Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2012
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BalmeForum Modernes Theater Zuschauer Regisseur Schauspieler Autor Schauspieler Autor Regisseur Zuschauer 2012 Band 27 FORUM MODERNES THEATER begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme (München) Schriftleitung: Berenika Szymanski-Düll (München) in Verbindung mit Günter Ahrends,Wolf-Dieter Ernst (Bayreuth), Ulrike Haß (Bochum), Doris Kolesch (Berlin), Petra Maria Meyer (Kiel), Martin Puchner (Cambridge, Mass.), Kati Röttger (Amsterdam), Jürgen Schläder (München), Gerald Siegmund (Gießen) und Matthias Warstat (Erlangen-Nürnberg) FORUM MODERNES THEATER erscheint zweimal jährlich mit einem Umfang von je 112 Seiten. Das Jahresabonnement kostet € 64,-, das Einzelheft € 42,-, das Doppelheft € 64,- (jeweils zzgl. Postgebühren).Vorzugspreis für private Leser € 58,- (zzgl. Postgebühren/ Lieferung und Rechnung an Privatadresse), sofern Sie dem Verlag schriftlich mitteilen, dass Sie die Zeitschrift ausschließlich für den persönlichen Gebrauch beziehen. Erfolgt keine Abbestellung bis zum 15. November, so verlängert sich das Abonnement automatisch um ein Jahr. Bibliotheken bieten wir zusätzlich ein kombiniertes Print- & Online-Abonnement an. Bitte kontaktieren Sie den Verlag. Publikationssprachen: Deutsch, Englisch Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Gewähr übernommen. Die Richtlinien für die Eingabe von Manuskripten können unter http: / / www.narr.de/ download/ stylesheetfmth.pdf abgerufen werden. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. www.forum-modernes-theater.de Anschrift der Schriftleitung: Dr. Berenika Szymanski-Düll Ludwig-Maximilians-Universität Institut für Theaterwissenschaft Georgenstraße 11 80799 München fmt@lrz.uni-muenchen.de Rezensionsexemplare bitte senden an: Prof. Dr.Wolf-Dieter Ernst Theaterwissenschaft GW1 Zimmer 2.18 Universitätsstr. 30 95447 Bayreuth W.Ernst@uni-bayreuth.de Anschrift des Verlags: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Inhalt Christopher Balme (München) Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Aufsätze Patrice Pavis (Paris) Empire of Signs: From Japan towards Korea? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Marvin Carlson (New York) Immersive Theatre and the Reception Process . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Katharina Pewny (Ghent) Hearing the Political, Sounding Death: The Human Microphone and Motus’s Alexis. Una tragedia greca (2010) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Nicole Haitzinger (Salzburg) Überschreitung der Formen und Zersetzung der Figur: Zur Funktion des Afrikanistischen in La Création du Monde (1923) und La Revue Nègre (1925) . . . . . 37 David Roesner (München) Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Thematische Beiträge: Subjekt und Subjektkonstitution Birgit Peter (Wien) Subjekt auf Probe. Einblicke in ein Theorie-Labor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Lorenz Aggermann (Gießen) Über das Wir zum Ich. Rückblick auf eine Praxis, Ausblick auf eine Theorie . . . . . . 69 Simona Travaglianti (Bern) Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber: Ein Versuch, den Zuschauer zu theoretisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Danijela Weber-Kapusta (München) Die Verwandlungen des Bühnensubjekts: Fallbeispiel René Pollesch . . . . . . . . . . . . . . . 88 Philipp Schulte (Gießen) Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils am Beispiel von ZOO von aktör&vänner und von Xavier Le Roys Product of Other Circumstances . . . . . . . 97 Rezensionen Swetlana Lukanitschewa. Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov. Die Entdeckung der Kultur als Performance. (Jan Lazardzig) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Ingrid Hentschel, Una H. Moehrke, Klaus Hoffmann (Hrsg.). Im Modus der Gabe / In the Mode of Giving. Theater, Kunst Performance in der Gegenwart / Theater, Art, Performance in the Present. (Katharina Keim) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Christina Schmidt. Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater. (Marielle Silhouette) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Jeanette R. Malkin/ Freddie Rokkem (Eds.). Jews and the Making of Modern German Theatre (Miriam Drewes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Daniele Daude, Oper als Aufführung - Neue Perspektiven auf Opernanalyse (Bernd Hobe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Sebastian Breu. Anatomie des Alltags. Postdramatischer Realismus bei Hirata Oriza und Okada Toshiki (Ken Hagiwara) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Bernd Stegemann. Kritik des Theaters (Kai van Eikels) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Rimini Protokoll. ABCD / Roland Schimmelpfennig. Ja und Nein/ Sí y No. Vorlesungen über Dramatik/ Conferencias sobre dramática. / Kathrin Röggla. Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen. (Josef Bairlein) . . . . 123 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Umschlagabbildung: Theater-Dreieck und Theater der Geraden nach Meyerhold, © David Roesner. Gedruckt mit der Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, im Magnettonverfahren oder ähnlichem Weg bleiben vorbehalten. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Jede im Bereich eines gewerblichen Unternehmens hergestellte oder benützte Kopie dient gewerblichen Zwecken gem. § 54 (2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft, Goethestraße 49, 80336 München, von der die einzelnen Zahlungsmodalitäten zu erfragen sind. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Druck und Bindung: CPI Buchbücher, Birkach Printed in Germany ISSN 0930-5874 Editorial Mit dem vorliegenden Doppelheft, Bd. 27 (2012) erscheint nach beinahe vierjähriger Verspätung wieder ein Heft des Forum Modernes Theater. Dass zwischen zwei Heften soviel Zeit verstrichen ist, kann man aus editorischer Sicht nur bedauern und Besserung geloben. Die Gründe für die Verzögerung sind vielfältig und lassen sich nicht an einem Punkt festmachen. Ein wichtiger Faktor war und bleibt die Akquise genügend hochwertiger Beiträge. Deutschsprachige theaterwissenschaftliche Forschung erscheint nach wie vor in Sammelbänden, die meistens ohne peer-review-Verfahren und damit ohne die inzwischen übliche Qualitätskontrolle veröffentlicht werden. Wichtiger jedoch als Ursachenforschung ist die Tatsache, dass mit diesem Heft die Arbeitsabläufe der Zeitschrift neu geordnet sind und ein regelmäßiges Erscheinen nun garantiert werden kann. Inzwischen hat Dr. Berenika Szymanski-Düll die Schriftleitung übernommen und damit sind alle Arbeitsschritte wieder am Institut für Theaterwissenschaft in München gebündelt. Weitere Hefte sind schon in Planung und die Finanzierung ist in absehbarer Zeit zumindest gesichert. Das Doppelheft gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Heft sind diverse Artikel versammelt, die zwar über einen längeren Zeitraum entstanden sind, aber dennoch an Aktualität nicht eingebüßt haben. In seinem Beitrag reflektiert der namhafte französische und international renommierte Theaterwissenschaftler Patrice Pavis über Roland Barthes Schrift L’Empire des signes. In den letzten Jahren hat sich Pavis regelmäßig in Korea aufgehalten und nimmt das Buch von Barthes als Ausgangspunkt für eigene Reflexionen über die Kultur Südkoreas, ein Land, das nicht nur Autos und elektronische Güter, sondern auch Kultur, vor allem populäre Kultur, in die ganze Welt exportiert. In seinem Beitrag befasst sich Marvin Carlson mit der nach wie vor aktuellen und durchaus kontroversen Theaterform des immersiven Theaters. Diese, vor allem mit der englischen Gruppe Punchdrunk in Verbindung stehende Theatergattung schafft neue Erlebnisräume und -formen der Intimität. Ausgehend von Jacques Rancières Überlegungen zur Ästhetik und Politik untersucht Katharina Pewny (Ghent) die akustische Liminalität chorischen Sprechens anhand der „Radioballets“ der in Hamburg ansässigen Performance-Gruppe LIGNA, der von der Occupy-Bewegung kollektiven Praxis des menschlichen Mikrofons, und einer Inszenierung der Antigone durch die italienische Gruppe Motus. In ihren Überlegungen zur Funktion des „Afrikanistischen“ in La Création du Monde (1923) und La Revue Nègre (1925) entdeckt Nicole Haitzinger (Salzburg) zwei Tanzwerke neu, die in einem Spannungsverhältnis zwischen dem großen Narrativ des europäischen Kolonialismus und der sogenannten „Negrophilie“ in den Künsten der Zwanzigerjahre stehen. David Roesner (München) untersucht musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen und schafft somit eine Brücke zwischen Sprech- und Musiktheater, die in der Theaterwissenschaft oft durch das Spartendenken getrennt sind. Heft 2 gibt Einblicke in das „Theorie- Labor“, das bereits 2010 für und mit DoktorandInnen ins Leben gerufen wurde. Die hier versammelten Beiträge, die von Birgit Peter (Wien) eingeführt werden, illustrieren die damaligen Überlegungen zum Subjektbegriff in der Theaterwissenschaft, die von der Mainzer Tagung der Gesellschaft für Theaterwissenschaft zum Thema „Subjekt- Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 5-6. Gunter Narr Verlag Tübingen konstitution“ angeregt wurde. Einerseits ist es ohne Zweifel bedauerlich, dass die NachwuchwissenschaftlerInnen solange auf eine Veröffentlichung ihrer Beiträge warten mussten, andererseits ist es erfreulich, dass sie inzwischen alle promoviert sind und damit diese liminale Phase erfolgreich passieren konnten. München, August 2016 Christopher B. Balme 6 Christopher Balme Empire of Signs: From Japan towards Korea? Patrice Pavis (Paris) Often, during my two-year stay in Korea (2011 - 2012), I asked myself what book might best help me understand this new environment. Roland Barthes’ cult book, Empire of Signs, often came to mind. The book is not about Korea, but rather the Japan of the late 1960 s. Nevertheless, despite all the obvious differences, it seemed useful for elucidating the preoccupations of my stay, whenever I wanted to ‘read’ the signs of a culture that was ‘new to me’. After all, how can you speak of a theatre, a civilisation, a society, or a foreign nation when you do not know the language, the customs, or the politics? And so I chose Empire of Signs as vade mecum, nevertheless conscious of the difficulties and misunderstandings that this choice would surely engender. The book, published in French in 1970, was written by Barthes in 1969, following three short trips to Japan in 1966 and 1967. I reread the book at the start of my stay, with a particular lecture at the university in mind, more than forty years after having discovered it when it came out, long before the semiological wave of the 1970 s. In the teaching work I undertook there, my reflections once back ‘home’, and when accounting for my time in Korea to friends, readers, and myself, I never stopped questioning the Barthes ‘method’. It is a method that precisely is not one, since the author is “in no way claiming to represent or to analyze reality itself ”(3), seeking only to “isolate somewhere in the world (faraway) a certain number of features (a term employed in linguistics), and out of these features deliberately form a system. It is this system which I shall call: Japan.” 1 (3). How did Barthes manage to describe a “system” as complex as “Japan”? And, more to the point, how, from contemporary Korea, can one “deliberately form a [comparable] system” (3)? As a last resort, I called upon the protection of Roland Barthes; I attempted to find his point or points of view. But was this still possible, or, rather, still reasonable? To which Barthes should I devote myself? Barthes’ Point of View He himself identified, in his Roland Barthes by Roland Barthes (1974), three steps to his approach: 1) A demystification phase (in Mythologies); 2) A moment of semiological science; 3) An approach to textual theory. Empire of Signs belongs to this third and final phase, the point at which Barthes abandoned his condemnation of ‘bourgeois’ ideology, and came to be suspicious of the pseudoscience of semiology, becoming definitively open to The Pleasure of the Text, 2 to writing “in place of life” as much in the place of life as in life’s place. 3 1966 - 1970 marked in the academic world a break with structuralism and the earliest form of semiology, something thinkers like Derrida, Lacan, and Barthes all noted at the famous 1966 ‘poststructuralist’ conference at Johns Hopkins University. It was nevertheless still as a semiologist, and not as an anthropologist, sociologist or philosopher of ideas and mentalities that Barthes became interested in the “Japantext”. 