderen Bühnenseite läuft, die Hosenbeine mit spitzen Fingern anhebt, wie sie in die Hocke geht und die diesmal korrekte Taste drückt - bei alledem ist ihr neben dem Ringen um Konzentration eine erfüllte Irritation anzusehen. Sie kann kaum glauben, dass sie ihren eigenen Spielregeln gerade ‘ wirklich ’ erlegen ist. Projection meets projection, I would say. (Philipp Gehmacher) Es ist dieses Ineinanderführen und Auseinanderbrechen von Sagen und Tun, auf das in walk+talk alles hindeutet. Nicht, um ein weiteres Mal betreten vor Publikum den Spalt zwischen Körper und Intellekt abzuschreiten oder um mit gespieltem Entsetzen die unmögliche Gleichzeitigkeit Ok, watch this! (Meg Stuart) von Materialität und Reflexion in Bezug auf das Ereignis auszusprechen. Schon gar nicht, um die Choreographen sich erklären zu lassen. Klarer wird diese Aufeinanderbezogenheit von Gehen und Sprechen, wenn man Philipp Gehmachers eigene Praxis der “ Äußerung ” (utterance) berücksichtigt, wie er sie in seinen Stücken entwickelt. Diese gestische Äußerung, das sind etwa Bewegungen der Arme, die zwischen Ausholen, Hinweisen, Zeigen, Berühren und dem Vermessen eines Abstandes oszillierend bis indifferent ihren leer laufenden Verweischarakter auf ein Anderes hin ausspielen (die Bühnenwand oder einen Mit-Performer). Sie artikulieren ein physisch-reflexives Vermögen, das in einem uneinholbaren Zwischenraum siedelt, an dem Gehmacher unermüdlich Überbrückungsarbeit leistet: dem der Intersubjektivität. 11 Für Gehmacher liegt hier der Ort der Problematisierung des Subjekts. Would you exchange space with me? (Sioned Huws) Und es geht ihm nicht um ein Gelingen oder Scheitern, sondern um den nicht-resignativen Umgang mit der Vergeblichkeit dieses Projekts. It is interesting to think about limitation. (Milli Bitterli) Seine “ utterance ” veräußert aber immer auch die Frage nach ihrem Potenzial, nach der Möglichkeit, sich hervorzubringen, zu zeigen und mitzuteilen, in einer ständigen sprunghaften Ver-Stellung des einen durch das andere durch das Dritte. Der Zwischenraum als Raum zwischen Räumen wird in walk+talk zuerst durch einen übermächtigen visuellen Eindruck verschlossen. Die Halle G im Wiener Museumsquartier, gebaut als multifunktionale Veranstaltungshalle, wurde für die Raumbearbeitung des Bildenden Künstlers Alexander Schellow entkleidet bis auf die Mauern. Tagelang ließ man Schlaufe für Schlaufe hunderte von Quadratmetern der schweren, schwarzsamtenen Schalldämmungsvorhänge abknoten. Some years ago I was performing here as a dancer. And in the middle of the performance I was exactly here. But at that moment I was kind of . . . hidden. (Rémy Héritier) Das Vorhaben, den nach theatralem Konsensus neutralisierten Raum unverhüllt zu zeigen, stellt die Theatertechnik bei einer Halle dieser Größe vor eine logistische Herausforderung. Letztlich handelt es sich nach ihrer Logik bei dem Entfernen der als feste Einbauten und kaum noch als “ Einrichtung ” wahrgenommenen Verhänge um eine besonders aufwändige Ausstattung. Ein Großteil des Raumbudgets verbrauchte sich so in umgekehrter Richtung: mit dem Wegnehmen, dem Freistellen als inszenatorischer Arbeit und als Kostenfaktor. 172 Constanze Schellow Der Raum als seine eigene Skulptur Der Effekt ist enorm. Und überraschend. Riesenhaft, überpräsent, die Wände geädert von den Zügen, den Arbeitslichtleisten und der Kabelage ist die Halle jetzt sichtbar. Doch was sieht man? The theatre as a nervous system. (Jeremy Wade) Halle G wird zu ihrer eigenen Skulptur. Hinten mittig läuft der Raum aus in eine absurde kleine Bühne auf der Bühne, eine niedrige boxförmige Apsis mit einer hohen Metalltür an der Rückseite, die den Sog seiner Tiefe noch verstärkt. Ästhetisiert wirkt, was eben noch in seiner Funktionalität verborgen war, wie verschwenderische Ornamentik. I want to imagine that this whole space comes and eats me. (Milli Bitterli) Die Halle wird anmaßend. Gefräßig. Die Auseinandersetzung mit Raum, mit diesem konstruierten Raum, findet ihre Fortsetzung in den walk +talks. Sie provoziert unterschiedliche Strategien, nicht nur in Reaktion auf die Architektur, sondern auch auf die Installation, mit der Halle G unter Mitarbeit des Soundkünstlers noid präpariert worden ist. Der mit minimalen Unregelmäßigkeiten in der Bahnenlänge und -breite verlegte Tanzteppich wirft ungehörig einige Falten, die zu störend sind, als dass man sie zufällig übersehen haben könnte. Er zieht sich fast bis an die Ränder und lässt doch eine schmale Umlaufbahn Parkettboden frei. Damit bildet er nicht die übliche komprimiert-symmetrische Tanzflächeninsel, die den Fokus von der Peripherie abzieht, aber er füllt den Raum auch nicht vollständig aus. Boden- und Standmikrofone schaffen, verbunden mit einem System aus Lautsprechern, Zonen mit speziellen Sound-Eigenschaften. 12 To describe is to create. To create is to describe. (Oleg Soulimenko) Mit dem ‘ Minimalismus ’ dieser Eingriffe verhält es sich ähnlich wie mit der so genannten Funktionalität des ‘ Realraums ’ Halle G: Er ist hier ganz klar eine ästhetische Setzung. Als solche kommt er Gehmachers eigenem Umgang mit Raum sehr entgegen, während er der Arbeitsweise etwa einer Meg Stuart oder eines Jeremy Wade einigermaßen fern liegt. Bezeichnender Weise nutzt aber gerade Stuart die Reibungsfläche, die der Raum ihr durch seine gestaltete Oberfläche bietet, maximal aus, um ihn mit der für ihre Spielart von Performance notwendigen theatralen Nervosität eben selbst aufzuladen. What do you want from me? (Meg Stuart) Auf die Zuschauer zu und wie getrieben im Rückwärtslauf zurück bewegt sie sich vor allem in der mittleren Raumflucht und lässt ihren Körper, wenn er winzig klein schon fast im Dunkel verschwindet, dank der Sound-Inversion gleichzeitig mit seinem Aufprall an der Metalltür akustisch vorwärts direkt auf die Zuschauer krachen. Könnte man also nicht auch sagen: Die Projektinitiatoren haben eine unverzichtbare Folie geschaffen. Time to be somewhere else. (Oleg Soulimenko) Sie verunmöglicht einerseits jede Verharmlosung oder Idealisierung des ‘ leeren ’ Raums als ungestaltet, neutral oder gar demokratisch, und sie bietet andererseits ein ganzes Arsenal teils versetzbarer Landmarken, mit deren Hilfe sich über die Zeit der wechselnden Nutzungen eine Vielzahl von Räumen in Reibung mit den gegebenen Optionen herausbilden kann. . . . making you exist by my gesture. (Boris Charmatz) Diskurs als Monument Schafft Anne Juren, wenn sie in ihrem walk +talk mit dem Rücken zur Seitenwand auf dem Boden sitzt und von “ being the periphery ” spricht, eine Zone der Randständigkeit? Oder aktualisiert sie nur eine vorgeschriebene Möglichkeit im Spiel-Feld? Stülpt sich im Fokus der Aufmerksamkeit beim Zuschauer nicht im selben Moment der 173 Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden Raum schon von innen nach außen und hat sein Zentrum automatisch an der Peripherie? What is your reference point? (Anne Juren) In diesem Raum, der seine Geschichte, seine Form immer schon ‘ von anderen ’ und ‘ durch anderes ’ hat, bilden sich unablässig neue Schichtungen, obwohl die weiße Fläche zu Beginn jedes Abends wieder jungfräulich und leer erscheint. Die Arbeit, mit diesen Verwerfungen umzugehen, erinnert an die Arbeit der Foucaultschen Archäologie. Die physischen und verbalen Bewegungen und ihre Spuren sind eben nicht Verweise in die Tiefe auf eine dahinterliegende Ursprünglichkeit - der Aussage, des Körpers, des Subjekts. Sie werden selbst zu Gegenständen in einem diskursiven Feld, und als solches lässt sich die Struktur walk+talk durchaus begreifen. You can ’ t steal a movement. You just use it. (Oleg Soulimenko) Das Besondere an einer Handlung, sagt Meg Stuart, sei, dass man sie wie ein Objekt von allen Seiten betrachten könne. 13 Archäologie, so Foucault - , “ behandelt den Diskurs nicht als Dokument, (. . .) sie wendet sich an den Diskurs in seinem ihm eigenen Volumen als Monument. Es ist keine interpretative Disziplin, sie sucht nicht einen ‘ anderen Diskurs ’ , der besser verborgen wäre. ” 14 For me horse riding is a matter of dissociation, abstraction because when you want to get something you ’ re facing the fact that you ’ re not speaking the same language. (Rémy Héritier) Jurens Blick von der Peripherie in die Mitte folgend, entdeckt man dort unzählige sich überlappende, schneidende Räume und Bewegungslinien Blink-blink. (Jerremy Wade) : Stuarts konfrontativer Korridor die mittlere Flucht auf und ab. Gehmachers seitlich ausgestreckter Arm, der mit den Fingerspitzen genau ihre Weglinie ‘ berührt ’ und dabei die Dramatik, mit der sie den Raum bildlich auflud, förmlich zurücknimmt, nach innen ableitet. Die Tanzteppichfalte, die seinen Arm wiederum horizontal verlängert und dort endet, wo die Zirkularität der gelaufenen Acht ihren Nukleus hatte, zu der Antonia Baehr den Raum zusammenzog. Auch Anne Juren geht Tage später eine Weile auf ihr entlang, ehe sie die Schleife anhält, mit sich beiseite nimmt und dort wieder ausrollt als grade Linie eines Umwegs entlang der Hallenwände, auf dem Sioned Huws den Raum, minutenlang um sich selbst kreiselnd, umrundet hat. Blink-blink-blink. (Jeremy Wade) Welcher Art sind diese Relationen? Und wo sind sie eigentlich oder stellen sich her: im Raum, im Körper der Performer, in der Wahrnehmung des Zuschauers oder immer schon in der Erinnerung? Was haben die einzelnen körper-sprachlichen Reflexionen hier miteinander zu tun? Was tun sie miteinander? Die Unmöglichkeit, im Raum zu sein I never see an empty space. (Meg Stuart) In walk +talk wird ein relationaler Vorgang der Verräumlichung wahrnehmbar. Choreographie kristallisiert sich als interpersonelles Netz von Verortungen und zeitlichen Kontraktionen nicht in, sondern zwischen den einzelnen Präsentationen heraus. Die Nutzungen aktualisieren sich gegenseitig in einem Prozess, der sich anders vollzieht als zeitlich linear und räumlich konsistent. Was mit dem installativen Setting vorgeschlagen wird, ist eine spezifische Art der Be-Gründung von Bewegung im Theaterraum, und ebenso die der Serialität des Formates innewohnende Zeitlichkeit einer gewissen Dauer im Verhältnis zu der fortlaufenden Realisierung von Körpergeschichte/ n. Who tells him to walk (Antonia Baehr) Der Begriff der Be-Gründung ist dabei nicht zu verwechseln mit dem der Begründung, und zwar weder im ontologischen noch im Sinn eines eindeutigen, linearen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, der in kausalen Theorien der Zeit etwa bei Kant und Leibniz erst die Lokalisierung eines Geschehens als bestimmte 174 Constanze Schellow ‘ Stelle ’ in der Zeit ermöglicht. Be-Gründung zielt vielmehr auf den Grund als materiellen Untergrund von Bewegung wie im englischen Wort “ ground ” . In seiner Kritik modernistischer Subjekt- und Bewegungsideologie weist André Lepecki darauf hin, dass ein zur Fläche planierter, abstrahierter, formloser Untergrund die choreopolitische Formation der Moderne überhaupt erst ermöglicht hat - “ for modernity imagines its topography as already abstracted from its grounding on a land previously occupied by other human bodies, other life forms, filled with other dynamics, gestures, steps, and temporalities ” . 15 Many years I was trying to get up from the floor. (Meg Stuart) In Anlehnung an Homi Bhabhas Identifikation des Zusammenhangs von Kolonialismus und Moderne attestiert Lepecki beiden eine zentrale “ spatial blindness (of perceiving all space as an ‘ empty space ’ ) ” : “ This bulldozing of the ground, a colonialist gesture, is also a gesture that allows for representation to take place on an empty flatness, and that generates, sustains, and reproduces a subjectivity that perceives its own truth as a self-propelled ‘ machine for free movement ’ (. . .) gliding along a flat and unmovable terrain ” . 16 Lepeckis Denkfigur der planierten, geschichtslosen Fläche des abstrahierten Grundes lässt sich mit Raumvorstellungen in Verbindung bringen, die Martina Löw in ihrem Entwurf einer Raumsoziologie “ absolutistisch ” genannt hat. Shifting between picture and activity. (Anne Juren) Löw wendet sich gegen Konzepte, die den Raum als Container für Körper, Menschen, Handlungen und damit als abstrakte Kategorie setzen. Sie bestreitet, dass Raum als Materialität im Sinne eines physischen Substrats überhaupt existiert. Man ist ihr zufolge nie im Raum. Auch ist Raum ‘ leer ’ nicht zu denken. Menschen sind in seine Konstitution immer schon einbezogen: “ (. . .) zum einen können sie ein Bestandteil der zu Räumen verknüpften Elemente sein, zum zweiten ist die Verknüpfung selbst an menschliche Aktivität gebunden. ” 17 Twisting spine is always the motor of being towards. (Philipp Gehmacher) Die Folge eines solchen entterritorialisierten Raumverständnisses ist, dass sich zur selben Zeit mehrere Räume am selben Platz materialisieren können, dann aber auch quasi-materielle Stabilität und Widerständigkeit aufweisen. Als “ relationale (An)Ordnung ” ist Raum zugleich strukturierend und strukturiert. 18 Er entsteht wesentlich prozesshaft. Löw unterscheidet zwei im alltäglichen Handeln parallel ablaufende Prozesse: einerseits das Errichten, Bauen oder Positionieren als die Bewegung hin zu einer Platzierung in Relation zu anderen Platzierungen, andererseits eine gegenläufige, für die Raumkonstitution aber ebenso notwendige Bewegung, in der über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse disparate Strukturen überhaupt erst zu Räumen zusammengefasst werden. 19 . . . the hard work of perception! (Oleg Soulimenko) Das Theater ist Teil des sozialen Raumes. Und doch gerät ein Raumverständnis wie es sich in der Bespielung und Betrachtung der mit rutschfestem Tanzboden ausgeschlagenen Black Box häufig niederschlägt, in die Nähe sowohl zu der räumlichen Blindheit, von der Lepecki spricht, als auch zu dem von Löw zurückgewiesenen Container-Raum. You can relax, this is not a performance. (Sioned Huws) Noch in der Raumtheorie des postdramatischen Theaters etwa bei Hans- Thies Lehmann hat Raum, auch wenn er nicht mehr als Dramen- “ Schau-Platz ” dient, im Prinzip eine unterschwellige Behälterfunktion. Zwar ist der “ postdramatische Raum ” nicht mehr die plane Projektionsfläche für einen anderen fiktionalen Ort. Aber implizit bleibt der in seiner gestalteten Durchbrochenheit das Geschehen umschließende Theaterraum dessen Behältnis. Dies wird deutlich, wenn ein Theater, das sich mit 175 Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden spezifischen räumlichen Materialitäten befasst, ausschließlich unter “ Theatre on Location ” , also Theater außerhalb des Bühnenraums abgehandelt wird. 20 Der postdramatische Raum im Theater, der sich nicht lokalisieren muss oder kann, stimuliert dem gegenüber, so Lehmann, in erster Linie “ unvorhersehbare Verschaltungen und Konnexionen der Wahrnehmung. ” 21 Reformuliert mit Löw, stimulieren in walk+talk strukturierende und strukturierte Wahrnehmungen die Konstitution einer Vielzahl von Räumen, sowohl für die Performer als auch für die Zuschauer. Sie bilden auf der Bühne eine immer wieder überbaute choreografische Architektur aus, in der sich nie nur der eine Körper befindet, der sich und sie gerade bewegt. How to stand still on stage? (Milli Bitterli) Praktiken der Aus-Handlung Will man die Bühne nicht als dem Spiel voraus- und vorgesetzte Fläche für Projektionen oder als bloßen Imaginations-Container verstehen, bedeutet das, dass sie als Raum stets neu und potenziell konflikthaft zwischen den jeweiligen Akteuren aus-gehandelt werden muss. Zu diesen Akteuren gehören in walk+talk sowohl die Choreographen-Performer als auch die Zuschauer. Beide Gruppen lassen sich nicht mehr trennen. Die Künstler verfolgen vor und nach ihren Präsentationen die übrigen im Publikum. Ihr Zugang zum eigenen proposal entwickelt sich also auf zwei Ebenen: ihrer individuellen Aktualisierung des Set-Ups und der Beobachtung anderer möglicher Aktualisierungen. 22 Die Grenze zum Zuschauerraum wird auch ganz faktisch von der Bühne aus überschritten, am radikalsten von Sioned Huws. I haven ’ t managed to achieve Philipp ’ s proposition. (Sioned Huws) Sie bittet die Zuschauer nach einer langen Zeit, in der sie wortlos mit ihnen den leeren Raum betrachtet hat, ihn an ihrer Stelle zu betreten. Kaum jemand verweigert sich dieser Einladung. Einzeln und in Grüppchen stehen, sitzen, schlendern die Leute auf der weiten weißen Fläche herum. Sie untersuchen die Technik, manche scheinen gezielt von einzelnen Choreographen etablierte Orte aufzusuchen. I look at you. I don ’ t see you, I don ’ t know who you are, but I am aware of the gaze upon me. (Philipp Gehmacher) Dagegen interessiert sich ein grauhaariger Mann im blauen T-Shirt und schwarzen Sakko viel mehr für den Ort, an dem er eben gerade noch gesessen hat. Reglos steht er mitten in der bewegten Gruppe mit Blick auf die entleerte Tribüne. Er steht und schaut weiter, selbst als nach einer Weile die Zuschauer nach und nach zu ihren Plätzen zurückkehren. Dann setzt auch er sich. Mitten auf die Bühne. Dies ist kein einfacher Platztausch. Die Situation ist in Bezug auf die Frage, wer hier für wen performt und wer wem dabei zusieht, einen Moment in der Schwebe. Leave the stage! (Antonia Baehr) Auf der Tribüne wird gelacht. Der Mann schaut dem aufmerksam zu. Bis nach einer ganzen Zeit zwei Frauen erneut aufstehen und zurück in die Halle hinein laufen, eine von ihnen auf Meg Stuarts Mittellinie an dem Mann vorbei bis zur Tür am Ende der Apsis. Kurz darauf folgt ihr Huws, die zwischenzeitlich im Auditorium gesessen hat, und verlässt den Raum. Die Leute klatschen, Huws erscheint wieder, klatschend. Alle applaudieren einander. Such an artificial gesture! (Anne Juren) In Die Aufteilung des Sinnlichen bestimmt Jacques Rancière das Sinnliche als einen Möglichkeitsraum, der als aufgeteilter vor allem auch das regelt, was nicht gesehen und nicht gesagt werden kann. Vor diesem Hintergrund etabliert er seinen Begriff des Politischen: “ Als politisch kann jene Tätigkeit bezeichnet werden, die einen Körper von 176 Constanze Schellow dem ihm angewiesenen Ort anderswohin versetzt; die eine Funktion verkehrt; die das sehen lässt, was nicht geschah, um gesehen zu werden; die das als Diskurs hörbar macht, was nur als Lärm vernommen wurde. ” 23 Do you have any questions? (Boris Charmatz) In dem Moment aber, wo der Lärm vernommen wird, ist er nicht mehr Lärm, sondern Teil einer neuen Aufteilung des Sinnlichen. Das Politische, dessen Grundlage die Annahme der Gleichheit aller ist, kann diese Gleichheit selbst nicht denken, weil - das Sinnliche neu aufteilend - immer Ungleichheiten geschaffen werden: “ Die egalitäre Einschreibung und die unegalitäre Distribution in ein Verhältnis setzend, weist der politische Akt gleichzeitig die Ungleichheit der Distribution von Körpern und gesellschaftlichen Räumen und das gleiche Vermögen sprechender Wesen nach. (. . .) Damit soll gesagt werden, dass es keine dem Politischen eigene Orte oder Handlungen gibt. Das politische Merkmal einer Handlung besteht im Geflecht, das sie bewirkt, es wird nicht vom Ort, an dem sie dies leistet, gebildet. ” 24 Could you please laugh for seven minutes. (Antonia Baehr) Wahrnehmung als Gedächtnisarbeit Wenn Raum sich prozesshaft herstellt, ist er wesentlich zeithaft. Sowohl Hans-Thies Lehmann als auch André Lepecki setzen in ihrer Kritik des Dramatischen bzw. des Bewegungsparadigmas der Moderne bei der Reformulierung des Zeitbegriffs an. Beide berufen sich auf Henri Bergsons Konzept der Dauer (durée) im Unterschied zur Zeit (temps). 25 Here I have a history of being here, and of being there and the possibility to be there. What shall I do with this history? (Oleg Soulimenko) Bergson betrachtet die Zeit als eine problematische Vermischung von Zeit und Raum. In Materie und Gedächtnis argumentiert er, dass die Gegenwart nur als Abstraktum existiert, da jede Wahrnehmung einer “ Anstrengung des Gedächtnisses ” bedarf, “ durch welche die einzelnen Momente ineinandergedehnt und verschmolzen werden. ” 26 Und an anderer Stelle: “ Man definiert willkürlich die Gegenwart als das was ist, während sie einfach nur das ist, was geschieht (. . .), und in Wahrheit ist jede Wahrnehmung schon Gedächtnis. ” 27 This is the end. (Antonia Baehr) Der homogene Raum und die homogene Zeit sind, so Bergson, weder Eigenschaften der Dinge noch Fundamentalkategorien unserer Erkenntnisfähigkeit, sondern “ der abstrakte Ausdruck für die zweifache Arbeit der Verdichtung und Zerteilung, welche wir an der bewegten Kontinuität des Wirklichen vollziehen, um uns in ihr Stützpunkte zu sichern, Operationsbasen festzulegen, ja schließlich um wirkliche Veränderungen an ihr vorzunehmen; sie sind die Schemata unserer Wirksamkeit auf die Materie. ” 28 I once did a piece where I . . . (Milli Bitterli) Die Teilnehmer von walk+talk gehen in der Halle G fast immer auch mit individueller Erfahrung um, die in der Zeit zurückliegt. Sie sind hier entweder mit eigenen Stücken aufgetreten oder haben als Tänzer in den Projekten Anderer performt. Wiederholt kehren sie zu Orten und Bewegungen dieser vergangenen Performances zurück. . . . imagining that my body. . . or a line I am making would . . . extend . . . (Philipp Gehmacher) Milli Bitterli rekapituliert in rasendem Tempo Aktionen, die sie in früheren ihrer Stücke ausgeführt hat, während sie hin und her läuft, als würde sie sich selbst folgen und zusehen, - so als fürchte sie, den Anschluss an sich zu verlieren. Meg Stuart führt mit einem reißerischen “ Watch this! ” die erste Bewegung ihrer Choreographie No One is Watching (1994) vor - wie eine isolierte Pointe ohne dazugehörigen Sketch. Rémy Héritier wiederholt mehrmals nacheinander eine Phrase, die er einmal getanzt hat. In diesen Ver- 177 Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden sionen derselben Bewegung lokalisiert er die diversen Bühnenräume, die sich je anders in sie eingetragen haben. Wie feedbacks spielt er sie zurück in den aktuellen Raum. When is the transition perceivable? (Anne Juren) Philipp Gehmacher bleibt vielleicht am dichtesten bei seiner Ausgangsfrage, wie und wo sich zwischen Sprache und Körper Spiel-Räume herstellen lassen und wo sich ihre Modi der Reflexion so aneinander brechen, dass angefangene Sätze abrupt zum Stillstand kommen, weil die Bewegung zu den Worten nicht aufschließen will. Auch er greift zurück auf Material aus seinen Choreographien, Material, das für ihn in seiner Arbeit und in Halle G bereits einen Platz hat. Und doch wird diese frühere Platzierung nicht einfach reproduziert: Gleich zu Beginn ist da dieses seltsame, deutliche, wenn auch zögerliche Zurücktreten vom eigenen Standpunkt. Come closer. (Oleg Soulimenko) Ein paar Schritte rückwärts von dem Portal zur kleinen Apsis entfernt, an dem er eben noch gelehnt hat, betrachtet Gehmacher den nun verlassenen Ort, der vielleicht auch schon gar kein Ort mehr ist, lange mit dem Rücken zum Publikum. So als projiziere er sich in die unmittelbare Vergangenheit dieser Pose, um, mit Bergson gesprochen, eine Gegenwart sich abspielen zu lassen, die nicht völlig von der Trauerarbeit über die eigene Selbstungleichheit eingenommen ist, die ja im Tanz und in der Tanzwissenschaft eine lange Tradition hat, sondern die im besten Sinn tänzerisch bewegt und mental biegsam die Verbindung zwischen Gedächtnis und Situation zu halten versucht. Es wäre dann gar ‘ kein Drama ’ mehr, dass eine solche Gegenwart wie der Raum nie einfach ist. Sie könnte sich, wie dieser Raum, mit bewegter Spiellust, als permanente Aus- Handlung - so wie die walk+talks es nahelegen - geschehen lassen. Die ‘ schwarze Kiste ’ hörte auf, “ empty flatness ” 29 zu sein. Performance wäre nicht mehr der unwiederbringliche Jetzt-Moment, sondern eine Praxis des Geschichte(n) Schreibens, in der beides, Handeln und Wahrnehmen, nur in der Bergsonschen Kontraktion, der Aktualisierung dessen, was war, was getanzt und gesagt worden ist, auf die eigene, aktuelle Position hin überhaupt möglich wird. Eyes down left. Eyes down right. Eyes right centre. Eyes centre. Eyes up. Eyes down. Smile. (Antonia Baehr) Literatur Bergson, Henri. Materie und Gedächtnis. Hamburg, 1991. Carter, Paul. The Lie of the Land. Boston, Mass./ London, 1996. Fischer-Lichte, Erika. “ Theater als Modell für eine Ästhetik des Performativen. ” Performativität und Praxis. Hg. Jens Kertscher/ Dieter Mersch, München, 2003. 97 - 111. Foucault, Michel. Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M., 1997. Husemann, Pirkko. “ Die anwesende Abwesenheit künstlerischer Arbeitsprozesse. Zum Aufführungsformat der lecture-performance. ” OB? SCENE. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film. Hg. Krassimira Kruschkova, Wien [etc.], 2006. 85 - 97. Lehmann, Hans-Thies. Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M., 1999. Lepecki, André. Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement. New York, 2006. Löw, Martina. Raumsoziologie. Frankfurt a. M., 2001. Menke, Christoph. “ Praxis und Spiel. Bemerkungen zur Dialektik eines postavantgardistischen Theaters. ” AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation. Hg. Patrick Primavesi/ Olaf A. Schmitt, Berlin, 2004. 27 - 35. Rancière, Jacques. “ Gibt es eine politische Philosophie? ” Politik der Wahrheit. Hg. Alain Badiou/ Ders., Wien/ Berlin, 2010. 79 - 118. 178 Constanze Schellow Thurner, Christina. Beredte Körper - bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten. Bielefeld, 2009. Anmerkungen 1 Erika Fischer-Lichte. “ Theater als Modell für eine Ästhetik des Performativen. ” Performativität und Praxis. Hg. Jens Kertscher/ Dieter Mersch, München, 2003, 97 - 111, hier S. 103 - 106. 2 Pirkko Husemann. “ Die anwesende Abwesenheit künstlerischer Arbeitsprozesse. Zum Aufführungsformat der lecture-performance. ” OB? SCENE. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film. Hg. Krassimira Kruschkova, Wien [etc.], 2006, 85 - 97, hier S. 86. 3 Husemann 2006, 87. 4 Husemann 2006, 89. Gabriele Brandstetter nennt ihre “ selbstreflexive Dimension (. . .) geradezu ein Strukturmerkmal der Lecture- Performance in ihrer Ausprägung als Konzept-Kunst ” und datiert ihr Aufkommen in die 1990er Jahre - in hier unausgesprochener Engführung mit dem so genannten (in der Forschung als Begriff nicht unumstrittenen) ‘ Konzept-Tanz ’ . Vgl. Gabriele Brandstetter. “ Tanz zeigen. Lecture-Performance im Tanz seit den 90er Jahren. ” Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung. Hg. Margrit Bischof/ Claudia Rosiny, Bielefeld, 2010, 45 - 61, hier S. 56. 5 Choreographen haben schon immer Reflexion und Selbstreflexion auch in Textform betrieben und waren damit an der theoretischen Herstellung des Gegenstands “ Tanz ” in hohem Maß beteiligt, wie es Christina Thurner für die Zeit des romantischen Balletts rekonstruiert. Vgl. Christina Thurner. Beredte Körper - bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten. Bielefeld, 2009. 6 Etwa in Un après-midi (2003), Danke (2006) oder Lachen (2008). 7 Christoph Menke. “ Praxis und Spiel. Bemerkungen zur Dialektik eines postavantgardistischen Theaters. ” AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation. Hg. Patrick Primavesi/ Olaf A. Schmitt. Berlin, 2004, 27 - 35, hier S. 27. 8 Menke 2004, 32. 9 Menke 2004, 29 ff. 10 Menke 2004, 34. 11 Herausgearbeitet wurde dieser Aspekt besonders explizit in den Produktionen mountains are mountains (2003) und incubator (2004 - 2007) sowie in dem Trio Gehmachers mit Meg Stuart und dem Videokünstler Vladimir Miller the fault lines (2010). 12 Regelmäßig über der hinteren kleinen Apsis verteilte Mikrofone sind etwa mit einem äquivalenten, im Maßstab gestreckten Lautsprechernetz über der Tribüne verbunden, das den Klang aus der größten Raumtiefe direkt über den Zuschauern wiedergibt. Der Ton aus der vorderen Bühnenmitte, dem Ort der direktesten Frontalansprache dagegen, kann umgekehrt gespiegelt nach hinten an die Metalltür der Apsis projiziert werden. Diese und andere Interventionen, die Widerstände, Faltungen und Verwerfungen im Raum erzeugen, sind einzeln verfügbar. How can I connect? (Anne Juren) Sie können auf Wunsch von den Choreografen aber auch deaktiviert werden. 13 Meg Stuart. walk+talk #2. 14 Michel Foucault. Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M., 1997, 198. 15 André Lepecki. Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement. New York, 2006, 14. 16 Lepecki 2006, 100; Lepecki zitiert hier Paul Carter. The Lie of the Land. Boston, Mass./ London, 1996, 364. 17 Martina Löw. Raumsoziologie. Frankfurt a. M., 2001, 224. 18 Löw 2001, ebd. 19 Vgl. Löw 2001, 160 f. 20 Hans-Thies Lehmann. Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M., 1999, 304 - 306. 21 Lehmann 1999, 298. 22 Dabei ist zu betonen, dass solche ‘ Beobachtung ’ in ihrer Eigenschaft als Wahrnehmung nicht nur umfasst, was im Moment sichtbar ist. 23 Jacques Rancière. “ Gibt es eine politische Philosophie? ” Politik der Wahrheit. Hg. 179 Sehen lassen, was nicht geschah, um gesehen zu werden Alain Badiou/ Ders., Wien/ Berlin, 2010, 79 - 118, hier S. 83. 24 Rancière 2010, 95. 25 Lehmann geht es darum, die Theaterzeit als subjektiv erfahrene gegenüber einer objektiv messbaren Zeit auszuweisen; Lepecki dient der Bezug auf Bergson dazu, der Bewegung über die Redefinition eines ihrer beiden bestimmenden Parameters - Zeit und Raum - einen Ausweg aus ihrer Verkettung mit der Moderne als “ being towards movement ” zu erschließen. Vgl. Lehmann 1999, 309ff; Lepecki 2006, 128 ff. 26 Henri Bergson. Materie und Gedächtnis. Hamburg, 1991. 19. 27 Bergson 1991, 145. 28 Bergson 1991, 210. 29 siehe Fußnote 16. 180 Constanze Schellow Das Theater Nanzikambe Arts in Malawi Das Portrait einer Bühne in Südostafrika Thomas Spieckermann (Konstanz) Publikationen über zeitgenössisches Theater in Subsahara-Afrika sind rar. Der vorliegende Artikel versucht, durch eine Analyse des Theaters Nanzikambe Arts, ausgewählter Inszenierungen sowie seiner Stellung in der aktuellen Theaterlandschaft Malawis zum Forschungsstand beizutragen. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Untersuchung der in den Aufführungen verwendeten theatralen Ästhetik. Der Artikel basiert dabei außer auf der Forschungsliteratur zum Theater in Subsahara-Afrika insbesondere auf persönlicher Rezeption von Inszenierungen sowie einer Fülle von Gesprächen und Interviews mit malawischen Künstlern, die aus einer intensiven dreijährigen Zusammenarbeit mit Nanzikambe Arts resultieren. 1 Das Umfeld: Ein Abriss der Theaterlandschaft in Malawi Theater blüht in Malawi in allen geographischen Regionen und in unterschiedlichen ästhetischen Ausprägungen, die in ihrer Gesamtheit nicht Thema dieses Aufsatzes sein sollen. Eine kurze Skizze der zeitgenössischen Theaterlandschaft Malawis erscheint hingegen für die Einordnung der Bühne Nanzikambe Arts sinnvoll. In diesem Zusammenhang muss man berücksichtigen, dass in Subsahara-Afrika der Begriff Theater nicht von dem des Performativen zu trennen ist. Von dieser Grundannahme ausgehend, kann man die Wurzeln des gegenwärtigen Theaters in Malawi im Wesentlichen in zwei unterschiedlichen historisch-kulturellen Bezugssystemen ausmachen. Das erste Bezugssystem stellt die ethnische Struktur des Landes und die daraus hervorgehende unterschiedliche kulturelle Ausprägung dar. Malawi ist ein Agrarstaat mit nur zwei großen Städten - Lilongwe und Blantyre mit jeweils rund 700.000 Einwohnern. Der größte Bevölkerungsanteil Malawis lebt nach wie vor in ländlichen Gebieten, die sich historisch-ethnisch ausdifferenzierten. In diesen Gesellschaften ist bis heute eine reiche Kultur aus Tanz, Musik und performativen Elementen lebendig, die häufig von tradierten Mythen, von Genese, Abgrenzung und Migration einzelner Ethnien erzählen. 2 Diese Kultur des Performativen stellt eine Säule des aktuellen Theaters in Malawi dar. 3 Das zweite Bezugssystem ist das europäische Aufführungsverständnis, das während der britischen Kolonialzeit eingeführt wurde und die Unabhängigkeit im Jahre 1964 überdauert hat. Nachhaltig sichtbar wurde diese Form der Bühnenkunst durch die Gründung des Secondary School English Drama Festivals im Jahr 1969: Um das Verständnis der englischen Sprache unter ihren Schülern zu verbessern, leiteten damals Englischlehrer aus allen Teilen des Landes Theatergruppen an, britische dramatische Literatur aufzuführen und auf dem Festival zu zeigen. 4 Diese zwei Bezugssysteme verschmolzen in der zeitlichen Folge, so dass im gegenwärtigen malawischen Theater meist performative und europäische Aufführungsformen amalgamieren. So gründete beispielsweise der Autor Steven Ndhlovu das Wandumi Theatre in Liwonde und entwickelte Dramentexte, die eine europäische Dramaturgie aufgreifen und diese mit dem politisch ausgerichteten Protest Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 181 - 190. Gunter Narr Verlag Tübingen Theatre Südafrikas verbinden. 5 Stanley Mambo hingegen, Schauspieler und Gründer der Mwezi Entertainment Arts Company in Lilongwe, benutzt in seiner Inszenierung Gany ’ (2011) akrobatische Elemente und verbindet diese mit dramatischen Texten, um seinerseits mit dem Mittel des Theaters politische Fragestellungen zu untersuchen: To some people, Africa is portrayed as an irredeemable beggar, but the question that the play raises is: ‘ What is the African elite class doing to redeem Africa from this situation? ’ The snobbish elite class are seen wrinkling their noses at the squalor that their fellow Africans are experiencing, yet they are not taking any action to alleviate the situation, except enjoying themselves in the comfort brought about by the wealth they amassed. 6 Diese zwei Künstler seien beispielhaft für die reiche Theaterkultur genannt, die in den letzten Jahrzehnten in Malawi entstanden ist und auch zu einer großen Bandbreite neuer malawischer Dramatik geführt hat. Sie ausführlicher zu analysieren wäre Aufgabe einer eigenständigen Forschungsarbeit. 7 Eine besondere Rolle in der Theaterlandschaft Malawis nimmt das Theatre for Development ein. Historisch reichen die Wurzeln ins Jahr 1970 zurück: Zu diesem Zeitpunkt gründete sich das Travelling Theatre am Chancellor College der University of Malawi: Eine Gruppe von Studenten griff virulente Themen der malawischen Gesellschaft, wie z. B. Zugang zu öffentlicher Bildung, Fragen der Frauen- und allgemein der Menschenrechte auf, verdichtete sie dramaturgisch im Kollektiv in der Art von Devised Plays und führte sie auf Tourneen im ganzen Land auf. 8 Von seinem Selbstverständnis und Anspruch her lässt sich das Travelling Theatre am Abb. 1: „ Welt 3.0 - Maschinerie Hilfe “ von Clemens Bechtel, Thokozani Kapiri, Misheck Mzumara, Thomas Spieckermann. Auf dem Foto: Julia Philippi und Dipolathu Katimba. Foto von Ilja Mess. 182 Thomas Spieckermann ehesten in die Vielzahl von Theatergruppen in jungen, gerade unabhängig gewordenen Staaten des südlichen Afrikas einordnen, die sich mit den Theorien von Paulo Freire und des Theaters der Unterdrückten von Augusto Boal erklären oder auf sie zurückführen lassen. Sie alle versuchten, getragen durch einen aufklärerischen Impetus, Elemente des traditionellen Theaters mit denen des europäischen Theaters zu verbinden und ihre Aufführungen möglichst weitflächig im Land zu zeigen. Diese Form des Popular Theatre ist in der Theaterwissenschaft ausführlich beschrieben und analysiert worden. 9 In Malawi haben in diesem Zusammenhang die Non-Governmental-Organizations (NGOs) eine große Bedeutung, die seit dem Ende der diktatorischen Regierung von Hastings Kamuzu Banda (Präsident Malawis 1966 - 1994) und der folgenden Öffnung des Landes enorm an Zahl und Bedeutung gewonnen haben. Um insbesondere in ländlichen Gebieten ihre Ziele durchzusetzen - z. B. Aufbau und Erhalt einer sanitären Infrastruktur, Aufklärung im medizinischen Bereich (HIV/ AIDS, Malaria etc.), Förderung des Verständnisses für demokratische Strukturen 10 - und die Unterstützung der malawischen Bevölkerung für ihre Projekte zu gewinnen, greifen viele NGOs auf das Medium Theater zurück. Diese Aufführungsform wurde als Theatre for Development maßgeblich von Theaterpraktikern aus akademischen Kreisen Südostafrikas durchgesetzt. Christopher Kamlongera, der intensiv zu dessen Erforschung beigetragen hat, beschreibt die Arbeitsweise einer Theatergruppe des Chancellor Colleges in der ländlichen Gegend um Liwonde wie folgt: Use of theatre as a tool for development is becoming widespread in Africa as a whole. The strategy in ‘ Theatre for Development ’ Abb. 2: „ The Messenger “ von Aaron Ngalonde, bearbeitet von Misheck Mzumara und Mphatso Chidothe. Auf dem Foto Otooli Masanza und Ensemble von Nanzikambe Arts. Foto von Ilja Mess. 183 Das Theater Nanzikambe Arts in Malawi work is to shift emphasis from script as happens in conventional ‘ professional ’ theatre to the process of creating the drama and what happens thereafter. [. . .] Whereas the script and the actor dominate in the ‘ professional ’ theatre, it is the creative process - which is dependent on research - that is central to ‘ Theatre for Development ’ . 11 In welcher Hinsicht reiht sich nun das Theater Nanzikambe Arts in Blantyre in die bisher vorgestellte Theaterlandschaft Malawis ein? Betrachtet man die gesellschaftspolitischen Anliegen sowie die theatralen Bereiche, in denen die Gruppe aktiv ist, so lassen sich zahlreiche Bezüge bzw. Parallelen erkennen: Theaterpädagogen arbeiten in Workshops beispielsweise mit Straßenkindern, mit misshandelten Frauen, mit Inhaftierten oder ehemals Inhaftierten malawischer Strafgefängnisse. 12 Neben dieser theaterpädagogischen Arbeit entstehen Stücke in der Form des Theatre for Development - zuletzt die Stückentwicklung “ I will marry when I want ” , die in einer Tournee in über 30 kleinen Städten und Dörfern des Landes gezeigt wurde und aktiv zur Stärkung des Selbstbewusstseins und der Selbstbestimmung der Frauen in den ländlichen Gegenden Malawis beitragen sollte. 13 Das Theater Nanzikambe Arts - Organisation und Struktur einer Bühne in Südostafrika Woher rührt dann die besondere Rolle von Nanzikambe Arts in der jungen, impulsiven und in stetem Wandel begriffenen Theaterszene Malawis? Diese ist primär dadurch gekennzeichnet, dass es keine finanzielle Sicherheit für die diversen Theatergruppen gibt, die weder von Seiten des Staates, der Provinzen oder der Kommunen subventioniert werden. Jede Gruppe muss sich durch Eintrittserlöse oder durch die spezifische Förderung internationaler Organisationen erhalten. Ensembles und Theater entstehen und vergehen daher in rascher Folge. Die Sonderstellung des Theaters Nanzikambe Arts lässt sich vor diesem Hintergrund allein schon an seinem Alter und seiner Struktur erkennen: Es wurde 2003 von den Britinnen Kate Stafford und Melissa Eveleigh sowie dem Malawier Smith Likongwe in Blantyre gegründet und ist nach Kenntnis des Verfassers damit die älteste durchgängig aktive Theatergruppe des Landes. 2005 wurde es in die Organisationsform einer Local NGO überführt, ein malawisches Board of Trustees bestellt seitdem die Theaterleitung, überwacht und entlastet deren Entscheidungen. 2006 schied Kate Stafford aus, Melissa Eveleigh leitete das Haus mit wechselnden Partnern - zuletzt mit dem Südafrikaner William Le Cordeur. Im Jahr 2011 führte das Board eine einschneidende Strukturveränderung durch. Dieser lag das Anliegen zugrunde, dass Nanzikambe Arts auch in seinen Leitungsfunktionen in ausschließlich malawische Hände übergehen sollte. Melissa Eveleigh verließ daraufhin Nanzikambe Arts, das seitdem von Chris Nditani als Managing Director und Thokozani Kapiri als Arts Programme Manager erfolgreich geleitet wird. Nanzikambe Arts verfügt über rund 20 feste Mitarbeiter, die unter anderem in den Abteilungen Künstlerische Leitung, Organisation, Verwaltung und Pädagogik tätig sind. Darüber hinaus existiert ein großer Pool freier Mitarbeiter und Schauspieler, die für spezifische Inszenierungen engagiert werden. Finanziert wird das Theater durch das Funding internationaler Partner wie z. B. der Norwegischen Botschaft, USAid, GIZ, Trocaire, Africalia. Als neuer Partner ist durch das Projekt “ Crossing Borders - von See zu See ” das Theater Konstanz hinzugetreten, dessen Kooperation maßgeblich durch den Fonds Wanderlust der Kulturstiftung des Bundes und das Goethe-Institut finanziert wird. 184 Thomas Spieckermann Neu und nach Kenntnis des Verfassers einmalig in Malawi ist des Weiteren, dass Nanzikambe Arts über eine eigene Bühne im Naperi Township im Süden Blantyres verfügt - alle anderen Bühnen des Landes gehören Institutionen oder werden von Privatleuten vermietet. 14 Es ist eine überdachte Holzbühne mit Seitenwänden aus aufrollbaren Plastikplanen, vor der in einem betonierten, halbrunden Auditorium unter freiem Himmel, das an einen antiken Bühnenbau erinnert, rund 300 Zuschauer Platz finden. Die großen Inszenierungen von Nanzikambe Arts haben hier ihre Premieren und touren dann durch das Land, meistens nach Lilongwe und Zomba, manchmal auch in das geographisch weit entfernte Mzuzu, nach Liwonde am Malawisee oder in kleine Städte des Landes. Im Hinblick auf die Ausstattung mit Räumlichkeiten, Fördermitteln und einer auf Kontinuität angelegten Organisation lässt sich Nanzikambe Arts durchaus als Ausnahmefall in Malawi bezeichnen. Doch gilt dies auch im Hinblick auf die künstlerische Ausrichtung und die theatrale Ästhetik? Zur theatralen Ästhetik von Nanzikambe Arts am Beispiel von “ The Frogs ” und “ The Messenger ” Auffällig in der Programmgestaltung von Nanzikambe Arts ist, dass von Beginn ihrer künstlerischen Arbeit im Jahr 2003 an große europäische Klassiker adaptiert und inszeniert wurden - so z. B. The African Hamlet (2003) und African Macbeth (2004) nach William Shakespeare, The Little Prince (2005) nach Antoine de Saint-Exupéry, Freedom nach Jon Fosse (2006), A Doll House (2006) und Nora ’ s Sisters (2007) nach Henrik Ibsen, The Frogs (2009) nach Aristophanes sowie Makwacha Hip-Opera nach Brechts Dreigroschenoper (2010). 15 Die anspruchsvolle und selten gespielte Komödie Die Frösche spielt in der Unterwelt. Theatergott Dionysos, begleitet durch seinen Sklaven Xanthias - das erste komische Herr- Diener-Paar der Theatergeschichte - , soll den Streit entscheiden, ob Aischylos oder Euripides den Platz des größten Tragödiendichters einnehmen soll. Dionysos unterbricht das Wortgefecht der Kontrahenten durch ironische Kommentare und entscheidet zuletzt zugunsten von Aischylos, dem Bewahrer der Tradition. Die Inszenierung von Nanzikambe Arts griff diesen Grundplot auf und übertrug ihn in die afrikanische Gegenwart. Regisseur William Le Cordeur deutete die Figur von Aischylos als einen selbstbewussten konservativen Vertreter einer malawischen Community, der sich aktiv gegen jeden Einbruch der Moderne in traditionelle Lebensweise und Denken verwahrt. Euripides hingegen wurde zu einer in der globalisierten Welt vernetzten Figur, die für Wandel, Fortschritt und Aufgabe hinderlicher Traditionen eintritt. Auf der Grundlage improvisierter neuer Texte versuchen beide Figuren, das Publikum von ihrer Sichtweise zu überzeugen. Richter Dionysos überlässt dem Publikum durch ein Mehrheitsvotum die Entscheidung, wer den Sieg im Wettstreit davontragen soll. In einem Interview mit dem Verfasser sagte Le Cordeur, dass sich erstaunlicherweise in allen Vorstellungen das traditionell verwurzelte Denken durchgesetzt hat. Der Widerstreit der beiden Positionen spiegelte für Le Cordeur die Zerreißkräfte der gegenwärtigen malawischen Gesellschaft wider. Das Theater ist für ihn ein Mittel, um diese Kräfte bewusst zu machen und einen Diskurs anzustoßen: “ Our plays are done in the way that people should have a debate on what is good and what is right, so The Frogs is adapted just to fit that scope in the Malawian context ” , Melissa Eveleigh said. William Le Cordeur who is directing the new production said the adapted 185 Das Theater Nanzikambe Arts in Malawi production challenges the audience to consider how performance culture can influence the reflection of society and politics. ‘ The reason of adapting a Greek classic into a contemporary Malawian play was to explore issues in the rapidly developing country ’ , he said. He said the play explores the ever changing contemporary culture to traditional values. 16 Die Entscheidung, in kontinuierlicher Folge europäische Klassiker zu adaptieren und sie nach ihrer Relevanz für die gesellschaftlichpolitische afrikanische Realität zu befragen, ist nach Kenntnis des Verfassers singulär in der malawischen Theaterwelt und löst, so kann man schlussfolgern, großes Interesses bei internationalen Partnern und Festivals aus. 17 Es schließt sich die Frage an, welche ästhetischen Mittel Nanzikambe Arts in seinen Inszenierungen verwendet und welche Spielweisen malawische von deutschen Schauspielern unterscheiden? Das Projekt “ Crossing Borders - von See zu See ” der Theater Konstanz und Nanzikambe Arts gibt beiden Bühnen die Möglichkeit zu direkter Zusammenarbeit und zu einem Austausch von Inszenierungen. So zeigte das Theater Konstanz im Juli 2011 die Uraufführung von Nkhata Bay - Inventing Parzival von Clemens Bechtel in Malawi. 18 Im Gegenzug präsentierte Nanzikambe Arts im Juni 2011 The Messenger von Misheck Mzumara nach Aaron Ngalonde in Konstanz. Inhaltlich gab es nur eine vorab besprochene Setzung: Beide Theater sollten sich mit ihren eigenen kulturellen Wurzeln theatral auseinandersetzen. 19 The Messenger basiert auf mythischen Überlieferungen, die vom Schicksal des Regenmachers M ’ bona erzählen. Historisch betrachtet gehört diese Figur in den Kontext des Abspaltungsversuchs der Lundu von der Herrschaft der Kalonga in der Lower Shire Area im Malawi des ausgehenden 16. Jahr- Abb. 3: „ The Messenger “ von Aaron Ngalonde, bearbeitet von Misheck Mzumara und Mphatso Chidothe. Auf dem Foto Misheck Mzumara und Ensemble von Nanzikambe Arts. Foto von Ilja Mess. 186 Thomas Spieckermann hunderts. Die politische Sezession wurde 1623 durch die Kalonga unterdrückt, eine religiöse Abspaltung der Lundu fand aber statt. Die tradierte Geschichte um den Regenmacher ist der Gründungstext des M ’ bona-Kultes, der bis heute in der Provinz Nsanje lebendig ist. 20 Steve Chimombo übersetzte mit seiner Dramatisierung The Rainmaker, die 1975 in Zomba uraufgeführt wurde, den Mythos auf das Theater. 21 Mzumara und Ngalonde legten nun eine neue Fassung des Stoffes vor, die als Devised Play entwickelt wurde. Die Aufführung beginnt mit einer Folge kurzer pantomimischer Szenen, die in Europa spielen: Menschen kaufen in einem Supermarkt ein und stehen in einer Schlange an der Kasse, Menschen fahren Bus in einer Großstadt, ihre Fahrscheine werden kontrolliert. Typische Gesten wie das Scannen von Barcodes werden repetiert und stellen die Wiederholung des immer Gleichen dar. Es sind Szenen aus dem europäischen Alltag, die dann unvermittelt durch die Explosion einer Bombe unterbrochen werden. Auftritt eine Figur, die unter Aufhebung der vierten Wand und in direktem Kontakt mit dem Publikum kommentierend durch den weiteren Abend führt - ein Kunstgriff, der an Brechts episches Theater erinnert. Die Figur schlussfolgert, dass religiöse Konflikte Auslöser für Gewalt und Terror in der westlichen Welt sind. Auch in Malawi existiere eine Fülle aktiver religiöser Gemeinschaften, die aus anderen Kulturkreisen kommend keinen Konnex mit der afrikanischen Gesellschaft hätten. Der Mythos von M ’ bona, der nun detailliert nacherzählt wird, dient in der Folge als ein Beispiel für eine genuin afrikanische Religion. Als ästhetische Elemente verwendet die Aufführung auch weiterhin Mittel der Pantomime und des epischen Theaters. Die folgenden Episoden des Mythos werden zunächst dem Publikum in englischer Sprache erzählerisch erläutert und dann szenisch dargestellt - entweder wortlos oder in Chichewa, der afrikanischen lingua franca Malawis. Diese Szenen treiben die äußere Handlung voran. Die Regie nutzt dabei szenische Arrangements, schauspielerische Gänge und performative tänzerische Elemente, die einer rhythmisierten, abstrahierenden Form verhaftet sind. Nicht im Fokus stehen Dialoge oder sich zuspitzende Figurenkonflikte. Der Spannungsbogen der Aufführung folgt dem des Mythos, er benutzt weder retardierende noch zuspitzende Elemente und greift damit keine Mittel einer klassischen europäischen Dramaturgie auf. Stattdessen stellt die Inszenierung eine starke Identifikation mit der Hauptfigur her. Seine Deutung als Underdog, die Gefahr, in die er Abb. 4: „ Welt 3.0 - Maschinerie Hilfe “ von Clemens Bechtel, Thokozani Kapiri, Misheck Mzumara, Thomas Spieckermann. Auf dem Foto: Michael J. Müller, Noah Bulambo, Julia Philippi. Foto von Ilja Mess. 187 Das Theater Nanzikambe Arts in Malawi sich begibt, seine Triumphe und sein Leiden stellen diese Wirkung her - fast im antiken Sinne des Eleos. Entgegen dem europäischen Theaterverständnis benutzen die Darsteller von Nanzikambe Arts in ihrer Schauspielkunst weder Subtexte noch zeigen sie elaborierte Figurenbögen, vielmehr üben sie eine große Suggestivkraft auf die Zuschauer aus, die sie durch ihre physische, direkte, und expressive Spielweise herstellen. Szenen, in denen Regen beschworen wird, nutzen ebenso musikalische und tänzerisch-performative Elemente wie Passagen mit Bühnenkämpfen. Verallgemeinernd kann man schlussfolgern, dass die malawischen Schauspieler im Gegensatz zur deutschen Tradition weniger introspektiv agieren, weniger das Nachempfinden von Emotionen und Darstellen innerer Zustände ins Zentrum rücken, sondern vielmehr das Erzählen der Fabel und die Ausgestaltung der Figuren durch eine qua ihrer Physis expressive Spielweise. Sie stellen so emotionale Zustände ihrer Figur dar und nutzen die Nähe zum Publikum, die durch die Aufhebung der vierten Wand möglich ist. Die Fokussetzung auf die Darsteller wird durch eine starke Reduktion aller weiteren illusionistischen Bühnenzeichen verstärkt. So besteht das Szenenbild nur aus drei schlicht bemalten Rücksetzern, die Strohhütten in einem malawischen Dorf in der Nsanje Provinz skizzieren. Auch Kostüme, Maske, Licht und Toneinspielungen sind auf ein Mindestmaß beschränkt, stellen in ihrer Konkretheit aber den Realismus der Szenen her - Schalen, Töpfe, Matten, Kleidung aus Tüchern evozieren häusliches Interieur, Speere, Schleudern und Keulen hingegen entschlossene Kriegszüge. Schlussfolgerungen Nanzikambe Arts führt in seiner Theaterkunst eine selbstbewusste Abgrenzung zu Europa durch. Dies wird auf inhaltlicher Ebene deutlich durch die szenische Darstellung Deutschlands als Massengesellschaft, die durch den Terrorismus bedroht ist, und durch die durchaus stolze Darstellung Malawis als ein Land mit reicher Kultur und eigenen religiösen Mythen. Auch auf ästhetischer Ebene eifert Nanzikambe Arts keineswegs europäischen Aufführungstraditionen nach. Weder adaptieren die Künstler den Stil britischer Konversationsstücke oder “ Well-made-Plays ” , noch kopieren sie in Europa übliche schauspielerische Spielweisen. Epische Elemente mischen sich stattdessen mit performativen Charakteristika - Bewegung, Tanz, Musik - , die wiederum eine starke physische Präsenz der Schauspieler auf der Bühne erzeugen. Die bewusst verfolgte Reduktion in der Ausstattung schafft zusätzliche Konzentration auf die Darsteller. Diese ästhetischen Entscheidungen sind zumindest in der Theaterlandschaft Malawis - vielleicht sogar in einer geographisch größeren südostafrikanischen Region - singulär und machen Nanzikambe Arts zu einem Protagonisten der Theaterszene und der künstlerisch-ästhetischen Entwicklung des Landes. Anmerkungen 1 Der Verfasser ist Chefdramaturg des Theaters Konstanz und Künstlerischer Leiter des Projekts “ Crossing Borders - von See zu See ” . Dieses Projekt verbindet über drei Jahre (2009 - 2012) das deutsche und das malawische Theater als Kooperationspartner. Die Zusammenarbeit besteht aus einem Austausch von Künstlern und Inszenierungen sowie der gemeinsamen Erarbeitung einer Uraufführung, die mit einem gemischten Team von Autoren, Regisseuren und Schauspielern aus beiden Ländern realisiert wird ( “ Welt 3.0 - Maschinerie Hilfe ” , Uraufführung 17. April 2012 am Theater Konstanz). Vgl. dazu www.theaterkonstanz.de sowie 188 Thomas Spieckermann www.kulturstiftung-des-bundes.de. Die internationale Zusammenarbeit wurde durch die Förderung im Fonds Wanderlust der Kulturstiftung des Bundes möglich und wird unterstützt durch das Goethe-Institut. 2 Vgl. dazu z. B. Ntara, Samuel Josia. The History of the Che ŵ a. Wiesbaden, 1973. 16 f. sowie Schoffeleers, Matthew. “ Introduction. ” The Rainmaker. Hg. Steve Chimombo, Limbe, o. J. 5. 3 So erforscht u. a. das Department of Fine and Performing Arts des Chancellor Colleges der University of Malawi in Zomba die theatrale Diversität der unterschiedlichen Ethnien Malawis. Vgl. www.chanco.unima.mw (05. 10. 2011). 4 Diese Schultheater-Festivals existieren bis heute. In den letzten fünf Jahren fanden sie als Association of teaching English in Malawi Drama Festival (ATEM) in Blantyre statt. Vgl. Mponda, Justice. ATEM Drama returns with bang: We want to resurrect English Drama. www.malawivoice.com (05. 10. 2011). 5 Vgl. z. B. Ndhlovu, Steven. The Trial of Jack Mapanje. Glasgow, 2009. 6 Tera, Richmore. “ Stanley Mambo is back! ” www.herald.co.zw (10. 10. 2011). 7 Siehe dazu als Anthologien: Malagasi, Mufunanji, Hg. Beyond the Barricades: A Collection of Contemporary Malawian Plays. Zomba, 2001; Ders. Stage Drama in Independent Malawi: 1980 - 2002. Zomba, i. E.; Gibbs, James, Hg.: Nine Malawian Plays. Limbe, 1976. Monographien: Chimombo, Steve. The Rainmaker. Limbe, o. J.; Ders. Wachiona Ndani. o. O., o. J.; Ders. Sister Sister. o. O., o. J.; Chisiza, Dunduzu Jr. De Summer Blows and other plays. o. O., 1998. Ders. Democracy Boulevard and other Plays. o. O., 1998; Ders. Du Chisiza Classics. o. O., 1992. 8 Vgl. dazu Magalasi, Mufunanji, Hg. Beyond the Barricades, A Collection of contemporary Malawian Plays. Zomba, 2001. 5. 9 Vgl. dazu u. a. Kerr, David. Popular Theatre. Portsmouth, 1995; Ders. Dance, Media Entertainment and Popular Theatre in South East Africa. Bayreuth, 1997; Desai, Gaurav. “ Theater as Praxis: Discursive Strategies in African Popular Theater. ” African Studies Review 33. 1 (1990): 65 - 92; Miller, Judith G. “ History, Practice, Performance: Afrian Popular Theater. ” Theater 28. 2 (1998): 102 - 104. 10 Vgl. dazu beispielsweise die Arbeit folgender in Malawi aktiver NGOs, mit denen der Verfasser Interviews führte: Centre for Development Communications, Water for People, Pakachere Institute of Health & Development Communication, The Story Workshop. 11 Kalipeni, Ezekiel/ Kamlongera, Christopher. “ The Role of Theatre for Development in Mobilising rural Communities for Primary Health Care: The Case of Liwonde PHC Unit in Southern Malawi. ” Journal of Social Development in Africa 11. 1 (1996): 53 - 78. Siehe zu dem Thema auch Kamlongera, Christopher F. “ Theatre for Development: The Case of Malawi. ” Theatre Research International 7. 3 (1982): 207 - 222; sowie Ders. Theatre for Development in Africa with case studies from Malawi and Zomba. Bonn, 1989. 12 Siehe dazu z. B. die Dokumentarvideos “ Nazikambe Theatre Arts & Chickenshed Project ” oder “ Blanytre Women ’ s Community Arts Club ” auf www.youtube.de (13. 10. 2011). 13 Vgl. dazu www.nanzikambearts.org (13. 10. 2011). 14 So gehört die häufig bespielte Bühne des Little Theatre in Zomba zur University of Malawi; das Madsoc Theatre in Lilongwe hingegen ist in privatem Besitz und vermietet seinen Raum an verschiedene Theatergruppen und Institutionen; das French Cultural Centre in Blantyre, einst ein häufig genutzter Spielort, schloss vor wenigen Monaten seine Tore im Zuge der Einfrierung der Entwicklungshilfe verschiedener EU-Staaten als Protest gegen die Politik Präsident Bingu wa Mutharikas. 15 Über die Aufführungen vor 2009 existieren leider kaum Quellen und auch die beteiligten Künstler sind nicht mehr greifbar. Eine Aufführung von “ The Frogs ” hat der Verfasser im French Cultural Centre in Blantyre 2009 sehen können. 16 “ Malawi theater group tackles social injustice. ” AfricaNews 25. November 2009. 17 Nanzikambe Arts gastiert seit Jahren regelmäßig auf dem National Arts Festival in 189 Das Theater Nanzikambe Arts in Malawi Grahamstown, Südafrika, dem bedeutendsten Theaterfestival südlich der Sahara, sowie dem Harare International Festival of the Arts, Zimbabwe. 18 Siehe dazu auch Spieckermann, Thomas. “ Das Theater Konstanz in Afrika. ” Konstanzer Almanach 2012. Hg. Martina Keller-Ullrich/ Walter Rügert, Konstanz, i. E.; Bechtel, Clemens. “ Der rote Ritter und die Revolution. ” Theater der Zeit 10 (2011): 64. 19 Clemens Bechtel tat das am Beispiel des Toren Parzival, der versucht, in der ihm fremden Ritterwelt Fuß zu fassen, und dabei aus Unwissenheit gravierende Fehler begeht. Er spiegelte diese mittelalterliche Welt an der Situation von vier Schauspielern, die vor der Abreise nach Malawi ihre Ängste, Unsicherheiten und Stereotype austauschen - vier Toren vor der Reise in die für sie fremde afrikanische Welt. 20 Vgl. dazu Schoffelers, Matthew. “ The History and political Role of the M ’ bona Cult among the Mang ’ anja. ” The Historical Study of African Religion. Hg. T. O. Ranger/ I. Kimambo, London, 1972. 73 - 94. 21 Chimombo o. J. 190 Thomas Spieckermann Über die Linie - die Strichfigurenzeichnungen in den Tanztraktaten von Carlo Blasis Isa Wortelkamp (Berlin) Der Text unternimmt einen Vergleich zwischen dem Traité Elémentaire, Théorique et Pratique de l ’ art de la Danse aus dem Jahre 1820 und dem 20 Jahre später erschienenen L ’ Uomo fisico, intellettuale e morale des italienischen Tanzmeisters Carlo Blasis (1795 - 1878) hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Strichfigurenzeichnungen. Im Zentrum steht dabei die Beobachtung, dass mit dem veränderten Blick auf Bewegung eine doppelte Verschiebung der Linie einhergeht - der Linie des Körpers und der seiner Zeichnung. Eine Vertikale. Eine Horizontale. Eine Schräge. Zwei weite und ein rechter Winkel - mit wenigen Linien vermittelt sich uns das Bild eines menschlichen Körpers. Eines aufrechten Körpers, der auf einem Bein stehend, das Spielbein 90 Grad zur Seite gehoben, die Balance hält. Die seitlich ausgestreckten Arme bilden eine nach rechts abgesenkte Diagonale, wobei der linke Unterarm um etwa 120 Grad abgewinkelt nach oben weist. (Abb. 1) Abb. 1: Strichfigurenzeichnung nach dem “ abécédaire de lignes ” (aus: Blasis, Traité, 1820, Pl. VI, Fig. 3. S. 16) So unmittelbar sich die Strichfigur erschließt, so mittelbar erscheint die Beschreibung, dessen, was sie zeigt: Bewegung. Bewegung zu beschreiben, heißt Worte für etwas zu finden, was in einem Zuge vor dem Auge entsteht und vergeht; heißt, im Nacheinander der gesprochenen oder geschriebenen Sprache nachvollziehbar werden zu lassen, was in der Wahrnehmung auf einmal und uneinholbar geschieht. Indem sich die Zeichnung des menschlichen Körpers ‘ auf einen Blick ’ erschließt, erscheint sie gegenüber der Sprache als bevorzugte Darstellung zur Vermittlung von Bewegung. Der Tanztheoretiker Carlo Blasis sieht in ihr das geeignete Mittel, das die “ langen und ermüdenden Beschreibungen der Bewegungen des Tanzes ” ersetzen soll: J ’ ai préféré ce nouveau moyen, certainement plus sur et plus efficace, à celui d ’ une longue et fatigante description des mouvemens de la danse, qui ne ferait souvent qu ’ embarasser et confondre l ’ esprit de l ’ élève. 