4 He does not turn himself over to a socio-economic analysis of Japan in the 1960 s. Scrutinising a few traits of the “Japan-System”, he still locates himself in a Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 7-15. Gunter Narr Verlag Tübingen semiology of objects and cultural practices; he remains in search of what seem to him to be indexes, traces of the Nippon culture. Unsurprisingly, his gaze is drawn to everyday objects and sensations linked to the body. Food and cooking, sex and sexuality, are all “incidents of the body”. But his point of view changes with each observed object. His point of view is, however, never that of a self-assured Westerner: ironic, and bloated with superiority, imagining himself to know the functioning of another culture simply because he is able to see from a universal perspective, or at least believes as much. The symbolic systems he extracts are always arbitrarily chosen; the Orient, he admits, is “indifferent” to him: if he appreciates Japan, he does not accord it an inferior or superior worth, and seeks neither its essence nor its secrets. His interest in Japan is more egotistical and individualist: the country, he points out in no uncertain terms, would not have revealed anything to him if he had tried to photograph it, to gather some trace; but it did help him to write: “The author has never, in any sense, photographed Japan. Rather, he has done the opposite: Japan has starred him with any number of ‘flashes’; or, better still, Japan has afforded him a situation of writing” (4). Retrospectively, we actually realise that this “situation of writing” is that upon which the Japanese “empire of signs” is founded. But this empire is also the influence (the empire, in French) that writing exercised on the author Barthes, already in this work and throughout the ten remaining years of his life. This is certainly not the first time that an ethnologist has claimed that a foreign country has revealed to him his inner world. Barthes gives us permission to engage our subjectivity and our creativity in the study of a “foreign” human reality. Unfortunately, I dare not do the same here, for numerous reasons, and not just through timidity or an understandable inferiority complex. On the one hand, I am hesitant to place myself too fully in a “situation of writing,” since I am still seeking a somewhat objective truth as regards the objects I intend to interpret, and I still feel a bit constrained by academic and editorial institutions to distinguish poetic and theoretical writing. On the other hand, I am no longer, like Barthes with Japan, trying to sketch a “Korea-object.” The metaphor of a system seems rather problematic to me; it would not allow me to address the Korean examples I have chosen for this book. Finally, and here I concur with Barthes, I am not seeking “the very fissure of the symbolic” (4), the fissure that “cannot appear on the level of cultural products: what is presented here does not appertain (or so it is hoped) to art, to Japanese urbanism, to Japanese cooking.” (4) Apart from the chapter on ‘falling’ as a metaphor for a fragile Korea, my Korean examples are always cultural products, specifically artistic ones. These are thus conscious artistic constructions, and not practices of everyday life: a theatre production, a painting, an opera, a photograph, an installation, a choreography. Nevertheless, and here I do sign up to the Barthesian project, I realise that I cannot approach artistic works without re-situating them in their sociocultural context, without getting heavily involved in Korean everyday life, or immersed in a Korean atmosphere that is still unknown to me. Deep down, like Barthes fifty years ago already, I feel caught up in a still-poststructuralist conception of our era. This conception has taken its distance from an overly functionalist semiology, centred on the objective description of its object; but, at the same time, it is still in search of a method and of a system (a text, in the semiological sense) that is more precise and technical than the new metaphors of performance and performativity. Indeed, moving from the semiology of the 1960 s towards the “situation of writing”, 8 Patrice Pavis Barthes anticipates the performance studies of the 1980 s. He abandons a system of objects or relevant characteristics of a semiological whole, leaning towards a place in the “situation of writing,” a dynamics of writing that is now called performative writing. His performance of writing is certainly eminently probing, but at the cost of abandoning any objective point of view on reality, as if, in Barthes’ Japan as in my Korea, “the sign does away with itself before any particular signified has had the time to ‘take’” (108). The “fissure of the symbolic,” which Barthes sought between signified and signifier to protect the object from reduction to a fixed meaning, enables him to “live in the interstice, delivered from any fulfilled meaning” (9). It is thanks to this fissure that “in Japan the body exists, acts, shows itself, gives itself, without hysteria, without narcissism, but according to a pure - though subtly discontinuous - erotic project” (10). This body is all the more erotic because the words that accompany it do not create a screen for the contemplation or the expectation of the observer. This fissure is not simply contradiction, the bad faith of Barthes’ objects of ideology in the 1950 s, driven out by the mythologies of everyday life; it is perhaps a hairline crack in the certainties of a culture, illuminated by Brechtian distantiation, still the hiatus between the signifier and the signified, between the pre-symbolic and the symbolic. Hence the dream: “to know a foreign (alien) language and yet not to understand it: to perceive the difference in it without that difference ever being recuperated by the superficial sociality of discourse, communication or vulgarity” (6). This attitude of the observer is uncomfortable. On the one hand, the Western essayist hopes to understand the world he is discovering; on the other, he knows only too well that such an understanding is more intuitive than objective, that it will seem debatable to some (the locals) and to others (foreigners). The will to remain in the interstice does not prevent awareness of deceiving everyone, including oneself. Such witnessing seems useful to me: an understanding from inside as much as a vision from outside. These points of view have in any case only moved closer together with the progress of globalization, specifically since the 1960 s. The confrontation and mixing of different points of view ends in perspectives being confused, rather than converging. Often my Korean colleagues would express interest in my perspective, as a Western scholar, on “their” theatre, their pansori, or their literature; but I often felt a certain reticence, an understandable one at that, to distance their cultural objects with the Hegelian telescope, dissect them with the Cartesian scalpel, or critique with Marxist or Brechtian jargon, without having some idea of their Buddhist philosophy, their Confucian education, and their rules of everyday life. Since I was working on artworks, and not on objects from everyday life like Barthes, I felt somewhat excused, and almost forgiven. The Objects Analysed by Barthes The strength of Barthes’ analysis precisely lies in not settling for interpreting artistic products from an aesthetic and subjective point of view, but instead analyzing everyday practices drawn from his own experience of wandering Japan. Food is at the top of the list for any tourist, even a leading semiologist! Because, “Japanese food also takes the least immediately visual quality, the quality most deeply engaged in the body. . .” (12). Rice, for the French semiologist (and we should not be surprised! ), is a textual, fragmentable object: “Cooked rice [. . .] can be defined only by a contradiction of substance; it is at once cohesive and detachable; its substantial destination is the fragment, the clump, the volatile conglomerate . . .” (12). Should these 9 Empire of Signs: From Japan towards Korea? reflections on the fragmentary character of rice be taken seriously? From a culinary or metaphysical perspective, perhaps; from a poetic perspective, probably, since one dreams of a poetry to describe objects, like that of Francis Ponge in his The Voice of Things. 5 But this poetic culinary vision always leads to very affirmative anthropological conclusions, to the umpteenth comparison of Occident and Orient: “Occidental food, heaped up, dignified, swollen to the majestic, linked to a certain operation of prestige, always tends toward the heavy, the grand, the abundant, the copious; the Oriental follows the converse movement, and tends toward the infinitesimal” (15). The opposition of the bulky and the delicate, a common site of the rivalry between the Occident and the Orient, endlessly repeats itself, as if it were a historical and eternal truth, throughout the book. Thus the knife and fork, Western aggressive, predatory (or even paternal) tools, are contrasted with chopsticks: “maternal, they tirelessly perform the gesture which creates the mouthful, leaving to our alimentary manners, armed with pikes and knives, that of predation” (18). Barthes' observations are not wrong, even when applied to Korea, whose food is nevertheless very different from that of Japan or China. If, as according to the German expression “der Mensch ist was er isst”, (‘you are what you eat’), homo koreanus is impregnated by the essence and the taste of kimchi: fermented and spiced cabbage, served with every single meal, like bread in France. Is kimchi the key to the Korean psyche? No doubt, but it would require the talent and imagination of Roland Barthes to know how to describe the texture and the configuration. A fan and practitioner of kimchi before the Lord, I can but confirm the virtue of kimchi as accompaniment and metatext in all its forms and all its meals. Its very spicy character, which is striking to any Westerner, prepares the Western eater to pass the entrance examination for Korean cooking. He must first of all accept that a spiced vegetable might take the place of bread and be allied with rice, the other must of any Korean meal, and be served as both a condiment and a main course (at least often in the past). Kimchi is a link, a universal shifter between people, classes, genders, and observances. For a western visitor, it also marks a required liminal passage towards a very ‘different’ gustatory structure, which ends either in enthusiastic acceptance or definitive rejection. Most of the objects that intrigue Barthes lead him to comparisons with Western practices, which are deemed rather masculine. For instance, coin-operated machines: our café pinball machine, Barthes assures us, “sustains a symbolism of penetration: the point is to possess, by a well-placed thrust, the pinup girl who, all lit up on the panel of the machine, allures and waits” (28). The Japanese pachinko is force-fed by the players: “from time to time the machine, filled to capacity, releases its diarrhea of marbles” (29). Barthes sees in this a confirmation of the opposition between a male and aggressive, imperialist and predatory Occident and a feminine, passive and conquered Orient. These simplifications actually capture practices and relations between genders illustrated in acting techniques. The opposition between activity and passivity is not merely sexual; it is transposed into the political dimension. It certainly corresponds to the historical reality of Western imperialism and its accompanying orientalism. But should we not today, fifty years after this visit to Japan, after the decolonisation of the whole world in the 1950 s, challenge such dichotomies bastardised into essentialist stereotypes? To re-evaluate Barthes’ sexologico-cultural position, a position very focused on the Japan and the bipolar world of the 1960 s, it is probably necessary to be attentive to another incidental remark concerning the difference of sexes and of sexuality: “in Japan - in that 10 Patrice Pavis country I am calling Japan - sexuality is in sex, not elsewhere; in the United States, it is the contrary; sex is everywhere, except in sexuality” (28 - 29). What does this tell us? Was this really the case then, and is it still today, in Japan or in Korea? In the United States, at that time, sex did indeed display itself everywhere, in all types of representation (advertising, the free press, the media). But sexuality, eroticism, and relations between the sexes were a great deal more timid, coloured even by prudishness or puritanism, and so sexual liberty seemed to have stopped at the couple’s door and assumed sexuality. Conversely, the Japanese society of that time did not represent sex so openly or publicly; the society was modest, even closing in on itself: it was necessary to search behind the masks a bit, for a less public, but thus a more concentrated, sexuality that did not need to exhibit itself openly or crudely (in the media or in everyday language, for example), or to be voluntarily limited in its individual or familial manifestations. Fifty years later, in Japan as in Korea, things have changed a great deal. And yet, Barthes’ comment remains relevant, if one continues to compare Japan or Korea with the USA or with the Americanised world. The media and the increasingly insidious forms of advertising and neoliberal ideology have certainly invaded Japanese or Korean culture, but the distinction between sex and sexuality and their usage in different contexts remains relevant and helps us reflect on the other - non-American or non-European - culture. What about sex in contemporary Korea? Big question! One must turn to the media and advertising: sex is highly present, but is not on display in any crude way. In public places, couples often will not even hold hands, and homosexual couples certainly do not. Dance and theatre shows and musicals, as well as the actors themselves, are dazzlingly beautiful, and certainly very sexy, but they are rarely vulgar or direct. The limits of the representation of sex seem to be rather clearly defined. The representation of sexual scenes is not controlled by any religion or ideology, but is implicitly regulated through a strict educational grounding that remains Confucian. In the mass media (advertising in public spaces and on television), in songs, K-pop, or musicals, sex is only suggested, and specially prepared for the gaze of middle-aged men. The woman in these arenas is very young - almost a Lolita - and there are few middleaged women to be seen. The media ideal, but also that of companies and large industries is a young woman who is beautiful but voiceless, childless, and with no future on the job market after the age of forty, ‘disposable’ once used, quickly ‘ejected’ from the company. A seductive appearance has become a categorical imperative, an obsession justifying all manner of plastic surgery, making Korea a haven for “surgery-tourism”. 6 Package, bouquet, box: in these seemingly trivial objects, Barthes perceives the trace of a writing of the void, which is also the key to politeness: “the Japanese bouquet has a volume; [. . .] you can move your body into the interstice of its branches, into the space of its stature, not in order to read it (to read its symbolism) but to follow the trajectory of the hand which has written it: a true writing, since it produces a volume and since, forbidding our reading to be the simple decoding of a message (however loftily symbolic), it permits this reading to repeat the course of the writing's labor.” (45) To appreciate the bouquet is to know how to read it, interpret it; “to follow the trajectory of the hand which has written it” (45). Thus, to write is to make a movement; to read is to repeat this movement, to retrace its steps. The body moves into the interstice between the branches: it positions them, and it creates the concrete experience of a journey through still-unformed material: the receiver of the bouquet, the reader, must repeat this journey and imagine her own. The bouquet/ the text 11 Empire of Signs: From Japan towards Korea? will effectively be travelled and rewritten by the user. For the bouquet as for the text, there are two kinds of reading: a passive reading for easily readable text; an active reading for writerly text, demanding that the reader perform an act just as creative as writing. The gift and the box that inevitably encloses it fascinate Barthes because of the emptiness they transport: “The gift is alone: / it is touched/ neither by generosity/ nor by gratitude,/ the soul does not contaminate it” (67). The Empire of Signs compares western impoliteness and Japanese politeness. Politeness is, in the West, “regarded with suspicion”, courtesy “pass[es] for a distance (if not an evasion, in fact) or a hypocrisy” (63). Whereas the other politeness, the Japanese kind (and we might add the Korean kind), “by the scrupulosity of its codes, the distinct graphism of its gestures, and even when it seems to us exaggeratedly respectful (i. e., to our eyes, 'humiliating') because we read it, in our manner, according to a metaphysics of the person - this politeness is a certain exercise of the void . . .” (65). Greeting takes forms and meanings that are very different according to the specific cultural region. It is not easy for a Westerner to understand that politeness, like writing or haïku, is an empty sign, “The Form is Empty, says - and repeats - a Buddhist aphorism” (68). Even more so, since the choice is not between a Japanese body that deeply bows and a Western body that refuses any bodily movement of submission. The choice, rather, is between different techniques of the body, between a deep inclination, repeated and rehearsed from earliest childhood, and a facial expression or a handshake, considered a sufficient symbolic movement and a neutral gesture. With this question of politeness, Barthes remains, half a century later, relevant, less as regards a philosophical difference between the West and the East, and more in terms of the difficulties of changing gestural habit, of transforming one technique of the body into another. In accordance with the theory of Mauss, there is actually nothing striking in the fact that a Westerner has trouble changing bodies when changing culture. Over the last five decades, the marked differences between different techniques of the body used in greetings have blurred, as a result of the process of homogenisation entailed by globalization. Interference has occurred between the two major systems of politeness. One can no longer contrast as mutually exclusive the empty formalism of Asia and the guilty conscience of America. Sometimes, faced with a Western interlocutor, the Korean simplifies or modifies the way of greeting. She extends her hand, to put you at ease. You respond offering your own, but with a bit of a delay and a certain reticence. She notices and “feels silly” for having wanted to play the Westerner instead of being herself. You thus realise that you have inadvertently caused her to make a faux-pas. If by chance you attempted a bowing of the head, or of the upper body, you too will find yourself in an awkward position. But this inversion of systems sometimes leads in the end to a moment of gestural relaxation and an ironic physical introduction to the other’s culture. This involuntary pas-de-deux is typical of the difficulties of intercultural communication. It is at the same time characteristic of the imbrication of cultures, of points of view, of subjectivities. It suggests that the great dichotomies, like those described by Barthes half a century ago, are on the verge of diminution, but not of extinction, despite global standardisation and the deployment of globish language, behaviour, and thought. In his observations on habits and customs, practices of everyday life, we see Barthes at his best. Applying his method to Korean contemporary life, we would most likely find details that would intrigue the Western visitor, beginning with the politeness and amia- 12 Patrice Pavis bility of the people we meet. I have chosen to reserve these observations for another kind of discourse, less everyday and more academic: discourse on performances. Beyond the objects and practices of everyday life, what counts are mentalities, the attitudes of people and specifically those of artists. In a world that is more and more globalized and mixed, I abandon the illusion of being able to distinguish the individual characters and the specific cultural characteristics. The challenge, for today’s observer, is perceiving differences despite the steamroller of globalization, not explaining Korean culture through European culture. Globalization erases differences; we lose any sense of specific local characteristics, as well as our criteria of distinction for profound differences or surface variations. What catches my attention, and confuses me, is thus not exotic scenery or practices of everyday life; it is mentalities, ideological presuppositions of social communication, the implicit principles that might be considered obvious and unquestionable for Koreans, but which stand out for me. These implicit principles are, for example, the way of working, of reading a text, of rehearsing, of obeying orders or authorities, and the resulting dramaturgical or aesthetic choices. I must note that it is difficult to separate cultural, political, aesthetic, and artistic factors. It is impossible to disentangle Korea, and to find myself: I am neither in this culture, nor completely outside it, but perhaps to the side, at its side. Was this not also Barthes’ position with Japan: facing the Empire while in its grip? More even than him, I lose myself, and I understand one thing at least: I can only speak of this country and its inhabitants from behind the mask of fiction. The Future of the Barthes Method The Empire of Signs remains in any case a major book that has opened the eyes of several generations of researchers, and has proposed a path for many: semiologists in search of a polymorphous object, theorists of the text and of writing, anthropologists of the everyday, analysts of cultural performances in their different incarnations. This model constitutes the book’s renewed modernity in semiology, ethnology, theories of text and culture, phenomenology, and ultimately in all the humanities disciplines benefitting from Barthes’ influence on their thought. We must nevertheless keep from mechanically transposing Barthes’ reflections on Japan, a Japan that is more textual and poetic than sociological and political. Are all these observations verifiable? Not readily, however subtle the discourse of the Barthes method. Should we ask the Japanese whether this hymn to their culture managed to capture their society and their soul? Not necessarily: they neither hold a monopoly on Japan nor do they enjoy the necessary distance from their culture. In any case, these Parisian subtleties are easily lost on anyone who has not carefully followed the author's journey around the Left Bank. Can we, then - returning to my initial question - apply the analysis of these Japanese signs to the South Korean peninsula? Nothing could be less certain! But you won't know until you try, and try while remaining critical of Barthes’ ‘imperial’ method and open to other possible approaches. Some of the claims in Barthes’ essay might trouble the reader if taken at face value, rather than as a poetic meditation on cultural difference. For example, the comparison between Asian and Caucasian eyelids: Barthes here sees a difference between the western eye and the Japanese face, a difference that is both physical (obviously) and metaphysical: The Western eye is subject to a whole mythology of the soul, central and secret, whose fire, sheltered in the orbital cavity, radiates toward 13 Empire of Signs: From Japan towards Korea? a fleshy, sensuous, passional exterior; but the Japanese face is without moral hierarchy; it is entirely alive, even vivid (contrary to the legend of Oriental hieratism), because its morphology cannot be read ‘in depth,’ i. e., according to the axis of an inwardness; its model is not sculptural but scriptural . . . (102). We clearly recognise the Barthesian notion of the soul as a profound instance that is exteriorised in a physical expression of the passions. On the other hand, we understand his vision of the Asian face as an impenetrable surface of writing that does not produce an interior and prior signified. But this polarised vision is hardly convincing, as we cannot really see the Japanese face as a pure exteriority, a writing without signifieds, a surface without psychic vibrations. This comparison might make us smile, or might anger an ethnologist, but only if we deny Barthes the poetic licence of a metaphor suggesting that expressiveness is more or less accepted depending on the culture. But is the form of the eyelids therefore a consequence of cultural and metaphysical differences, differences that translate into a different morphology of the face? We realise that supposedly objective observations of bodies and objects in the human environment are, in reality, merely the fantasy projections, poetic visions, or metaphysical conceptions of the author. Then why not, we might ask, simply call on poetry, instead using a pseudo-scientific discourse? Travel writers, like Victor Segalen, Blaise Cendrars, or Nicolas Bouvier also surrendered to a poetic account of their discoveries of distant peoples and cultures. Adopting the style of obsessional and ‘objective’ analysis, the poetry of Francis Ponge provides another possible model. Barthes keeps up the theoretical speculation: he never makes the leap; his writing does not present itself as poetry or the book as a novel. With the benefit of hindsight, however, we observe that after Empire of Signs, Barthes’ works - from Roland Barthes by Roland Barthes to A Lover’s Discourse and Camera Lucida - become autobiographical and/ or fictional. They achieve a fragile balance between elevated theoretical writing and an auto-fiction, a mixture of indirect personal confession and fictional inventiveness. It is as if Japan had placed him forever in a “situation of writing” (4), but of mixed writing, whose object became a photographic self-portrait taken by the unknown, “novelistic object” (3) that he had come to observe: Japan. As for me, having neither the audacity nor indeed the talent of Roland Barthes, I wondered how I might take him at his word and allow Korea to photograph me and, if also possible, to place me in a “situation of writing.” Each morning when walking to the University, I passed two mirrors situated at a curve in the street. I would first take a photograph of a cart and of two brightly coloured cones, arranged differently each time). Then, I would photograph myself and another slice of reality in one of the mirrors: a very tricky exercise, since the ideal angle was impossible to find. No passer-by seeing me taking photographs of parking cones and a mirror ever made any comment, nobody called the police, like they would in Germany, or the psychiatric hospital, as the would in France (I imagine). But, one day, a nun from the Buddhist temple opposite my place looked at me with a mixture of shock and pity, and murmured: “But why? ” Having thought that my daily act bore witness to the impermanence of the world, I was disarmed by her question. They say that we only see in the other (the other person or the other culture) that which we project of ourselves. I would test this adage on a daily basis, never managing to place in the same frame an original piece of the world, a fragment of my body, and my view of both. 14 Patrice Pavis Until, one day, after several months, when I discovered a little inscription chiselled into a corner of the mirror, a sentence in English, hard to read on the reflective material: “I flooded the world, to see the reflection of myself on its surface.” I never quite managed to photograph the sentence in its entirety, without truncating it. It was only when I abandoned the idea of including a part of my reflection in the mirror, of wanting to authenticate my discovery, that I managed to photograph the phrase without butchering it, and also managed to capture the reflection of a lady passing by, perhaps worried by my actions, but also a mute and kindly witness of this Korean world in which I was submerged, and which resisted my reading. From that point on, my attitude towards this faraway country, towards my research, and towards others started to change. I understood that there would be no point in flooding the world with my simplifications, with my theories, or with tears shed for the past. Translation: Joel Anderson Notes 1 Quotations by Barthes are from Empire of Signs, trans. Richard Howard, New York 1982. Passages in roman type are reflections on Empire of Signs; those in italics refer to my stay in Korea. 2 To borrow from the title of his 1973 book. 3 See the remarkable intellectual biography of Barthes by Marie Gil, Roland Barthes au lieu de la vie, Paris 2012. 4 A term - “texte-Japon” - that Maurice Pinguet takes up in his essay on Empire of Signs and his book, Le texte Japon, Paris 2009. 5 Francis Ponge, The Voice of Things, New York 1972. 6 Lili Barbery-Coulon, “La beauté fait son marché en Corée”, Le Magazine du Monde, 9 Novembre 2013, pp. 47 - 53. 15 Empire of Signs: From Japan towards Korea? Immersive Theatre and the Reception Process Marvin Carlson (New York) Immersive theatre, a performance style introduced by the company Punchdrunk first to London and subsequently to New York, has been one of the most popular new approaches to theatre staging in both cities in the new century. Although individual productions differ, immersive theatre in general encourages the audience to intermingle with the actors in a common space. This freedom of mobility has encouraged some theorists to hail this type of theatre as one that makes possible an actively engaged spectator, like that proposed by Rancière, but this essay argues that such emancipation is basically an illusion, and that the control of the dramatic world remains almost totally in the hands of the producing organization. Unquestionably the most remarkable success in the current New York experimental theatre scene is that of the British Company Punchdrunk and their production of Sleep No More, a very remote adaptation of Shakespeare’s Macbeth, filtered through the influence of Hitchcock’s films and contemporary spatial experimentation in staging practice. The production was originally scheduled to run for five weeks, from March 7 to April 16, 2011, but critical and popular response was so positive and so overwhelming that it was extended again and again. It was still, in the summer of 2012, running to sold-out houses. One had to book tickets at least two weeks in advance and bookings were then being taken into early September, with every indication that this date, a year and a half after the New York opening, would be extended yet again. This enormous success had a considerable impact on the New York experimental scene, with, as Sleep No More entered its second year, more than a few productions seeking to move in the direction it pioneered, or at least to take advantage in some way of its impact. The type of performance created by Punchdrunk has been given a number of labels, but as its reputation has spread, so has the usage of the term which the company itself uses to describe its work: “immersive theatre.” In Britain, where the company was organized in 2000, this was not a term heard in connection with performance until their arrival on the scene, although it was beginning to be used at about the same time in connection with the developing internet. 