1 In seinem Traité Elémentaire, Théorique et Pratique de l ’ art de la Danse aus dem Jahre 1820 erhebt Blasis, der als Begründer der Technik des Klassischen Balletts und seiner Ästhetik gilt, die Strichfigur zum Darstellungsprinzip von Bewegung. Mit einer auf das Skelett reduzierten und geometrisierten Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 191 - 206. Gunter Narr Verlag Tübingen Körperform entwickelt Blasis ein “ Alphabet der Linien ” , 2 das den Schülern zur Orientierung und Reflexion der Bewegungsgrundlagen dienen soll. In ihrer zweidimensionalen, auf wenige Linien reduzierten Form, stellt die von Blasis entworfene Strichfigurenzeichnung die Gesetzmäßigkeiten von Haltungen, die Ausrichtung der Gliedmaßen, den Umgang mit dem Gleichgewicht und die Gewichtsverteilung innerhalb des Tanzes dar. 3 Eine Längsachse und zwei Querstreben symbolisieren die lotrecht fallenden und seitwärts fliehenden Kräfte, die bei Einnahme bestimmter Posituren im Körper auf- und miteinander wirken. Das Studium der geometrisierten Linien soll die Schüler dazu befähigen, die Positionen und Posen in mathematischer Präzision auszuführen und sie mit Flexibilität und Grazie zu füllen. Die Statik der Linie wird dabei zur Voraussetzung für die Mobilisierung und Dynamisierung des Körpers. Das ABC der Linien setzt sich in Gang, der in der Zeichnung still gestellte Körper wird vor dem geistigen Auge des Tänzers bewegt. Die Strichfigur dient auf diese Weise als didaktisches Mittel zur Disziplinierung und Kodifizierung der Körpertechnik des klassischen Balletts. Nicht die Dokumentation eines tänzerischen Werkes, sondern die Produktion des Tanzes - das Generieren von Bewegung - steht für Blasis damit im Vordergrund seiner Tanzschrift. Die einfache und klare Linienführung der Strichfigur ist neben den etablierten Notationssystemen (darunter die Labanotation, die Benesh-Movement-Notation und die Eshkol-Wachmann-Notation) probates Mittel zum Memorieren und Skizzieren von Bewegung. Sie ist es auch, die als Modell in verschiedenen Computerprogrammen zur Choreographie und zur Bewegungsanalyse und -notation Verwendung findet. Verfahren des Motion Capturing arbeiten mit einer auf das Skelett reduzierten Körperform und visualisieren die über Sensoren an Gliedmaßen und Gelenkstellen vermittelten Bewegungen. Jedoch geht es hier, ähnlich wie in den Computergrafikanimationen in dem Programm Life Forms, das Merce Cunningham für den choreographischen Entwurf einsetzt, um Technologien, welche die menschlichen Körper dreidimensional erfassen und übertragen und der Generierung von Bewegung dienen. Die Linie beschreibt hier nicht mehr nur den auf die Gliedmaßen reduzierten Körper, sondern wird zur Linie des Umrisses, der Fläche und Form der menschlichen Gestalt. Die Strichfigur gewinnt an Volumen. Die Strichfigur und die Tanzschrift Die Strichfigur ist eine Form der seit dem 16. Jahrhundert bestehenden Tanznotationen als deren gemeinsames Ziel die Entwicklung einer allgemein verbindlichen Form der Analyse und Notation von Bewegung gelten kann. In ihrer reduzierten Darstellung des menschlichen Körpers stellt die Strichfigurenzeichnung eine Konkretisierung dar, die sich vom Grad der Abstraktion anderer Notationsformen wie den Wortkürzeln, Musiknotenschrift und Bodenwegszeichnung abhebt. Neben den Strichfiguren des L ’ abécédaire de lignes von Blasis ist sie auch in der Sténographie (1852) von Arthur-Saint Léon vertreten, der sie in einzelne Ober- und Unterkörper segmentiert und in ein der Musikpartitur ähnliches Liniensystem einfügt. 4 Wurden Zeichnungen bzw. Striche von menschlichen Körpern bislang zu Illustrationszwecken zusätzlich zu den Notierungen verwendet, so entwickeln sie sich mit Blasis zu einer eigenen Kategorie der Bewegungsanalyse. 5 Anstelle festgelegter Tanzschritte wurden entsprechend des tänzerischen Kodexes einzelne Körperpartien lokalisiert und definiert, wodurch es möglich wird, auch komplexe Körperbewegungen zu notieren. Ähnlich den Musiknotenschriften beinhalten die Strichfigurenzeichnungen den kon- 192 Isa Wortelkamp ditionellen Bezug zwischen Körperlichkeit und Zeit (im Sinne von Vor- und Nachher), die im Tanz jetzt auf einem dreidimensional konzipierten Raum gründet. Der Körper wird nicht mehr nur in der zweidimensionalen Fläche dargestellt, sondern in seiner plastischen Gestalt hervorgehoben. In diesem Verlauf vollzieht sich ein Blickwechsel von der Aufsicht, wie sie etwa 1700 in der Chorégraphie von Raoul Auger Feuillet die Bodenwegszeichnung ermöglicht, welche die Wegführung und Bewegungsfolge festgelegter Schritte darstellt, zur Ansicht eines Gegenübers, das nun in der Gesamtheit seines Körpers erscheint. Tanzschriften passen die Zeichenelemente ihrer jeweiligen Systeme den veränderten Bedingungen der Bewegung an: je komplexer der Kodex der tänzerischen Formen im Laufe der Geschichte wird, desto mehr richtet sich die Aufmerksamkeit auf einzelne Bewegungselemente und damit auf allgemeine und verallgemeinerbare Prinzipien der Notation. Eine verbindliche Notation, vergleichbar etwa mit der Musiknotation, hat es für den Tanz jedoch nie gegeben. Ebenso wie Bewegung ist auch ihre Aufzeichnung einem steten Wandel unterzogen. Der Wandel der Blicke auf Schrift, Körper und Bewegung schlägt sich nieder in der Art und Weise des Schreibens, in den Bildern, Figuren und Zahlen sowie in der Zuordnung und Anordnung der Zeichen. Claudia Jeschke betont in diesem Zusammenhang den analytischen Aspekt der verschiedenen Notationssysteme, die Bewegung in einzelne Elemente zerlegen und unter verschiedenen Parametern ordnen. Entgegen der mit dem Begriff verbundenen Erwartung, sind Tanznotationen nicht primär als Mittel der Tradierung und Hilfe zur Reproduktion zu begreifen. Sie dienen weniger dokumentarischen als analytischen Zwecken zur Betrachtung von Tanz und geben Einsicht in die jeweiligen Vorstellungen von Körper, Raum und Zeit, die Bewegungsweisen und -formen. So werden in den verschiedenen Erscheinungsformen der Tanzschriften immer auch verschiedene Blicke auf Bewegung und Körper sichtbar, die ihrerseits von den Möglichkeiten von Bewegung und Aufzeichnung bestimmt sind. In den Tanzschriften von Carlo Blasis ist eine Verlagerung des Blicks von der äußeren zur inneren Bewegung des menschlichen Körpers zu beobachten. Stehen in dem 1820 entwickelten Alphabet der Linien entsprechend einer an der Ästhetik der bildenden Kunst angelehnten Körperkonzeption die Anatomie, Figur und Positur im Vordergrund, so zeigt sich in dem im Jahre 1840 veröffentlichten, weitaus späteren und weniger bekannten Traktat L ’ Uomo fisico, intellettuale e morale ein verstärktes Interesse für die Psyche, den Ausdruck und die Seele des Körpers. Dieses veränderte Interesse für die Bewegungen des Körpers, das auch hier mit dem Anspruch einer Lehrers und einer Lehre einhergeht, lässt sich, wie zu zeigen sein wird, in der veränderten Figurendarstellung der zahlreichen Zeichnungen des L ’ Uomo ablesen. Mit dem Wandel von außen nach innen kommt, so die zentrale These dieser Untersuchung, ein weiterer Wandel bzw. eine Wanderung zum Tragen: eine Wanderung jener Linie, welche die Achse unserer Körper markiert und deren Aufrechterhaltung im Klassischen Ballett die Stabilität des Tänzers garantiert. Diese so genannte Perpendikulare verlässt in den Zeichnungen nach und nach die Mitte des Körpers und führt so zu einem Spiel mit dem Gleichgewicht, das die innere und die äußere Bewegung des Tänzers aus dem Lot zu bringen scheint. Diese Wanderung ist bereits im Traité in der Figur der Arabeske zu beobachten, der in dieser Betrachtung von daher ein besonderer Stellenwert zukommen soll. 6 Über die Linie nachzudenken heißt demnach, sowohl die Führung und Form der Linie zu betrachten, die sich im Sinne der 193 Über die Linie Figuration 7 als Kontur und Umriss von einem Grund abhebt, als auch jene Linie, die im Sinne einer Grenzziehung aufrechterhalten oder überschritten werden kann. Hierzu werden im folgenden die Figurendarstellungen in ihrem jeweiligen Kontext und in ihrer Ausführung innerhalb der Traktate vorgestellt. Ziel der Untersuchung ist es, die Bedeutung der Linie in den Zeichnungen Blasis ’ für die jeweiligen in den Traktaten formulierten Konzeptionen von Körper und Bewegung herauszustellen und in ihren Bewegungen von innen nach außen ‘ nachzuzeichnen ’ . Die Figurendarstellungen des Traité In den Figurendarstellungen des Traité Elémentaire, Théorique et Pratique de l ’ art de la Danse (1820) handelt es sich um Kupferstiche von Figuren, die nach dem Ebenbild von Blasis dargestellt sind. Das Abbild des Meisters wird zum Vorbild des Tänzers, der sich, auf der Linie des Bodens platziert, als Gegenüber des Schülers präsentiert, womit auch eine ungebrochene Beziehung von Schüler und Lehrer verkörpert wird. So fungieren die Abbildungen weniger zur Rekonstruktion von Tänzen als vielmehr als didaktisches Mittel zur Konstruktion von Haltungen und Bewegungen. Der Körper ist bis auf Bauch und Oberschenkel nackt dargestellt, was mit den vorherrschenden Konventionen der Zeit bricht, nach der die Tänzer à la mode bekleidet sind und was hier der didaktischen Vermittlung von anatomischen und proportionalen Verhältnissen geschuldet ist. Neben der Ganzkörperansicht sind einzelne Gliedmaßen und Partien abgebildet, welche die vom übrigen Körper isolierte Arbeit der Beine, die Führung der Hand oder Schulter- und Armhaltungen, das Epaulement, darstellen. Eine doppelte Bodenlinie ermöglicht es, die Abweichungen des en face in der Ausrichtung des Körpers nach vorne und hinten und die Unterscheidung zwischen belasteten und unbelasteten Beinbewegungen darzustellen. Dabei gibt es in der Tanzschrift Blasis ’ keine Aussagen über einen zeitlichen Ablauf, wohl aber über die Prozessualität seiner Bewegung im Sinne eines abzuleitenden Vorher und Nachher. Das Interesse an dem Verfolgen der Bewegung auf zwei Beinen durch den Raum verlagert sich hier auf die verschiedenen Richtungen des Körpers. Abb. 2: Figurendarstellung mit eingezeichneter gestrichelter Linie (aus: Blasis, Traité, 1820, Pl. II. Fig.1 et 2) Im Traité ist die Linie der zentralen Achse des Körpers unmittelbar in den Menschen eingezeichnet. Sie teilt den Körper in zwei Hälften und hebt seine Aufrechte hervor. (Abb. 2) Darüberhinaus markiert sie auch die Mittelachse einzelner Gliedmaßen von Beinen und Armen. Dabei handelt es sich um gestrichelte Linien, die sich von der übrigen Linienführung der Figurenzeichnung, wie der des Umrisses, der angedeuteten Muskelpartien, des Haars und des Gesichts, der Kleidung und des Faltenwurfs abheben. Sie markieren die Linie der Perpendikularen, die gemeinsam mit dem aplomb als jene Ideale des klassischen Balletts gelten, die sich seit 194 Isa Wortelkamp der 1661 gegründeten Académie Royale de Danse etabliert haben. Abb. 3: Figurendarstellung “ Arabesques ” (aus: Blasis, Traité, 1820, Pl. X. Fig. 1 et 2) L ’ aplomb ist in seiner Bedeutung von le plomb, das Blei, auf das Messinstrument des Lotes zurückzuführen und beschreibt die senkrechte Ausrichtung des Tänzers in der Beherrschung seines Gleichgewichts und seiner Schwerkraft. aplomb n. m. 1. État d ’ équilibre d ’ un corps, d ’ un objet vertical./ contr. déséquilibre/ Le mur a perdu son aplomb. 2. Confiance en soi. Retrouver son aplomb. → sangfroid. - Péj. Assurance qui va jusqu ’ à l ’ audace effrontée. → culot, toupet. Vous en avez, de l ’ aplomb! / contr. timidité 3. D ’ aplomb loc. adv.: en équlibre stable. Bien d ’ aplomb sur ses jambes, il s ’ immobilisa. - Abstrait. En bon état physique et moral. Ce mois de détente me remit d ’ aplomb. 8 Wie das Messinstrument eines an einer Schnur aufgehängten konischen Bleis, le plomb, in der Bautechnik es ermöglicht, einen Gegenstand in der Senkrechten auszuloten, ist der aplomb im Ballett Gradmesser für die senkbzw. lotrechte Haltung des Körpers und seiner Bewegung. Erst die Kontrolle der vertikalen Achse des Körpers garantiert die Balance der Bewegung und trägt in ihrer Perfektionierung wesentlich zur Entwicklung der Tanztechnik Ende des 18. Jahrhunderts bei. Jene Prinzipien erfahren vor allem in den Tanztraktaten von Blasis eine ausführliche theoretische Reflexion und mit ihr, wie zu sehen sein wird, eine wesentliche Transformation. Jene Transformation betrifft den Umgang mit der Aufrechten und lässt sich zuallererst in der Figur der Arabeske verfolgen, die nach Blasis eine Haltung beschreibt, in welcher der Körper entweder nach vorne oder zurück geneigt sein konnte, dergestalt, dass die Ausrichtung des arbeitenden Beines zur entgegen gesetzten Seite geschieht. 9 In den zahlreichen Skizzen und Strichzeichnungen aber erscheint die Arabeske in ihrer strebenden Bewegung nach vorne oder hinten und trotz der ihr eigenen Gewichtsverlagerung beinahe verhalten und wie aufgehalten. 10 (Abb. 3) In der Aufrechterhaltung der Senkrechten orientiert sich Blasis in einem hohen Maße an den tradierten Prinzipien der Tanzkunst, innerhalb der er die Arabeske in ihrer durch die Neigung des Rumpfes bedingten Aufgabe der Aufrechten als eine Ausnahme und Abweichbewegung markiert. Il faut que le corps soit toujours droit, et d ’ aplomb sur les jambes, excepté dans quelques attitudes, et principalement dans les arabesques, où il faut le pencher, le jetter en avant ou en arrière, selon la position; [. . .]. 11 Sichtbar wird diese Abweichbewegung in den als Arabesken beschriebenen Abbildungen, den arabesques penchés, die den Zusatz “ à dos tourné ” tragen. 12 (Abb. 4) Vorherrschend in den Beschreibungen und Aufzeichnungen des Traité aber bleibt die durch die gestrichelte Linie markierte ideale Vertikale, die durch die Kontrolle des aplomb erreicht werden soll (vgl. Abb. 2): Mettez tous vos soins à acquérir de l ’ aplomb et un parfait équilibre; attachez-vous à la correction et à la précision dans votre danse; que 195 Über die Linie tous vos temps soyent réglés d ’ après les meilleurs principes que vous avez reçus, et que l ’ exécution de vos pas soit toujours élégante et gracieuse. 13 Abb. 4: Figurendarstellung “ Arabesques à dos tourné ” (aus: Blasis, Traité, 1820, Pl. XI. Fig. 3 et 4) Als Garant der auf-rechten Linie lässt sich in den Tanzschriften verschiedener Tanzmeister eine Dominanz der Perpendikularen ablesen, in deren Tradition auch die Arbeit von Blasis zu sehen ist. So ermahnt Pierre Rameau in Le Maître à danser aus dem Jahre 1725 in der Beschreibung der Fußpositionen und der Schritte zur Einhaltung der Senkrechten: “ [remettre] le corps dans son à plomb ” . 14 Giambattista Dufort schildert 1728 in seinem Trattato del Ballo nobile den senkrechten Stand des Tänzerkörpers in der Ausrichtung der Schultern, dem eingezogenen Magen, der Ausdrehung der Knie und Füße bei Streckung der Beine. 15 Auch Jean-Georges Noverre nennt in seinen Lettres (1760) die Senkrechte als einen der Faktoren der Tanzkunst, die zusammengenommen den Körper des Tänzers zu einem veredelten Instrument des Tanzes in der Wirkung des Ausdrucks machen. 16 Erst 1779 aber wurde die Senkrechte mit der Publikation Trattato Teorico-Pratico des Neapolitaners Gennaro Magri als Basis des Gleichgewichts von Tänzern genauer analysiert: ” What most matters in equilibrium is that the line, which divides each body into two equal parts from top to bottom, falls in the centre of the base ” . 17 Den Beschreibungen der verschiedenen Tanzschriften folgend, ist die Senkrechte des aplomb an die Mitte des Körpers gebunden und teilt, wie bei Magri deutlich wird, den Körper in zwei gleiche Teile. Die Identität der Perpendikularlinie mit der zentralen Achse des Körpers findet sich auch von Blasis im Traité beschrieben, wo sie von der Mitte der beiden Schlüsselbeine bis zu den Knöcheln verläuft. 18 In der anatomischen Definition der Perpendikularlinie orientiert sich Blasis, wie die Tanztheoretikerin Francesca Falcone herausgestellt hat, an Leonardo da Vinci, aus dessen Trattato della pittura sich im Traité Ausführungen über die Haltung, die Gewichtsverteilung (contre-poids) und das Gleichgewicht finden. 19 Blasis überträgt diese explizit auf direkte Anweisungen an den Tänzer. Zentral für das Konzept des aplomb ist dabei die Ausführung da Vincis über die “ fontanella della gola ” , wörtlich der “ Grube der Kehle ” , die dieser als Lot des menschlichen Körpers definiert. Sie liegt, betrachtet man die Frontansicht des Skeletts, anatomisch in der Körpermitte und kennzeichnet damit ebenso wie das Zentrum der Schlüsselbeine die symmetrische Achse des Körpers. 20 Da Vinci geht in seinem anatomischen und künstlerischen Interesse über die lokale Fixierung der “ fontanella della gola ” hinaus, auf die Verlagerung ein, die diese mit der Bewegung des Körpers erfährt: Dell ’ attitudine. La fontanella della gola cade sopra il piede, e, gittando un braccio innanzi, la fontanella esce die essi piedi; e se la gamba getta indietro, la fontanella va innanzi e cosi si muta in ogni attitudine. 21 In der Bewegung des menschlichen Körpers weicht die “ fontanella della gola ” , wie da Vinci beobachtet, den Gewichtsverlagerungen folgend, von ihrer senkrechten Ausrichtung ab. 196 Isa Wortelkamp Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts auf einem oder aber auch beiden sei, wie Blasis im Anschluss an dieses Zitat im Fußnotentext des Traités ausführt, die Beherrschung des Gleichgewichts des contrepoids, worin eine seiner wichtigsten tanztechnischen Beobachtung besteht. 22 Die Besonderheit der Arabeske liegt jedoch in der Aufhebung der Übereinstimmung der Senkrechten mit der Körpermitte wie Blasis selbst immer wieder betont. 23 Vor allem die arabesques penchés (vgl. Abb. 3) weiche von Umgang mit dem Zentrum der Schwerkraft anderer Figuren ab. 24 Diese Abweichung der Aufrechten, welche die starke Neigung des Oberkörpers bedingt, vollzieht sich im Spiel von Gewicht und Gegengewicht, das den Körper an die Grenzen seines Gleichgewichtes führt. Es ist ein Spiel mit und an der Linie - mit und an jener Grenze, deren Überschreitung den Fall des Tänzers riskiert. L ’ Abécédaire de lignes Diese Linie, die wir bereits in gestrichelter Form in den figurativen Darstellungen eingezeichnet sahen, wird in den geometrischen Strichfigurenzeichnungen vom Körper isoliert und abstrahiert sichtbar. (Vgl. Abb. 1) In ihnen verleiht Blasis den Gesetzmäßigkeiten von Haltung, Gleichgewicht und Gewichtsverteilung eine weitere Anschaulichkeit, die den Tanz und seine Lehre prägt. Verschiedene Positionen werden auf die Vertikale und Horizontale, auf spitze und breite Winkel reduziert zu einem Alphabet aus Linien: [. . .] je formerais pour les élèves une espèce d ’ abécédaire composé de lignes droites, pour toutes les positions de leurs membres, donnant à ces lignes et à leurs combinaisons respectives, les dénominations adoptées par les géomètres, savoir de perpendiculaires, d ’ horizontales, d ’ obliques, d ’ angles droits, aigus, obtus, etc. 25 Wie bereits einleitend erläutert befähigt der Rekurs auf die Geometrie Blasis seine Prinzipien klar und präzise ohne ausschweifende und schwierige Beschreibungen der korrekten Ausführung der Stile aller Posen und Positionen zu erklären. Die Umsetzung der Zeichnung in Bewegung geschieht eingedenk der zu erfüllenden senkrechten und waagrechten Formen des Tanzideals. Die Befähigung hierzu ist ein wesentlicher Bestandteil der Lehre des Tanzmeisters Blasis, der die Qualität des Tänzers darüber hinaus auch darin bemisst, jederzeit in einer Bewegung als Modell des Malers und Bildhauers dienen zu können sowie in dem eigenen Vermögen, (sich selbst) zu zeichnen. 26 Wie das Vorbild der bildenden Kunst wird dem Tänzer in den Tanztheorien die Zeichnung der Geometrie vor Augen geführt, die der Ausbildung dienen und eine Voraussetzung zur Verkörperung der Tanzfiguren sein soll. 27 Gabriele Brandstetter folgend, lässt sich bei dem Alphabet der Linien in Abgrenzung von den Tanzschriften der Bodenwege und der Schrittformen, wie sie noch bei Feuillet zu beobachten sind, von einer Figuren-Schrift sprechen. In ihr erscheint der Körper nicht als Träger von Zeichen, sondern als Figur, die sich in der Lineatur der Zeichnung entschlüsselt. 28 In dieser Figuren-Schrift, die im Traité von einer Dominanz der Perpendikularen und des aplomb gezeichnet ist, zeigt sich im L ’ Uomo ein anderer, ein veränderter Blick auf den Körper und auf die Bewegungen des Tanzes. Mit jenem Blick wandeln sich nicht nur die Motive und Modelle der Zeichnungen und Abbildungen, sondern, wie in einem nächsten Schritt dargelegt wird, auch die Handschrift des Choreographen. Die Figurendarstellungen des L ’ Uomo Anders als in seinen früheren Tanztraktaten, unter denen neben dem Traité auch Code of 197 Über die Linie Terpsichore. The Art of Dancing (1828) 29 zu nennen ist, geht es im L ’ Uomo fisico, intellettuale e morale nicht unmittelbar um den Tänzer, wohl aber um Bewegung. Im Zentrum steht das menschliche Dasein, das in seiner Motorik und Mechanik und in der Korrespondenz und Äquivalenz seiner inneren und äußeren Bewegungen untersucht wird. Dabei scheint es, als sei jenes Traktat selbst bereits als ein Entwurf dessen zu sehen, was Blasis in ihm einfordert: eine Wissenschaft des Körpers, die sich dem menschlichen Mechanismus widmen will: “ Ciò che piu rimane a conoscersi moralmente sono i principii delle forze vitali della macchina umana. Hic labor, hic opus ” . 30 Während im ersten Teil des Traktats sehr allgemein und unmittelbar vom Menschen - “ L ’ Uomo in generale ” - die Rede ist, so sind die zahlreichen Bewegungsstudien, die sich dem Ausdruck des menschlichen Körpers widmen, doch vor allem an den Tänzer und die Schauspieler gerichtet, die im zweiten Teil des Buches auch explizit als Adressat aufgeführt sind. 31 In seinem Vorwort spricht Blasis zudem auch jene jungen Schüler der “ philosophischen Disziplinen ” an, denen auch die Einfachheit und Popularität seiner Sprache geschuldet sei. Ihnen sollen die klaren und strengen geometrischen Demonstrationen, die Umrisszeichnungen der Malerei und der Skulptur eine Vorstellung der unveränderlichen Gesetze des Körpers und von den moralischen und geistigen Vorgängen geben. 32 Wie im Traité dienen die Strichfigurenzeichnungen auch im L ’ Uomo der didaktischen Vermittlung von Bewegung, was vor allem in der einfachen und unmittelbaren Linienform und -führung ablesbar wird. Das veränderte Interesse für die Bewegungen lässt sich außerdem in weiteren Figurendarstellung des L ’ Uomo nachvollziehen. In ihnen sind die in den Strichfiguren reduziert und konzentriert dargestellten Bewegungsprinzipien in komplexen Zeichnungen ausgeführt. Das Traktat L ’ Uomo fisico, intellettuale e morale ist 1840 in Genova erschienen und umfasst zwei Hauptteile, von denen sich der erste den Fähigkeiten des Menschen (Dell ’ Uomo e delle sue facoltà) und der zweite dessen Genie bzw. Geist (Genio dell ’ uomo) widmet. Der erste Teil, der auch die Figurendarstellungen enthält, umfasst zweihundert Seiten, die in etwa vierzig Kapitel unterteilt sind und aus unterschiedlichsten Blickwinkeln das Zusammenspiel der Bewegungen des Körpers und der Seele erforschen. Es nimmt seinen Ausgangspunkt in der Trennung von einem materiellen Teil des Menschen, dem Körper, und einem immateriellen, der Seele, die weiter in den intellektuellen und moralischen Bereich untergliedert ist. Der intellektuelle Bereich umfasst den Geist, den Charakter, seine Kraft, seine Eigenschaften und seine Aktionen sowie seine Erfolge. Der moralische schließlich beschreibt alles, was dem physischen entgegengesetzt ist und die Seele betrifft. 33 Diese bereits im Titel vorgenommene Unterteilung in den physischen Bereich auf der einen und den intellektuellen wie moralischen auf der anderen Seite, prägt die Bewegungsforschung von Blasis. Sie behandelt sowohl die äußeren Bewegungen des Menschen, die seiner einzelnen Glieder und seines ganzen Körpers, die dem Auge die verborgenen Gefühle seiner Seele sichtbar machen, als auch die inneren Bewegungen des körperlichen Ausdrucks, der durch Physiognomie, Gestik und Haltungen bedingt ist. 34 Die Beziehung innerer und äußerer Bewegungen beschreibt Blasis als ein Wechselverhältnis 35 , in dem jedoch die “ Materie ” die verschiedenen Aktionen anführt: Ordinariamente lo spirito e la materia agiscono, come abbiamo detto, l ’ uno su l ’ altra e viceversa - quest ’ ultima però più spesso è la prima da operare. Il corpo per esempio, riceve le impressioni degli oggetti esterni e, mediante gli organi dei sensi, le trasmette all ’ anima, che 198 Isa Wortelkamp le riceve e le sente bensì immediatamente; ma ciò non toglie che il corpo fu il primo ad operare, e l ’ anima la seconda. 36 Der Körper ist der erste, der handelt, insofern er die Eindrücke der äußeren Gegenstände in sich aufnimmt und sie über die Sinnesorgane an die Seele überträgt, die sie unmittelbar, aber eben als zweite wahrnimmt. Die inneren Bewegungen der Seele wiederum wirken sich auf die äußeren Bewegungen des Körpers aus, die Blasis als eine Sprache der Seele versteht, durch die Gedanken und Handlungen zum Ausdruck kommen. 37 Gezeichnete Gefühle, Gänge und Gedanken Der Appendix, der sich dem ersten Teil des L ’ Uomo unmittelbar anschließt, umfasst vier Zeichnungen, die unter dem Titel “ Figurazione del camminare, dell ’ immaginazione, del pensiero e die caratteri ” stehen. 38 Die erste gilt dem Charakter, die zweite dem Gang, die dritte der Einbildungskraft und die vierte schließlich den Gedanken des Menschen. Letztere sind in 17 Strichfiguren dargestellt, denen hier besondere Aufmerksamkeit zukommen soll. Wie in den ersten drei Zeichnungen zeigen sich auch in ihnen die Korrespondenzen seelischer und körperlicher Bewegungen, die sich in Form und Führung der Linie niederschlagen: Abb. 5: Darstellung der Charakteren (aus: Blasis, L ’ Uomo, 1840, S. 207 - 209) Abb. 6: Darstellung zur Lineatur der Gänge (aus: Blasis, L ’ Uomo, 1840, S. 209) (Abb. 5) Die erste Darstellung gilt dem Ausdruck der Gefühle und der Natur des Charakters. Jedem der insgesamt 26 Piktogramme, die in geometrischen und stereometrischen Figuren verschiedene Verhältnisse von Gleichgewicht und Schwerkraft sowie unterschiedliche Formen von Linien darstellen, ist eine entsprechende Charaktereigenschaft zugeordnet. So stehen zum Beispiel die schräge Linie für einen zweifelnden und die gerade für einen aufrechten Charakter. Den kurvigen Linien sind die Attribute nachgebend, schwankend, unsicher und unentschlossen, den geschwungenen Linie gefügig, flexibel und beugsam zugeordnet. Wie bei den letzten beiden Linien zu beobachten, ändert sich mit der kurvigen und geschwungenen Form der Linie auch die Führung des Strichs, der von der geometrischen Zeichnung zur Freihandzeichnung wechselt. Ähnlich verhält 199 Über die Linie es sich in der zweiten Zeichnung zur Lineatur der Gänge. (Abb. 6) Die gerade Linie A kennzeichnet das gerade Gehen mit Ruhe, Sicherheit und Entschlossenheit; die schräge Linie B steht für einen zweifelnden und unsicheren Gang; die halbrunde Linie für abschweifenden, umsichtigen, besonnenen und misstrauischen. Auch hier steht die in ihren Richtungen und Formen variierende Linie E für ein ebenso unbeständiges Gehen und wechselt zwischen einem mit Lineal geführten und Freihand gezeichneten Strich. Die dritte Zeichnung ist ein Modell zur Darstellung der Bewegung und Kraft der Einbildung. (Abb. 7) Auch hier markieren die durchgehende gerade Linie A die Richtung des Blickes und die Aktion der Vernunft und die äußere Linie B die Bewegungen der Einbildung. Während Sehstrahl A das Objekt C in seiner realen Größe erfasst, lassen die Einbildungslinien das Objekt wie D erscheinen. Abb. 7: Darstellung zur Bewegung und Kraft der Einbildung (aus: Blasis, L ’ Uomo, 1840, S. 210) Zum ‘ freien ’ Strich der Figuren Zeichnet sich bereits in diesen drei Zeichnungen die zunehmende ‘ Freiheit ’ der Bewegung - des Charakters oder des Gangs - auch in der Freiheit der Linienführung und -form ab, so sind die Strichfigurenzeichnungen zur Darstellung der Gedanken durchgehend freihand gezeichnet. 39 (Abb. 8) Sie umfassen insgesamt drei Seiten des Appendix und tragen Bezeichnungen der einzelnen Gedankenfiguren, wie “ L ’ attenzione ” , ” La meditazione ” und ” La contemplazione ” . Abb. 8: Strichfigurenzeichnung zur fortschreitenden Bewegung des Gedankens (aus: Blasis, L ’ Uomo, 1840, S. 211 - 213, hier 211) Ähnlich den Strichfiguren im Traité vermitteln die des L ’ Uomo auf unmittelbarem Wege verschiedene Haltungen des Körpers. Anders als in den reduzierten geometrischen Lineaturen des Traité geht es hier nicht um die äußeren Bewegungen des Tänzerkörpers, sondern um die inneren Bewegungen - die Handlungen des Geistes - , die in der Haltung des Körpers zum Ausdruck kommen. (Vgl. Abb. 1) In der Hervorhebung der Gelenke und in der partiellen Ausfüllung von Volumen der Glieder wie Beinen und Armen gehen diese Darstellungen über die einfache Linienführung von Strichfiguren hinaus, die im Traité in der Begradigung der Glieder und 200 Isa Wortelkamp Auslassung von Kopf, Füßen und Händen eine extreme Reduktion erfahren. Die realistische Darstellung der Proportion und Statik des menschlichen Körpers tritt hier zugunsten des Ausdrucks zurück, der durch die Überlängung der Gliedmaßen, die Überzeichnung einer Kurve oder die Breite des Strichs einzelner Partien jeweils verstärkt und überhöht wird. Mit dem Perspektivwechsel von den äußeren zu den inneren Bewegungen wird auch die Zeichnung selbst bewegter. Form und Führung der Linie folgen nicht mehr der strengen linearen Geometrie, sondern wirken wie schnell skizziert, flüchtig entworfen und lassen Spuren des Stifts oder Pinsels erkennen. Es scheint, als werde die Zeichnung dynamischer und expressiver, je mehr es um die Darstellung des Ausdrucks von Seele und Psyche geht. Und so eindringlicher vermittelt sich dem Betrachter auch die Bedeutung der Geste: “ l ’ azione progressiva del pensiero ” . 