1 Critics at first characterized their work with the much more familiar term “site-specific,” a designation in fact applied to almost any performance taking place outside a traditional theatre space. Over the next decade, as the company’s reputation grew, so did the usage of the term, until at present “immersive” theatre has become the fashionable designation of almost any work that in some way involves the audience, thus covering almost as broad a range of activity as the term site-specific did at the end of the last century. Clearly the same dynamic is at work in New York. Sleep No More, earlier versions of which were presented by Punchdrunk in London in 2003 and at the American repertory Theatre in Boston in 2009, was in 2011 the first production of this company or of its particular style to be seen in New York, and the term “immersive theatre” was al- Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 17-25. Gunter Narr Verlag Tübingen most totally unknown except to those who followed the current British experimental scene. Thus the British Council, a sponsor of the company, posted an introductory blog on their work between their Boston and New York appearances, identifying them to American audiences as one of the most prominent UK companies exploring the contemporary practice of site-specific “immersive” to describe their work. As Sleep No More’s run was extended again and again, it became the most talked-about experimental theatre piece in New York, and the term “immersive” was seized upon by reviewers and theatre producers alike. By the beginning of the 2011 - 2012 season the term cleared appeared to be replacing the now somewhat dated “site-specific”. Already we can see “immersive” being employed, as “site-specific” has been in the past, by critics as a descriptive and by producers as a marketing tool, applied with very little consistency to a wide range of unconventional staging approaches. In fact, many of the socalled “immersive theatre” productions mounted in the wake of the success of Sleep No More had very little in common with that production or in a number of cases, with each other. I must take a moment then to briefly explain what Punchdrunk, with whom this term is most closely associated, means by it. The most distinctive feature of a Punchdrunk production is the unusual interplay of production, space, and audience. Each Punchdrunk production begins with a space, which in turn suggests to the company the sort of work they will develop there. The company has performed in derelict warehouses, shuttered factories, abandoned schools, even the garden of a 16 th century manor house. Their first production, the 2000 Cherry Orchard, was set in a former geological survey building in Exeter, England. “The most difficult space is one that’s been lived in recently,” says Barrett, who has served as both director and designer of the company. “Once it’s been empty for a while, ghosts and echoes start to infect it. You can almost feel the rot starting to set in, and that’s a much more creative starting point.” 2 In these found spaces, generally consisting of dozens of locations, the Punchdrunk company create complete environments - cluttered rooms, graveyards, open fields, forests, crypts, and so on, through which both the audience and the actors may wonder as their inclination takes them. Although most of the Punchdrunk productions have been based on familiar dramatic texts, these texts are so cut, fragmented, and dispersed that only “ghosts and echoes” of the original text remain. How much of the “text” a spectator experiences will clearly vary. After the spectators have passed the ticket barrier they usually come into a kind of neutral assembly room, a hotel bar in Sleep No More, given masks to wear, encouraged to circulate freely but individually and then set free to explore the building at their own pace and at their own whim. The first post-Punchdrunk “immersive theatre” experiments in New York began to appear as early as August of 2011, less than six months after the opening of Sleep No More, but when the Puchdrunk offering was clearly embarked on an extended and hugely successful New York career. The Amoralists, one of New York’s rising young experimental companies, mounted a two-play evening (with works by Adam Rapp and company co-founder Derek Ahonen) early that month called HotelMotel, which was characterized as “immersive theatre” by both the company and reviewers. It was set in a room of an actual commercial hotel in New York, the Gershwin, with an audience of 20 seated around the room’s bed. The first play emphasized the voyeuristic situation, with a couple and a sex therapist and the room representing itself. After an intermission the bedroom was transformed into an imagin- 18 Marvin Carlson ary hotel room in Boone, North Carolina, with characters presumably trapped there in a blizzard. The scripts were fairly typical of Amoralist work, but not the setting, the first Amoralist production outside a conventional theatre space. Significantly, the concept of an intimate production (even including male nudity, one of the “shocking” elements of HotelMotel) was not at all original. Richard Maxwell created his Showcase for an intimate audience in a bedroom of the New York Hilton in 2003, and that production has since toured to more than twenty cities around the world, where it has been usually described as “site-specific,” but never, to the best of my knowledge, as “immersive.” Another, related type of staging is what has been called “living-room” performance, where a small group of audience members gather to witness a monologue or larger production in an intimate domestic space. The most famous example of such work was the Living Room Theatre of Pavel Kohout in the1970 s in Prague, which performed plays like Macbeth clandestinely in living rooms to avoid the Soviet censors. Since the 1990 s this type of performance has become increasingly common in New York, most notably in the case of Wallace Shawn’s Fever (1990), originally written to be performed in apartment living rooms with audiences of ten or twelve. These smaller performances are immersive only in the sense that audiences and performers share a common space; the primary reception experience sought is not really immersion but intimacy. A more interesting and complex example of this claimed new style opened in New York just two weeks after HotelMotel. This was The Tenant, staged by Woodshed Collective. Unlike The Amoralists, Woodshed, beginning in 2002 with conventional proscenium-style performance, moved beginning in 2006 into what the company generally called “installation theatre” and reviewers “site-specific” theatre. Their Twelve Ophelias was performed in a vast abandoned WPA swimming pool in Williamsburg, Brooklyn, though despite this unusual venue, the audience remained conventionally seated and static. Then however the Collective turned to locations divided into multiple areas, with audiences free to move about and put together their own collage of experience. The 2009 adaptation of Melville’s The Confidence Man scattered acted scenes and YouTube videos throughout the spaces offered by four levels of a decommissioned US Coast Guard ship, through which audiences could wonder as their fancy took them. This and the 2001 The Tenant were close in conception to Sleep No More. The Tenant was a collection of scenes inspired by a 1964 novella and a Polanski film adaptation of it, presented in a landmark church building converted for this production into five stories of a rundown Paris apartment building, with audiences free to move about (unmasked) and try to piece out or construct a story. A year or two before, such a work would have doubtless been labeled site-specific, but the New York Times review clearly expressed the new framing by characterizing The Tenant as “the latest in a proliferating mini-genre of immersivespookhouse mood pieces.” 3 “Immersive” productions that demanded a mobile audience were certainly less conventional than those that placed seated audiences in unusual surroundings or untraditional configurations, but these also were not as revolutionary as many of their promoters or devotees have claimed. There is a long theatrical tradition of mobile audiences, going back in Europe at least to the medieval theatre and arguably further, and, outside of Europe, in such productions as the Hindu Ramilla, also dating back for centuries. The late twentieth century saw a new interest in freeing audiences much in 19 Immersive Theatre and the Reception Process the manner of Punchdrunk, though without the specific identifying label of “immersive.” In Britain one common term for such work has been “promenade theatre.” An early prominent international example of such work was John Krizanc’s Tamara, created in Toronto in 1981 and moved to Los Angeles in 1984 and New York in 1987. For each production, ten rooms of the palatial villa of the Italian author Gabriele d’Annunzio, were created in some elegant, pre-existing Victorian building, in New York the Park Avenue Armory. There was not a single line of action, but multiple scenes playing simultaneously, so, although audience members could not move totally freely, they could freely decide which of a number of these scenes they would watch or what character they would follow. As the New York Times review suggested, however, by the summer of 2011, there was a “proliferating mini-genre” of so-called “immersive” theatre in New York, a proliferation which continued to escalate. I use so-called advisedly however, because in fact almost all that these productions had in common was the term “immersive” and the utilization of unconventional audience arrangements. It is clear that all such productions shared a desire to provide a reception experience different from that ordinarily provided by the theatre, ideally one in which the audience member was not placed in the traditional position of passive spectator seated before a separate display, but was, at least in theory, totally immersed in that display, creating, presumably, a more holistic physical and emotional experience. In fact the reception dynamics have varied greatly within theatre experiences claimed to be “immersive.” Probably the most conventional of these experiences have been productions that simply removed the proscenium arch and placed the seated audience within the same space as the actors as in HotelMotel. The most intimate of these involved very small audiences, twenty or less, but others simply provided a common space, as we see in the Soho Rep adaptation in June of 2012 of Chekhov’s Uncle Vanya, which was advertised as an “immersive” production. 4 The performance itself was in fact a quite conventional one, with a conventionally passive audience. What justified, at least in the minds of the producers, the term “immersive” was the setting. Stage and auditorium were designed as one, a single room under an A-frame roof, with a carpeted floor for the actors surrounded on all four sides by carpeted levels with pillows instead of chairs, where the spectators sat. This, as most theatre-goers will recognize, is not far removed from what used to be called “arena theatre” or “theatre-in-the-round.” One might argue that the “theatricalization” of the entire shared space, audience and acting areas, moves such a production into another reception realm, but that also is hardly new. Ever since the 1960 s, this audience arrangement has normally been referred to not as “immersive” but as “environmental,” a term popularized by Richard Schechner, although he had been preceded in such work by Jerzy Grotowski, Peter Stein, and several early twentieth century Russian directors seeking a more intimate audience/ performance relationship. Indeed I would argue that “environmental” is a more accurate term for such an audience arrangement, since in fact audiences are no more actually “immersed” in the fictional world of the play than they would be at a perfectly traditional proscenium-arch presentation. The fact that many “immersive” productions, especially in Britain, have sought to make these environments especially personal, confining, or uncomfortable does not alter their basic dynamic, and if anything imposes even more on the audience’s freedom than sitting in a conventional auditorium seat. A Guardian reviewer fresh from an “immersive” staging of Kafka’s The Trial at 20 Marvin Carlson the Southwark Playhouse in 2009 complained: When the actors from The Trial blindfolded me and led me through into a disorientingly cold and inhospitable space, instead of feeling a frisson of “What now? ” I just thought. “Oh, not blindfolded again.” When the actors prodded and poked me in a manner presumably calculated to frighten and create some of the feelings of claustrophobia, hopelessness and confusion experienced by Kafka’s Josef K, I just felt irritated. . . The power relationship between the audience and the cast seemed to have tipped rather completely into the cast’s favor. 5 This question of the power dynamics of immersive theatre, rarely mentioned in writings on the subject, is I think a critical one, to which I will later return. An interesting experiment midway between conventional theatre on a proscenium stage and promenade/ immersive productions of Punchdrunk and others, which set the audience free to wonder more or less at will through multiple rooms in whole buildings, was the Roman Tragedies performance, created by the Flemish director Ivo van Hove for the Avignon Festival in the summer of 2008. This was a six-hour production (with no intermission) combining Shakespeare’s Coriolanus, Julius Caesar and Anthony and Cleopatra. It was revived the following year at the London Barbican and in November of 2012 at the Next Wave Festival at the Brooklyn Academy of Music in New York. The term “immersive theatre” was used as a description of the work in all three locations, but the “immersion” was very different from that of, for example, Sleep No More. Actors and audience shared a common space, within which the audience were expected to move about, but instead of joining the actors in a created non-theatrical space, a former church, hotel, or warehouse, the audience was brought actually onto the stage, into the conventional world of the performers. The setting, by van Hove’s long-time designer Jan Versweyveld, represented a large conference hall, with video screens, sofas, bars, and tables with computers. As one reviewer noted: “We both watch the play and we are in the play, invited on to the stage to loll on the sofas, check our email on the computers or buy a drink from the on-stage bar. We are the nameless citizens of Rome, we are implicated in the action.” 6 Strictly speaking, this is not a “promenade” production, even though the audience is free and indeed is expected to move about during the action, since actual alternate spaces are not part of the performance. Everything takes place on the large stage area. If a spectator leaves that area, to use the toilets or simply to take a break, they leave the world of the production. Of course they are free to focus on any part of the stage and to view a scene or a character from a different angle, but their “immersion” is much more like that of walking, unnoticed, onto the stage of a conventional production. No reviewer, I think, noted that this experiment was only a slightly more extreme version of Peter Hall’s 1984 staging of Coriolanus with Ian McKellen at the National Theatre, where audience members were invited on stage each evening to represent the Roman crowds. Later McKellen complained of their interference, remembering with particular irritation the evening when one woman, returning from getting a drink at the bar, asking him in the middle of a scene to autograph her program. 7 Clearly the van Hove production is much closer in many ways to the “immersive” Sleep No More than is the Soho Vanya, but the audience, though they have been “cast” as Roman citizens and have a certain freedom of movement and action within the performance space, in fact in terms of the overall performance have not much more real 21 Immersive Theatre and the Reception Process agency. A version of Shakespeare’s Coriolanus is being performed around then and although they have unusual control of how much of it they witness, should they actually attempt to participate they would be as unwelcome as McKellen’s autograph seeker. The Guardian review attempts to separate the viewer’s experience from that in the conventional theatre: “We can also view the drama from multiple perspectives, or indeed curate our own versions of the plays because of where we choose to look. When Coriolanus is banished from Rome, I viewed the entire scene by looking at his wife’s despairing face.” 8 Actually this process in fact happens all the time in much more conventional theatre, with each audience member “curating” their own version of the play, a dynamic at the center of modern reception theory, but allowing the audience actually to move about to gain different perspectives calls new attention to this general process. 9 Theatre professionals are well aware of this phenomenon, and must assume at any moment that someone in the audience has chosen to look at them, no matter how far from the center of the scene they are. This is the principle behind Stanislavsky’s spokesman Tortsov’s admonition to the extra playing a gondolier in Othello. That minor player is advised to develop a full character and detailed motivation to contribute fully to the experience of the spectator who chooses to look at him at any moment instead of Iago. 10 Mobility, however, is not the same thing as agency, a distinction often overlooked in the recent rhetoric surrounding the new freedom given to the spectator in immersive theatre. There is much talk among reception theorists today about the “emancipated spectator,” a term not, not entirely coincidently, developed in popular critical discourse about performance almost simultaneously with that of “immersive theatre. “The Emancipated Spectator” was the title of a highly influential article published by Jacques Rancière in Art Forum in 2007 and then subsequently heading a collection of five essays in a book which bore that title in 2009. 11 Although there are close ties between this work and the author’s previous The Future of the Image (2007) 12 concerning art’s inevitable interconnection with politics and the development of a more equitable society, the title, and to some extent the argument of The Emancipated Spectator looks back to Rancière’s 1991 The Ignorant Schoolmaster 13 , concerned with dismantling the authoritarian student/ teacher relationship. The Emancipated Spectator reverses the focus of the earlier work, using the metaphor of theatre instead of the classroom. In order for the theatre to achieve its real essence, says Rancière, the spectator must be liberated from his traditional role of mere passive observer, submitting to the authority of the performer. Drawing upon Brecht and Artaud, Rancière insists that on the one hand the spectator must abandon this role and “take on that of the scientist who observes phenomena and seeks their cause.” On the other hand, he must no longer remain “still and untouched in front of a distant spectacle,” but must be “drawn into the magical power of theatrical action.” 14 The first, more Brechtian proposal has to do with an attitude rather than a physical process, and in theory, as Brecht articulated it, could operate equally well in a conventional theatre space. The second, closer to Artaud, is also closer to the actual dynamics of immersive theatre, where audience members are necessarily to a greater or lesser extent “drawn into the magical power of theatrical action.” Artaud, and for that matter, Rancière, have however, a much more radical vision than anything generally seen in so-called immersive theatre, including the Punchdrunk productions. It is true that in Sleep No More audience members can 22 Marvin Carlson move with total freedom among the approximately one hundred rooms in the six floors of this former warehouse converted into a hotel. They can read the books in the library, eat sweets in the candy store, sleep in the hospital beds. But their freedom is limited in odd ways. They are required, as in all Punchdrunk productions, to wear white neutral Venetian-style masks, removing much of their individuality and marking them as spectators rather than actual actors. Moreover they are requested to move as individuals and never to speak, restrictions obviously not imposed on the actors. Despite the mobility of audience members, they share the actors’ space but they cannot really become equal participants in the theatrical action. By contrast, a much greater audience involvement has been sought in at least some of the experimental productions of certain continental groups, most notably by Signa, a Copenhagen-based company formed in 2001. Its work is similar in many respects to that of Punchdrunk, but it has not been characterized as “immersive” except by some British reviewers. Signa is not as well known in the Anglo-Saxon world as Punchdrunk, but much better known internationally, having mounted what it calls “performance installations” in Denmark, Sweden, Russia, Germany, Austria, Spain, and Argentina. Like Punchdrunk, Signa avoids both traditional theatres and conventional narrative structures, using found locations, often ones with multiple spaces, like abandoned public buildings or warehouses, whose interior spaces are made into environments in which actors and spectators mingle. Despite its very free adaptations of material, Punchdrunk has remained closer to the dramatic tradition, about half of its productions based on Shakespeare or other standard classic authors. None of Signa’s pieces has such a reference, though most draw upon elements of found social or cultural material. A number of the pieces are set in clinics or hospitals, with audience members treated as patients, often with mental problems. Both companies generally give spectators choices not only about the space of their experience but also time. Sleep No More, like most Punchdrunk productions, gives audiences total control of how they allot their time within the space, but comes to an end at an allotted time, in this case about three hours. Signa productions are generally much more open-ended, in some cases running continuously for a week or ten days, with audiences free to come and go as they like. It also has encouraged more flexible interaction between performers and spectators. Although Punchdrunk often features what are called “one-on-ones,” intimate interactions with individual spectators (always initiated by the actors), Signa has, in some productions at least, allowed spectators a much more active role in improvising scenes and actions on their own or in cooperation with the actors. The amount of freedom Signa allows varies widely from production to production. In The Dorine Chaikin Institute (2007) spectators were given almost no freedom. They were cast as mental patients who had lost their memory and spent several hours “recovering” the memory of a fictitious alter ego. In a number of productions, like The Ultra Wedding (Argentina, 2005), actor/ audience improvisations were based on directions given by spinning roulette-type wheels. The Ruby Town Oracle created in Cologne, Germany, in 2008 and revived later that year in Berlin, offered a complete village of 22 buildings, presumably a political enclave that required a passport and visa to enter, which ran continuously for a week, and encouraged free interaction with the more than 40 “inhabitants.” In other productions, beginning with the three Twin Lives plays which Signa started, audience members have been encouraged not only to 23 Immersive Theatre and the Reception Process interact actively with the performers, but to create characters and plot developments on their own, to which the performers adapt. In these latter productions we seem to be close to Rancière’s actively participating emancipated spectator. Yet, despite the radical phenomenological shift in the reception process, I would argue that this emancipation is still to a significant extent illusory. In each of these productions the imaginary world, its locale, its properties, its rules, and its back story remain the product of the creators. The spectators enter it as guests with their participation and knowledge always to a certain extent restricted. The closest model is not actual life, as it is for Rancière and Artaud, but rather virtual video games, in which one’s character is free to move and make choices, but only within the parameters set forth by the game. One may see this influence clearly in the website of Punchdrunk, based on an interactive digital game. The spectator is in a sense emancipated, but it is in fact what might be called virtual emancipation. The science fiction writer Philip K. Dick, who anticipated in his mid-twentieth century novels and short stories many of the concerns of the next century observed in 1978: Fake realities will create fake humans. Or fake humans will generate fake realities and then sell them to other humans, turning them, essentially, into forgeries of themselves. So we wind up with fake humans inventing fake realities and then peddling them to other fake humans. It is just a very large version of Disneyland. You can have the Pirate Ride or the Lincoln Simulacrum or Mr. Toad’s Wild Ride - you can have all of them, but none is true. A bit later in this essay Dick makes an ironic suggestion: In Disneyland there are fake birds worked by electric motors which emit caws and shrieks as you pass by them. Suppose some night all of us sneaked into the part with real birds and substituted them for the artificial ones. Imagine the horror the Disneyland officials would feel when then discovered the cruel hoax. Real birds! . . . The park being cunningly transmuted from the unreal to the real, by sinister forces. 15 In fact Punchdrunk, literally selling of fake realities, is clearly much closer to Dick’s Disneyland than it is to a device for emancipating the spectator. The spectator who would attempt to bring real birds into Sleep No More, were such a bizarre act to be permitted, would be scarcely less welcome, nor less accepted as part of this artificial and controlled world, than the lady who interrupted Ian McKellan to request his autograph. The rules of the game may have been adjusted, and the spectator may have changed from an observer to a player, but the game, and the rules, still remains some else’s. Notes 1 Immersion and the internet is a fascinating and related field, but one that takes us too far afield to be addressed here. Fortunately a recent book by Frank Rose, The Art of Immersion, New York 2011, provides an excellent introduction to this subject. Another important study relevant to the cultural shifts behind the interest in narrative immersion is Reality Hunger: A Manifesto by David Shields, New York 2010. Shields names as the characteristics a new artistic movement randomness, spontaneity, reader/ viewer participation and involvement and “a blurring (to the point of invisibility) of any distinction between fiction and nonfiction: the lure and blur of the real” (p. 5). Although Shields is not speaking of immersive theatre, all of these characteristics are central to its operations. 2 Quoted in Joan Anderson, “Mystery Theater”, in: The Boston Globe, Arts/ Theater, October 4, 2009. 3 Eric Grode, “Mystery is Set for a Free-Range Audience,” in: The New York Times, August 28, 2011. 24 Marvin Carlson 4 http: / / sohorep.org/ uncle-vanya [1. 7. 2012]. 5 Charlotte Higgins, “Immersive theatre - tired and hackneyed already? “, in: The Guardian, December 7, 2009. 6 Lyn Gardner, “Roman Tragedies”, in: The Guardian, November 20, 2009. 7 Ian McKellen, “Words from Ian McKellen”, www.mckellen.com/ stage/ coriolanus/ indx. html [1. 7. 2012]. 8 Gardner, 2009. 9 See my article, “Psychic Polyphony”, in: Journal of Dramatic Theory and Criticism, 1 (Fall 1986), pp. 35 - 47. 10 Constantin Stanislavsky, Creating a Role, trans. E. R. Hapgood, New York 1961, p. 8. 11 Jacques Rancière, “The Emancipated Spectator”, in: Art Forum (March 2007), pp. 271 - 280; Jacques Rancière, The Emancipated Spectator, trans. Gregory Elliott, London 2009. 12 Jacques Rancière, The Future of the Image, trans. Gregory Elliott, London/ New York 2007. 13 Jacques Rancière, The Ignorant Schoolmaster. Five Lessons in Intellectual Emanicaption, trans. Kristin Ross, Stanford 1991. 14 Rancière, 2007, p. 272. 15 Philip K. Dick, “How to Build a Universe, pt. 2”, (1978), http: / / yin.arts.uci.edu/ -studio/ readings/ dick/ index2.html [22. 8. 2012]. 