40 Ebenso unvermittelt und unmittelbar, wie ein Gefühl zu einer Gebärde, eine Emotion zu einer Motion wird, scheint der Strich dieser Zeichnungen geführt. Sie geben die Ausrichtungen des Körpers, des Kopfes und, durch eine gestrichelte Linie betont, auch die des Blickes wieder, der hier dem Ausdruck des Körpers und nicht dessen Haltung folgt. Wie die Linie der Perpendikularen ist auch die der Blickrichtung gestrichelt - und steht damit ebenso für eine imaginäre wie ideale Linie. Dabei fungiert der Blick als gestaltendes Element des Raumes, das durch eine räumliche Linie gekennzeichnet wird. Nicht die Kontrolle des Blicks, der im klassischen Ballett den eingenommenen Haltungen des Körpers entspricht, sondern die Ausrichtung des Kopfes und die Richtung des Blicks in den Raum stehen im Vordergrund. Gleichermaßen frei variieren die Stellung von Stand- und Spielbein, ebenso wie die Haltungen der Arme, die in unterschiedlichen Abstufungen geöffnet oder geschlossen sind, so wie die des Oberkörpers bis hin zu den Haltungen der Hände. Anstelle der Perfektion einer Position steht hier die Gestalt der Gedanken, die sich in der Haltung und Bewegung des Körpers und deren Beschreibung abzeichnet, im Vordergrund. Mit dem Interesse für den Ausdruck des menschlichen Körpers verändert sich bei Blasis der Gegenstand der Zeichnung und auch die Zeichnung selbst. Der Strich wird freier. Dabei unterscheiden sich Strichfiguren zur Darstellung der Gedanken in ihrem Gegenstand und ihrer Ausführung wesentlich von den Strichfiguren des Linienalphabets im Traité und bilden auch innerhalb der Figurendarstellungen des L ’ Uomo eine Ausnahme. Dazu gehört, dass sie gemeinsam mit den anderen Figuren des Appendix innerhalb der Erläuterungen der Abbildungen keine Erwähnung finden. Anders als die Tafelbilder, die mit “ C. Blasis inv. ” , “ Lucio dis. ” und “ Mantoviani inc. ” unterzeichnet sind, gibt es ferner keine Hinweise auf einen Autor, was vermuten lässt, dass sie der Feder Blasis ’ entstammen. Im Vergleich zu den Strichfiguren, die sowohl im L ’ Uomo als auch im Traité der unmittelbaren Vermittlung von Bewegung - der Haltungen und Handlungen - dienen, sind die Figurendarstellungen der Tafelbilder in Ausführung und Gegenstand umfassender. Nicht der einfache Strich zur unvermittelten und unmittelbaren Darstellung der Gebärde oder des Gedanken, sondern der feine und differenzierte Stich einer sehr viel komplexeren Figurendarstellung prägt die Zeichnungen der Tafelbilder. Anstelle von auf wenige Linien reduzierten Figuren sind hier vollständige Körper, teils bekleidet, teils nackt, dargestelt. Weniger die Eindrücklichkeit der Zeichnung als Modell für den Tänzer und Schauspieler ist hier gegeben, vielmehr scheint es, als hätten diese den Zeichnern Modell gestanden. So ermöglichen die Zeichnungen ein genaues Studium der Mimik, der Gesetze der Schwerkraft und des Gleichgewichts sowie des durch die Bewe- 201 Über die Linie gungen bedingten Faltenwurfs der Kleidung. 41 Im Hinblick auf die Linie aber können die Figurendarstellungen als eine Voraussetzung der Strichfiguren des L ’ Uomo betrachtet werden: In ihnen zeigt sich eine Dynamisierung der Stasis, die sich weniger in der Zeichnung, als in der Verzeichnung der Körpermitte darstellt. Abb. 9: Figurendarstellung zur Bewegung der Seele (aus: Blasis, L ’ Uomo, 1840, Tavola III, Fig. 2 e 6) Im Vergleich zu der Stabilität und Statik eines aufrechten Körpers in den Figurendarstellungen der früheren Tanztraktate, steht hier verstärkt die Dynamik und Expansion seiner Bewegungen im Vordergrund. In diesen Bewegung ‘ über die Linie ’ ist auch eine wesentliche Bedeutung für die Tanzgeschichtsschreibung zu sehen - in einer ent-grenzten Bewegung, die gemeinhin mit der Tanzmoderne um 1900 verbunden wird. Nicht die Aufrechterhaltung, sondern die Überschreitung und Ausdehnung der Körpermitte werden sichtbar: Das Streben nach vorne, die Verlagerung von Stand- und Spielbein, die Ausrichtung des Körpers in seinen vorderen und hinteren Umraum, die Entfernung der Arme vom Körperzentrum. Die Akzentuierung liegt hier weniger in der Aufrechterhaltung der Senkrechten als in der Ausrichtung des Körpers an der schrägen und sogar runden Linie. (Abb. 9) Die Aufmerksamkeit des Autors und Zeichners des L ’ Uomo gilt dem Zentrum der Schwerkraft und dem Gleichbzw. Gegengewicht, - dies weniger als Haltung des Körpers, denn als Ausgangspunkt von Bewegung. Damit erfährt auch die Verortung der Senkrechten eine Ver- und Auslagerung. Geht es im Traité noch um eine Identität von Perpendikularlinie und Körpermitte, so finden sich im Appendix des L ’ Uomo zahlreiche Abbildungen, in denen die Körper die Senkrechte verlassen und gerade die Verlagerung des Gewichtes über die Körpermitte hinaus, die Spannung in der jeweiligen Haltung erzeugt. (Abb. 10) Der anatomisch sezierende Blick, mit dem die Linie an das Innere des menschlichen Körpers, wie etwa Kehle und Wirbelsäule, gebunden wurde, wird aufgegeben und mit ihm die Identität der Perpendikularlinie mit der zentralen Achse des Körpers. 42 In Augenschein tritt der Körper in seiner Bewegung und damit im Verhältnis zu seinem Raum, in dem sich auch das Verhältnis von innen und außen wandelt. Abb. 10: Figurendarstellung zum Umgang mit dem Zentrum der Schwerkraft (aus: Blasis, L ’ Uomo, 1840, Tavola IV, Fig. 5 e 9) Aus dem Lot Die veränderte Sicht des Choreographen und Tänzers Carlo Blasis auf Bewegung und Körper schlägt sich, wie deutlich werden konnte, schließlich in seinen Aufzeichnungen nieder. In der Reihung der vereinzelten 202 Isa Wortelkamp Figuren beginnen sich diese gleichsam in Bewegung zu versetzen. Fern der Gesetze der Geraden schwanken die Figuren zwischen Stand- und Spielbein, strecken oder beugen ihre Gliedmaßen, heben oder senken den Blick. Es scheint, als seien die Strichzeichnungen aus dem Raster der Lineatur befreit und damit auch frei, über die Linie zu treten. Jene Bewegung, die in der Figur der Arabeske bereits enthalten und noch aufgehalten war, gewinnt hier mit der Aufmerksamkeit für den Ausdruck Raum - einen Raum, der in den Aufzeichnungen des Bewegungswissenschaftlers Carlo Blasis jedoch unter Beobachtung bleibt. So wie die Arabeske in ihrer Expansion und Transformation ihr gestisches Potential entfaltet, tritt mit der Überschreitung der Mitte des Körpers dessen Ausdruckskraft hervor. Erst mit dem Wandel des Blicks von der äußeren zur inneren Bewegung lässt sich, wie es scheint, auch die äußere Haltung von ihrer senk- und aufrechten Ausrichtung lösen - sie gerät aus dem Lot. Schwarz auf weiß heben sich die Strichfiguren der Traktate in einer Lesbarkeit ab, die auf ganz unterschiedliche Weise Bewegungen frei setzen. Dem ABC der Linien und der Führung des Lineals folgend, vermag der Tänzer - Leser des Traités - sich in der Kunst der Perpendikularen und des aplomb zu bewegen, sich auszudehnen und auszurichten - zu tanzen. Seine Grenze ist zugleich jene Linie, die den Körper aufrecht hält - im Lot hält. Hinter dieser Linie ist der Fall - mit dem die Figur der Arabeske spielt: der Fall, der nicht eintreten darf. Dieser Fall würde den Aus-Fall der Auf- und Senkrechten bedeuten, der geraden und rechten Linie. Die Strichfigurenzeichnungen des L ’ Uomo hingegen bewegt der Ein-Fall - die Bewegungen der Gedanken, die sich in der Linie der Figur und ihres Blickes abzeichnen. Auch sie halten den Körper aufrecht, verleihen ihm seine Haltung, die sich nicht an der äußeren, sondern an der inneren Bewegung orientiert. Bei aller Verschiedenheit in Form und Führung der Linie verbindet die Strichfigurenzeichnungen des Traité und des L ’ Uomo ein Grad an Reduktion und Abstraktion, der sie von den komplexeren und konkreteren Figurendarstellungen der Traktate abhebt. Dabei sind sie von einer Prägnanz und Evidenz, die ihre konzentrierte Form prägt - sich mit ihnen einprägt: in Notationen des Tanzes ebenso wie in alltäglichen Weg- und Bewegungsbeschreibungen. Strichfigurenzeichnungen sind allgegenwärtig in Kinderzeichnungen, Höhlenmalereien, Graffitis, Gemälden, Cartoons und Comics, auf Piktogrammen in den Bereichen des Sports, der Physiotherapie und Biomechanik, des Verkehrs oder öffentlicher Anlagen sowie in der Werbung. Mit wenigen Strichen sind eine Haltung oder eine Handlung erzählt, vermitteln sich innere wie äußere Bewegung. Unvermittelt und unmittelbar zeigt sich in ihr, was den Körper bewegt: in den Figuren des Alphabets der Linien ebenso wie in denen der Gedanken. Beide Figuren-Schriften sind vom Strich des Zeichners geprägt, der hier in seinen Veränderungen untersucht wurde. Danach erscheint das geradlinige Alphabet der Linie wie in Druckbuchstaben verfasst, während die Figuren der Gedanken des L ’ Uomo wie eine Handschrift wirken, womit die Bewegung des Zeichners selbst sicht- und lesbar wird. Sind in den Strichfiguren des Traité Setzung und Gesetze von Bewegung enthalten und gehalten, um dann von den Tänzern - den Lesern dieser Figurenschrift - in Bewegung übertragen zu werden, so überträgt sich in den Strichfiguren des L ’ Uomo die Bewegung selbst: als Gedanke und in Gedanken. Ob in der Linie oder über der Linie - die Strichfigur zeigt und zeitigt sich als eine Zeichnung von Bewegung, die ebenso einprägsam und flüchtig ist wie die Bewegung selbst. 203 Über die Linie Anmerkungen 1 Blasis, Carlo. Traité Elémentaire, Théorique et Pratique de l ’ art de la Danse. Mailand, 1820, 16. 2 Blasis 1820, 15. 3 Als weiterer Verweis zur Autorschaft der Zeichnungen sind die Angaben Carlo Blasis zu berücksichtigen: ” Les figures sont dessinées par Mr. Casartelli, et gravées par Mr. Rados ” , vgl. Blasis 1820, 16. 4 Saint-Léon, Arthur. La Sténochorégraphie ou l ’ art d ’ écrire promptement la danse. Paris/ St. Petersburg, 1852. 5 Jeschke, Claudia. “ Tanznotationen. ” Tanz. Hg. Sibylle Dahms, Stuttgart, 2001, 15 - 24, hier S. 15. 6 Dabei integriert der vorliegende Text Teile eines bestehenden Aufsatzes: Wortelkamp, Isa. “ Von der Wanderung zur Geraden zur Schrägen. ” Andere Körper - Fremde Bewegungen, Theatrale und öffentliche Inszenierungen im 19. Jahrhundert. Hg. Claudia Jeschke/ Helmut Zedelmaier, Münster, 2005, 183 - 196. 7 Vgl. hierzu Brandstetter, Gabriele. “ Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv von Bewegung. ” de figura. Hg. Gabriele Brandstetter/ Sibylle Peters, München, 2002, 247 - 264. 8 Rey, Alain, Hg. Le Micro-Robert, dictionnaire d ’ apprentissage de la langue française. Paris, 1989. 9 Vgl. Falcone, Francesca, “ The Evolution of the Arabesque in Dance. ” Dance Chronicle. Studies in Dance and the Related Arts 22.1 (1999): 71. 10 Entgegen des Eindrucks der Aufrechterhaltung der Senkrechten hebt Blasis die Arabesken-Darstellungen im Traité in ihrer leichten Abweichbewegung hervor: ” Positions du corps dans les arabesques, planc. X, XI et XII.; NB. Dans les arabesques, le corps s ’ éloigne de la perpendiculaire, et doit se pencher avec un agreable abandon ” . Vgl. Blasis 1820, 56. 11 Ebd., 52. 12 Vgl. ebd., 106. 13 Ebd., 23. 14 Rameau, Pierre. Le Maître à danser [Paris, 1725]. New York, 1967. Vgl. Beispiele S. 15, 20 und 60. 15 Dufort, Giambattista. Trattato del ballo nobile [Napoli, 1728]. Richmond, Va. 1972, 11 - 16. 16 Vgl. Noverre, Jean-Georges. Lettres sur la danse et les arts imitateurs [1760]. Paris, 1952, 211, 217. 17 Magri, Gennaio. Trattato Teorico Prattico di ballo. Napoli, 1779. 20; Theoretical and Practical Treatise on Dancing [1779]. Trans. Mary Skeaping/ Irmgard Berry. London, 1988, 56 - 57. 18 Vgl. Blasis 1820. 65: “ qui doit prendre du centre des deux clavicules, et qui s ’ abaisserait, en traversant les chevilles des deux pied ” . 19 Vgl. Blasis 1820. 64 - 67. Zitiert aus Da Vinci, Leonardo. Trattato della pitture. Rome, 1996. Siehe auch Falcone 1999. 75. Zum Einfluss von da Vinci auf Blasis siehe auch Pappacena, Flavia. Il Trattato di Danza di Carlo Blasis (1820 - 1830). Carlo Blasis' Treatise on Dance (1820 - 1830). Lucca, 2005. 20 Nach der physiologischen Definition handelt es sich hier um die Longitudinale, die bei aufrechtem Stand senkrecht zur Unterlage steht. Die Longitudinale kann aber auch durch ein einzelnes Körperglied gehen, entscheidend ist hier die Bewegung um die jeweilige Achse des Körpers bzw. der Gliedmaßen. Vgl. Taschenatlas der Anatomie, 1. Bewegungsapparat. New York, 2 - 4. Bei der Senkrechten, die durch den Körperschwerpunkt verläuft, spricht man vom Lot. 21 Vgl. Blasis 1820. 65. Zitiert aus Da Vinci 1996. “ Über die Haltung. Die ‘ fontanella della gola ’ fällt über den Fuß, wenn ein Arm nach vorne ausgestreckt wird, kommt die ‘ fontanella ’ aus diesem Fuß; wenn das Bein nach hinten reicht, geht die ‘ fontanella ’ nach vorne und so verhält es sich in jeder Haltung. ” (Übersetzung I. W.) 22 Blasis 1820, 64: “ Il faut que le danseur, tout en se plaçant gracieusement, s ’ attache, pour avoir de l ’ aplomb, à former un juste contrepoids des autres parties du corps pour se soutenir sur une seule jambe, et même pour être bien posé sur les deux. ” 204 Isa Wortelkamp 23 Blasis 1820, 56. 24 Ebd., vgl. hierzu außerdem Pl. I, III, IV. 25 Blasis 1820, 15. Gabriele Brandstetter spricht in diesem Zusammenhang von einer Syntax und Grammatik des Tanzes, die Blasis selbst in seinem späteren bereits erwähnten Werk The Code of Terpsichore sammelt. Vgl. Brandstetter, Gabriele. “‘ The Code of Terpsichore ’ . Carlo Blasis ’ Tanztheorie zwischen Arabeske und Mechanik. ” Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Hg. Gabriele Brandstetter/ Gerhard Neumann, Würzburg, 2004, 49 - 72, hier S. 53. 26 Vgl. Blasis 1820: “ Un danseur qui ne sait point se dessiner, et qui par conséquent manque de cette grace qui séduit, qui charme, ne sera point regardé comme un artiste, et ne pourra jamais intéresser ni plaire. ” S. 17; ” Dessinez-vous avec goût, et naturellement, dans la moindre des poses. Il faut que le danseur puisse, à chaque instant, servir de modèle au peintre et au sculpteur. ” S. 64. 27 In der Verbindung der physikalischen Bewegungslehre mit einer an der Ästhetik der bildenden Kunst orientierten Körperkonzeption liege eine Besonderheit der Tanztheorie Carlo Blasis ’ , wie Gabriele Brandstetter hervorhebt. Der Tänzer werde gleichsam zum Maschinisten und zum Skulpteur, zum Poeten seiner Körperdarstellung: “ und dies über den reflexiven Prozess der Einbildungskraft - Einbildungskraft im Wortsinn: der Ein-Bildung der Figurenmathematik des Balletts in die aktuelle Gestalt der Performanz ” . Vgl. Brandstetter 2004, 57. 28 Vgl. ebd. 29 Das Traité Elémentaire, Théorique et Pratique de l ’ art de la Danse. ist in dem acht Jahre später in London erschienenen sechsteiligen Kompendium Code of Terpsichore. The Art of Dancing. enthalten, das Geschichte, Theorie des Tanzes, Pantomime, Regeln der Ballettkomposition, danse de salon umfasst. #Vgl. Blasis, Carlo. L ’ Uomo fisico, intellettuale e morale. Genova, 1840, 88: “ [. . .] una scienza utilissima a chi esercita le arti belle e la cognizione del corpo umano. ” 30 Blasis 1840: “ Was noch zu erkunden offen bleibt sind die Prinzipien der Lebenskräfte der menschlichen Maschine. Hic labor, hic opus. ” (Übersetzung I. W.). Blasis 1840. Capitolo XXX, “ Misteri del mecanismo dell ’ uomo ” , 116 f., hier S. 118. 31 Vgl. Blasis 1840, Parte Seconda, S. 5: “ Genio dell ’ Uomo. Sviluppo e progressi del genio, XIX Il Genio de Ballo, della Mimica, della Corografia, dei Balli pantomimici, della Danza, della Drammatica apllicata al Ballo, in relatione con le altre arti: il Disegno, la Pittura, la Scultura, l ’ Incisione, la Poesia, l ’ Eloquenza, la Musica, la Declamazione, l ’ Architettura, l ’ arte drammatica, ecc. - Quadro sinottico. ” 32 Blasis 1840, 10. 33 Blasis 1840, 3. 34 Blasis 1840. 2 f. 35 Blasis 1840, 4: “ L ’ anima ed il corpo agiscono contemporaneamente, e l ’ uno sopra l ’ altro reciprocamente; - l ’ uno comanda ed obbedisce all ’ altro; l ’ uno non si move se l ’ altro rimane nell ’ inerzia; l ’ uno influisce sopra l ’ altro, e godono e soffrono insieme. ” 36 Blasis 1840, 5. 37 Blasis 1840, 60: “ Questi movimenti esterni sono il linguaggio dell ’ anima e dei sentimenti; essi fanno scorgere il pensiero e prevedere le azioni. ” 38 Blasis 1840, 207. 39 Vgl. Blasis 1840, 211 - 213: “ Dell ’ azione progressiva del pensiero. ” 40 Blasis 1840, 207. 41 Tafel I enthält Abbildungen des Gesichtes zur Erläuterung der Theorie des Ausdrucks und der Blickrichtung. Tafel II zeigt Darstellungen des nackten Körpers und des Gesichtes mit eingezeichneten Blickrichtungen, mit der jeweiligen Bezeichnung des Charakters der Gefühle und Leidenschaften. Tafel III zu den Bewegungen der Seele zeigt naturalistische Darstellungen bekleideter Körper, deren Haltungen mit Linien gleichsam unterstrichen sind. Tafel IV gilt einer Theorie des Zentrums der Schwerkraft. 42 Interessant scheint hier auch die Differenzierung in der Situierung der Vertikalen, die Carlo Blasis im L ’ Uomo vornimmt. So kann sich die “ linea perpendiculare ” sowohl inner- 205 Über die Linie halb als auch außerhalb des Körpers befinden und erst der Zusatz “ al centro di gravità ” bestimmt ihren Verlauf durch die Körpermitte. Vgl. Blasis 1840. 218. 206 Isa Wortelkamp Janusz G ł owackis Antigone in New York international: Selektion, Substitution und Exponierung von Sinnangebot Brigitte Schultze (Mainz/ Göttingen) - Beata Weinhagen (Göttingen) Am Beispiel von Janusz G ł owackis ‘ problemdichter ’ , international erfolgreicher zweiaktiger Tragikomödie Antygona w Nowym Jorku (Antigone in New York; 1992) werden hier - wahrscheinlich exemplarisch für weitere länderübergreifend angenommene neuere Dramen - Vorgänge der Selektion wie auch der Ersetzung und Hervorhebung von Sinnangeboten ermittelt. Es geht vor allem um geänderte Bedeutungsbildung in einer Reihe von Textvorlagen (Übersetzungen, Bearbeitungen), daneben auch um spezifische Akzentsetzungen in Inszenierungsvorhaben mehrerer Länder. Es zeigt sich, dass zur Attraktivität dieser Antigone mit ihren teilweise unterschätzten Bezügen zur Tragödie des Sophokles, ihren Kontaktstellen zu Becketts En attendant Godot und weiteren Dramen der Gegenwart, gleichermaßen Aussagen zur existentiellen Situation des Menschen und Erkundungen aktueller, ggf. brennender Probleme sowie Spannung und Wechsel zwischen Komik und tiefem Ernst bis zur Tragödie gehören. An polnischen, englischen, deutschen und französischen Übersetzungen und Spielvorlagen wird gezeigt, dass G ł owackis Stück ein Fall von work in progress ist: Für eine immer neue Mischung aus einerseits gleichbleibendem, andererseits gewandelten Deutungsangebot sorgen neben Besonderheiten der einzelnen Länder und Theaterkulturen vor allem Veränderungen in der Lebenswelt sowie erfahrener, kompetenter Umgang mit dem Medium Theater. 1. Facetten einer Erfolgsgeschichte Diese Untersuchung versteht sich als Beitrag zur vergleichenden Analyse von Drama und Theater. 1 Auf zwei vorangehende Forschungen gestützt, 2 bringt sie Licht in ein wenig bekanntes Kapitel länderübergreifender Theatergeschichte zwischen 1992 und dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Hier sind zusätzliche Quellen in der Art von Übersetzungen und Bearbeitungen, Aufsatzliteratur und Rezensionen erschlossen. Die Erfolgsgeschichte beginnt mit der - allem Anschein nach - nirgends wirklich transparent dargestellten Genese dieser neuen Modellierung der Antigone im Jahre 1992: In einer Reihe von Quellen findet sich der Hinweis, die Antigone sei G ł owackis erstes Stück in englischer Sprache gewesen. Der Autor habe “ zugegeben ” , zu diesem Zeitpunkt das Englische noch so wenig beherrscht zu haben, dass er das Manuskript gemeinsam mit Joan Torres “ Satz für Satz verbessert ” habe. 3 Diese englische Urfassung von 1992 scheint nicht zugänglich zu sein. Sie ist zumindest als gedruckte Quelle nicht nachgewiesen. Die polnische Erstfassung lag im Oktober ’ 92 in der Zeitschrift Dialog vor. 4 In manchen Übersetzungen, etwa der deutschen, lässt sich ein englischer Paralleltext zu dem polnischen ahnen, doch fehlen entsprechende Nachweise. Angesichts der Nichterreichbarkeit einer als kanonisch ausgewiesenen ersten englischen Stückfassung - G ł owacki selbst hat sich, wie zu zeigen ist, an der Herstellung weiterer Versionen seiner Antigone beteiligt - wird der Anfang dieses Kapitels der neueren Theatergeschichte ganz unterschiedlich wahrgenommen. Diejeni- Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 207 - 222. Gunter Narr Verlag Tübingen gen, denen das Polnische zugänglich ist, beziehen sich vor allem auf die Druckfassung des Jahres 1992; diejenigen, die mit dem Englischen vertraut sind, nennen die amerikanische Uraufführung der Arena Stage in Washington (im Frühjahr 1993) als Initialmoment. 5 Die gleichsam kanonisch gewordene englischsprachige Stückfassung stammt sogar erst aus dem Jahr 1997. Es geht um eine Bühnenbearbeitung, die von dem Autor Janusz G ł owacki und der Übersetzerin Joan Torres gemeinsam erstellt wurde. 6 Zum Profil der Text- und Aufführungsgeschichte gehört denn auch, dass Angaben zum Ausgangstext, d. h. einer englischsprachigen oder aber einer polnischen Vorlage, entweder völlig fehlen oder höchst ungenau sind. Somit sind in vielen Fällen sorgfältige vergleichende Textanalysen der einzige Weg, die eklektische (aus mehreren Quellen gewonnene) Entstehung einer Spielvorlage zu ermitteln. 7 Die Erfolgsgeschichte des Zweiakters Antigone in New York beginnt deutlich greifbar im Februar/ März des Jahres 1993: mit der polnischen Uraufführung im Warschauer Teatr Ateneum (13.2.) und etwa 14 Tage später mit der englischen Premiere an der Washingtoner Arena Stage - der Bühne, die das Stück bei G ł owacki bestellt hatte. 8 Beide Aufführungen, auf die vorab mit Nachdruck hingewiesen worden war, 9 fanden umgehend lebhaftes Echo in der Presse. Neben positiv lautenden Besprechungen der Inszenierungen selbst gab es klassifizierende Urteile für das neue Stück. Time Magazine sah hier “ eines der besten zehn Stücke des Jahres 1993 ” . 10 In einer Reihe von Ländern wurden Inszenierungen mit besonderem Lob bedacht, auch preisgekrönt. Eine französische Inszenierung des Jahres 1997 wurde in Paris zum “ besten Schauspiel der kleinen Bühnen ” gekürt. 11 Bereits in den 1990er Jahren folgten Übersetzungen in eine Reihe europäischer Sprachen rasch aufeinander. Der oft wiederholte Hinweis auf “ mehr als zwanzig Sprachen ” 12 dürfte dabei längst überholt sein. Das lassen Einstudierungen des Stücks in beiden Amerikas und in vielen Ländern Europas, 13 sogar in Asien, 14 annehmen. Zur Erfolgsgeschichte von G ł owackis Stück gehört z. B. auch die Einbeziehung in Theaterprojekte unterschiedlichen Zuschnitts. So wurde eine - auf die Spieldauer von einer Stunde gekürzte - Inszenierung dieser Antigone im November 2010 in Monpellier an der Esplanade de l ’ Europe gezeigt. Neben der Tragödie des Sophokles waren die Antigone-Modellierungen von Brecht, Anouilh und Baucha berücksichtigt. 15 Gar nicht zu zählen sind gewiss die Konferenzen und konferenzähnlichen Veranstaltungen, auf denen G ł owackis Stück Gegenstand von Vorträgen war. 16 Aus dem Zusammenhang von Konferenzen und darüber hinaus gibt es Forschungsliteratur in mehreren Ländern. Diese sucht in der Regel andere Zugänge zu diesem Stück als die vorliegende Forschung. 17 2. Transkulturalität und Hybridität: Vorgang und Horizonte der Bedeutungsbildung in der polnischen Erstfassung (1992) G ł owackis Antigone steht sehr deutlich im Zeichen von Transkulturalität und Hybridität. Dies betrifft das Verhältnis zur Tragödie des Sophokles, die Anlage der Rollenfiguren, das gattungspoetische Profil und teilweise auch sprachlich-stilistische Signalsetzungen im Stück. Als Wechsel von kultureller Einheit zu Transkulturalität und Hybridität dürfte für viele Rezipienten der Austausch des Handlungsortes erscheinen: von dem antiken Theben in das New York am Ende des 20. Jahrhunderts - ein Sinnbild für die Mischung von Völkern und Kulturen. Dass Griechenland selbst, zunächst ein kulturelles Nehmerland, auf singuläre Art transkulturell 208 Brigitte Schultze / Beata Weinhagen und hybrid beschaffen war, wird, so ist anzunehmen, eher nicht nachvollzogen. Als ethnisch-kulturell hybride lässt sich fraglos das Herkunftsland der einzigen weiblichen Rolle des Stücks, Anita (Antigone) identifizieren: der mit den USA assoziierte Inselstaat Puerto Rico. Von Immigranten aus Spanien, den Kanarischen Inseln und Afrika besiedelt, gibt Puerto Rico als solches das Thema der Migration vor. Dieser Hintergrund scheint als hochgradige Hybridität im sprachlichen und außersprachlichen Verhalten der Anita durch: Ständig sind katholischchristliche Traditionen mit dem Brauchtum von Naturreligionen (Schadenszauber, Magie), vor allem aber mit Aberglauben verbunden. Unter den Bedingungen des späten 20. Jahrhunderts steht die etwa 35jährige Anita, deren personal tag ein gefüllter Einkaufswagen (Ersatz für einen ganzen Haushalt) ist, für das globale Schicksal von Wirtschaftsimmigranten. Anita ist von ihrem Lebensentwurf her keine Asylsuchende. Schon einmal mit dem in den USA verdienten Geld nach Hause zurückgekehrt, macht sie einen zweiten Versuch, die Grundlagen für eine Existenzgründung daheim zu schaffen. Bei den männlichen Rollenfiguren ist aus unterschiedlichen Gründen eine ähnlich planende Einstellung nicht gegeben. Ethnisch-kulturelle Hybridität repräsentiert dabei gleichfalls der russische Jude Sasza - ein bildender Künstler und Intellektueller. Einst im Dissens zu den kommunistischen Machthabern zur Emigration gezwungen, steht er zugleich für transnationales Schicksal im Jahrhundert der Diktaturen. Ein Wirtschaftsemigrant bzw. Asylsuchender ohne politische Zwangssituation ist hingegen der Pole Pche ł ka (Floh). Er hat vor allem damit Probleme, seine Vorstellungen von einem wünschenswerten Dasein durch kontinuierliche eigene Arbeit Wirklichkeit werden zu lassen. Dass den Russen Sasza und den Polen Pche ł ka - durch die historische Vergangenheit begründet - eine ‘ Beziehungsgeschichte ’ mit Asylsuche und Emigrationsgeschehen verbindet, ist in G ł owackis Drama angesprochen, steht jedoch nicht im Vordergrund. Gleichsam als Spuren tradierter und habitualisierter Identitätsvergewisserung gibt es in den Repliken des polnischen Asylanten eine Fülle sowohl gegen die Puerto-Ricanerin als auch gegen den Juden gerichteter Stereotypen. Die Schicksalsgemeinschaft von Immigranten schützt somit nicht vor Mechanismen der Ausgrenzung. Das ‘ gelobte Land ’ , dessen Mythos in diesem Stück schon nicht mehr abgearbeitet und entzaubert werden muss, 18 wird von einer einzigen Figur mit eigenem Text, dem Polizisten Jim Murphy (G, S. 5) repräsentiert. Der Regie ist hier die Wahl gelassen, ob ein weißer oder ein farbiger Schauspieler die Rolle des Polizisten ausagieren soll. Mit dem nur einmal am Stückeingang genannten Namen “ Murphy ” ist ohne Frage ein Deutungsimpuls gegeben. Der Name führt zu einem Roman von Samuel Beckett, 19 d. h. einem der wesentlichen intertextuellen Referenzautoren des Stücks. 20 Eindeutig ist das weiße Amerika nur durch einen Toten repräsentiert - den Leichnam des an Unterkühlung gestorbenen Obdachlosen John. Dem Amerikaner war das eigene Land fremd geworden. Aus Berichten der Rollenfiguren geht hervor, dass er sich bereits Jahre vor seinem Tode in sich selbst zurückgezogen, mit niemandem mehr kommuniziert hatte. 21 In der Text- und Inszenierungsgeschichte wird der Rollenname John auf unterschiedliche Weise verändert, 22 wohingegen die übrigen Rollennamen allenfalls den jeweiligen Zielsprachen angepasst werden. Hybridität ist auch darin realisiert, wie sich zwei von G ł owackis Figuren, Anita und der Polizist, auf das Personal in der Tragödie des Sophokles beziehen. Anita ist gewissermaßen eine aus der kompromisslosen Antigone 23 und deren auf Ausgleich und den Erhalt familiärer Bindungen bedachte Schwester Ismene zusammengesetzte Figur: 209 Janusz G ł owackis Antigone in New York international Auch wenn Anita - ähnlich der antiken Antigone - im Gedanken an persönliche Würde und um des Seelenheils des Toten willen auf einer traditionsgemäßen Bestattung des Amerikaners John besteht, kann und will sie sich ein Dasein ohne persönliche Bindung nicht vorstellen. 24 In die Rollenfigur des Polizisten mit seinen Mitteilungen, Kommentaren, Warnungen und Vorhersagen sind, darauf ist in der Forschung wiederholt hingewiesen worden, mehrere Gestalten der antiken Tragödie eingegangen: der Chor, der Wächter, der Bote, der Seher Teiresias und sogar Kreon. 25 Analogie und Differenz, somit Hybridität, ließe sich auch in dem Verhältnis zwischen Antigones als Brudermörder umgekommenen Bruder Polyneikes und dem unschuldig zu Tode gekommenen Obdachlosen John aufzeigen. 