25 Immersive Theatre and the Reception Process Hearing the Political, Sounding Death: The Human Microphone and Motus’s Alexis. Una tragedia greca (2010) Katharina Pewny (Ghent) This article examines the acoustic dimensions of forms of collective performance and action at the interface of art and the political. Following an introduction to the dramaturgic function of acoustics in contemporary theatre, Jacques Rancière’s concept of the aesthetic of the political is explored with reference to the radio ballets of the Hamburg-based performance group Ligna. The Occupy movement’s collective practice of the “human microphone” and the Antigone performance Alexis. Una tragedia greca by the Italian theatre group Motus (2010) are also discussed. The choral speaking and use of music here bridge the liminal space between the individual and the collective, between death and life, between political isolation and worldwide empathy. Acoustic Liminality in Contemporary Theatre New forms of musical theatre and of music in the performing arts came into being in the course of the twentieth century. The development of Richard Wagner’s Gesamtkunstwerk is one example; one might equally cite avant-garde experiments with music, sound and silence (as in the work of John Cage), or, collectively, the fraying of the arts declared by Theodor W. Adorno as early as the 1960 s 1 . One can no longer clearly distinguish from one another the various artistic genres and theatrical forms. This also applies to music-theatre and theatre of the spoken word (drama). Whereas dance has often eschewed music in the last two decades, and the breathing and the tapping of the dancers have produced the sounds, a musicalization of dramatic theatre in the German-speaking world by directors such as Christoph Marthaler and Einar Schleef was noted as early as 2003. 2 One decade later, in 2013, in the year of the two-hundred year anniversary of the births of Richard Wagner and Giuseppe Verdi, opera is experiencing an aesthetic renewal through productions by choreographers and theatre directors. Music, rhythms, apparent silence and thus the specifically acoustic aspect of theatre are particularly conspicuous in the contemporary performing arts. The Flemish choreographer Jan Fabre directs the performance of Stefan Hertmann’s text The Tragedy of a Friendship (Vlaamse Opera 2013), and the Italian director Romeo Castellucci, who already staged Richard Wagner’s Parsifal at the La Monnaie opera house in Brussels in 2011, directed a production of Christoph W. Gluck’s and Hector Berlioz’s opera Orphée et Eurydice, which opened in 2014 as a co-production by La Monnaie and the Wiener Festwochen (Vienna Festival). Live bands and live singing are to be heard from the stages of former “dramatic” theatre institutions, such as Lola Arias’s production of My Life After (2009). This features the production of “intrusive theatre noise” 3 in the sense of sounds that physically draw the audience into the production through their pace, the bass frequencies and entries set in a dramaturgically skilful manner. In Arias’s piece, the descendants of Argentina’s military dictatorship (and those of its victims) go on Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 26-36. Gunter Narr Verlag Tübingen stage with live music. In Friederike Heller’s Antigone (Schaubühne Berlin 2010), the Berlin-based band Kante plays live music and embodies the chorus and the protagonists by turns, based on classical tragic theatre, alternating between spoken and musical scenes. 4 2013 has seen the guest production of Peter Sellars’s staging of Toni Morrison’s Desdemona, an adaptation of William Shakespeare’s Othello, at the Holland Festival (2011, text: Toni Morrison, music and singing: Rokia Traoré). The protagonist Desdemona is transformed from a victim to a racist and classist perpetrator through the lament sung by her slave Barbary. Barbary, sung by Rokia Traoré, is flanked by a chorus of two singers, and the marginalised point of view of women of colour is expressed in their singing. In Matthias Hartmann’s direction of Elfriede Jelinek’s theatre text Schatten (Eurydike sagt) (Wiener Akademietheater 2013), Lucas Gregorowicz as a singing Orpheus strides down the steps into the underworld inhabited by seven Eurydice figures who like to enjoy the silence of the underworld and do not want to return to the living (music: Karsten Riedel and Lucas Gregorowicz). Music and acoustics are realised in complex and varied ways in contemporary theatre. 5 Motus works with body sounds when the performers run over the stage together with the audience in a mini demonstration (see below), and the high-pitched shrieking of the “girls” in Schatten (Eurydike sagt) transports traditional gender-based clichés. 6 These are two explicit acoustic levels of the theatrical production of meaning. A deeper level, a “composed theatre” 7 , can also be detected. This refers not only to the increased use of music, but also to processoriented dramaturgies that compose theatre productions according to musical and rhythmical principles. 8 I draw on the term “composed theatre” because it highlights the processual nature, the rhythmics, changes and continuities of intensity, and the atmospheric aspects of theatre productions. 9 Atmospheric disturbances and enablements effected in the aforementioned performances on the street and on the stage by choral speaking and the use of music constitute the focal point of the following discussion. More specifically, I am interested in the acoustic compositions of liminality through their transformative and connective potential. In some performances of composed theatre, music and acoustics have the function of transforming vitality into death, of connecting the world of the living with the realm of the dead, or of linking unjust conditions with political utopias. Music and acoustics lead, as it were, from one side of the world to its reverse. Music is employed by Christoph Marthaler, for example, to form the transition from life to death in Schutz vor der Zukunft. 10 The dramaturgic function of live music as the bridge between the realm of the living and the underworld can be seen in Hartmann/ Jelinek. Desdemona and Barbary, both of whom are located in the realm of the dead, sing and speak their dialogue: Barbary’s singing (and that of her chorus) connects both with the world of the marginalised slaves who are/ have become silent. In Peter Sellars’s Children of Heracles (2002), shamanic singing and music production connects the earthly with the transcendental and with the hope of a better world for migrant youths. 11 In Motus’s Alexis. Una tragecia greca (2010), too, music forms the bridge between the living and the dead. It is therefore my theory that music and acoustics have the dramaturgic function of enabling transformations and connections. This applies to the transformation from life to death, the connection of the individual and the collective, and political change - in summary: the bridging of liminality. 27 Hearing the Political, Sounding Death Hearing the Political with Rancière In October 2012 the biannual congress of the Gesellschaft für Theaterwissenschaft (Society for Theatre Studies) took place at the Universität Bayreuth on the subject of “Sound and Performance”. Several of the papers given here were on the subject of revolutions and political revolts, because they are characterised by a rich repertoire of acoustic signals. This includes the singing from prison windows of Solidarnosc members in Poland in 1981, 12 and the singing of the resistance fighter, the “woman who sings” in the face of death/ of executions, which the Canadian-Lebanese dramatist Wajdi Mouawad processed in his theatre text Incendies about the civil war in Lebanon. 13 In 2001, the German director Christoph Schlingensief produced “theatre noise” as clamorous argument and loud folk music, and caused considerable confusion about whether the container action Bitte liebt Österreich. Erste österreichische Koalitionswoche (Please Love Austria. First Austrian Coalition Week; 2000) was actually art or politics. In the face of the protests of tourists, the Wiener Festwochen even found it necessary to distribute leaflets that said “This is art”. The movement instructions for the participants of the “radio ballet” of the Hamburg-based Ligna group, issued through headphones, are inaudible to bystanders: The LIGNA group has existed since 1997 and consists of the media and performance artists Ole Frahm, Michael Hüners and Torsten Michaelsen. They work for the Freies Sender Kombinat (FSK), a non-commercial Hamburg-based radio station, amongst others. . . . One of the models developed . . . by LIGNA . . . is the Radioballett of 2002: Through their headphones, radio listeners receive a choreography of forbidden and excluded gestures in what was previously a public and is now a privatised place, and in this way bypass its control mechanisms. The forbidden takes place everywhere and simultaneously. 14 In Ligna’s radio ballets, artistic performance merges with political demonstration. The radio ballets function primarily through individualised, simultaneous listening, and no longer through the production of a ruckus in public spaces. They are “composed dance” in the sense of “composed theatre” (see above) because their dramaturgies are based on the acoustic instructions and on the tension between hearing (the performers) and not hearing (the audience). Ligna, in contrast, does not primarily stage the disruption of the frameworks of art and politics. 15 Instead, and this is a dimension of the aesthetic of the political, the radio ballets perform a “new distribution” of “space and time” 16 . They re-organise public/ private space by “enabling [. . .] bodies” to do what is generally not done there, such as, for example, lying down on the floor of Hamburg’s main station as part of a collective choreography, or knocking simultaneously on the shop windows of the shops on Vienna’s Kärntnerstraße. This corresponds to Jacques Rancière’s understanding of the “politics of aesthetics”, which will accompany this discussion: This means that an aesthetic politics always defines itself by a certain recasting of the distribution of the sensible, a reconfiguration of the given perceptual forms. [. . .] As a matter of fact, political art cannot work in the simple form of a meaningful spectacle that would lead to an ‘awareness’ of the state of the world. Suitable political art would ensue, at one and the same time, the production of a double effect: the readability of a political signification and a sensible or perceptual shock caused, conversely, by the uncanny, by that which resists signification. 17 In his afterword to Rancière’s essay, Slavoj Zizek names flash mobs as an example of this 28 Katharina Pewny (Ghent) “distribution of the sensible”. Like radio ballets, they constitute a concerted and concentrated “swarming” 18 of people in urban spaces. 19 Dance as concerted movement practice has moved out of the art institutions, and the aesthetics of the avant-gardes and of diverse political movements have entered the strong holds of dramatic theatre. The fourth wall, which separates the stage from the auditorium, disappears in many of these performances. The aforementioned formal changes to the aesthetics often grow out of an uneasiness with the status quo. The acoustic dimensions of performances of “dissensus”, on the other hand, can be grasped with Jacques Rancière’s writings. Politics and aesthetics are, according to Rancière, inextricably linked because both organise sense in both senses of the word: the intelligible and perception. For the author, dissent does not consist primarily of a difference of opinion regarding content, but of differing alignments of the perceptible: Let us call it the efficacy of the dissensus, which is not a designation of conflict as such, but is a specific type thereof, a conflict between sense and sense. Dissensus is a conflict between a sensory perception and a way of making sense of it, between several sensory regimes or bodies. 20 In the case of Ligna, the dissent regarding municipal local politics, for example, consists of uneasiness about the shrinking of public spaces in favour of the increasing privatisation that affects (not only European) metropolises. Ligna’s disruption of conventional patterns of perception is characterised by the fact that the collective movements of the performers cannot be deciphered by their audiences because the bystanders cannot hear the instructions and because they are confronted with invisible theatre. For this, Ligna borrows the choreography of dancerly movements from the performative genre of dance. The radio ballets are exemplary of stage art entering urban spaces, where it gives rise to novel forms of performance that cannot be separated from political demonstrations and invisible theatre. Other examples include works by the British group Blast Theory and Ant Hampton’s staged meetings of audiences on park benches and in coffee houses. This is summed up by Charlotte Gruber as following: In addition to a tendency among theatre makers to seek out proximity to social space, and thus a stronger connection to reality, there exists in the reality of those who do not make theatre an increased tendency to inscribe (social) spaces with theatrical media and in this way to ‘re-socialise’ them. This is a tendency that can be observed in urban spaces in particular. What becomes clear here, and must not be disregarded, is that the boundaries between performance, marketing, activism, protest, politics, play, art, celebration and leisure appear to be becoming increasingly blurred. 