26 Gestützt auf die beschriebenen Rollenbilder sieht der Vorgangskern 27 der ersten Fassung von G ł owackis Antygona, d. h. die Binnenhandlung ohne die eingeschalteten Auftritte des Polizisten mit seinen Ansprachen an das Publikum im Theatersaal, nun so aus: Obwohl die mit ihrem Einkaufswagen im Park umherziehende Anita von einem Indianer, danach auch von Sasza und Pche ł ka erfahren hat, dass der von ihr als Verlobter und “ Familie ” (G, S. 19) erwählte Amerikaner John gestorben und zur Bestattung auf die Bronx verbracht worden ist, wehrt sie sich dagegen, dies zu akzeptieren. Sasza, der Anita in die Wirklichkeit zu holen versucht, schirmt sich selbst mit Musik aus einem defekten Kassettenrekorder (Frank Sinatras “ Strangers in the Night ” ) gegen die Kälte und die Situation der Hoffnungslosigkeit ab. Den umtriebigen Polen Pche ł ka (er hat für die Reise ins ‘ gelobte Land ’ eine seiner Nieren geopfert) konfrontiert Sasza mit dessen ständigen Lügengebäuden und Betrügereien. Sich an Sasza als gleichsam letzte menschliche Bindung klammernd, warnt Pche ł ka Sasza vor einer Rückkehr in das postkommunistische, freie Russland. Anita, nunmehr von Johns Tod überzeugt, bittet ihre beiden Mitbewohner auf der Parkbank, den Leichnam des Amerikaners gegen ein Honorar von der Bronx in den Park zurückzuschaffen, wo eine individuelle Bestattung erfolgen soll (I, Szenen 2 - 4 und 6 - 7). In der Bronx eingetroffen, finden Sasza und Pche ł ka in den zu einer anonymen Massenbestattung vorbereiteten Särgen einen Toten, der John gewesen sein könnte. Sie schaffen den Leichnam in den Park. Anita, der die Identität des Toten nun nicht mehr wichtig ist, bestattet den Leichnam unter Mitwirkung von Sasza. Als Sasza dann in einem beiderseitigen Lebensbericht zweimal das Personalpronomen “ uns ” (G, S. 36) artikuliert, sieht Anita sich für die individuelle Bestattung eines Toten von Gott belohnt: Sie hat eine neue Familie, will Sasza nach Russland folgen. Mit Hilfe der Schätze in ihrem Einkaufswagen kleidet sie Sasza für seinen Gang zum russischen Konsulat ein. Eine kurze Abwesenheit Anitas nutzend, hintertreibt Pche ł ka den Plan seiner Mitasylanten: Von Pche ł ka mit einem Alkoholgemisch betrunken gemacht, kann Sasza nicht zur Hilfe eilen, als Anita von zwei Männern vergewaltigt wird. Am Schluss erhängt sich Anita - wie der Polizist in seinem letzten Bericht an das Publikum mitteilt (G, S. 40) - am Haupteingang zum Park (II, Szenen 8, 10 - 11, 13 - 15). Der dargestellte Vorgang lässt bereits wesentliche Themen und Horizonte der Bedeutungsbildung und damit die internationale Anschlussfähigkeit dieses Stücks im Sinne des tua res agitur erkennen. Zu den umfassenden Angeboten zur Bedeutungsbildung gehören das weltweite Schicksal von politisch, religiös und anders motivierten Asylanten sowie von Wirtschaftsflüchtlingen, individuelle und kollektive Obdachlosigkeit, das fundamentale Problem eines aufrichtigen Umgangs mit der eigenen Person und den Mitmenschen, die Einstellung zu zwischenmenschlicher Bindung, das Ver- 210 Brigitte Schultze / Beata Weinhagen ständnis von Solidarität in gemeinsamen Notsituationen, das Begreifen von menschlicher Würde als einem Grundrecht u. v. m. Hinter den lebensweltlichen Notsituationen werden fundamentale existentielle Fragen sichtbar: nach der existentiellen Unbehaustheit des Menschen, 28 nach der Möglichkeit oder auch Vergeblichkeit, dem eigenen Dasein eine ersehnte Richtung, Erfüllung zu geben. Weitere Anschlussstellen, die fraglos transkulturell funktionieren, ließen sich nennen. Der internationale Erfolg von G ł owackis Tragikomödie ist selbstverständlich nicht allein mit den aktuell und universell bewegenden Fragestellungen zu erklären. Er beruht ebenso auf dem spannungsreichen Wechsel von Registern des Komischen (einschließlich Slapstick und scharfer Satire) zu Ernst und sogar Tragik, teilweise auch auf der Gleichzeitigkeit von Komik und Ernst. Slapstick-Szenen, 29 und damit comic relief besonderer Art, gibt es vor allem, als Sasza und Pche ł ka auf der Bronx ‘ Särge knacken ’ und später versuchen, den Leichnam als sitzende Figur auf der Parkbank zu justieren. Zu den Verfahren komischer Normabweichung, die offensichtlich in den einzelnen Zielkulturen auf unterschiedliche Akzeptanz stoßen, gehört obszöne Sprache - in den Repliken des Polen Pche ł ka, auch des Polizisten. In manchen Auftritten des Polizisten wird, um ein Beispiel zu geben, obszöne Phraseologie zitierend vorgetragen. Darum bemüht, in eigener Person untadelige Rede (wie auch political correctness - “ ich habe nichts gegen die Obdachlosen ” , G, S. 5) im Munde zu führen, legt der Polizist einer Zuschauerin im Saal, einer “ eleganten Dame ” , obszöne Phraseologie und obszönes Vokabular ( “ hurensöhnisch ” - “ skurwysy ń ski ” , G, S. 18) in den Mund. Hinter der auf Anstand getrimmten Fassade (sie wird im Verlauf des Geschehens zunehmend löchriger) erscheint eine weitere Seite dieses Vertreters der amerikanischen Obrigkeit. Es bleibt festzuhalten, dass G ł owacki mit seiner Tragikomödie Antygona ein besonders anschlussfähiges und für theatrale Deutungen offenes Stück geschaffen hat. 3. Neue Impulse für das internationale Übersetzungs- und Inszenierungsgeschehen: die englischsprachige Bearbeitung (1997) Die auf eine Inszenierung des Vine Yard Theatre in New York (April 1996, G/ T, S. 4) zurückgehende Bearbeitung der Antigone reduziert einige offensichtliche Längen der polnischen Erstfassung, wie sie z. B. in der Vorstellungsrede des Polizisten gegeben sind. 30 So ist insgesamt eine straffer angelegte Inszenierungsvorlage entstanden, die zum einen Spielzeit spart, zum anderen Raum für das nunmehr verstärkte Verfahren der stummen Szene gibt. Die Segmentierung des Stückes ist signifikant geändert. Aus 16 fortlaufend gezählten Szenen (I/ 1 - 7, II/ 8 - 16) werden vier relativ lange Szenen im ersten (I/ 1 - 4) und zehn teilweise auffallend kurze Szenen im zweiten Akt (II/ 1 - 10). Das dargestellte Geschehen eilt somit beschleunigt auf das Ende zu. Aus dem konkreten Tompkins Square Park ist “ ein Park ” - “ a typical New York park ” (G/ T, S. 7) - geworden. Das zielt, wie andere geringfügige Umformulierungen auch, auf eine universellere Aussage. Diese Bühnenfassung verstärkt den Bezug zur Tragödie des Sophokles u. a. dadurch, dass zusätzliche Kontaktstellen geschaffen sind. Der Name des toten Amerikaners, John, ist z. B. durch “ Paulie ” ersetzt. 31 Damit ist - phonetisch - eine Verbindung zum Namen von Antigones Bruder, Polyneikes, angezeigt; überdies ist auf ein familiäres Verhältnis der Obdachlosen untereinander - und sei dies nur eine behauptete Nähe - hingewiesen. Der Bezug zur Tragödie des Sophokles ist auch dadurch verstärkt, dass nicht der Polizist, 211 Janusz G ł owackis Antigone in New York international sondern Anita-Antigone das Stück eröffnet - in einer stummen Szene: “ She crosses the stage quickly, obviously looking desperately for someone ” (G/ T, S. 7). Das in der polnischen Erstfassung und wohl auch in der englischen Parallelversion präzise angelegte Verhältnis von Rahmen- und Binnenhandlung bzw. von Außen- und Innenperspektive ist nun gelockert. Dies wiederholt sich in der dritten Szene des ersten Aktes. Während der Polizist der Erstfassung kein einziges Mal mit den Obdachlosen im Park kommuniziert, gibt es hier, von Anita initiiert, einen Wortwechsel zwischen der Parkbewohnerin Anita und dem Polizisten: Der Zugang zu einem Vertreter der Obrigkeit ist also möglich, wie ja auch Antigone direkt mit Kreon (als dem Herrscher, nicht dem Onkel) spricht. Dass Anita, Antigone vergleichbar, in Sorge um das Seelenheil des Amerikaners Pauli die Bestattung im Park betreibt, wird durch Einfügungen verdeutlicht. Während der russische Jude Sasza (Sasha) die Vorschriften der Behörden zur Bestattung anonymer Toter zu respektieren bereit ist ( “ This is a crime ” ), hält Anita ihm entgegen: “ It is a crime to bury people there ” (G/ T, S. 42 f.). Das Verfahren der stummen Szene, das einen deutlichen Kontrast zu sprachlichen und außersprachlichen Inszenierungen, insbesondere der Rollenfigur Pche ł ka schafft, 32 ist nochmals in der vorletzten Szene (II/ 9) der Darstellung von Anitas kurzer Rückkehr in den Park nach der Vergewaltigung, genutzt. Von sieben Repliken in der Erstfassung bleibt allein eine Äußerung des polnischen Asylanten erhalten: “ I need a drink ” (G/ T, S. 79). Der wortlose Bewegungsablauf ist dieser: “ SASHA and FLEA are sitting on the same bench. ANITA enters. [. . .] She doesn ’ t look at SASHA or FLEA. She goes straight to the bench and slumps down on it. For a moment they all sit in silence ” (ebd.). Diese ‘ Momentaufnahme ’ ist in einer Reihe von Übersetzungen und Bearbeitungen, auch in Inszenierungen, impulsgebend. Es ließe sich zeigen, dass durch Kürzungen und Umstellungen einzelner Sequenzen, auch durch Verschiebung von Sequenzen aus einem Akt in den anderen, eine weitergehende Verdichtung der Spielvorlage gewonnen wird. 33 Daneben gibt es auch ein punktuelles Ersetzen von Wortmaterial, das recht deutlich auf unterschiedliche Seh- und Hörgewohnheiten polnischer Theaterbesucher einerseits, 34 und amerikanischer Zuschauer andererseits schließen lässt. Es geht vor allem um unterschiedliche Akzeptanz von scharfer Satire und manchen Formen von Groteskkomik. 35 Hier fallen manche textuelle Lösungen der Bühnenbearbeitung deutlich schwächer aus. Auf der anderen Seite erzeugt diese Bühnenfassung aber auch zusätzliches Sinnangebot, das auf eine Steigerung von Komik, wenn nicht von Satire, hinausläuft. Der englische Text bietet einen etwas größeren Ausschnitt der ‘ Wohnlandschaft ’ im Park: “ a mountain of rags, newspapers ” usw. (G/ T, S. 7). Dabei wird besonders augenfällig, dass auch die Obdachlosen Unmengen von Wohlstandsmüll ansammeln. Mit Hilfe von Requisiten und Dekoration, von denen manche Elemente auch zur polnischen Textversion gehören, macht diese Bühnenfassung nochmals ein eigenständiges Deutungsangebot. Dieses lässt sich am ehesten unter das Stichwort consumerism stellen: Die Textausgabe enthält einen Anhang, in dem für beide Akte eigenständige “ plots ” - Handlungen, Aktionen - der gegenständlichen Welt aufgeführt sind. Es gibt einen “ property plot ” , zu dem Anitas Einkaufswagen mit einem rosa Telefon gehört, einen “ personal plot ” , somit personenbezogene Requisiten, und einen “ costum plot ” . Insgesamt werden fast 60 solcher Requisiten aufgeführt (G/ T, S. 81 - 86). Die Gegenstände der amerikanischen Zivilisation, und jeder ‘ global ’ orientierten Lebenswelt, führen geradezu ein Eigenleben. Die Dinge generieren eigene “ plots ” . 212 Brigitte Schultze / Beata Weinhagen So setzt diese Bühnenbearbeitung einen weiteren komischen, wenn nicht satirischen Akzent. Manchen Rezipienten (auch Lesern) der englischen Stückfassung von 1997 mag noch ein Deutungshorizont bewusst werden: dass hinter der Wohnlandschaft im Park und all den Zivilisationsikonen, mit denen sich auch die Obdachlosen umgeben, Umweltzerstörung - ein Endpunkt unserer Zivilisation - aufscheint. Neben G ł owackis polnischer Erstfassung und der englischen Parallelversion hat, wie gesagt, diese Bühnenbearbeitung von 1997 in Übersetzungstexten wie auch in Inszenierungen greifbare Spuren hinterlassen. Der Autor selbst konnte, wie zu zeigen ist, Impulse für die weitere Arbeit an seinem Text gewinnen. Manche Übersetzer, die eine Beziehung zur Theaterarbeit haben, greifen nachweislich auf diese straffere Stückfassung zurück. 4. Im Einfluss der Bühnenpraxis: weitere polnische Stückfassungen (1996, 2007) Soweit erkennbar, hat G ł owacki im Laufe der mehr als fünfzehnjährigen Inszenierungsgeschichte noch zwei veränderte polnische Versionen seiner Antygona herausgebracht: 1996 und 2007. In beiden Fällen wird das Stück als Teil eines Werkzusammenhangs vorgestellt. 36 In der makrostrukturellen Anlage, d. h. der Gliederung in Akte und Szenen, sind die drei Fassungen identisch. Immer ist der Handlungsort der konkrete Tompkins Square Park, heißt der verstorbene Amerikaner im Personenverzeichnis John. Die Änderungen betreffen in erster Linie die Figurenrede, in einigen Fällen auch schauspielerbezogene Spielanleitungen. Bei den Fällen von Eliminierung und Substitution sind vor allem zwei Kontexte zu erkennen: das Theater mit seinen Konventionen ökonomischer Rede, authentischer Mündlichkeit bzw. deren Stilisierung (gerade in einem Gegenwartsdrama), rhythmischer Signalsetzungen u. a. m. sowie der Problemkreis von political correctness und Fremdheitsbzw. Identitätsdiskurs. Die meisten Eingriffe in das Wortmaterial - Eliminierungen kürzerer Replikenfolgen und einzelner Wörter - finden sich bereits in der Fassung von 1996; sie sind mit wenigen Ausnahmen in die Dramenausgabe von 2007 übernommen. Diese letzte Ausgabe ist mit besonderer editorischphilologischer Sorgfalt erstellt, geht in der Tilgung von Wortmaterial auch noch weiter als die Stückversion von 1996. Überdies wird hier Einblick in die mehr als zehnjährige internationale Theaterarbeit an der Antygona geboten. Die Aufführungsgeschichte ist auf zweifache Art veranschaulicht: durch 17 Szenenfotos von Inszenierungen in insgesamt acht Ländern 37 sowie durch eine Collage von Rezensionen zum länderübergreifenden Bühnengeschehen. 38 Einige wenige, für die Bedeutungsbildung besonders wichtige Änderungen seien hier herausgegriffen. Ein Ersetzen von Rede durch Körpersprache ist darin gegeben, dass stereotype Aussagen, mit denen der Polizist sich wiederholt vom Publikum im Saal verabschiedet, durch eine stumme Geste artikuliert sind. Die Wendung “ Verzeihung, ich muss eilen [wörtlich: fliegen]. Aber ich werde noch hierher zurückkehren ” (G, S. 18; G/ 2, S. 37) ist in der letzten Version des Stücks mehrfach so ausgebracht: “ Der Polizist macht eine entschuldigende Geste und geht ab ” (G/ 3, S. 57). Das für G ł owackis Stück charakteristische rhythmische Element ist als solches erhalten, doch schafft die Geste eine Öffnung von Deutungsangebot: Dass sich der Polizist im Kreis bewegt, wie das gesamte menschliche Dasein in dieser Bühnenparabel, wird für das Publikum erst mit den Wiederholungen der Geste einsehbar. Bei den Änderungen in der Figurenrede mutet G ł owacki seinen Landsleuten in den Fassungen von 1996 und 2007 teilweise noch 213 Janusz G ł owackis Antigone in New York international mehr zu als im Erstdruck des Stücks. Dort teilt der Polizist in einem der ersten Sätze seiner Begrüßungsrede (I/ 1) mit: “ Sie [d. h. die Immigranten] lieben auch ihre Wahlheimat Amerika [przybran ą ojczyzn ę Ameryk ę ] ” (G, S. 5). In den folgenden Fassungen erklärt der Polizist: “ Sie lieben auch ihre Wahlmutter Amerika [przybran ą matk ę Ameryk ę ] ” (G/ 2, S. 14; G/ 3, S. 31). Während zunächst die eher amtliche Bezeichnung “ Vaterland ” gewählt ist, rührt die Kollokation “ Mutter Amerika ” sozusagen an einen ‘ historischen Nerv ’ der Polen: “ Mutter Polin ” (Matka Polka) war in der Zeit der Teilungen, insbesondere nach dem Novemberaufstand (1830/ 31), das Ideal einer Mutter, die ihre Kinder zu guten Patrioten macht. 39 Polnische Rezipienten, denen in der Rollenfigur des Pche ł ka ohnehin viel zugemutet wird, 40 sind nochmals an ein historisches Stereotyp mit seinem Anteil an Selbstlüge erinnert. In der Stückfassung von 2007 gibt es eine konsequente Änderung im Bereich der Beziehungsdefinition. Der tote Amerikaner wird von den anderen Rollenfiguren zum Teil nicht mit dem im Personenverzeichnis aufgeführten offiziellen Namen, John, sondern mit der vertraulichen Form “ Johnny ” bezeichnet. (G/ 3, S. 37, 44, 47 usw.) Damit ist zum einen die persönliche Nähe nachvollzogen, die Anita zwischen sich und dem Verstorbenen sehen möchte, zum anderen ist eine familiäre, zumindest vertraute gegenseitige Beziehung der Obdachlosen im Park signalisiert. Selbst der weiße Amerikaner, der sich schweigend in sich selbst zurückgezogen hatte, wird nicht ausgegrenzt. In der Textausgabe von 2007 gibt es überdies markante Änderungen in der vorletzten Szene des Stücks (II/ 15), der Darstellung von Anitas Rückkehr auf die Parkbank nach der Vergewaltigung. Während die Fassungen von 1992 und 1996 sieben Repliken enthalten, haben Sasza und Anita in der letzten Stückfassung buchstäblich die Sprache verloren. Allein Pche ł ka artikuliert den einen Satz: “ Ich könnte was zu trinken gebrauchen ” (G/ 3, S. 110). Hier ist die Bearbeitung von G ł owacki und Torres als Vorlage erkennbar. Flea meldet sich mit den Worten: “ I need a drink ” (G/ T, S. 79). Die Szene endet mit einem Tableau: Gemeinsam auf der Bank sitzend, “ erstarren ” “ Anita, Sasza und Pche ł ka in Bewegungslosigkeit ” (G/ 3, S. 110). Dieses Bild, das den Text der Vorlage (1997) verdichtet und präzisiert (vgl. Abschnitt 3) und an den Stückeingang (I/ 2) anschließt, schafft wiederum eine Kreisform - eine der Signalsetzungen für Perspektivlosigkeit in dem Stück. Im erkennbaren Einfluss der Theaterpraxis und in dem Bemühen, die Sensibilität von Rezipienten für Selbstlügen und Mechanismen der Ausgrenzung nochmals zu schärfen, ist somit in den polnischen Fassungen zwischen 1992 und 2007 ein dichteres Lektüreangebot und eine bühnengeeignetere Spielvorlage entstanden. 5. Am Anfang des Übersetzungsgeschehens: die deutsche Fassung (1994) Die als Bühnenmanuskript ausgewiesene deutsche Übersetzung von G ł owackis Antigone stammt von der Romanschriftstellerin und Übersetzerin Alissa Walser. 41 Der Übersetzungsvergleich lässt vermuten, dass Alissa Walser als wesentliche Vorlage eine frühe englische Fassung des Stücks hatte, vielleicht die nicht nachgewiesene Parallelversion des Jahres 1992. Dabei gibt es einige Unterschiede zwischen G ł owackis gedrucktem Text von 1992 und der frühen englischsprachigen ‘ Langfassung ’ - Unterschiede, die möglicherweise von Anfang an bestanden haben. Der tote Amerikaner heißt z. B. Paulie, wie bei G ł owacki und Torres, nicht John. Manche übersetzerische Lösungen lassen annehmen, dass Walser auch diese oder jene Hilfestel- 214 Brigitte Schultze / Beata Weinhagen lung eines polnischen Muttersprachlers hatte. Deutlich ist aber auch, dass viele Impulse der Bühnenbearbeitung von 1997 noch nicht genutzt werden konnten: Es gibt fortlaufend gezählte Szenen, wie in der polnischen Erstfassung (I/ 1 - 6; II/ 7 - 15); der Polizist eröffnet das Stück und tritt ähnlich fabulierfreudig auf wie im polnischen Erstdruck; es findet keine direkte Kommunikation zwischen Anita und dem Polizisten statt. Die Tatsache, dass manche der Straffungen noch nicht stattgefunden haben, ist bei einer lesenden Rezeption spürbar. Ungekürzt inszeniert, dürfte diese Vorlage zu einer erkennbar längeren Spielzeit führen als die Fassung von 1997. 42 Der Verzicht auf nur illustrierendes Textmaterial ist, daran sei erinnert, gerade bei Bühnenübersetzungen ins Deutsche durchaus relevant: Sowohl bei Übertragungen aus dem Polnischen wie aus dem Englischen ist mit Expansion, d. h. einer Zunahme von Wort- und Silbenvolumen, 43 zu rechnen. In der englischen Bearbeitung von 1997 gibt es z. B. diese Sätze von Sasza und Anita zum Abtransport von Paulies Leichnam: SASHA. They took him. ANITA. Who took him. The police? (G/ T, S. 19) Die deutsche Fassung lautet: SASCHA: Die haben ihn mitgenommen. ANITA: Wer hat ihn mitgenommen? Die Polizei? (GW, S. 7) 44 Ein deutscher Übersetzer, der in solchen Fällen einen Zuwachs an Wortmenge vermeiden will, könnte Anita einfach zurückfragen lassen: ‘ Wer? Polizei? ’ 45 Während die amerikanische Zielkultur offensichtlich mit G ł owackis Formen von Komik Probleme hat, könnte Alissa Walser beim deutschsprachigen Publikum eine geringere Akzeptanz von obszöner Rede und Phraseologie vermutet haben. Diesem Signalsystem in G ł owackis Stück wird jedenfalls durch eine gewisse Entschärfung und Homogenisierung entgegengearbeitet. Zugleich gibt es in dem deutschen Text eine - erkennbar absichtsvolle - Nutzung aktueller Umgangssprache ( “ jemanden nerven ” , GW, S. 19, “ sauer sein ” , ebd., S. 6, 14). Solche sprachliche Aktualisierung führt zu einer gewissen Akkulturierung, kann jedoch den Übersetzungstext ggf. auch rascher veraltern lassen, so dass bei der Theaterarbeit Änderungen, d. h. Anpassungen an wiederum neue Redemuster, nötig werden. 6. Theater für Leser: die französische Version (1997) Ähnlich der bearbeitenden Übersetzung von G ł owacki und Torres, die sich auf eine Inszenierung des Jahres 1996 stützt, geht die im Druck verfügbare französische Fassung der Antigone auf eine Inszenierung zurück - eine Einstudierung der Regisseurin und Übersetzerin Urszula Mikos und des Dramatikers und Theaterpraktikers Olivier Cohen. 46 Der Hinweis auf eine “ Übersetzung aus dem Polnischen ” 47 ist sicher mit Vorbehalt aufzunehmen: Hier sind, das zeigt der Übersetzungsvergleich, eine polnische Stückfassung in der Art derjenigen von 1996 und die englische Bühnenbearbeitung von 1997 zusammengeführt. Die Entscheidungen zwischen einer Direktübertragung dieser oder jener Vorlage und nochmaligen bearbeitenden Eingriffen lassen - mehr als die übrigen hier eingesehenen Fassungen von G ł owackis Tragikomödie - erfahrene Theaterleute und intensive, das Publikum bedenkende Theaterarbeit erkennen. 48 Die drei zentralen Rollenfiguren sind im Personenverzeichnis als Obdachlose ausgewiesen. Damit ist in dem breiten Spektrum von Deutungsangeboten bereits ein Akzent gesetzt. Während der Name des russischen 215 Janusz G ł owackis Antigone in New York international Juden in der französischem Schreibweise gegeben ist, Sache, lautet der Rufbzw. Spottname des polnischen Asylanten nicht etwa ‘ Puce ’ (Floh), sondern Flea - wie in der englischen Bühnenfassung und in den englischsprachigen Inszenierungen. Damit ist nicht nur ein Hinweis auf die englische Tradierungslinie (neben der polnischen) gegeben. Damit wird auch, verfahrensanalog, der ohnehin transkulturelle und hybride Text nochmals hybrider. Wie in der englischen Bühnenfassung, trägt der obdachlose Amerikaner den Namen Paulie. Er ist als Toter ausgewiesen. Allein die beiden Männer, die Anita vergewaltigen, d. h. die Stimmen aus dem OFF, sind noch nicht genauer identifiziert (Erster Mann, Zweiter Mann, GCM, S. 8). Ähnlich der Bühnenbearbeitung von G ł owacki und Torres zielt auch dieser französische Text auf eine universellere Aussage: Der Ort des Geschehens ist ganz allgemein “ Un parc new-yorkais ” (GCM, S. 9). Die Segmentierung zeigt eine eigenständige Lösung sowohl gegenüber den von G ł owacki publizierten Fassungen der Jahre 1992 und 1996 als auch gegenüber der englischen Bühnenbearbeitung von 1997. Das Verständnis von einer kontrastreichen und rhythmisch organisierten Spielvorlage liegt dabei der englischsprachigen Bearbeitung recht nahe. In der Segmentierung ist das Grundkonzept eines insgesamt langsamer vor sich gehenden Geschehens im ersten und einer deutlichen Beschleunigung im zweiten Akt zu erkennen: Prolog, I/ 1 - 4; II/ 5 - 14. In Übereinstimmung mit der englischen Fassung von 1997, trifft zunächst Anita in einer stummen Szene auf (GCM, S. 9), gibt es einen Wortwechsel zwischen Anita und dem Polizisten (GCM, S. 31 f.), ist in der vorletzten Szene das Tableau deutlicher identifizierbar als z. B. in der polnischen Stückfassung von 1992. Ein einziger Satz von Flea unterbricht das Schweigen: “ J ’ ai besoin d ‘ un coup à boire ” (GCM, S. 72). Der Gegensatz zwischen Stumm-Sein (Verstummen) und Reden, zwischen langen und kurzen Szenen oder auch Sequenzen ist insgesamt verstärkt. Eine nur als Bild gegebene erste Szene (I/ 1), in der Sasza (Sache) mit seinem Kassettenrekorder hantiert, wird durch eine wortreiche zweite Szene abgelöst. Dadurch, dass nun sowohl Anita als auch Sasza in einer stummen Szene eingeführt werden, ist von Anfang an eine besondere Beziehung zwischen beiden angedeutet. Ein aussagekräftiger Unterschied zwischen allen polnischen Stückfassungen einerseits und der englischen und französischen Version andererseits liegt darin, dass Anita in den polnischen Texten bereits am Stückbeginn durch Sasza vom Tod des Amerikaners erfährt (G, S. 8), in den Bühnenbearbeitungen von 1997 jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt (G/ T, S. 19; GCM, S. 20) informiert wird. Es bleibt offen, ob Sasza diese Nachricht zunächst aus Mitgefühl Anita gegenüber zurückhält. Der erste Auftritt des Polizisten in einem gegenüber den polnischen Fassungen stark gekürzten Prolog beginnt wie die englische Version mit einer Erklärung zur political correctness: “ J ’ aime autant vous dire tout de suite que je n ’ ai rien contre les SDF. . . ” (GCM, S. 9). Dabei nimmt der französische Text eine Reihe markanter Ersetzungen und Akzentuierungen von Wortmaterial vor. Während der Polizist sowohl in den polnischen Fassungen (z. B. G, S. 6) als auch in der englischen Bühnenbearbeitung von “ Missverständnissen ” ( “ misunderstandings ” , G/ T, S. 8) zwischen den amerikanischen Behörden und den Obdachlosen spricht, nennt der Polizist der französischen Bearbeitung das Wort “ Konflikt ” ( “ conflit ” , GCM, S. 9). In dieser Weise sind im ganzen Stück Wörter und Wendungen durch andere ersetzt. Das führt teilweise zu Akkulturierung, teilweise - wie im Falle des Hinweises auf “ Konflikte ” zwischen Behörden bzw. Regierung und Zuwanderern - zu Aktualisierung. Um Akkulturierung geht es z. B., wenn Flea seine hohen Sprünge während eines 216 Brigitte Schultze / Beata Weinhagen epileptischen Anfalls in den polnischen Fassungen und auch in der englischen Bearbeitung voller Stolz mit den Sprüngen des Baletttänzers Baryshnikov (Bary š nikov, G, S. 25; G/ T, S. 50) vergleicht, in der französischen Bühnenfassung jedoch der in Paris erfolgreiche Noureev (Nureev, GCM, S. 48) gewählt ist. Von Aktualisierung ist dort zu sprechen, wo durch Verfahren des Ersetzens, der Verdeutlichung usw. eine Beziehung zu den französischen Staatsbürgern aus Nordafrika hergestellt ist. In der englischen Bühnenbearbeitung stellt Anita zur rechtlichen Situation des toten Amerikaners fest: “ but he was a WASP [White Anglo-Saxon Protestant, B. S./ B. W.] so he belonged in America. It shouldn ’ t be this way ” (G/ T, S. 21). 49 Im französischen Text sagt Anita: “ mais lui, il avait la nationalité, il faisait partie de l ’ Amérique. Un vrai Américain. Ça ne devrait pas se passer comme ça ” (GCM, S. 21). Diese Form der Fortschreibung der englischen Bühnenbearbeitung dürfte im Sinne des tua res agitur gewirkt haben. Während die französische Fassung die Akzentuierung von consumerism wie auch von Wohlstandsmüll nicht aufnimmt, macht sie sich eine andere Akzentverschiebung der englischen Bühnenbearbeitung gegenüber den polnischen Versionen des Stücks zu eigen: die Herausstellung der Rolle persönlicher Bindung. Wie in der englischen Stückfassung von 1997, verwendet auch die Anita der französischen Antigone mehrfach das Personalpronomen, wenn sie von Paulie spricht: “ near my Paulie ” (G/ T, S. 10) - “ près de mon Paulie ” (GCM,S. 12). Einige Gesten sind in der französischen Stückfassung noch etwas intensiver. In der sprachlichen Textur der Übersetzung sind stellenweise Mündlichkeit und Kolloquialität hervorgehoben - “ T ‘ as vu Paulie? / C ‘ est pas une montre ” (GCM, S. 12 f.) - , wodurch das in der Makrotextur deutliche Bemühen um Kürzung auch in der Figurenrede verwirklicht ist. Angesichts dieser vielfältigen Strategien der Straffung, rhythmischen Verstärkung, Akkulturierung und Aktualisierung ist nachvollziehbar, dass der französischen Version von G ł owackis Tragikomödie deutlicher Bühnenerfolg beschieden war. 7. Akzentsetzungen in den Druckfassungen - im Spiegel von Inszenierungsbesprechungen Der Vergleich von sechs Textfassungen der Tragikomödie Antigone hat eine Ausdifferenzierung von Deutungsangebot erbracht, von der nur wenige Leser und Theaterleute wissen dürften. Für den hier betrachteten Ausschnitt einer Übersetzungs- und Bearbeitungsgeschichte von 1992 bis 2007 sind diese Akzentsetzungen festzuhalten: G ł owacki selbst schafft in seinen fortlaufenden Texteditionen einen strafferen, die Bedingungen des Theaters mehr bedenkenden Text. Das teilweise in den späteren Fassungen verschärfte Bild eines polnischen Emigrantenschicksals reicht bis zu einer parabelhaften Darstellung menschlichen Scheiterns. Die deutlich ökonomischer angelegte Bühnenbearbeitung von G ł owacki und Torres mit ihrer veränderten Segmentierung und veränderten inneren Kommunikation tauscht manche polnische Kontexte und satirische Signalsetzungen gegen amerikanische Kontexte und ‘ mildere ’ Formen von Komik aus; mit der Exponierung der gegenständlichen Welt der amerikanischen wie auch globalen Zivilisation baut sie ein Deutungsangebot aus, das in anderen Stückfassungen (wie auch Inszenierungen) weniger akzentuiert ist. Die deutsche bearbeitende Übersetzung, die unter den spezifischen Bedingungen der Expansion beim übersetzerischen Transfer steht, kann die Impulse aus der Theaterarbeit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre noch nicht nutzen. Hier sind keine rezeptions- 217 Janusz G ł owackis Antigone in New York international lenkenden Verfahren des Ersetzens, der Ergänzung usw. zu entdecken. Es ist vorstellbar, dass eine ungekürzte szenische Umsetzung dieser Fassung der Antigone zu einem gedehnten Spielablauf führt, der für Rezipienten spürbar ist. Die französische Bühnenbearbeitung, die wesentliche Verfahren der englischen Bearbeitung aufgreift und systemhaft weiterentwickelt, setzt einen erkennbaren Akzent bei den Zugewanderten, den Obdachlosen, sowie beim Thema zwischenmenschlicher Beziehungen - Liebe, Solidarität. Durch insgesamt geringfügige Eingriffe in den Text wird das Stück an die französische Lebenswelt angeschlossen, wird aktualisiert. Viele der von uns eingesehenen Besprechungen zu Inszenierungsvorhaben - in denen die jeweilige Spielvorlage, wie das üblich ist, unerwähnt bleibt - lassen eine zustimmende, wenn nicht begeisterte Aufnahme von G ł owackis Tragikomödie erkennen. Dabei werden vor allem vier Akzente des Theatererlebnisses genannt: Nahezu ohne Ausnahme ist die Kopräsenz von Komik und Tragik, die Ermöglichung von so viel Tragik durch Komik, hervorgehoben. 50 Ähnlich zentral ist das Ausloten des Problems der Obdachlosigkeit mit seiner existentiellen Dimension gesehen. 51 Sehr oft sind Liebe und Solidarität als Fokus angesprochen, 52 schließlich ist immer wieder, teilweise im Rekurs auf Beckett, das Vorstoßen bis zur existentiellen Situation des Menschen angesprochen. 53 Unter den in Europa gezeigten Inszenierungen der Antigone sind die in Österreich, Deutschland und Polen aufgeführten Einstudierungen des Wiener Regisseurs Szalsza mit auffallend geteiltem Echo aufgenommen worden. Hier scheint die als solche problematische Vorlage von Alissa Walser ungekürzt gespielt worden zu sein - “ alle Szenen waren für den Regisseur gleich wichtig ” , “ das zweieinhalbstündige Schauspiel schleppt sich monoton dahin ” . 54 Ein Beispiel wie dieses zeigt, dass der internationale Erfolg von G ł owackis Antigone in nicht geringem Umfang den Theaterleuten und Bühnen zu verdanken ist, die fortlaufend Bühnenfassungen erstellt und Inszenierungen im Kontext der eigenen Theatertradition und politisch-sozialen Situation gewagt haben. Angesichts der teilweise radikal veränderten Kontexte für G ł owackis Stück, d. h. der Folgen der Finanzkrise in den USA mit gewachsener Obdachlosigkeit im amerikanischen Mittelstand, der Rückwanderung von ehemaligen Asylsuchenden in ihre Heimatländer 55 könnte es lohnend sein, das weitere Bühnenschicksal dieser Tragikomödie zu beobachten. Anmerkungen 1 Vgl. den beim Lang Verlag erschienenen Sammelband zu “ comparative analysis of theatre across national and linguistic boundaries ” : Figueira, Dorothy/ Maufort, Marc, Hg. Theatre in the Round. Multi-ethnic, Indigenous and Intertextual Dialogues in Drama, Bruxelles [etc.], 2011. 