21 The Production of Sense through Fragmentation and Multiplication in the Practice of the “Human Microphone” In 1999 a counter-demonstration to the World Economic Forum took place in Seattle with the slogan “Building on Diversity”, which is considered to mark the beginning of the anti-globalisation movement. This comprises countless humorous demonstration forms that make use of theatre techniques, including frequent use of the mask. The Clown Armies are groups of clowns whose members, made up as clowns and sometimes masked, mimetically and ironically repeat the movements of police officers and soldiers. They employ mimesis instead of resistance. The so-called Guy Fawkes 29 Hearing the Political, Sounding Death mask, too, is worn at gatherings of and demonstrations by critics of globalisation. It makes reference to the would-be assassin Guy Fawkes, who planned the assassination of a British monarch using explosives in 1605. Forbidden by the police to cover their faces, the demonstrators respond with the humorous use of the theatrical techniques of make-up and masks. The human microphone, too, resulted from a ban imposed by the state: in this case, the police ban on megaphones and amplifiers in New York. This operates not on the visual, but on the acoustic, level, however. The human microphone is the amplification of the utterances of a person through the repetition of what has been said by those who stand or sit around them. It was developed in September to November 2011 in New York during the occupation of Zuccotti Park near Wall Street. Whoever wants to speak first tests the amplification of the speech by those standing in the vicinity by performing a “mic check”: those who are within earshot respond by repeating what is said. The speech is made in short sentences or sentence parts, and on large squares the utterances are repeated between two and five times, spreading in a wave-like fashion. Although the human microphone was initially conceived as a medium for democratic dialogue, it increasingly developed into a technique for the amplification of speeches by individual/ famous speakers, 22 including, for example, the amplification of speeches by Slavoj Zizek, Michael Moore and Judith Butler. The choral repetition of the speech of an individual is reminiscent of Greek tragedy. In the latter, the protagonists’ utterances alternate with those of the chorus, which represents the conscience and/ or the citizens of the city, and thereby provides a commentary on the events that take place. 23 In the case of the human microphone, the mass, the chorus, as an acoustic prosthesis amplifies the speech of the individual. This constitutes one re-alignment of the sensual carried out by the acoustic dramaturgy of the human microphone: the dialogue between the chorus and the protagonists with which we are familiar from Greek tragedy does not take place. The tragic aesthetic convention is changed because the chorus/ the many repeat(s) the speech of the individual and do(es) not contradict it, do(es) not urge it towards the common good. According to Kretzschmar, a theatricality of the human microphone has developed over the course of the last two years, which has become more focused on Youtube users and tourists than on the people present. 24 One symptom of the theatricalization is the performance of famous individuals, such as Slavoj Zizek, Michael Moore and Judith Butler, as speakers whose sentences are amplified by the human microphone. Kretzschmar criticises the theatricalization of the human microphone because it creates a stage for famous people instead of enabling the transformation of the “clamour of the many” into the “speech of individuals” 25 . The chorus here does not give expression - as is common in tragedy - to the voices of the marginalised, 26 but acts mimetically with respect to the speech of individuals (stars). I propose that the human microphone, even in its commercialised development, is to be understood as neither the straightforward adaptation of a movement to stardom, nor as straightforward resistance. In contrast, the interest lies in the ambivalence of the slavish repetition of the speeches of stars and the alternating (acoustic) support precisely as posited by Rancière because it cannot be unambiguously interpreted. The performances of icons of critical consciousness such as Butler, Zizek and Moore can therefore be described as a fissure in the alignment of the senses, of the intelligible and the audible, and thus as politics of aesthetics as posited by Rancière. The fissure is constituted by the confusion that 30 Katharina Pewny (Ghent) results when “stardom” is performed/ when the voice of the unknown masses does not become speech, but instead in its anonymous/ choral repetition serves the amplification of the speech of the star. When the stars raise their voices to speak, it is not as democratically elected representatives of the many, and what is performed is in fact the interruption of democracy. Mutual support 27 is performed: the stars support the movement, and the members of the movement lend the stars their voices. Together, they create a forum of the political that brings forth a very specific acoustic. Regardless of whether those who are speaking are political icons or unknown activists, the human microphone is a good example of the doubling of sense as that which is both intelligible and perceptible because the spoken sentences must de facto be interrupted or radically shortened so that they can be repeated, and in this way be heard: “Dissensus is a conflict between a sensory perception and a way of making sense of it, between several sensory regimes or bodies.” 28 The sensory perception of the spoken word simultaneously becomes more tiring because fragmented, shortened sentences are repeated by many voices, while intellectual comprehension is made possible only through the fragmentation and repetition. The human microphone is thus an example of the redistribution of recognition and of the enabling of new bodily practices as the re-appropriation of spaces that were once public. “The speech of the individual” is supported by the “noise of the many” 29 , and the noise of the many gains acoustic contours through the speech of the individual. The “re-distribution of the sensible” here consists of the disruption of the dichotomy between the “speech of the individual” - in other words the appearance of the political subject - and the “noise” of the anonymous masses. Motus’s Alexis. Una tragedia greca (2010) Motus (based in Rimini, founded in 1991) performs its research into the place and circumstances of the death of Alexandros- Andreas Grigoropoulos, who was shot by the police on 6 th of December in 2008 in the Exarchia district of Athens, under the title of Motus’s Alexis. Una tragedia greca. The group Motus was founded in 1991 by Enrico Casagrande and Daniela Francesconi Nicolò. The Syrma Antigónes series, which began in 2009, is one of their countless theatre productions, which are often also accompanied by workshops and theoretical reflections. An interest in violent conflicts between the generations provided the thematic framework for this. Alexis. Una tragedia greca (2010) is the third, and last, part of the Antigone trilogy. The performance is part of the Antigone series Syrma, which Motus has been carrying out since 2008, and it has been performed at the Theater der Welt Festival in Halle, amongst other places. Alexis. Una tragedia greca is a living, flexible memorial to Alexandros, who is positioned alongside Carlos Guliani, who was shot by the police on 20. 07. 2001 in Genoa at a demonstration against the G8 summit. The performance consists of the alternation of staged conversations with residents of Athens about the events that took place in the Exarchia district of Athens; of text segments from Bertolt Brecht’s Antigone; of projected film scenes of Exarchia including shots of graffiti featuring the symbol for anarchy (the circled letter A), a memorial stone to Alexis; and of shots of a southern-looking summer landscape and the repeated depiction of Alexis’s death. 30 This takes place in the manner of intermedial post-documentary theatre, which has been performed repeatedly on a variety of stages over the course of the past decade, as 31 Hearing the Political, Sounding Death with Rimini Protokoll and René Pollesch, to name two examples. Images are projected onto the walls, which simultaneously show texts and other visual elements and thus bring the reality beyond the theatre onto the stage. The perspective of the protagonist, performed by the award-winning actress Silvia Calderoni, links the different elements of the performance: The show is Motus’s journey with Silvia, through Silvia’s eyes, among the stones of ancient Hellas, which transforms into immersion in the clashes of modern Greece amid the devastating economic crisis, the anarchists in the Exarchia quarter of Athens, revolts, graffiti, murals and violent repression. ‘Antigone exists’ could be a slogan on one of those huge buildings. 31 The acoustic dramaturgy of the performance is in this case shaped mainly by the contrast between acceleration and deceleration 32 and the use of music; the pace of the performance becomes slower and slower following a fast-paced beginning. At the beginning, Calderoni carries out rapid breathing exercises and squats to punk music. The speed of the physical exercises increases along with the pace of the music, and breathlessness is suggested. The entire post-documentary performance is characterised by a cold aesthetic of video footage, silhouettes in hoodies getting ready to throw paving stones; by visual signs of anarchy; by the contrasting colours of black and red; and by punk music. “Theatre noise” is produced, entering the bodies of the audience members and making it more difficult for them to distance themselves 33 . In addition, the theatre noise communicates meaning, in this case the entire aesthetic of the 1980 s, meaning: “We are spoiling for a riot”. Calderoni does breathing exercises, in this way announcing meta-theatre in sense of the exhibition of theatre as the product of acting technique at the very beginning of the performance. The processual nature is emphasised by making the production process a significant element of the representation, so that Alexis. Una tragedia greca is part of the international body of composed theatre. The pace of the performance slows down in the middle of the performance. The light is focused on the stage, which is otherwise steeped in mostly dark/ orange lighting, and more specifically on the body of the actor who plays the part of Polynices. After a monologue in which he refers to Sophocles’s and Brecht’s Antigone, he throws himself backwards onto the ground, letting his head drop back against the nape of his neck, and stretches out his arms, performing Polynices’s corpse. Calderoni then demonstrates the theatrical production of the grief of the sister/ Antigone for her dead brother. She tells of the rehearsals for the first production of Antigone, in which she sought an emotional connection with her dead brother/ Polynices. Her body doubles over, she rests her arms on the ground and cries. Calm piano music is to be heard simultaneously, and Calderoni demonstrates how she makes her body stiff by tensing her muscles in order to be able to cry more easily later. She explains that she places the microphone between her chest and that of Polynices to create an echo cavity that amplifies her weeping. The demonstration of the production of grief using particular acting styles has an alienating effect, of course. The sobbing, her voice and the piano music create the acoustic space to which Judith Butler, too, refers, when she says that the vulnerability of the other is communicated acoustically rather than optically. The resonant cavity of the two bodies also corresponds to the emotional resonance that is to be aroused, in Aristotle’s Poetics it is éleos: pity. The perception of vulnerability and death here functions primarily through acoustics. An auditory space of pain and of grief is staged, 32 Katharina Pewny (Ghent) which Butler discusses in her critique of media reports from warzones: [. . .] since at the end of the line, it seems, it is precisely the wordless vocalization of suffering that marks the limits of linguistic translation here. The face, if we are to put words to its meaning, will be that for which no words really work; the face seems to be a kind of sound, the sound of language evacuating its sense, the sonorous substratum of vocalization that precedes and limits the delivery of any semantic sense. 34 Emmanuel Lévinas’s concept of face is here inextricably linked with a pain that extends beyond verbal language: One would need to hear the face as it speaks in something other than language to know the precariousness of life that is at stake. But what media will let us know and feel that frailty, know and feel at the limits of representation as it is currently cultivated and maintained? 35 Performances like Motus’s Alexis. Una tragedia greca create traces of death, human vulnerability and grief through the use of various theatrical forms. The acting technique employed makes reference to bourgeois illusory theatre; its display constitutes an alienating effect in line with that of Bertolt Brecht. The performative citation of two canonical theatre styles is unusual in intermedial, post-dramatic theatre because it simultaneously presents authentic grief and demonstrates its production. It enables the doubling of the sense in the sense of the dissensus: Calderoni demonstrates how she artificially produces her grief, whose authenticity is proven by the tears. Because the story is based on Antigone, the grief is intended to appear authentic: the illusion is intended to be successful as the tragic plot is based on the love of a sister for her consanguineous brother. The grief that Calderoni demonstrates with the help of piano music can, simultaneously, never be real in the sense of the Antigone myth because the character of Silvia Calderoni/ Antigone was not personally acquainted with the dead Alexis/ Polynices. The duplication by opposing theatre techniques supports the reversal of the canonical tragic plot carried out by Motus. Motus twists the siblings’ blood ties into the political utopia of the kinship/ brotherhood and sisterhood with the stranger. At first glance it appears to be a dramaturgic misconception to compare the consanguinity of Antigone and Polynices to the political solidarity and empathy of an Italian sympathiser. Critics such as Charles Linsmayer in “Nachtkritik” accuse Motus of superficiality. 36 Upon closer examination, this transfer is a revolt in the sense of turning something around because the concept of consanguinity (in Antigone) is turned into that of political solidarity. The performance makes sense precisely because this periphrasis of the myth takes place: “Goodbye; comrade also means goodbye, brother, for comrade also means brother.” 37 Motus thus continues to write Antigone’s “claim”, as formulated by Judith Butler: What will come of the inheritance of Oedipus when the rules that Oedipus blindly defies and institutes no longer carry the stability accorded to them by Lévi-Strauss and structural psychoanalysis? [. . .] Antigone is for whom symbolic positions have become incoherent, confounding as she does brother and father [. . .]. In some ways Antigone figures the limits of intelligibility exposed at the limits of kinship. [. . .] Antigone represents not kinship in its ideal form but its deformation and displacement [. . .]. 38 At the end of the performance the performers bring the audience onto the stage. Like the activation of the audience by the theatre group andcompany & Co. in Der kommende Aufstand (2012), this gives the impression of a didactic reference to political correctness. 