2 Schultze, Brigitte. “ Antygona w Nowym Jorku Janusza G ł owackiego po polsku, po angielsku i po niemiecku, czyli: o jakiej sztuce scenicznej mówimy? ” [Antigone in New York von Janusz G ł owacki polnisch, englisch und deutsch, oder: von welchem Bühnenstück sprechen wir? ] OderÜbersetzen 2 (2011), 132 - 145; dies. “ Bedeutungsbildung zwischen textuellem Angebot und individuellem Rezeptionshorizont: Janusz G ł owackis Antygona w Nowym Jorku (Antigone in New York) - polnisch, englisch, deutsch. ” Convivium (2011), Bonn, 2011, 321 - 343. [2011 a] 3 “ Teatr TV: Antygona w Nowym Jorku. ” http/ / www.osiol.com.pl/ topic/ 7761-teatr-tvantygona-w-nowym-jorku-1995/ . Vgl. Stobierska, Agnieszka. “ Antigone des ‘ homeless ’ dans la ‘ comédie désespoir ’ de Janusz G ł owacki. ” Les Antigones contemporaines (de 1945 à nos jours) [Aufsatzsammlung zu 218 Brigitte Schultze / Beata Weinhagen zwei Konferenzen]. Hg. Rose Duroux/ Stéphanie Urdician, Clermont-Ferrand, 2010, S. 229. 4 G ł owacki, Janusz. “ Antygona w Nowym Jorku. ” Dialog 37.10 (1992): 5 - 40. Im Haupttext zitiert als G. 5 Vgl. den Ausschnitt der Inszenierungsbesprechung von Hap Erstein in The Washington Times (12. 3. 1993), nachgedruckt in: G ł owacki, Janusz. 5½. Dramaty. Warszawa, 2007, S. 118; siehe auch Wilmer, Stephen E. “ Performing Antigone in the Twenty-First Century. ” Interrogating Antigone in Postmodern Philosophy and Criticism. Hg. Stephen E. Wilmer/ Audron ė Ž ukauskait ė , Oxford, 2010, S. 379 - 392, hier S. 382. 6 G ł owacki, Janusz. Antigone in New York. Translated by Janusz G ł owacki and Joan Torres. New York [etc.], 1997. Im Haupttext zitiert als G/ T. 7 Es ist selbstverständlich nicht ausgeschlossen, dass in einigen Ländern auch Spielvorlagen verwendet werden, die auf einen bestimmten Ausgangstext, z. B. den polnischen Erstdruck von 1992, zurückgehen. Viele der von uns eingesehenen Angaben zu Inszenierungsvorhaben, etwa Stückanzeigen im Internet, lassen auf Inspirationen aus mehreren Quellen schließen. Obwohl wiederholt von Inszenierungen der Antigone G ł owackis ( “ mit großer Akzeptanz ” ) in Russland und in der Tschechischen Republik berichtet wird (s. die Ausschnitte von Inszenierungsbesprechungen in G ł owacki 2007, S. 118), konnten die Übersetzungen ins Russische und ins Tschechische nicht beschafft werden. 8 “ Teatr TV, Antygona w Nowym Jorku ” ; Godlewska, Joanna. Najnowsza historia teatru polskiego - wprowadzenie [Neueste Geschichte des polnischen Theaters - Einführung]. Wroc ł aw, 2001, S. 328. 9 Der Erstdruck in Dialog 10 (1992) trägt z. B. den Hinweis, dass die Uraufführung im Teatr Ateneum stattfinden wird (G, S. 40); das gleiche Heft der Zeitschrift enthält einen in das Stück einführenden Aufsatz von Kott, Jan. “ Antygona powiesi ł a si ę w Tompkins Square Park ” [Antigone hat sich im Tompkins Square Park erhängt]. Dialog 10 (1992): 153 - 155. 10 Vgl. die Informationen zu G ł owacki in: Glowacki, Janusz. Antigone à New York. Traduit du polonais par Olivier Cohen et Urszula Mikos. Montreuil-sous-Bois, 2005, S. 5. 11 Ebd. 12 Vgl. Wilmer 2010, S. 382; “ Teatr im. Stefana Jaracza w Ł odzi - Antygona w Nowym Jorku (marzec 2004). ” http: / / www.teatr-jaracza. lodz.pl/ przedstawienia.php? idp.=3. 13 Vgl. Hinweise zu Quellenmaterial in den Abschnitten 4 und 7. Besonderen Erfolg feierte das Stück u. a. in Moskau, wo es 1996 uraufgeführt und danach am selben Theater fünf Jahre lang ununterbrochen gespielt wurde. Vgl. dazu G ł owacki, Janusz. Z g ł owy. Warszawa, 2004, S. 243. 14 Das Stück wurde auch im Iran und in Dagestan gespielt. Vgl. dazu ein von Janusz R. Kowalczyk mit dem Autor geführtes Interview (24. 2. 2004): “ Jestem onie ś mielony ” [Ich bin in Verlegenheit gebracht]. http: / / www. teatry.art.pl/ : rozmowy/ jestemo.htm. Vgl. Trepte, Hans-Christian. “ Der Amerika- Mythos in der polnischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. ” Geschichtliche Mythen in den Literaturen und Kulturen Ostmittel- und Südosteuropas. Hg. Eva Behling [et. al.], Stuttgart, 1998, S. 151. 15 “ ZAT Monpellier - Antigone à New York de Glowacki. ” http/ / www.zat.monpellier.fr/ agenda/ show/ id/ 330/ timestamp/ 1289678400 (23. 03. 2011). 16 Vgl. Anm. 3. 17 Z. B. Meyer-Fraatz, Andrea. “ Trzy Antygony XX wieku: Bertolda Brechta, Dominika Smolego, Janusza G ł owackiego ” [Dreimal Antigone des 20. Jahrhunderts: von Bertold Brecht, Dominik Smoly, Janusz G ł owacki]. Mity. Mitologie. Mityzacje. Nie tylko w literaturze [Mythen. Mythologien. Mythisierungen. Nicht nur in der Literatur]. Hg. Lidia Wi ś niewska, Bydgoszcz, 2005, S. 75 - 84; Wilmer 2010. 18 Vgl. Schultze 2011a, S. 329, 340 f.; Trepte 1998, S. 151. 19 Fischer-Seidel, Therese/ Fries-Dieckmann, Marion. “ Murphy. ” Kindlers Literatur Lexi- 219 Janusz G ł owackis Antigone in New York international kon 2. Hg. Heinz Ludwig Arnold, 3. Aufl., Stuttgart/ Weimar, 2009, S. 239 f. 20 Vgl. Hap Ersteins Besprechung der englischsprachigen Erstaufführung von G ł owackis Stück (Anm. 5); Kott 1992, S. 153. 21 Zum Verstummen des amerikanischen Obdachlosen gibt der Autor eine Verstehenshilfe in seiner autobiographischen Textsammlung. Darin berichtet er von der Entstehungsgeschichte des Dramas und beschreibt diejenigen Obdachlosen, “ die noch sprechen, und diejenigen, die nicht mehr sprechen wollen, weil sie alles, was sie zu sagen hatten, bereits gesagt haben ” (G ł owacki 2004, S. 211). 22 Vgl. die Abschnitte 3 und 4. 23 Egidius Schmalzried und Heinz-Günther Nesselrath ( “ Sophokles. Antigone. ” Kindlers Literatur Lexikon 15. Hg. Heinz Ludwig Arnold, 3. Aufl., Stuttgart, 2009, S. 393) heben Antigones schroffe Zurückweisung ihrer Schwester und eine wesentliche Ähnlichkeit zwischen Antigone und Kreon hervor: “ Diese Tragik der einseitigen Unbedingtheit enthüllt sich sowohl in Kreon wie in Antigone. ” 24 Es sei an die Klage der Ismene erinnert: “ Was ist mein Leben, wenn du mich verlässt? ” (Sophokles. Antigone. Tragödie. Übersetzt von Wilhelm Kuchenmüller. Stuttgart, 2000, S. 27, vgl. S. 28). 25 Vgl. Schultze 2011 a, S. 326. 26 Vgl. Schultze 2011. 27 Wenn Hans-Christian Trepte (Trepte 1998, S. 151) darauf hinweist, dass “ die erzählte Geschichte des antiken Textes adaptiert ” werde, so lässt das noch nicht erkennen, in welchem Umfang im Rekurs auf die Tragödie des Sophokles Bedeutungsbildung geschaffen wird. Um das angemessen darzustellen, wäre ein eigenständiger Beitrag erforderlich. Dann müsste auch das Problem der antiken Tragödie und ihrer Anschlussstellen in der zeitgenössischen Tragikomödie eingehender untersucht werden. 28 Aus The New York Post wird der Rezensent Clive Barnes mit der Aussage zitiert: “ Homelessness Glowacki seems to be saying, is more than just the lack of a roof. It ’ s a condition of the soul. ” http/ / www.januszglowacki.com/ in_Polish/ About/ recenzje-Antygona.htm (7. 4. 2011). 29 Vgl. Meyer-Fraatz, Andrea. “ Janusz G ł owacki. ” Kindlers Literatur Lexikon 3. Hg. Heinz Ludwig Arnold, 3. Aufl., Stuttgart/ Weimar, 2009, S. 295. 30 Der in seinem Vorstellungsmonolog besonders fabulierfreudige Polizist reiht mehrere Erlebnisse mit Immigranten und Obdachlosen aneinander, die ohne Beeinträchtigungen der Bedeutungsbildung des Stückganzen auf einige wenige Beispiele begrenzt werden können. Einige Besprechungen der englischen Erstaufführung des Jahres 1993 lassen vermuten, dass es auch dort, wie in der polnischen Erstfassung des Stücks, einzelne Längen gab. 31 Einige Rezensionen und einzelne frühe Übersetzungen von G ł owackis Stück lassen vermuten, dass der Name Paulie bereits in der nicht zugänglichen ersten englischen Textversion (1992) vorkommt. 32 Durch Clownerien, z. B. Nachahmung der Diktatoren Hitler und Stalin, sucht Pche ł ka - um die Aufmerksamkeit und Gunst des verschlosseneren Sasha werbend - jenen aufzuheitern. 33 Vgl. Schultze 2011 a; Schultze 2011, S. 331 - 335. 34 Dass G ł owacki einem polnischen Theaterpublikum viel zumutet, insbesondere durch den Spiegel, der den Polen in der Figur des Pche ł ka vorgehalten wird, ist an etlichen Stellen des Textes sehr deutlich. 35 Auf unterschiedliche Akzeptanz von Komik beim amerikanischen Publikum weist Tamara Trojanowska ( “ Janusz G ł owacki and his Exile Experience. ” Living in Translation. Polish Writers in America. Hg. Halina Stephan, Amsterdam, 2003, S. 280) nachdrücklich hin: einige Amerikaner fühlten sich “ gekränkt ” , es gäbe ein unterschiedliches Verständnis von Ironie. 36 G ł owacki, Janusz. “ Antygona w Nowym Jorku. ” Ś cieki, skrzeki, karaluchy. Utwory prawie wszystkie [Abwässer, Froschlaich, Kakerlaken. Werke beinah alle]. Warszawa, 1996, S. 12 - 83 (im Haupttext zitiert als G/ 2), sowie in: G ł owacki 2007, S. 27 - 111. Im Haupttext zitiert als G/ 3. 220 Brigitte Schultze / Beata Weinhagen 37 Es geht um Bühnenhäuser in den USA, Polen, Deutschland, Litauen, Russland, der Tschechischen Republik, Montenegro und Frankreich. 38 Vgl. Anm. 5. 39 Die Stilisierung der Frau als “ Mutter Polin ” gehört selbstverständlich in den größeren Zusammenhang nationaler Selbstinszenierungen. Vgl. dazu: Szymanski, Berenike. “‘ Noch ist Polen nicht verloren. . . ’ . Der Danziger Auguststreik 1980 als Aufführung des Religiösen und Nationalen. ” Forum Modernes Theater 24.2 (2009): 123 - 134. 40 In den Fassungen von 1996 und 2007 wird die ohnehin schon negative Rollenfigur noch schonungsloser dargestellt. Zu den Veränderungen gegenüber der Erstfassung gehört neben der Verstärkung des Hangs zu historischen Stereotypen die Häufung von vulgären Ausdrücken in Pche ł kas Figurenrede sowie von Hinweisen auf dessen mangelnde Bildung. 41 Glowacki, Janusz. Antigone in New York. Deutsch von Alissa Walser. Hamburg, 1994. Im Haupttext zitiert als GW. 42 Ob bei der deutschen Erstaufführung in Bonn 1995 (vgl. Spiegel online), bei Lis Verhoevens Einstudierung in Stuttgart 1997 (Programmheft) usw. Einstreichungen vorgenommen worden sind, muss hier offenbleiben. 43 Vgl. Totzeva, Sophia. “ Zum Umgang mit Expansion bei der Übertragung dramatischer Texte. ” Zeitschrift für Slawistik 39.1 (1994): 23 - 33. 44 Vgl. Schultze 2011 a, S. 338. 45 G ł owackis Erstfassung bietet eine ganz kurze Replik: “ Kto? Policja? ” (G, S. 8). 46 Glowacki 2005, S. 8. Diese Stückfassung wird als GCM zitiert. 47 Für diese Übersetzung ist (ebd., S. 4) eine polnische Vorlage von 1994 genannt, die hier nicht ermittelt und eingesehen werden konnte. 48 Die französische Stückfassung realisiert das Programm der Reihe “ Editions Théatrâles ” , in der diese Antigone erschienen ist: Es geht um Bühnentexte für das “ Interesse von Leser und Theaterpraktiker [. . .] ” . In Übereinstimmung “ mit dem Geist des Hauses Antoine Vitez, haben die Übersetzer nicht den Auftrag, dem Text des Originals buchstabengemäß treu zu sein ” (ebd., S. 4). 49 Im polnischen Text ist John ein Amerikaner aus Boston, aus guter Familie: “ A John by ł Amerykaninem i pochodzi ł z dobrej rodziny. By ł arystokrat ą z Bostonu. ” [Aber John war Amerikaner und kam aus einer guten Familie. Er war ein Aristokrat aus Boston.] (G, S. 9 bzw. G/ 2, S. 19). Hier wird die Akkulturierung in der englischen Bühnenfassung sehr deutlich. 50 Vgl. die Aussagen von Amy Reiter und Shaheena Ahmad in: G ł owacki, Janusz. “ Recenzje. ” http/ / www.januszglowacki.com/ in_Polis h/ About/ recenzje-Antygona.htm (7. 4. 2011); Urba ń ska, Magda. “ Raj utracony ” [Verlorenes Paradies]. http/ / www.teatry.art.pl/ ! recen zje/ antygonawnj-sza/ rutr.htm (14. 9. 2010). In seiner Rezension zu G ł owackis autobiographischer Textsammlung Z g ł owy (2004) weist Henryk Dasko darauf hin, dass der weltweite Erfolg G ł owackis Bühnenwerke gerade in dem universellen Aufbau der “ Tragkomödie, die unter jedem geographischen Breitengrad gleich gut lesbar ist ” , begründet liegt. Vgl. http/ / www.wyborcza. pl/ 1,75517,2322075.html. 51 Erstein, Hap. [Rez.] in: The Washington Times (12. 3. 1993). Nachgedruckt in: G ł owacki 2007; Bruckner, D. J. R. “ Escapades With a Hilarious Corpse. ” http/ / www.heater.nytimes.com/ mem/ theater/ trevie.html? pa gewanted=print&res=9f04e0d81f39f937a157 57c0a960958260 (4. 8. 2011). 52 Vgl. Rezension in The New York Post. Nachgedruckt in: G ł owacki 2007, S. 119; vgl. die französische Besprechung “ Une tragédie urbaine. . . ” http/ / www.compagnie-ksandco. org/ article_antigone-a-new-york-124.html (23. 3. 2011). 53 Vgl. die Rezension von Clive Barnes in The New York Post (s. Anm. 28); “ Une tragédie urbaine. . . ” 54 Targo ń , Joanna. “ Przyzwoite, ale nie ekscytuj ą ce ” [Ordentlich, aber nicht aufregend]. http/ / www.teatry.art.pl/ ! recenzje/ an tygonawnj-sza/ przyzwoitea.htm (14. 9. 2010). 221 Janusz G ł owackis Antigone in New York international 55 Vgl. Puhl, Jan. “ Gescheiterte Klempner. Global Village: Wie die Polen versuchen, ihren in England gestrandeten Landsleuten zu helfen. ” Der Spiegel 32 (8. 8. 2011): 98; Schultze 2011 a, S. 340 f.. 222 Brigitte Schultze / Beata Weinhagen Rezensionen Imanuel Schipper. Ästhetik versus Authentizität. Reflexionen über die Darstellung von und mit Behinderung. Berlin: Theater der Zeit, 2012, 174 Seiten. Die Darstellung von und mit Behinderung hat nicht erst seit jenem Moment Konjunktur, da die mit einem Down-Syndrom geborene Schauspielerin Julia Häusermann auf dem 50. Berliner Theatertreffen den renommierten Alfred-Kerr- Preis für ihre schauspielerische Leistung in Disabled Theatre in Empfang nehmen konnte. Hier rückt nur ins mediale Rampenlicht, dass sich bereits seit einigen Dekaden Gruppen wie das Theater Hora, das Berliner Theater Ramba Zamba oder das Theater Thikwa mit hoher Professionalität der Theaterarbeit widmen. Einen Einblick zur Rezeption und Diskussion dieser Theaterformen bietet der hier besprochene Band. Unter dem programmatischen Titel “ Ästhetik versus Authentizität ” stellt der Sammelband die Darstellung von und mit Behinderung in einen gleichermaßen ästhetischen und politischen Zusammenhang, zugespitzt auf die Frage, welche Körper auf der Bühne repräsentiert werden können und sollen. Insbesondere das Stichwort ‘ Authentizität ’ fungiert dabei in doppelter Weise polarisierend: einerseits als Abgrenzung von Theater zu massenmedialen Repräsentationen, die häufig als weniger authentisch angesehen werden, andererseits als programmatische Formel für die Suche nach neuen Theaterformen. Wir haben es also im Lichte dieser Fragestellung keineswegs mit einer Form angewandten Theaters oder gar mit Sozialarbeit oder Therapie mit theatralen Mitteln zu tun, welche scheinbar jenseits ästhetischer Kalküle zu verorten wären - vielmehr wird mit der Anbindung der Ästhetik an den gesteigerten Effekt von Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit, genannt Authentizität, die Unterscheidung von Ästhetik und Sozialem, von Kunst und Leben tendenziell unterlaufen, indem sie noch einmal bedacht und begründet werden soll. Alle Beitragenden haben denn auch teilweise explizit Ästhetik und Authentizität gar nicht mehr als Gegensatz oder Wahloption aufgefasst, sondern sind ganz eigenen Denklinien gefolgt. Einige Positionen seien hier aufgeführt. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Tobin Siebers liefert einen sehr gut lesbaren Essay, der vor dem Hintergrund seiner langjährigen Forschungen in den so genannten Disability Studies vor allem die Repräsentation und Identitätspolitik im Theater von und mit Behinderten aufnimmt. Dabei stellt er mit Blick auf körperliche Behinderung die Prämisse auf, dass physische Beeinträchtigungen im Rahmen einer ‘ Ideologie der Fähigkeiten ’ (ab)gewertet werden. Dies geschieht in zwei Schritten: Erstens wird der sichtbare Kontrast und damit die Beziehung von nicht Behinderten und Behinderten bewertet und mit Emotionen wie “ Vergnügen, Schmerz, Abscheu oder Schrecken ” (S. 17) belegt. Im zweiten Schritt greift dann der Mechanismus der Ausgrenzung, in dem z. B. in der Rollenbesetzung davon ausgegangen wird, dass ein behinderter Schauspieler mehr Aufmerksamkeit für seine Behinderung denn für sein Rollenportrait erregen werde und man ihn folglich nicht besetzen könne. Diesem Zusammenspiel aus ästhetischer Unerfahrenheit im Anblick von anderen Körpern mit der Ideologie wäre nach Siebers mit einer Ästhetik zu begegnen, die “ Behinderung zu einer Ressource für die Erweiterung des auf der Bühne dargestellten Emotionsspektrums ” (S. 29) bedenkt. Damit hinterfragt Siebers die Konstitution der westlichen Ästhetik, auch noch die der Rosenkranzschen Ästhetik des Hässlichen, in ihrer Abhängigkeit von positiv konnotierten Begriffen der Kunst und der Könnerschaft. In ähnlicher Weise, nämlich mit Blick auf die (amerikanischen) Sichtbarkeitsverhältnisse und normierenden Diskurse argumentiert auch Bruce Henderson. Seine Überwindung der Opposition von Ästhetik und Authentizität nimmt nicht von ungefähr den Wechsel des Leitsinns vom Sehen zum Hören vor. In der besonderen Situation, zu hören und blind zu sein, die er von zwei jüngeren Theatertexte herleitet, sieht der Autor gewissermaßen einen spielerischen Kontrapunkt zur Identitätspolitik, die Siebers umtreibt. Während näm- Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 223 - 225. Gunter Narr Verlag Tübingen lich das Für und Wider des Theaters mit Behinderung im Regime des Sichtbaren leichter markiert und attackiert werden könne, während also die Frage, ob ein behinderter Schauspieler eine nicht behinderte Figur spielen kann oder darf, eine konkrete und politisch lesbare Antwort hervorbringt, so unterläuft die Idee des Hörens diesen politischen Konflikt. Hören ist Henderson zu Folge vielmehr eine dialogische Form, welche an Stelle des Könnens die “ Achtsamkeit, Bescheidenheit und Bewußtheit ” (S. 77) noch jeder schauspielerischen Rollenerarbeitung setzt. Dialogizität und soziales Miteinander gemahnen ihn eher an ein Theater im Sinne einer cultural performance, in der kulturelle Konflikte bearbeitet werden, denn an ein Theater des Dramas (der Behinderten). Mit Blick auf die deutsche Theaterlandschaft bespricht Frank Raddatz einige Auffälligkeiten und Tendenzen des Theaters mit Behinderten und Randgruppen im weiteren Sinne. Dabei reklamiert er zu Recht für jede Form des Theaters einen Abstand von Darstellung und Dargestelltem. Authentizität ist ihm der Kollaps dieser Differenz, apodiktisch als “ Ende der Repräsentation ” (S. 45) bezeichnet. Das Gegenmodell wäre Schillers ‘ Freiheit durch Spiel ’ , die im Prozess der Verkörperung einer Rolle zu erzielen sei. Die Besetzung eines Chores der Arbeitslosen mit Hartz IV Empfängern im Theater Volker Löschs ist ihm folglich ein Graus, da es kein Spiel sei. Hier erfahre man weder etwas von der Subjektivität der Beteiligten oder des Regisseurs noch sei hier eine dauerhafte soziale Bindung hergestellt, wie sie noch jede Laienspielgruppe präge. So stimmig seine Kritik ist, so verdeckt sie zuweilen doch, dass es durchaus Differenzen in der Arbeit mit Behinderten oder Randgruppen gibt. Diese nämlich sind nicht mit Laien gleich zu setzen. Rimini Protokoll oder She She Pop, die Sozialarbeiter, Soldaten oder die eigenen Väter auf die Bühne holen, haben sich nicht nur eine spezielle ‘ Dramaturgie der Fürsorge ’ (Malzacher) erarbeitet, die sich von kurzfristigen Verwertungskalkülen unterscheidet. Sie haben sich zudem - anders als die besprochenen Theatermacher in Meinigen und Stuttgart - bewusst gegen Laiendarsteller in Form von beispielsweise psychisch Kranken oder Huren entschieden, weil diese Laien zu ihrem Thema gar nicht beitragen könnten. Grundsätzlicher aber noch bekommt man spätestens mit Blick auf diesen Text den Leseeindruck, dass die Rahmung des Kunsttheaters als ein Ort der Ästhetik, in den das Authentische nun einbreche, in dem Band eher unreflektiert bleibt. Der Rahmen Kunst aber funktioniert derart, dass jede Geste mit dem Anspruch ‘ Dies ist Kunst ’ Zu- oder Widerspruch für sich reklamieren kann, ‘ reale Körper ’ und Laien eingeschlossen. Die von Marcel Duchamp und anderen explizit gemachte Funktion des Kunstrahmens lässt es allerdings fraglich erscheinen, ob man in den Bereich der freien und spielerischen Nachahmung der Realität zurückkehren kann, wie Raddatz andeutet, oder ob es nicht längst einen gesellschaftlichen Trend zur Authentizität gibt, dem sich Theatermacher wie Rimini Protokoll nur mit einer speziellen Dramaturgie stellen. Da die ästhetische Selbstermächtigung, die Duchamp zu seiner Geste getrieben hat, in der Welt ist, kann der Abstand zwischen Darstellung und Dargestellten zumindest ultradünn werden und verläuft dann etwa zwischen dem empirischen Vater und der Bühnenfigur ‘ mein Vater ’ . Dieser Abstand aber muss wohl in einer Welt der schnellen Kopien gleichsam auf Höhe der Darstellungstechniken allererst errungen werden und sei es mit Strategien der Mimikry. Dem eher thematischen Aufriss, welcher hier nur exemplarisch besprochen werden kann und der durch den phänomenologische Ansatz Jens Roselts zu den Grenzen der Scham im Angesicht des Dilettantismus ergänzt wird, sind zwei Themenblöcke mit Fallstudien beigeordnet. Im ersten werden aus Sicht von Theatermachern Strategien der Arbeit mit und von Behinderten vorgestellt. Die Beiträge von Lila Derridj, die sehr anschaulich ihre tänzerischen Arbeit mit Rollstuhl in den Kontext des zeitgenössischen Tanzes rückt und Bill Shannon lecture performance über sein Leben mit Krücken innerhalb der Skateboard-Szene korrespondieren mit zwei sehr gut lesbaren Interviews, die mit dem Choreografen Rui Horta sowie der Kuratorin Hedy Graber und der Tanzpädagogin Isabella Spirig geführt wurden. Der zweite Thementeil stellt aus aufführungsanalytischer Sicht Arbeiten von Christoph Schlingensief, Monster Truck und des Back to Back Theatre vor. Der Leser bekommt einleitend einen von Yvonne Schmidt konzis verfassten kulturhistorischen Ansatz dargeboten, der die Darstellung von 224 Rezensionen und mit Behinderung als ‘ enfreakment ’ herleitet. Philip Schulte weist sehr überzeugend auf die Behinderung als eine darstellungstheoretische Größe hin, die ihre ästhetische Provokation erst aus der Verfremdung und Verschiebung von (Körper)Normen gewinnen kann. Benjamin Wihstutz schließlich analysiert detailreich die Verdrehung der Rollen und Formate im Back to Back Theatre als einen politischen Akt, mit der die Funktionalisierung oder Dysfunktion behinderter Körper unterlaufen wird. Der Band Ästhetik versus Authentizität stellt die Reflexion über die Darstellung von und mit Behinderung als ein aktuelles und politisches Phänomen dar und bietet in seiner klugen Zusammenstellung eine gute Einführung in die Debatte. Bayreuth W OLF -D IETER E RNST Sigrid Bekmeier-Feuerhahn, Karen van den Berg, Steffen Höhne, Rolf Keller, Birgit Mandel, Martin Tröndle, Tasos Zembylas (Hrsg.). Zukunft Publikum. Jahrbuch für Kulturmanagement 2012, Bielefeld: Transcript, 2012, 428 Seiten. Die empirische Publikumsforschung hat mittlerweile auch in die Kunst- und Kulturwissenschaften Eingang gefunden. Das aktuelle Jahrbuch Kulturmanagement widmet sich nun dieser Thematik aus historisch-theoretischer und methodischer Perspektive sowie anhand einer Reihe von Fallbeispielen. Ein Großteil der Beiträge basiert dabei auf der 6. Jahrestagung des Fachverbands für Kulturmanagement an der Universität Lüneburg im Januar 2012. Im Vordergrund stehen Untersuchungen zur Hochkultur im Non-Profit- Bereich in den deutschsprachigen Ländern. In ihrem einleitenden Überblick zum ‘ Audience Development ’ fasst Birgit Mandel zunächst die wesentlichen aktuellen kulturpolitischen Bedingungen (wie Internationalisierung, Legitimationsdruck der öffentlichen Kulturfinanzierung etc.) zusammen, die die Basis für die Kulturnutzungsforschung bilden. Im Hinblick auf den Leitgedanken einer verstärkten Publikums- Partizipation und dem derzeitigen Wandel des Kulturnutzers vom eher passiven Konsumenten bzw. Rezipienten hin zum ‘ Prosumer ’ zeigt Steffen Höhne anhand der Analyse von Anstandsbüchern seit dem 18. Jh. die historische Genese des disziplinierten, passiven Theaterbesuchers auf. Hierbei wird deutlich, dass erst die Autonomieästhetik den Wandel von der realen, affektiven Teilnahme des Publikums hin zu einer imaginären Teilhabe mit sich brachte. Für eine Erweiterung des kulturwirtschaftlichen ‘ Audience Development ’ hin zu einem künstlerischen ‘ Dialogue Development ’ plädieren hingegen Verena Teissl und Gernot Wolfram. In Anlehnung an Albrecht Koschorkes Konzept der “ Figur des Dritten ” 1 verstehen sie hierunter eine Neuordnung des bestehenden Machtgefüges zwischen den Kulturbetrieben (mit ihren das Programm gestaltenden Intendanten bzw. Kuratoren) und dem Publikum durch innovative Partizipations- und Interventionsstrategien. Dabei sei ‘ das ’ Publikum nicht länger als Masse zu denken, sondern als ausdifferenzierte Gruppen (wie etwa Fach-, Folge-, Traditions-, Zufallspublikum oder unsichtbares, virtuelles Internet-Publikum). Der Wirkungsbereich der “ Figur des Dritten ” wäre somit zwischen dem Dargebotenen und seiner Rezeption bzw. den Folgereaktionen der unterschiedlichen Publikumstypen zu verorten. Durch unkonventionelle, gerade nicht am Fach- und Traditionspublikum orientierte kulturmanageriale Strategien könne, wie anhand einer Fallstudie zum experimentellen Wiener Publikumsfilmfestival “ Viennale ” dargelegt wird, ein kreativer Dialog zwischen Veranstaltern und Publikum hergestellt und neue Besuchergruppen gewonnen werden. Dieter Haselbach und Corinna Vosse schlagen in ihrem Beitrag “ Kann ich hier mitmachen? ” eine Neudefinition des Begriffs kultureller Partizipation vor, wie sie bereits in der umstrittenen Studie Der Kulturinfarkt angedacht wurde, an deren Herausgabe Haselbach 2012 mitwirkte. Statt das in den 1970er Jahren geprägte Profil von “ Kultur für alle ” weiterhin als Teilhabe breiterer Bevölkerungsschichten an von Kulturinstitutionen vorfabrizierten Werken zu definieren, plädieren die Autoren für eine verstärkte öffentliche Förderung der künstlerischen Eigenbetätigung des Publikums selbst. Kulturvermittlung solle nicht allein eine Steigerung des “ Kunstkonsums ” Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 225 - 226. Gunter Narr Verlag Tübingen 225 Rezensionen (S. 150) sondern die Erfahrungen künstlerischer Produktionstätigkeit auch jenseits des Künstlerberufs ermöglichen. Insbesondere für neuere kulturpädagogische Konzepte könnte Haselbachs These durchaus gewinnbringend sein. Der Partizipation des Publikums in den Freundesbzw. Förderkreisen kultureller Institutionen widmen sich Carsten Baumgarth und Marina Kaluza. Ausgangspunkt der Autoren ist dabei die Analogie zu ‘ Brand Communities ’ im Konsumgüterbereich. Der Artikel bietet in tabellarischer Form einen recht guten Überblick zur aktuellen Brand-Community- und Freundeskreis-Forschungsliteratur und einen brauchbaren vergleichenden Kriterienkatalog. Obwohl der derzeitige kulturelle Umbruch wesentlich durch die neueren Medientechnologien forciert wird, ist lediglich ein einziger Beitrag diesem Thema gewidmet. Allerdings berücksichtigt Helge Kaul in diesen Überlegungen zu “ Neue[n] Beteiligungsformen im Kulturmarketing ” jedoch den Non-Profit-Kulturbereich kaum, auch theoretisch vermögen seine Ausführungen wenig Neues zu bieten. Hier hätte man sich eingehendere Untersuchungen zu den Online- Partizipationsangeboten öffentlich geförderter Kulturinstitutionen erhofft. Spannende Impulse vermitteln hingegen die Beiträge zur Methodenreflexion. So gibt der Hildesheimer Kulturwissenschaftler Thomas Renz einen detaillierten und kenntnisreichen historisch-methodischen Abriss der Kulturnutzerforschung. Neben den dominierenden Methoden der empirischen Sozialforschung kommen erst in jüngster Zeit auch künstlerische Forschung und experimentelle Methoden zum Einsatz. Ein Beispiel für letztere ist das von Martin Tröndle am Kunstmuseum St. Gallen durchgeführte Forschungsprojekt “ e-motion ” zum Besucherverhalten, dessen überraschende Ergebnisse in Kurzform bereits in der Wochenzeitschrift Die Zeit (Nr. 17 vom 19. 04. 2012) präsentiert wurden. Tröndle u. a. dokumentieren, wie sich das ästhetische Empfinden des Publikums in messbarem körperlichen Reaktionen und der Verweildauer vor Einzelobjekten niederschlägt. Dabei erweist sich die Kontemplation als ein dominierender Faktor des ästhetischen Erlebens. Die latente Skepsis gegenüber bisherigen, auf Besucherbefragungen basierenden Statistiken im Hochkulturbereich untermauert Sigrid Bekmeier- Feuerhahn ebenfalls mit einer empirischen Untersuchung. Durch Kombination der Selbsteinschätzung der Testpersonen mit einem (nicht willentlich steuerbaren) impliziten Assoziationstest gelangt sie zu dem Ergebnis, dass vor allem weniger gebildete Befragte zu einem sozial erwünschten Antwortverhalten tendieren. Die bisherigen Befragungsmethoden seien daher teilweise revisionsbedürftig. Ebenfalls aufschlussreich ist Karl-Heinz Reubands Langzeitvergleich zur kulturellen Partizipation zwischen 1991 und 2010 am Beispiel der Stadt Köln. Neben einer komplexen, an dieser Stelle nicht im Detail referierbaren Kritik statistischer Methoden zieht er insb. die neuere kultursoziologische “ Individualisierungsthese ” (nach Ulrich Beck, Die Risikogesellschaft und Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft) in Zweifel. Aufgrund der ermittelten Daten “ sei vielmehr die These einer zunehmenden Entkopplung der ästhetischen Präferenzen von den sozialen Merkmalen [für den Untersuchungszeitraum] zu problematisieren. ” (S. 246) Gerade in derlei Hinterfragungen gängiger Theorien wie in der wissenschaftlichen Reflexion des eigenen methodischen Instrumentariums (bspw. statistische Auswertung, quantitative Besucherbefragung etc.) liegt die besondere Stärke dieses Bandes. Durchweg lesenswert sind auch die vorwiegend aus dem Museumsbereich stammenden Fallbeispiele. Obgleich Theater- und Opernbesucher in diesem Band nicht unbedingt den Schwerpunkt bilden, bieten die hier versammelten Überlegungen und Analysen gerade auch Theaterwissenschaftler/ -innen sowie Theaterschaffenden vielfältige grundlegende Anregungen zur Erkundung des, ja auch für die theatrale Aufführung konstitutiven Publikums. München K ATHARINA K EIM Anmerkungen 1 Siehe hierzu: Albrecht Koschorke. “ Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften ” . In: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hg. von Eva Esslinger [u. a.]. Frankfurt/ Main, 2010, S. 9 - 35. 226 Rezensionen Franziska Schößler. Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart/ Weimar: J. B. Metzler Verlag, 2012, 277 Seiten. Der vorliegende Band versammelt kanonische Zugänge zu der theater- und literaturwissenschaftlichen Dramenanalyse. Übersichtlich gegliedert, stringent aufgebaut und leicht zugänglich, bereichert er die vorhandene Literatur um einen transdisziplinären Beitrag. Franziska Schößler ist Lehrstuhlinhaberin am Fachbereich Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Universität Trier und publiziert seit der Jahrtausendwende kontinuierlich an der Schnittstelle der Literatur- und Theaterwissenschaft. Unter Mitarbeit ihrer damaligen Assistent/ innen Christine Bähr und Nico Theisen hat sie die vorliegende Einführung gestaltet. In zehn Kapiteln sind darin analytische Zugänge zu historisch und gegenwärtig als zentral erachteten Elementen des Dramas versammelt. Die inhaltlichen Stationen Theatertext und Institution, Genres, Handlung, Figur, Sprache, Raum, Zeit, Diskursanalyse und deutsche Theatergeschichte sowie Theaterpädagogik werden durchwandert. Die Literatur und die Praxisbeispiele entstammen dem Kanon der internationalen wissenschaftlichen und ästhetischen Diskurse, das theaterhistorische Kapitel ist auf den deutschen Sprachraum ausgerichtet. In diesem Band werden sowohl Beispiele aus der Theater- und Dramengeschichte, als auch exemplarische Texte aus der Gegenwart verwendet. Dabei wird eine Brücke geschlagen vom Drama über postdramatische (Lehmann 1999) zu post-postdramatischen (Pavis 2010) Theatertexten. Die methodologischen Zugänge sind primär textanalytisch, zugleich eröffnen sie alle relevanten Ebenen von Inszenierungen und Aufführungen im institutionellen Rahmen des Theaters. Der Band ist daher beispielhaft für fokussierte, transdisziplinäre Perspektiven. Im Folgenden wird beispielhaft das Kapitel “ Zeit ” besprochen, weil Temporalität im Drama ein vergleichsweise wenig untersuchtes Forschungs- und Analysefeld darstellt (eine Ausnahme in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft sind Birkenhauer/ Storr 1998): Bühne und Inszenierung, Zeiterleben und Sprache, sowie ein vertiefender Exkurs zum historischen Kontext des Kostüms eröffnen die auf Zeit bezogenen Ebenen der Dramenanalyse (S. 177 f). Die Kongruenz oder Differenz von Spielzeit und gespielter Zeit (oder der Wechsel von Kongruenz und Differenz), ein zentrales Phänomen theatraler Zeitverhältnisse, steht im Fokus der anschließenden Überlegungen. Betont werden dabei die Phänomene der Zeitverknappung, wie sie etwa im Botenbericht vorgenommen werden, und der “ Zeitdehnung ” , die im ritualisierten Theater eines Robert Wilson oder eines Christoph Marthaler und in ebensolchen Performances (man denke an Marina Abramovic) von Bedeutung ist (S. 179). Zwar stehen Theatertexte nicht im Fokus dieser einleitenden Darstellung zur Zeitlichkeit des Theaters, diese bereiten allerdings durch die Darlegung der impliziten Differenz von Text und Aufführung, respektive gespielter Zeit und Spielzeit, die darauf folgende explizite Thematisierung von “ Zeit im dramatischen Text ” (S. 180 - 183) vor. Zeit und Raum, Zeitangaben im Nebentext, Zeitlosigkeit und historische Zeit bestimmen den inhaltlichen Rahmen der Analysevorschläge. Dem folgt wiederum ein vertiefender Exkurs, diesmal zum Historiendrama (S. 181). Historische Kontexte fungieren als Makroebene von Zeitanalyse im Drama, die Mikroebene der “ Tages- und Kalenderzeit ” wird ebenfalls bedacht: “ Darüber hinaus können sowohl Tagesals Kalenderzeiten handlungsleitende und symbolische Funktionen übernehmen ” (181). Der zitierte Satz ist exemplarisch für die Gleichzeitigkeit von Klarheit und Komplexität des vorliegenden Bandes, denn hier schreibt die Autorin explizit über die Bedeutung von Zeit in Drama und Theater und eröffnet dabei implizit poetologische Fragen (Aufbau des Dramas, Spannungsbogen und Dramaturgie), ebenso wie (post)semiotische Analysemodelle (Funktion von Zeichen in Theatertexten und Aufführungen). Das Tempo in Dramen von William Shakespeare, die Zeit im geschlossenen und offenen Drama, sowie die Zufallsdramaturgie in Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti sind weitere Beispiele für mögliche Temporalitäten in/ von Theatertexten. Auch Elias Canetti und Samuel Beckett erscheinen in diesem Kapitel als kanonische Autoren, die interessante Zeitverhältnisse dramatisch gestalten (S. 182 - 192). So verflicht die Autorin dramenanalytische Fragen mit der Vorstellung des Kanons der Theatergeschichte. Vor der Bibliografie, die jedes Kapitel abschließt, steht - Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 227 - 228. Gunter Narr Verlag Tübingen 227 Rezensionen und dies ist zentral - eine Liste möglicher Fragestellungen für die Aufführungsanalyse. So fragt die Autorin etwa: “ Wie ist das Tempo des Dramas zu beschreiben (Auf- und Abtritte der Figuren, Länge der Repliken)? ” . Somit legt deutet sie an, daß und wie eine kanonische theaterwissenschaftliche Angelegenheiten wie die Aufführungsanalyse mit neueren wissenschaftlichen Diskursen, in dem Fall mit dem so genannten acoustic turn (Meyer 2008) der Theater- und Kulturwissenschaften, (siehe auch Roesner 2003, 2011, 2012), Hand in Hand gehen können. Franziska Schößlers Einführung in die Dramenanalyse ist Theater-, Literatur- und Kulturwissenschaftler/ innen, sowie Forscher/ innen aus verwandten Disziplinen, die verstehen wollen, wie Theatertexte, künstlerische Aufführungen und deren Analyse funktionieren, ausdrücklich zu empfehlen. Der Band bietet eine außerordentlich gründliche, sehr reiche und exzellent strukturierte Grundlage für die entsprechende Lehre, das Studium und die Forschung. Darüber hinaus zeugt er von den gelungenen Kooperationen und Austauschverhältnissen zwischen den Literatur- und Theaterwissenschaften. Gent K ATHARINA P EWNY Jörg Rothkamm. Ballettmusik im 19. und 20. Jahrhundert. Dramaturgie einer Gattung. Mainz etc.: Schott Music, 2011, 380 Seiten. Ziel dieser Mannheimer Habilitationsschrift ist, “ Kompositionsstruktur und Gattungsspezifik originärer Ballettmusik des 19. und 20. Jahrhunderts ” zu untersuchen (S. 9); in monographischen Kapiteln werden fünfzehn einschlägige Kompositionen von Beethoven bis Schnittke behandelt. Als “ Ballett ” gilt dem Verf., was in der Tradition der “ klassisch-akademischen Tanztechnik ” steht (S. 18, vgl. S. 27). Die Einleitung (S. 13 - 33) skizziert die Fragestellungen: Kann Ballettmusik als eigene Gattung der Musik verstanden werden? Welche gattungsspezifischen Rahmenbedingungen gab es zu verschiedenen Zeiten für die Komposition und welche kompositorischen Lösungen wurden jeweils gefunden? Wie lässt sich die musikhistorische Entwicklung von Ballettmusik beschreiben? Welches sind die für eine Gattung Ballettmusik relevanten dramaturgischen und kompositorischen Neuerungen - in Annäherung wie Abgrenzung zu anderen Gattungen der Musik? Welche Arten der Beziehung von Musik und Choreographie bzw. Musik und Handlung wurden intendiert und welche realisiert? Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Komponist und Choreograph? (S. 14). Das “ Fazit ” (S. 347 - 355) unterstreicht, daß Ballettmusik in der Tat als eigenständige musikalische Gattung zu betrachten sei (S. 347 - 355; zu den Kriterien für die Definition einer musikalischen Gattung S. 30 f.). Der Forschungsüberblick registriert vor allem Defizite: Die Tanzforschung klammere die Musik weitgehend aus (S. 18 f.); als musikalische Gattung werde Ballettmusik kaum wahrgenommen (S. 20), einschlägige historisch-philologische Untersuchungen gebe es kaum. Neben der Partitur, die die Basis der folgenden Analysen bildet (S. 25), wurden Szenarien bzw. Libretti (für die Vorgaben des Choreographen) sowie das musikalische Probenmaterial herangezogen (S. 24). Acht der meist auf ein Werk zentrierten monographischen Kapitel sind dem 19., sieben dem 20. Jh. gewidmet. In der Regel folgen auf eine Übersicht zur Quellenlage exemplarische Analysen einzelner musikalischer Nummern. Beethovens Geschöpfe des Prometheus (1801, S. 37 - 52) erweisen sich in mehrfacher Hinsicht als zukunftsweisend (S. 38, 47 f.), u. a. durch die differenzierte Behandlung der Soli männlicher und weiblicher Solisten (S. 47 f.). Ferdinand Hérolds Fille mal gardée (1828, S. 53 - 71) verdeutlicht die Verwendung sogenannter “ airs parlants ” , also von musikalischen (Oper - oder Volkslied-)Zitaten, die durch den dem Publikum bekannten ursprünglichen Text semantisiert werden (S. 54 f.). Herman Løvenskjold schreibt für Sylphiden (1836, S. 73 - 90; Neukomposition von Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 228 - 230. Gunter Narr Verlag Tübingen 228 Rezensionen Schneitzhoeffers Pariser Sylphide von 1832, S. 73 f.) Musik, die “ dialogähnlich und aktionsbezogen ” ist (S. 78). Kontrastiv wird im folgenden Kapitel (S. 91 - 112) “ französische und deutsche Pantomime-Musik in Ballett [u. a. Schneitzhoeffers Sylphide], Oper [Meyerbeer, Auber, Berlioz, Wagners Rienzi] und Schauspiel [Beethovens Egmont-Musik; Musiken zu Goethes Faust] zwischen 1828 und 1841 ” behandelt; in dieser Zeit vollzieht sich die Entwicklung von der Praxis der “ airs parlants ” zur Verwendung von Erinnerungsmotiven (S. 92 f.). Eine wichtige Rolle spielen Erinnerungsmotive (etwa ein Dutzend, vgl. S. 114) in Adolphe Adams Giselle (1841, S. 113 - 130; dieses Kapitel berücksichtigt erstmals Adams eigene choreographisch-szenische Angaben, vgl. S. 117); sie werden allerdings noch nicht systematisch eingesetzt (vgl. S. 129) wie in Coppélia von Léo Delibes (1870, S. 131 - 149), der erstmals in einem Ballett Figuren jeweils mehrere Motive zuordnet (S. 146), womit er an Techniken der Oper - speziell Richard Wagners - anschließt (S. 147, 149). Tschaikowsky (S. 151 - 179) schafft in Schwanensee (1877), Dornröschen (1890) und Nußknacker (1892) die von Rothkamm erstmals als eigener Typus beschriebene “ Pas-Musik ” (S. 156 - 171) zum “ verfeinerten Ausdruck der Gefühle der Figuren ” analog zur Arie (S. 156); der Pas de deux besteht üblicherweise aus den fünf Teilen Entrée, Adagio, Solo des Tänzers, Solo der Tänzerin und Coda. Das letzte dem 19. Jh. gewidmete Kapitel (S. 181 - 206) behandelt Bajaderka (1877/ 1900) und (knapper) Don Kichot (1869) von Ludwig Minkus, der 1870 - 1886 als etatmäßiger Ballettkomponist am Theater in St. Petersburg wirkte (S. 181). Bemerkenswerterweise sind die “ geschlechtsspezifische Ausprägung musikalischer Charakteristika ” und auch die Abgrenzung der Musikformen (wie Pas- und Nationaltanz-Musik) bei Minkus weniger deutlich als bei dem Ballett- Laien Tschaikowsky (S. 200 f.). Der Teil zum 20. Jh. beginnt mit Strawinskys Sacre du printemps (1913, S. 209 - 240), einem Werk, das sich weitestgehend von den älteren Formen der Ballettmusik löst (S. 209). Die Analyse (S. 212 - 230) bezieht Nijinskys Choreographie ein, deren Rekonstruktion durch Millicent Hodson u. a. wegen der unvollständigen Quellenbasis kritisiert wird; sie habe vor allem die autographen Eintragungen in Strawinskys Klavierauszug nicht berücksichtigt (S. 211 f.). Der Komponist wünschte sich eine “ abstrakte Choreographie ” als “ optische Erweiterung unter Verwendung einiger seiner musikalischen Verfahren ” (S. 238 f.). Die Partitur zu Apollon musagète (1928, S. 241 - 250) schloß Strawinsky ab, ehe George Balanchine mit der Arbeit an der Choreographie begann, so daß es hier zu keiner Zusammenarbeit kam (S. 244 n); musikalisch nimmt das “ Erstlingswerk der Neoklassik ” (S. 241) vor allem auf Tschaikowsky Bezug. Das Kapitel zu Prokofjews Romeo und Julia-Ballett (1939/ 40, S. 251 - 267) behandelt vor allem den Entstehungsprozeß und die Zusammenarbeit des Komponisten mit dem Choreographen Leonid Lavrovsky; auch bei Hans Werner Henzes Undine (1958, S. 269 - 289) steht das Zusammenwirken des Komponisten und des Choreographen Frederick Ashton im Vordergrund: Die besonders günstige Quellenlage (S. 269) läßt erkennen, daß Henze Ashtons Vorgaben genau folgt (S. 281 f.) und eine wesentlich narrative Musik schreibt (S. 288), die er selbst mit einer gewissen Berechtigung als “ Oper ohne Sänger ” bezeichnet hat (S. 273). Mit dem “ Ballet blanc ” Présence von Bernd Alois Zimmermann (1961) und der von Zimmermann als “ Erfüllung ” bezeichneten (S. 292) Choreographie von John Cranko (1968) lockert sich der Bezug zur “ klassisch-akademischen ” Tradition: Intendiert ist “ eine primär szenische Komponente, und nicht eine primär tänzerische zur Musik ” (S. 304). Mauricio Kagels Pas de cinq (1965, S. 305 - 322) sprengt vollends den Rahmen der Untersuchung; es handelt sich um ein Stück instrumentales Theater, das, wie Rothkamm selbst konstatiert, “ von etablierten Ballett(musik)strukturen unabhängig ” ist (S. 315). Der “ traditionsbezogene Titel ” (ebd.), der die Aufnahme ins Corpus rechtfertigen soll, ist ein Wortspiel: pas heißt hier nicht ‘ (Solo-)Tanz ’ , sondern bezeichnet schlicht die ‘ Schritte ’ der sich auf der Spielfläche bewegenden Darsteller. Am Ende steht Alfred Schnittkes Peer Gynt für John Neumeier (1989, S. 323 - 344): Hier gestaltet die Musik Inhalte des Librettos (S. 342), auf den musikalischen Stil reagiere ein “ Polystilismus der Choreographie ” (ebd.). Durch die geschickte Verbindung von Allgemeinem und anschaulichen Detailanalysen vermag dieses sorgfältig dokumentierte Buch auch 229 Rezensionen Ballett-Laien Einblick in die Entwicklung einer von der Forschung vernachlässigten musikalischen Gattung zu geben. Bamberg A LBERT G IER Stefanie Watzka. Die ‘ Persona ’ der Virtuosin Eleonora Duse im Kulturwandel Berlins in den 1890er-Jahren. “ Italienischer Typus ” oder “ Heimathloser Zugvogel ” ? Tübingen: Francke, 2012, 349 Seiten. Während im 18. Jahrhundert vor allem überdurchschnittlich talentierte Künstler des Musiktheaters als Virtuosen bezeichnet wurden, werden seit dem 19. Jahrhundert auch begabte und beim Publikum besonders beliebte Akteure des Sprechtheaters, die durch ihre hochwertige, jedoch auch effektvolle Spielweise den Hauptfokus einer Inszenierung bilden, mit einer solchen Bezeichnung versehen. Doch nicht mehr nur die Leistungen auf, sondern auch die Performance außerhalb der Bühne ist in diesem Kontext von Bedeutung. Dabei verstehen es Virtuosen, sich öffentlichkeitswirksam zu vermarkten, um Zuschauer ins Theater zu locken und so neben künstlerischem Erfolg auch einen finanziellen Gewinn zu erzielen. Die Schauspielerinnen Sarah Bernhardt (1844 - 1923) und Eleonora Duse (1858 - 1924) gelten als Musterbeispiele des Virtuosentums. Durch ihre international erfolgreichen Gastspiele wurden sie von Zuschauern auf der ganzen Welt geliebt und bewundert und von zahlreichen Mitstreiterinnen kopiert. So überrascht es nicht, dass beiden Schauspielerinnen eine kaum zu überblickende Anzahl an Publikationen, insbesondere biographischer Art, gewidmet worden ist. Auch Stephanie Watzka stellt eine der beiden Ausnahmekünstlerinnen - Eleonora Duse - in den Mittelpunkt ihrer Dissertationsschrift Die ‘ Persona ’ der Virtuosin Eleonora Duse im Kulturwandel Berlins in den 1890er-Jahren. “ Italienischer Typus ” oder “ Heimathloser Zugvogel ” ? Dabei sieht sie klugerweise von einer Lebensbeschreibung der italienischen Schauspielerin ab und legt ihren Fokus auf die Gastspieltätigkeit der Duse im Deutschen Reich: Watzka konzentriert sich auf ausgewählte Gastspiele der Virtuosin in Berlin der 1890er Jahre, die die Italienerin 1892 am Lessing- Theater begründete, sowie exemplarisch für die Theaterprovinz auf ihre Auftritte in Mainz im Jahr 1895. Ihr Ziel ist es, aufzuzeigen, welche Folgen die Gastspieltätigkeit der Duse für die deutsche bzw. Berliner Gesellschaft in kultureller, sozialer wie auch national und transnationaler Hinsicht hatte. Hierbei stellt sie die These auf, dass das Gastspiel der Eleonora Duse die Funktion eines Katalysators der nationalisierend und gleichzeitig transnationalisierend wirkenden Strömungen innerhalb der deutschen Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert übernimmt. In ihrer Schrift greift die Autorin auf schriftliche Quellen zurück, welche vorwiegend aus Zeitschriften- und Zeitungsartikeln bestehen, die im geläufig zitierten Textkorpus um Eleonora Duse bis dato keine Berücksichtigung fanden. Den ersten Teil ihrer Abhandlung widmet Watzka der Frage nach nationalen Stereotypen und ihrer Funktion innerhalb kollektiver Vorstellungen, wobei sie ihren Schwerpunkt auf die Herausarbeitung der Stereotypisierung einer ‘ typisch italienischen ’ Schauspielkunst legt. In diesem Zusammenhang stellt sie im Analyseteil heraus, dass Eleonora Duse während ihres ersten Berliner Gastspiels von deutschen Rezensenten als Symbolfigur einer solchen Schauspielkunst betrachtet wurde. Expressive Gestik und Mimik, ein hoher Grad an Natürlichkeit, Einfühlung sowie Authentizität galten deutschen Kritikern als typisch italienisch und wurden als nachahmenswert für die Bühnenkünstler des Deutschen Reiches deklariert. Diesbezüglich legt Watzka dar, dass Eleonora Duse von deutschen Kritikern zwar ein herausragendes Talent zugesprochen wurde, man dieses jedoch als Teil ihres für die Schauspielkunst prädestinierten italienischen Naturells ansah und somit nicht als originär bewertete, was die eigene Kunstfertigkeit der Schauspielerin erheblich reduzierte. Im Mittelpunkt der von Watzka fokussierten Quellen findet sich also nicht die Individualität der Duse, sondern vielmehr die Projektionsfläche als die sie fungierte: zum einen von nationalen Stereotypen, anhand derer sich die Eigengruppe abgrenzen konnte und sich in diesem Prozess selbst Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 230 - 231. Gunter Narr Verlag Tübingen 230 Rezensionen definierte, zum anderen von bürgerlichen Begehrensstrukturen, die von dem Wunsch nach dem Autochthonen und dem Exotismus geprägt waren [. . .]. (S. 188) Watzka arbeitet sehr präzise heraus, dass es Eleonora Duse in den folgenden Jahren, insbesondere seit ihren Auftritten in Mainz 1895 und endgütig mit der Darbietung der Kameliendame 1899, jedoch gelungen ist, die ihr im deutschen Diskurs während der ersten Gastspiele zugeschriebene Rolle als Repräsentantin der typisch italienischen Schauspielkunst zu minimieren und ihre individuelle Kunstfertigkeit mehr in den Vordergrund zu rücken. Vor allem aufgrund ihres zu diesem Zeitpunkt bereits großen internationalen Erfolges wurde sie von deutschen Kritikern zunehmend als eine universale Künstlerin anerkannt. Der “ italienische Typus ” wurde so, wie aus einer Rezension der Vossischen Zeitung im Titel des Buches zitiert wird, zum “ heimathlosen Zugvogel ” . Dennoch, so betont die Autorin, wurde Eleonora Duse im deutschen Diskurs weiterhin als eine Fremde stereotypisiert. Eine solche Diversifizierung der Perspektiven lässt Watzka den Rückschluss auf die deutsche Wir- Gruppe ziehen, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert einerseits zunehmend für kosmopolitisches Denken öffnete, andererseits aber eine klar definierte deutsche Kultur wünschte: Kosmopolitismus beziehungsweise Transnationalitismus sowie Metropolitanismus (wie im Falle Berlins) auf der einen Seite und ein sich modifizierender Nationalismus auf der anderen Seite schlossen sich um 1900 also nicht aus, sondern existierten als in der Gesellschaft gleichzeitig vorhandene Strömungen. (S. 314) Stefanie Watzkas Arbeit überzeugt durch eine intensive und kritische Auseinandersetzung mit historischen Quellen. Immer wieder gibt die Autorin wichtige theatergeschichtliche Zusatzinformationen und wertvolle Exkurse, die die deutsche Rezeption um Eleonora Duse bereichern. Auch gelingt es ihr, insbesondere im zweiten Teil der Abhandlung, die mononationale Perspektive auf das 19. Jahrhundert zu erweitern. Allerdings wäre es diesbezüglich wünschenswert gewesen, wenn Watzka den Transnationalismusbegriff nicht limitiert aus dem deutschen Diskurs heraus angewandt, sondern seine methodischen Vorteile gerade in Hinblick einer vergleichenden Untersuchung ausgenutzt hätte. So wäre es in diesem Zusammenhang z. B. nicht uninteressant gewesen, einen Blick in die ausländische Presse zu werfen, um nachzugehen, ob vor dem Hintergrund des Nation-Building-Prozesses hier ebenfalls Tendenzen einer ähnlichen Stereotypisierung der Schauspielerin auszumachen seien und somit etwa als transnationale Phänomene betrachtet werden können, oder ob die Rezeption der Virtuosin vielmehr als eine deutsche und somit lokale Besonderheit aufzufassen sei. Dies stellt nicht in Abrede, dass die Dissertationsschrift von Stefanie Watzka sehr lesenswert ist. Die Autorin arbeitet einleuchtend an den Gastspielen der Schauspielerin Eleonora Duse heraus, wie sich Tradition und Moderne im Deutschen Reich des ausgehenden 19. Jahrhunderts brechen und wie stark die Institution des Gastspiels in dieser Zeit Politisierungen ausgesetzt war. So ist die Publikation nicht nur für Eleonora Duse Fans, sondern gerade auch für all diejenigen zu empfehlen, die sich mit dem Theater, vor allem aber mit dem Gastspielwesen des Deutschen Reiches im 19. Jahrhundert befassen. München B ERENIKA S ZYMANSKI -D ÜLL Wolf-Dieter Ernst. Der affektive Schauspieler. Die Energetik des postdramatischen Theaters. Berlin: Theater der Zeit, 2012, 256 Seiten. Seit einigen Jahren häufen sich Konferenzen und Tagungen zu den zentralen Fragen, wie sich die Ausbildung für den Schauspieler im Hinblick auf das zeitgenössische Theater verändern müsse. Dass der Schauspieler heute nicht mehr nur ein Rollenbild zu erfüllen habe, dass die gängigen Spielweisen aus der Schule Stanislawskis oder Brechts den vielfältigen Theaterformen bei weitem nicht mehr Rechnung tragen und sich die Position des Schauspielers im Probenprozess ver- Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 231 - 233. Gunter Narr Verlag Tübingen 231 Rezensionen ändert hat, ist evident. Dennoch gibt es kaum einschlägige Literatur dazu, die speziell den Paradigmenwechsel beschreibt, der sich in den letzten zwanzig Jahren an unseren Bühnen vollzogen hat. Der Theaterwissenschaftler Wolf-Dieter Ernst, ausgebildet an der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, hat sich diesem Thema in seiner neu erschienenen Forschungsarbeit Der affektive Schauspieler gestellt. Den Begriff des Affektiven benutzt Ernst vor allem deshalb, weil es ihm nicht um die Erarbeitung einer Schauspieltheorie geht, die erklärt, wie man auf der Bühne Affekte herstellt, sondern um das Wirkungsprinzip einer schauspielerischen Darstellung, die sowohl die Beziehung zum Publikum auslotet wie auch das Spiel für den Spieler selbst, der von seinem eigenen Spiel noch affiziert wird. Das Titelbild seines Buches soll dabei zur symptomatischen Aussage werden. Es zeigt den holländischen Schauspieler Benny Claessens in Alwis Hermanis ’ Aufführung Ruf der Wildnis, liegend neben zwei Hunden. Für den Autor ist diese Szene Ausdruck von Hemmung und Entladung einer Energie, für die sinnbildhaft das Tier steht: der affektive Schauspieler sieht sich ausgesetzt in einer bewussten Theaterverweigerung oder aber extremen Übersteigerung. Die Kunst des Schauspielers im zeitgenössischen Theaters erschöpft sich eben nicht in der Erfüllung einer Rolle, in glaubwürdiger Verstellung - der Schauspieler ist um so wahrer, je besser er lügt, wie es Peter Stein noch glaubte - oder in der Einfühlung. Stattdessen wird die Rolle zum Anlass einer energetischen Darstellung, die den Text gleichsam affektiv über- oder unterbietet. Die Entwicklung einer solchen darstellerischen Praxis wurzelt vor allem in einem Diskurs über Theater und einer Aufführungspraxis, die sich dem postdramatischen Theater verdankt. Als Überwindung des Repräsentationstheaters stellt es komplett neue Aufgaben an den Schauspieler. Der Text wird zum Vehikel einer affektiven Darstellung, die den Schauspieler in das Risiko der jeweiligen als Erlebnis erfahrenen Probe oder Vorstellung führt, die er nicht mehr durch Rollenbilder oder Klischees kontrollieren kann. Wolf-Dieter Ernst beschreibt Trainings- und Ausbildungsmethoden und Probenbedingungen der Regisseure Heiner Müller, Luk Perceval, René Pollesch sowie Jan Fabre und analysiert die Kunst der Schauspieler Katja Bürkle, Grace Ellen Barkey, Hans Petter Dahl, Thomas Thieme, Bernd Moss und Martin Wuttke. Mit seiner Recherche und Analyse zu Hitler-Darstellungen bei Bruno Ganz und Martin Wuttke, zur Zeiterfahrung in Luk Percevals Schlachten, zur Gedächtnisarbeit bei der Needcompany und der Selbstreflexion der Affekte in der Theaterarbeit von René Pollesch macht Ernst ein breites Spektrum auf und berührt dabei zugleich theatergeschichtliche Diskurse wie Artauds Ekstase, Diderots Paradox des Schauspielers oder Peter Brooks leeren Raum und Grotowskis Techniken der Selbstentblößung, was in der angesetzten Fülle natürlich nicht erschöpfend behandelt werden kann. Am Ende verweist er noch auf einen Methodenwechsel in der Sprecherziehung. Wo einstmals der richtige Sprachduktus klassischer Texte im Vordergrund stand, noch eng verwandt mit dem Wohlklang in einer Gesangsausbildung, entwickelten sich stimmtechnische Trainingsmethoden, welche die Grundlagen für ein affektives Spiel legen: mit ihnen als Trennung von körperlichen Vorgang und Sprechsemantik konnten zwei Seiten einer ästhetischen Darstellung gewonnen werden. Dass diese zwei Seiten eindrücklich im Spiel zu nutzen sind, analysiert Ernst in der Darstellung des Dirty Rich von Thomas Thieme. Hier sitzt einer der großen zeitgenössischen Schauspieler als Richard der Dritte alleine auf der Bühne, stellt sich dem Sprachwirrwarr aus englischen und deutschen Wortfetzen, die eine Konversation im üblichen Sinne schon ausschließen und die Figur in ihrer Sprachverlorenheit und -verwirrung vorführen. Wie Thieme aber die sprachliche Vorlage darstellerisch überbietet, in dem er alle Mittel von Atem-, Stimm- und Sprechtechnik einsetzt und damit sein darstellerisches Repertoire komplett auslotet, wird Ernst zum Beweis einer affektiven Spieltechnik: So kommt der Schauspieler Thieme schließlich selbst an einen Punkt der darstellerischen Erschöpfung (nicht Ermüdung, wohlgemerkt! ) aller seiner Mittel und Spielweisen, die er bis zur Entgrenzung des eigenen Spiels einsetzt und damit zum Höhepunkt einer darstellerischen Intensität führt: Person und Rolle fallen in eins ebenso Spiel und unmittelbares Erleben. In der Arbeit von René Pollesch sieht Ernst das Paradox von Diderot erfüllt, zeitgleich in Exzess und Ermüdung sich der Darstellungsaufgabe zu 232 Rezensionen nähern. “ Pollesch Spielfiguren erleichtern diese paradoxe Kommunikation nicht zuletzt dadurch, dass sie noch Theaterfiguren behaupten und zugleich als Meta-Theater, das heißt Theaterdiskurse diese Theaterfiguren infrage stellen, ironisieren und kommentieren ” . Katja Bürkles Spiel in Pollesch Inszenierung Liebe ist kälter als das Kapital zergliedert Ernst in Sprache und Gestik, zeigt ihre Darstellung von Verzweiflung und Peinlichkeit, die sie im Moment der Darstellung in die Unmöglichkeit der Darstellung überführt. Die affektive Schauspielerin setzt eben nicht auf eine souverän geführte schauspielerische Darstellung, die sich in ihrer Kunstfertigkeit beweist, sondern vielmehr auf eine eigene Gefährdung, Begrenzung und Unfähigkeit: Katja Bürkle lässt sich selbst von ihrem ungesicherten Spiel affizieren. Im Moment des Spiels wird die Figur defiguriert und damit das Theater von Pollesch zur Verweigerung eines repräsentativen Spiels, das gesellschaftliche Denkbilder und Gefühlswelten immer nur reproduziert. Diese Beispiele mögen neugierig machen auf die verschiedenen Recherchen, an deren Ende der Leser entscheiden muss, ob der zeitgenössische Schauspieler in der Kategorie des Affektiven eindrücklich und hinlänglich beschrieben ist. Frankfurt a. M. M ARION T IEDTKE Katharina Pewny. Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance. Theater, Band 26. Bielefeld: Transcript Verlag, 2011, 331 Seiten. Seit der Jahrtausendwende - und verschärft seit Ausbruch der gegenwärtigen Finanz-, Staatsschulden-, und schließlich auch Beschäftigungskrise im Jahr 2007 - , ist der Begriff “ prekär ” in aller Munde. Ob es sich nun um die Beschreibung unzureichend die Zukunft sichernder Beschäftigungsverhältnisse, das Lebensgefühl der “ Generation Praktikum ” oder eine Grundkonstante menschlichen Lebens im Zeichen von 9/ 11 und Guantanamo (Judith Butler) handelt, charakterisiert er stets einen Mangel an Sicherheit und souveräner Verfügungsgewalt über einen Gegenstand, einen Zustand, oder das eigene Leben. Kaum ein Begriff mit all seinen Facetten von “ ungesichert ” , “ widerruflich ” , “ bittweise erlangt ” , “ flehentlich erbeten ” , oder “ verletzlich ” konnte so schnell in den unterschiedlichen Disziplinen Karriere machen wie das “ Prekäre ” , was sehr wahrscheinlich auch an seiner Attraktivität für eine Selbstbeschreibung des Wissenschafts- und Kreativprekariats (zu denen sich auch der Autor dieser Besprechung zählt) liegt. Die Theaterwissenschaftlerin Katharina Pewny unternimmt in ihrer bereits 2011 erschienenen Habilitationsschrift den Versuch, die Allgegenwärtigkeit dieses Schlagworts auf den deutschsprachigen Bühnen nicht nur inhaltlich auszudeuten, sondern auch für theoretische Überlegungen zur Ästhetik und Ethik des Performativen fruchtbar zu machen. Ausgehend von einer semantischen Bestimmung des Wortes “ prekär ” , die im Wesentlichen die genannten Bedeutungsfelder identifiziert, bemüht sich die Autorin um eine umfassende Einbettung ihres Forschungsdesiderats in die aktuellen Diskurse um das Postdramatische Theater (Hans-Thies Lehmann), die Theorie und Ästhetik der Performance Studies aus Sicht einer theaterwissenschaftlichen Forschung (Peggy Phelan, Erika Fischer-Lichte) sowie um deren Anschluss an sozialwissenschaftliche und ethisch-philosophische Diskurse (Emmanuel Lévinas, Louis Althusser, Nicolas Bourriaud). Dabei entwickelt sie die ihrer Arbeit zugrunde liegende These, dass das postdramatische Gegenwartstheater in seiner gesamten Bandbreite von Theatertexten, über Tanz- und Performance-orientierten Zugängen, bis hin zu Adaptionen nichtliterarischer Vorlagen das “ Prekäre ” nicht nur explizit dramatisiert, sondern in zahlreichen Variationen auch als “ Leerstelle ” der eingesetzten theatralen Codes “ performt ” . (S. 13 - 21) Daraus ergebe sich ein “ ästhetisches Modell ” (S. 21) für die Theatersituation als “ Begegnung des Publikums mit den Performenden, beziehungsweise mit der Bühnensituation. Diese theatralen Begegnungen finden [. . .] unter der Voraussetzungen des Prekären, mithin des Ungesicherten, statt ” . (S. 24) Denn durch die - implizite oder explizite - Anrufung des Zuschauers “ eröffnet sich ein komplexer performativer Vorgang, der die spezifische Theatralität der leiblichen Co-Präsenz von Per- Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 233 - 235. Gunter Narr Verlag Tübingen 233 Rezensionen formenden und Publikum sowohl nutzt als auch [. . .] hervorbringt ” (S. 32). Dabei werde ein “ kommunikatives Dreieck ” (ebd.) aus Akteur, Betrachter und Bühnengeschehen evoziert, das letztlich nur als performativer und relationaler Prozess beschrieben, niemals jedoch festgeschrieben werden könne. Gleichfalls werde das Dargestellte als “ instabiler Zustand assoziiert ” , aber nicht unbedingt “ narrativ entfaltet ” (S. 34): Prekär [. . .] verweist auf eine Schwierigkeit, ohne diese narrativ zu füllen und ohne das, worauf es sich bezieht, in eine letztgültige Definition zu pressen. [. . .] Wenn widerruflich ist, was prekär ist, dann bringt prekär eine Relation zwischen Rufenden und Gerufenen und damit diese beiden (Subjekt-) Positionen erst hervor. Wenn diese Relation theatral ist, dann erlaubt sie die abwechselnde Besetzung dieser beiden Positionen durch ein Theaterpublikum. Eine dergestalte Publikumsaktivität ist ebenfalls nicht von Dauer, sondern per se ungesichert, denn sie bewohnt ihr Imaginäres. Diese Ungesichertheit, aber auch die Produktivität des Imaginären wird hier besonders betont, wenn die Geschichte endet, indem die Aufführung beendet wird. (S. 34 f ) Und damit konstituiere sich, Pewny zufolge, die theatrale Situation als Realität, zwischen der und anderen Realitäten das Prekäre wie auf einem “ Möbius-Band ” (S. 95) zirkuliere. Durch seine, wie auch immer geartete, Beteiligung an diesem Geschehen, sei der Zuschauer dabei stets auch im Sinne Lévinas ’ in eine “ Verantwortung zur Antwort auf das Bühnengeschehen ” (S. 109) eingebunden, da er am Zustandekommen der “ Performanz des Prekären ” (S. 110) mitbeteiligt sei. So werde mit dem Zustandekommen eines performativen Aktes stets auch “ Ethik [. . .] in künstlerischen Aufführungen des Prekären auf performative Weise hervorgebracht ” (S. 112). An diese Überlegungen schließt Pewny drei Kapitel mit repräsentativen Aufführungsanalysen an: (a) zum “ Posttraumatischen Theater als Wahrnehmung des Ungesicherten ” ; (b) dem “ Transformatorischen Theater als Sicherung des Ungesicherten ” ; sowie (c) zum “ Relationalen Theater als (unmögliche) Begegnung mit dem Ungesicherten ” . Die in diesen Kapiteln durchwegs knapp und überaus leserfreundlich gehaltenen Fallstudien decken kenntnisreich eine Vielzahl der namhaften Autoren, Regisseure, Choreographen und Performer des avancierten Gegenwartstheaters der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts ab. Darin erläutert die Autorin wie (a) traumatische Erfahrungen als Begegnungen mit dem “ Anspruch des Anderen ” (S. 138) mittels ästhetischer Verfahren in “ körperliche Einschreibungen ” (S. 139) transponiert werden, um “ bereits stattgefundene Verletzungen des ungesicherten Lebendigen ” (S. 140) in der gegenwärtigen Theatersituation näherungsweise zu aktualisieren und damit dem Publikum nachvollziehbarer werden zu lassen; (b) “ die Formveränderung des Prekären ” (185) von einem Status der Unsicherheit in eine Stabilisierung der eigenen oder einer kollektiven Lebenssituation umgestaltet werden kann; und (c) die interdisziplinären Arbeitsweisen postdramatischen Theaters mit der Herstellung innertheatraler Sozialwirklichkeiten auf wie hinter der Bühne, sowie zwischen Bühne und Zuschauerraum “ verfransen ” (S. 248). Hierbei erweisen sich Pewnys Analysen von (a) Christoph Marthalers Schutz vor der Zukunft (2005); (b) der Heidi-ho Trilogie René Polleschs (2001/ 02); sowie (c) von Karl Marx: Das Kapital, Erster Band des Regie- Labels Rimini Protokoll (2005) als besonders gelungen, lesenswert, und für den gewählten Theorierahmen produktiv. Pewnys Ausführungen zum “ posttraumatischen ” und “ transformatorischen ” Theater sind im Wesentlichen gut nachvollziehbare und naheliegende Erweiterungen der vorliegenden Standardwerke Hans-Thies Lehmanns und Erika Fischer-Lichtes (Ästhetik des Performativen) um die Dimension des Ethischen im avancierten Gegenwartstheater. Dabei sind in den Details durchaus Schwierigkeiten in der Verbindung von theoretischem Programm und der Analyse künstlerischer Praxis in der gesamten Bandbreite performativer theatraler Ausdrucksformen feststellbar. Die dargestellte Methode des wissenschaftlichen “ Überschreibens ” (S. 121 - 131) der Aufführungstexte um die Kategorie des Prekären ist aufgrund des starken theoretischen Interesses der Autorin durchaus überzeugend, aber für die Praxis der theaterwissenschaftlichen Analyse sicherlich noch diskussionswürdig. Mit ihrem 234 Rezensionen Beitrag zum “ relationalen Theater ” betritt Katharina Pewny hingegen Neuland, das fachlichen Weitblick für den Anschluss theaterwissenschaftlicher Forschung an sozialwissenschaftliche Diskurse demonstriert. Hier liegen wohl die interessantesten Herausforderungen für die Theoriebildung der nächsten Dekade. München G ERO T ÖGL Hermann Korte u. Hans-Joachim Jakob (Hg.). “ Das Theater glich einem Irrenhause. ” Das Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts. Heidelberg: Winter, 2012, 311 Seiten. In ihrem Sammelband fokussieren die beiden Literaturwissenschaftler Hermann Korte und Hans-Joachim Jakob auf die ihrer Aussage nach “ weitgehend unbekannte Größe ” der Zuschauerinnen und Zuschauer, um das Publikum als aktiven Mitgestalter der Kommunikation und des Erlebnisses ‘ Theater ’ stärker in den Blick zu bekommen und eröffnen damit die neue Reihe “ Proszenium. Beiträge zur historischen Theaterpublikumsforschung ” . Der Einbezug performativer und transitorischer Aspekte des Bühnengeschehens sprenge, so Korte und Jakob, die literaturwissenschaftlich tradierte Dramenanalyse und erfordere die Erschließung bisher wenig beachteter Quellen. Die Herausgeber formulieren hier das Desiderat einer literaturwissenschaftlichen Perspektive, die durch die umfassenden editorischen Vorarbeiten zu den Theaterpublikationen des 18. Jahrhunderts von Wolfgang Bender u. a. 1 gut fundiert werden kann. Mit seinem einleitenden Artikel “ Historische Theaterpublikumsforschung ” bietet Hermann Korte einen lesenswerten Überblick über den Forschungsstand und die wesentlichen Fragestellungen zur Situation des Publikums im Übergang zwischen Aufklärung und Moderne. Zum einen konstatiert er hier eine spezifische Rolle des Publikums, von dessen Geschmack und Reaktion die Theateraufführungen wesentlich abhingen, welche noch keine geschlossene Ensembleleistung vorweisen konnten, keine dramaturgische Textbehandlung und keine künstlerische Regiekonzeption, so Korte. Der häufig wechselnde Spielplan reagierte rasch auf die Zustimmung oder Ablehnung durch das Publikum, nicht selten waren diese Publikumsäußerungen laut und unvorhersehbar. Um 1800 nun muss man einen kulturelle Wahrnehmungs- und Sehgewohnheitenwandel konstatieren, der wesentlich verbunden ist mit den künstlerischen, literarischen und institutionellen Transformationen der Theaterpraxis. Seit den 1770er Jahren reagierten Theaterzeitschriften zunehmend kritisch auf ein aktives und einsprechendes Publikum, der aufmerksame und stille Zuhörer/ Zuschauer wurde diskursiv zum Ideal erhoben. Korte diskutiert hier wesentliche Texte aus den Theaterjournalen, die sich mit dieser Umdeutung des Zuschauers, des Zuschauens als disziplinierten Adressat eines ‘ Bildungstheaters ’ befassen und gibt einen umfassenden Einblick in die historische Situation. 2 Damit gibt er dem Band eine grundsätzliche Perspektive, von der aus die weiteren Beiträge operieren. So etwa auch Peter Heßelmann, der mit seinem Beitrag “ Der Ruf nach der ‘ Polizey ’ im Tempel der Kunst. Das Theaterpublikum des 18. Jahrhundert zwischen Andacht und Vergnügen ” die Disziplinierung der Zuschauer weiter ausführt und exemplarisch fundiert. Johannes Birgfeld spannt mit seinem Beitrag “ Theater ohne Schauspiel? Theatre on location? Kotzebues Konzept dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande mit Blick auf sein Verhältnis zum Publikum ” die kulturhistorische Perspektive von Theaterpraxis weiter auf und macht somit den wichtigen Schritt hin zur Frage der gesamtgesellschaftlichen Situation und der Funktion von Theater. Hier gewinnen wir ein spannendes ‘ anderes ’ Bild von August von Kotzebue, der mit quasi theaterpädagogischen Mitteln, nämlich der serienweisen Publikation von leicht nachzuspielenden Einaktern und Kurzdramen in seinem Almanach dramatischer Spiele (1803 - 1820), dem Unterhaltungs- und Darstellungsbedürfnis der Bürger nachkommen wollte. Anschaulich stellt uns Birgfeld Kotzebue als einen Autor vor, der dem ‘ Primat der Besserung des Publikums ’ verpflichtet war und gleichzeitig mit seiner ‘ Dramatik der kleinen Schritte ’ das Theaterspielen beförderte und so die bürgerliche Thea- Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 235 - 237. Gunter Narr Verlag Tübingen 235 Rezensionen terpraxis als Theatererfahrung in einen Bildungsprozess einzubinden wusste. Mit Kotzebue wird bürgerliches Theaterspiel zur kulturrelevanten Praxis; diese spezifische Art von ‘ Publikumspartizipation ’ hatte Anteil an der Formung bürgerlicher Theaterformen. Bastian Dewenter liefert mit seinem Beitrag “ Das Publikum im Visier des Theaterpraktikers. E. T. A. Hoffmanns dramatischer Prolog Die Pilgerin ” interessante Befunde zur theaterpraktischen Arbeit des romantischen Romanciers und liefert gleichzeitig eine aufschlussreiche Detailanalyse zur Aufführung von Hoffmanns dramatischem Text als exemplarische Rückkopplung zwischen der inhaltlichen Aktion, der identifikatorisch-emotionalen Rezeption durch die adeligen Adressaten des Prologs und der affirmativen Reaktion des Theaterpublikums. Anhand der Aufführung am Bamberger Hoftheater zeigt Dewentes die Spiegelung der Bühnenaktion durch das anwesende Herrscherhaus - die Herzogin umarmt im Moment der Versöhnungsszene des Stückes ihre Mutter in ihrer Theaterloge, das Publikum applaudiert stürmisch und bringt die Bühnendarstellerin und die herzoglichen Darsteller dazu, das gleiche Schauspiel - auf der Bühne und in der Loge - am nächsten Tag zu wiederholen. Nikola Rosbach zeigt in ihrem Beitrag “‘ Hierher kommen sie nie. . . Das ist nämlich die ‘ Intime Bühne ’ ! Das Publikum des Intimen Theaters um 1900 ” die quasi überschießende Tendenz zur Erziehung und Disziplinierung des Publikums. Letztlich geht es hier um das Gegenmodell zum ‘ Theater als Irrenhaus ’ : das Theater als intime Begegnung des Zuschauers mit dem dramatischen Geschehen. So hat es etwa gefordert August Strindberg; Max Reinhardt vollzog die satirische Überspitzung, die in einem Theater ohne Zuschauer gipfelte. Rosbach konstatiert hier, zur intimen Theaterästhetik um 1900 gehöre das Phantasma vom anwesenden, nah-distanzierten Zuschauer, das in der Realität keine unmittelbare Entsprechung besitze, jedoch als ästhetisches Konstrukt in kunsttheoretische Programme und Werke eingehe. So schließt sich hier in gewisser Weise die aufklärerische Disziplinierung des Zuschauers mit der ästhetischen Konzeption der Theater-Intimität kurz und bringt damit aufschlussreich den Aspekt der Fokussierung auf die ‘ Ereignishaftigkeit ’ von Theater in den Blick. Wie an einzelnen Beiträgen dargestellt, eröffnet der Sammelband von Hermann Korte und Hans-Joachim Jakob spannende Perspektiven und Gegenstände für die historische Publikumsforschung und sollte daher von der Theaterwissenschaft unbedingt berücksichtigt werden als Anreiz zu weiteren Studien. Dennoch muss hier kritisch angemerkt werden, dass zu viele der Beiträge im Band zwar Publikumsforschung in Berücksichtigung von Theaterereignis, Kommunikation und Interaktion zu betreiben vorgeben, letztlich aber doch nur eine erweiterte Literatur- oder Rezeptionsanalyse liefern (so etwa Bodo Plachta zu Schillers Räubern, Mirjam Springer zu Schillers Seestücken, Klaus Haberkamm zu Goethes Ur-Meister als Theatermodell oder Ariane Martin zu Wedekind). Hier verbleibt die Forschungsperspektive zu stark den klassischen Paradigmen der Literaturwissenschaft verhaftet und kann dem ausgesprochenen Anspruch der Herausgeber nicht genügen. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Quellen- Forschung. Der Herausgeber Korte formuliert ein Desiderat nach einer Bandbreite von Quellensorten und deren umfassender Analyse. Dies steht noch aus und kann von dem Sammelband nicht vollständig eingelöst werden. Die Beiträger lösen sich insgesamt zu wenig von den wirkmächtigen Vorgaben der editorischen Großtat von Wolfgang Bender u. a. zu den Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts 3 und der maßgeblichen Studie von Peter Heßelmann zum Diskurs der ‘ Reinigung des Theaters ’ im 18. Jahrhundert 4 . Hier wäre es angezeigt, den Quellenbestand deutlich nach allen Richtungen auszuweiten. Insbesondere Polizeiakten, Regulierungs- und Verwaltungsakten könnten anhand von dokumentierten Konfliktzonen zwischen Publikum, Theater, Künstlern, Obrigkeiten und Öffentlichkeit Aufschluss über Transformationen und kulturhistorische Umbrüche von Theaterstrukturen und Publikumsverhalten geben. Auch hier wieder wäre eine Kooperation zwischen Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft 5 und Geschichtswissenschaft geeignet, das Publikum von einer “ unbekannten Größe ” in einen interdisziplinär aufzuschlüsselnden Forschungsgegenstand umzuwidmen. Hermann Korte und Hans-Joachim Jakob haben mit dem Sammelband eine interessante 236 Rezensionen Eröffnung in Hinsicht auf historische Publikumsforschung geleistet. Es bleibt zu hoffen, dass die folgenden Bände in der neuen Reihe “ Proszenium. Beiträge zur historischen Theaterpublikumsforschung ” weitere spannende Befunde hinzufügen. München M EIKE W AGNER Anmerkungen 1 Wolfgang Bender u. a., Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts. Bibliographie und inhaltliche Erschließung deutschsprachiger Theaterzeitschriften, Theaterkalender und Theatertaschenbücher, 3 Teile in 8 Bänden, München 1994 - 2005. 2 Vgl. hierzu etwa auch Jan Lazardzig: “ Ruhe und Stille. Anmerkungen zu einer Polizey für das Geräusch (1810) ” , in Meike Wagner (Hg.): Agenten der Öffentlichkeit. Theater und Medien im frühen 19. Jahrhundert, Bielfeld 2014. 3 Vgl. Anm. 1. 4 Peter Heßelmann, Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750 - 1850), Frankfurt a. M. 2002. 5 Mit Helga Finter ist nur eine Theaterwissenschaftlerin im Band vertreten. Bequem bestellen: www.metzlerverlag.de info@metzlerverlag.de Theater universal Fischer-Lichte/ Kolesch/ Warstat (Hrsg.) Metzler Lexikon Theatertheorie 2., aktual. und erw. Auflage 2014. 418 S. Geb. € 49,95 ISBN 978-3-476-02487-9 Alle aktuellen Theorien und Ansätze Viele neue Themen, darunter Auftritt, Partizipation, Probe, Reenactment, Sound und Wissen 237 Rezensionen Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! Julien Dolenc Museumsarchitektur im Spiegel von Theatralität Forum Modernes Theater, Vol. 41 2014, 194 Seiten, €[D] 49,00 / SFr 65,50 ISBN 978-3-8233-6781-9 Durch diese interdisziplinäre Untersuchung wird mit einem dynamisch angelegten Modell von Theatralität ein neuer Blick auf die Interpretation von Museumsarchitektur geboten. Anhand von fünf Museen, dem Kunsthaus Bregenz, der Pinakothek der Moderne in München, der Londoner Tate Modern Gallery, dem Musée du Quai Branly in Paris und dem Guggenheim-Museum in Bilbao daher unterschiedliche Relationen zwischen Bild, Raum und Besucher hervorbringt. Die daraus entstehenden intermedialen Prozesse werden durch das vorgeschlagene Theatralitätsmodell, das letztlich auch als interdisziplinäre Methode für andere Kunstformen dient, überhaupt erst analysierbar. 238 Rezensionen Biographische Angaben Dr. Evelyn Annuß ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum und forscht im Rahmen ihres DFG-Projekts zum Formwandel nationalsozialistischer Masseninszenierungen und der Entwicklung medialer Dispositive in den 1930er Jahren. Sie ist Kuratorin einer internationalen Ausstellung zur Frage postkolonialer Fotografie (Bethanien Berlin/ National Art Gallery Windhoek/ Theaterformen Braunschweig 2009/ 2010). Ausgewählte Publikationen: Elfriede Jelinek - Theater des Nachlebens, 2007, 2. Aufl.); stagings made in namibia (2009); Public Movement (Maske & Kothurn 2012). Prof. Dr. Wolf-Dieter Ernst ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth. Studium der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen, Promotion an der Universität Basel 2001 (Performance der Schnittstelle. Theater unter Medienbedingungen. Wien, 2003). Habilitation an der LMU München zur Diskursgeschichte der Schauspielschulen 1870 - 1930. Zahlreiche Veröffentlichung zur Theorie und Ästhetik von Theater, Performance und neuen Medien: Netzkulturen - kollektiv, kreativ, performativ. (zus. m. Christopher Balme, Meike Wagner et al.) München, 2011, 33 - 45; Der affektive Schauspieler. Berlin, 2012; “ Nationalerziehung und Öffentlichkeit. Die Kontroverse um die Einrichtung einer staatlichen Schauspielschule 1846 - 1848. ” In: Meike Wagner (Hg.): Agenten der Öffentlichkeit. Theater und Medien im frühen 19. Jahrhundert. Bielefeld, 2014, 117 - 134. (w.ernst@uni-bayreuth.de) Dr. Jörn Etzold ist zur Zeit Lehrbeauftragter am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main und 2015 Feodor Lynen-Fellow der Humboldt- Stiftung am German Department der Northwestern University Evanston. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an den theaterwissenschaftlichen Instituten in Gießen und Bochum. Er beendet derzeit eine Habilitationsschrift zum Theater Hölderlins. Wichtigste Publikationen: Die melancholische Revolution des Guy-Ernest Debord (2009), Nicht-Arbeit. Politiken, Konzepte, Ästhetiken (Hg. mit Martin Jörg Schäfer) (2011), in Vorbereitung: Rhythmus der Vorstellungen (Hg. mit Moritz Hannemann) (2015). (Joern.Etzold@rub.de) Prof. Dr. Wilfried Floeck; Studium der Romanistik und Geschichte in Heidelberg, Grenoble, Tübingen und Bonn. 1968 Promotion in Bonn mit einer Arbeit über einen Vergleich zwischen Guillén de Castros Drama Las Mocedades del Cid und Corneilles Le Cid (Bonn 1969). Habilitation 1977 in Göttingen mit einer Arbeit zum Thema Die Literarästhetik des französischen Barock. Entstehung-Entwicklung-Auflösung, Berlin 1979 (franz. Fassung Tübingen 1989). 1980 bis 1990 Professur für Romanische Philologie (Literaturwissenschaft) in Mainz. 1990 bis 2008 Professur für Hispanistik in Gießen. 2003 bis 2007 Vorsitzender des Deutschen Hispanistenverbandes. 2008 Pensionierung. Etwa 150 wissenschaftliche Beiträge zur französischen, spanischen, lateinamerikanischen und portugiesischen Literatur in Monographien, Zeitschriften und Sammelwerken. Forschungsschwerpunkte: spanische Aufklärung; spanisches Theater; spanisches, portugiesisches, lateinamerikanisches Gegenwartstheater. Erinnerungskulturen in der spanischen und lateinamerikanischen Literatur (Conquista, Bürgerkrieg, Franco-Zeit), Postmoderne und Theater, Interkulturalität und Hybridisierung in der lateinamerikanischen Literatur. Jüngste Monographien und Herausgeberschaften: Spanisches Gegenwartstheater I. Eine Einführung. II. Eine Anthologie. Tübingen, 1997; Estudios críticos sobre el teatro español del siglo XX. Tübingen, 2003; Teatro y Sociedad en la España actual (hrsg. zusammen mit M a Francisca Vilches de Frutos), Frankfurt/ M., 2004; Estudios críticos sobre el teatro español, mexicano y portugués contemporáneo. Hildesheim, 2008; Dramaturgias femeninas en el teatro español contemporáneo: entre pasado y presente. Hildesheim, 2008 (zus. mit Herbert Fritz und Ana García Martínez); La representación de la Conquista en el Forum Modernes Theater, 26 (2011 [2014]), 239 - 242. Gunter Narr Verlag Tübingen teatro español desde la Ilustración hasta finales del franquismo. Hildesheim, 2009 (zus. mit Sabine Fritz). Prof. Dr. Albert Gier ist Professor für Romanische Philologie an der Universität Bamberg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Musik in der Literatur und vor allem der Text im Musiktheater. Dr. Maud Meyzaud ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Neuere Deutsche Literatur- und Medienwissenschaft an der Fern- Universität in Hagen. Sie arbeitet an einer Habilitationsschrift über Eigenschaftslosigkeit. Potentieller Menschen und literarische Formwerdung. Wichtigste Publikationen: Die stumme Souveränität. Volk und Revolution bei Georg Büchner und Jules Michelet (2012); Arme Gemeinschaft. Die Moderne Rousseaus (Hg., im Erscheinen). (Maud.Meyzaud@fernuni-hagen.de) Prof. Dr. Patrice Pavis was professor of Theatre Studies at the University of Paris (1976 - 2007). He is currently professor in the School of Arts at the University of Kent at Canterbury. He has published a Dictionary of theatre (translated in 30 languages) and books on semiology, Performance analysis, Contemporary French dramatists and Contemporary mise en scène. His most recent book publication are: Contemporary Mise en scène. Staging theatre today, Routledge, 2013. Dictionnaire de la performance et du théâtre contemporain (Armand Colin, 2014). (patricepavis@hotmail.com) Prof. Dr. Katharina Pewny ist Professorin für Performance Studies an der Universität Gent. Sie leitet das Forschungszentrum “ S: PAM (Studies in Performing Arts and Media) ” und die Arbeitsgruppe “ Dramaturgie ” der Gesellschaft für Theaterwissenschaft und die interuniversitäre Forschungsgruppe “ THALIA. Interplay of Theatre, Literature and Media in Performance ” . Ihre zweite Monografie Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance ist 2011 erschienen. Aktuelle Forschungsprojekte und -kooperationen zu den Themen “ Antigone in/ as Transition. On the Status of the Performing Arts in Europe (in its transnational Contexts) ” , “ Texttheatralität ” , “ Capturing Dance Movements, Intensities and Embodied Spaces ” und “ Elfriede Jelinek: Annotierte Bibliografie ” . Dr. des. Constanze Schellow ist Postdoc für Tanzwissenschaft des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Bern. Sie wurde 2014 als Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds mit einer Arbeit zum Diskurs der Negation, Negativität und Absenz in der aktuellen Tanzwissenschaft promoviert. Gast-Lehraufträge u. a. an der Universität Hildesheim, an der Freien Universität und dem Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin sowie an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Publikationen u. a.: 56 ways (not) to (2009); Heterotopien. Perspektiven der intermedialen Ästhetik (2013; Mitherausgeberin). (constanze.schellow@itw.unibe.ch) Dr. Thomas Spieckermann ist Chefdramaturg und Stellvertretender Intendant am Theater Konstanz. Für das Projekt Crossing Borders - from Lake to Lake der Theater Konstanz und Nanzikambe Arts in Malawi war er Künstlerischer Leiter und Autor. Er ist Initiator und Jurymitglied des gemeinsam ausgerichteten Autorenwettbewerbs der Theater Konstanz und St. Gallen und Mitglied der Programmkommission des Internationalen Bodenseefestivals. Wichtigste Publikationen: Theater in Afrika. Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit (2013); Das Alter und der Wahnsinn - Über die Konstruktion der Figuren König Lears und Peer Gynts in der dramatischen Literatur vor Sigmund Freud (2012); ‘ The world lacks and needs a belief! ’ - Untersuchungen zur metaphysischen Ästhetik der Theaterprojekte Edward Gordon Craigs (1998) (Thomas.Spieckermann@Konstanz.de) Dr. Berenika Szymanski-Düll promovierte in den Fächern Theaterwissenschaft und Geschichte Osteuropas an der LMU München. 2012 erschien ihre Dissertation unter dem Titel Theatraler Protest und der Weg Polens zu 1989. Zum Aushandeln von Öffentlichkeit im Jahrzehnt der Solidarno ść . Von 2011 - 2012 war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theaterwissenschaft der Universität Bayreuth tätig. Seit 2013 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien 240 Biographische Angaben der LMU München/ Universität Regensburg. Sie ist assoziiertes Mitglied des DFG-Forschungsprojektes “ Global Theatre Histories ” . Prof. Marion Tiedtke, in Köln geboren, studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte in Freiburg und Berlin. Ihre Theaterlaufbahn begann sie 1989 als Dramaturgieassistentin an der Schaubühne in Berlin. Danach folgten Engagements als Dramaturgin an das Berliner Schiller Theater, das Bremer Theater, das Bayerische Staatsschauspiel, das Wiener Burgtheater und die Münchner Kammerspiele. Ab 2001 unterrichtete sie außerdem Stückanalyse, Theatergeschichte und Produktionsdramaturgie, zunächst an der Universität München, dann an der Bayerischen Theaterakademie. Sie arbeitete im Schauspiel u. a. mit den Regisseuren Andreas Kriegenburg, Martin Kusej, Konstanze Lauterbach, Amélie Niermeyer, Luk Perceval, Thomas Ostermeier, Johan Simons und in der Oper mit Martin Kusej, Christof Loy und Andreas Kriegenburg. Seit März 2007 ist sie als Ausbildungsdirektorin und Professorin für Schauspiel an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main tätig, wo sie von 2011 bis 2014 als Dekanin auch den gesamten Fachbereich Darstellende Kunst leitete. Stefan Tigges (Dr. phil.). Er arbeitet zur Zeit im Rahmen eines DFG-Projektes über Theater als Raumkunst. Er vertrat zwischen 2008 - 2012 die Schaubühne Berlin als Wissenschaftler im europäischen Theaternetzwerk Prospero. Publikationen (u. a.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater (Hg.), 2008; Zwischenspiele, Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance (Hg. gemeinsam mit Katharina Pewny u. Evelyn Deutsch-Schreiner), 2010; Von der Weltseele zur Über-Marionette. Cechovs Traumtheater als avantgardistische Versuchsanordnung, 2010 sowie Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland nach 1945 (Hg. gemeinsam mit Artur Pelka), 2011. Gero Tögl ist seit 2010 Projektmitarbeiter, Lehrbeauftragter und Doktorand am Department Kunstwissenschaften/ Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). 2003 - 2009 studierte er Dramaturgie, Komparatistik und Kommunikationswissenschaft an der LMU und der Bayerischen Theaterakademie August Everding. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Global Theatre Histories, Geschichte der Bayreuther Festspiele, Theaterhistoriografie und Digital Humanities, Computer Game Studies und Medientheorie. Veröffentlichungen: 2012, “ This place is not much of a fucking holiday! ” . “ Simulation und Freiheit in Sandbox Games am Beispiel von Grand Theft Auto IV ” . In: Jörg von Brincken (Hg.): Emotional Gaming. Gefühlsdimensionen des Computerspielens. München, 2012, S. 153 - 169. 2011, “ Remediating Theatre: From Grand Theft Auto to The Ruby Town Oracle. ” In: Jörg von Brincken (Hg.): Fictions, Realities. New forms and interactions. München, 2011, S. 21 - 38. Dr. Melissa Trimingham BA Oxon, PGCE, PhD is a Senior Lecturer in Drama at the University of Kent. Her research and teaching interests are contemporary and scenographically led performance, puppetry and performance art, and applied theatre. As Co-Investigator on the AHRC project Imagining Autism: Drama, Performance and Intermediality as Interventions for Autistic Spectrum Conditions she is researching drama interventions with children on the autistic spectrum using puppetry, masks, costumes, sound, light and projection in immersive environments. She has published on the methodology of practice as research, the Bauhaus stage and the use of puppetry with autistic children. Her monograph on the Bauhaus was published in 2011. She is Director of Practice as Research in the University of Kent Research Centre for Cognition, Kinesthetics and Performance. She is co-author with Donatella Barbieri, Fellow in Costume at the V & A, of a forthcoming book on costume. Prof. Dr. Isa Wortelkamp ist Juniorprofessorin für Tanzwissenschaft am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Dort leitet sie das DFG-Forschungsprojekt Bilder von Bewegung - Tanzfotografie 1900 - 1920. Wichtigste Publikationen: Sehen mit dem Stift in der Hand - die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung. Freiburg im Breisgau, 2006; Bewegung Lesen. 241 Biographische Angaben Bewegung Schreiben. Berlin, 2012. Das Buch der Angewandten Theaterwissenschaft. Berlin, 2012 (Herausgabe gemeinsam mit Annemarie Matzke u. Christel Weiler). 242 Biographische Angaben