33 Hearing the Political, Sounding Death The audience became the chorus in Claudia Bosse’s production of Aeschylus’s The Persians (with Vienna’s theatercombinat, 2006) at the very latest, and Ligna, too, performed Oedipus in 2013. The act of activating and turning the audience into the chorus no longer necessarily corresponds to the politics of aesthetics that I am currently applying with Rancière because it can also be a symptom of the society of the spectacle and an affirmation of the omnipresent imperative of performance. The performance on the stage of a small demonstration, together with the audience, is therefore not the political element of Motus’s performance; it is the continuation of the Antigone myth, which re-aligns the sensory because it is a continuation of “Antigone’s claim”. If there is a re-alignment of the sensory in Alexis. Una tragedia greca, then this is because it is more loyal to brotherly and sisterly love in its Antigoneesque re-definition than the paving stones, motorbike helmets, punk music and the use of the colours red and black might suggest. The employment of the messenger’s speech - one could also read the performance as a messenger’s speech in the sense of a visual documentation of (Athenian) reality - and the evocation of éleos/ pity is part of the classical theatre repertoire. The messenger’s speech and the tragic pity, Brecht’s alienating effects, post-documentary intermediality, acting technique and theatre noise are sampled and not assembled to form a whole by Motus. The acoustic dramaturgy of the revolution in both the human microphone and in Motus’s Alexis. Una tragedia greca does not consist of “spoiling for a riot”. Instead, contemporary performances of dissensus on the street and on the stage are characterised by acoustic dramaturgies of incoherence, of non-accordance, of the non-identity of “sense” and “sense”, of intelligibility and perception, of kinship, belonging and political support. Visual elements such as colours, projections and the stage are of course also central, and yet in this context they are less interesting because they communicate unambiguous, undisrupted signs. The acoustics - the fragmented choral speaking on the one hand, and on the other hand the piano music and sobbing, which stand in contrast to the punk music of the beginning of the performance - build bridges from unjust conditions to mutual political support of individual icons and the many, from art and political movements, and to worldwide empathy/ solidarity, both in the antiglobalisation movement. Both performances, on the street and on the stage, ask explosive questions about human rights 39 , about physical inviolability despite the free expression of one’s opinion, about the right to a dignified burial ritual, and finally about spaces in which democracy can unfold. The employment of theatre aesthetics from Greek tragedy to this end is consistent because, as the director Peter Sellars succinctly put it, it was an acoustic theatre, in which political marginalisation could perhaps be counteracted for a few moments: One of the most powerful images of Greek theatre is this giant ear carved into the side of a mountain - a listening space. The power of Greek theatre is acoustic. It was about creating architecture in which a single voice reaches the top of the mountain. The Greek masks took the voice and projected it further. And the idea is that you make a structure that has a seat for every citizen. . . . So the idea that you’re actually creating this special sound space, listening space, for the voices that are not heard in the senate, for exactly the voices that have been ignored in the corridors of power, as s society you say, wait a minute, unless there is a place we are really hearing them, we don’t have a democracy. We have to take special effort to make sure that these 34 Katharina Pewny (Ghent) voices are heard and included and recognized. 40 Notes 1 Theodor W. Adorno, “Art and the Arts” [1967], in: Rolf Tiedemann (Ed.), Can One Live after Auschwitz? A Philosophical Reader, Stanford 2003, p. 368. 2 David Roesner, Theater als Musik: Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen 2003. 3 Katharina Rost, “Intrusive Noises. The Performative Power of Theatre Sounds”, in: Lynne Kendrick, David Roesner (Eds.), Theatre Noise. The Sound of Performance, Cambridge 2011, pp. 44 - 57. 4 Charlotte Gruber, Katharina Pewny, “Tod/ Narration - Sprechakt und Dekonstruktion: Vom Abtreten als Verharren“, in: Franziska Bergmann, Lily Tonger-Erk (Eds.), Ein starker Abgang, Berlin 2016. 5 Lynne Kendrick and David Roesner: “Introduction”, in: Lynne Kendrick, David Roesner (Eds.), Theatre Noise. The Sound of Performance, Cambridge 2011, pp. XVIII- XXXII. 6 Doris Kolesch, “Natürlich künstlich: die Stimme im Medienzeitalter“, in: Doris Kolesch, Jenny Schrödl (Eds.), Kunst-Stimmen, Berlin 2004, pp. 19 - 38. 7 Matthias Rebstock, David Roesner (Eds.), Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Processes, Bristol/ Chicago 2012. 8 Roesner 2012, p. 10, Rebstock 2012, p. 299. 9 Roesner 2012, p. 297. 10 Katharina Pewny, Das Theater des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance, Bielefeld 2011, p. 150. 11 Peter Sellars, “Performance and Ethics. Questions for the 21st century”, Peter Sellars interviewed by Bonnie Marranca, PAJ 79 (2005), p. 50. 12 Berenika Szymanski-Düll, “Die grüne Krähe und das Unvernehmen über die Aufteilung des Sinnlichen“, in: Wolf Dieter Ernst, Nora Niethammer, Berenika Szymanski-Düll and Anno Mungen, (Eds.), Sound und Performance, Würzburg 2015, pp. 229 - 240. 13 Pewny 2011, p. 138 f. 14 http: / / ligna.blogspot.be/ 2007/ 11/ diegruppe-ligna-existiert-seit-1995.html, [06. 06. 2013]. 15 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/ Main 2004, p. 308. 16 Jacques Rancière, The Politics of Aesthetics, translated by Gabriel Rockhill, with an afterword by Slavoi Zizek, London/ New York 2004, p. 13. 17 Ibid., p. 63. 18 Kai van Eikels, Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politk und Sozio-Ökonomie, Paderborn 2013, p. 201 - 208. 19 Rancière 2004, p. 79. 20 Ibid., p. 138. 21 Charlotte Gruber, “Überlegungen zu neuen Dramturgien sozialer Bewegungen”, Vortragsmanuskript, Bayreuth 2012. 22 Sylvi Kretzschmar, “Die politische Rede als public adress system“, Vortrag/ Kongreß Sound und Performance, Universität Bayreuth, 05. 10. 2012. 23 Ulrike Haß, “Chor”, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Eds.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, p. 50. 24 Kretzschmar 2012. 25 Ibid., referring to Rancière. 26 Haß 2005, p. 52. 27 Shannon Jackson, Social Works. Performing Art, Supporting Publics, New York 2011. 28 Rancière 2004, p. 139. 29 Jacques Rancière, Disagreement. Politics and Philosophy, Minnesota 1998, p. 34, p. 38. 30 Gruber, Pewny, 2014. 31 Massimo Marino in: Corriere di Bologna, 31 October 2010, http: / / www.motusonline. com/ uploads/ progetti/ syrma_antigones/ alexis_2010/ rassegna_stampa_en.pdf [23. 05. 2013]. 32 Roesner 2003, p. 165. 33 Rost 2011, p. 45. 34 Judith Butler, Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London/ New York 2004, p. 134. 35 Ibid., p. 151. 35 Hearing the Political, Sounding Death 36 Charles Linsmeyer, „Die Explosion der Gehirne“, http: / / www.nachtkritik.de/ index. php? option=com_content&view=article&id=5990: alexis-una-tragedia-greca-dieitalienische-gruppe-motusa-praesentierteine-antigone-variation-beim-zuerchertheaterspektakel&catid=629: zuercher-theater-spektakelNachtkritik [04. 06. 2013]. 37 DVD: Motus, Alexis, Una tragedia greca, 2010, 07: 56. 38 Judith Butler, Antigones Claim. Kinship between Life and Death, Columbia 2000, p. 22, p. 24 f. 39 Christoph Menke, Francesca Raimondi (Eds.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Frankfurt/ Main 2011. 40 Sellars 2005, p. 37. 36 Katharina Pewny (Ghent) Überschreitung der Formen und Zersetzung der Figur: Zur Funktion des Afrikanistischen in La Création du Monde (1923) und La Revue Nègre (1925) Nicole Haitzinger (Salzburg) Rolf de Maré, Begründer der Les Ballets Suédois (1920 - 1925) und nach Sergej Diaghilew mit seinen bekannteren Ballets Russes der zweite große Impresario des Balletts der Moderne, initiiert im Jahr 1923 in Paris eine Inszenierung mit dem Titel La Création du Monde (Die Erschaffung der Welt). Vier europäische Künstler verantworten die Verfertigung und Aufführung, die auf afrikanischen Schöpfungsmythen basiert: Der Schriftsteller und Librettist Blaise Cendrars, der Komponist Darius Milhaud, der Bildende Künstler Fernand Léger und der Choreograf/ Tänzer Jean Börlin. Zwei Jahre später, 1925, bringt de Maré die Revue Nègre ins Pariser Théâtre des Champs-Élysées, in der Josephine Baker für skandalöse Furore sorgt. La Création du Monde und die Revue Nègre entstehen im Kontext des großen Narrativs des europäischen Kolonialismus und profitieren von dessen Strukturen. Historiographisch perspektiviert, ist es die Zeit der sogenannten „Negrophilie“ in den Künsten, die mit der Faszination für erstens den transatlantischen Jazz und Charleston und zweitens für die Formensprachen der Kulturen des afrikanischen Kontinents verwoben ist. Zugleich präsentiert sich Frankreich (noch) als eine der wichtigsten Kolonialmächte, die nach der Berliner Konferenz (1884 - 1885) in Konkurrenz mit anderen europäischen Mächten eine kolonialistische Struktur über 20 Millionen Menschen der West- und äquatorial-afrikanischen Staaten etabliert hat. Diese ist von der neuen Disziplin der Anthropologie unterstützten Theorie der Inferiorität des sogenannten indigenen Subjekts (indigènes) durchdrungen. 1 In La Création du Monde und der Revue Nègre wird in den Pariser 1920er Jahren mit einer jeweils spezifischen und radikal voneinander unterscheidbaren Techné des Körpers etwas präsent gemacht und präsentiert, das ich nach Brenda Dixon Gottschild als afrikanistisch bezeichnen möchte. I use it here to signify African and African American resonances and presences, trends and phenomena. It indicates the African influence, past and present, and those forms and forces that arose as products of the African diaspora, including traditions and genres such as blues, jazz, rhythm and blues and hip hop. It denotes the considerable impact of African and African American culture on modern arts and letters [. . .]. In sum, the term denotes concepts and practices that exist in Africa and the African diaspora and have their sources and practices from Africa. 2 Wichtig erscheint mir, dass Brenda Dixon Gottschilds Definition des Afrikanistischen nicht auf einem engen territorialen oder implizit kolonialen Verständnis eines ‚schwarzen‘ Kontinents oder einer ‚schwarzen‘ Rasse basiert, sondern die vielschichtigen und komplexen Resonanzen und Präsenzen eines konkreten wie imaginären Afrikas berücksichtigt. In Hinblick auf die historiographische und ästhetische Kontextualisierung von La Création du Monde und La Revue Nègre bietet sich die Perspektivierung über das Afrikanistische mit folgendem Argument an: In der Pariser Kunstwelt der 1920er Jahre werden in Produktion und Rezeption weitgehend weder die Vielschich- Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 37-51. Gunter Narr Verlag Tübingen tigkeit der Kulturen auf dem afrikanischen Kontinent ausdifferenziert, noch die transatlantische afro-amerikanische Kultur als spezifisch wahrgenommen: Kurz gesagt: Alles was als ‚schwarz‘ konnotiert ist und/ oder erscheint, wird mit dem Imaginarium Afrika gleichgesetzt. Das europäische Theater inkorporiert/ kannibalisiert 3 - wie wir wissen - in dieser Zeit mit Obsession das ‚Fremde‘. In einer gegenwärtigen Betrachtung, in der die Implikationen postkolonialer Theorie in der tanztheatralen Forschung berücksichtigt und um Aspekte von bewegter und performativer Körperlichkeit erweitert werden, war und ist Performing Africa in Europa im mehrfachen Sinn eine „Liaison dangereuse“. Die hierarchische Ungleichheit der Kulturen - Stuart Hall hat es als „Der Westen und der Rest“ sloganisiert - 4 grundiert die Moderne und bestimmt auch die Gegenwartskunst mit ihren teils unterschwelligen Paradigmen noch substanziell. Es gilt, im Sinne einer postkolonial analytischen Annotation von Tanzgeschichtsschreibung, 5 kulturelle Differenzen zu historisieren, Dichotomien nicht zu essentialisieren und die künstlerische Moderne als ambivalentes Projekt und als „befähigende Verletzung“ zu verstehen. 6 Hier entsteht ein methodischer Riss, den ich kurz benennen möchte: Will man die Ästhetik der tanztheatralen Künste der 1920er Jahre beschreiben und analysieren, läuft das von der Postkolonialen Theorie geforderte „radikale Differenzieren und Pluralisieren“ (Gayatri Chakravorty Spivak) 7 ab einem gewissen Punkt ins Leere. Für die Perspektivierung von - nachkolonialem - zeitgenössischem Tanz und performativer Gegenwartskunst hingegen, erlaubt die postkolonial-analytische Methode Ausdifferenzierungen auch in Hinblick auf die Untersuchung von ästhetischen Phänomenen, wenn sie die Spezifität von theatraler Ereignishaftigkeit akzeptiert. Ich werde nicht versuchen, die außerordentliche Präsenz des Afrikanistischen in den Künsten in Mitteleuropa vor allem in den 1920er Jahren nachzuweisen - dazu sind in den letzten Jahren einige hervorragende Studien publiziert worden 8 -, als vielmehr seine Funktion in den exemplarischen Inszenierungen La Création du Monde und La Revue Nègre thesenhaft zu skizzieren. Es handelt sich bei beiden um sogenannte ‚signature pieces‘ ihrer Zeit, die im Kanon der Tanzgeschichtsschreibung der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts marginalisiert worden sind - bis zur Wiederentdeckung durch erstens die zeitgenössische Tanzkunst, zweitens durch meist U. S. amerikanische ForscherInnen aus kulturwissenschaftlichen und historischen Disziplinen und drittens durch Ausstellungsprojekte in der Bildenden Kunst. Der zweite Teil des Artikels wird schließlich skizzenhaft präsentieren, wie sich die zeitgenössischen Inszenierungen La Création du Monde 1923 - 2012 von dem kongolesischen Choreografen Faustin Linyekula und A mysterious thing said e. e. cummings (1996) von der portugiesischen Choreografin Vera Mantero auf ihre jeweiligen historischen Referenzen beziehen. Die alte Funktion des Afrikanistischen, so viel sei vorweggenommen, spielt keine Rolle mehr in der performativen Gegenwartkunst beziehungsweise erfährt eine Substitution durch postkoloniale Narrative. Überschreitung der Form und Zersetzung der Figur 1: Das Ballet Nègre La Création du Monde La Création du Monde, laut Fernand Léger das „einzig mögliche Ballet Nègre der Welt“ 9 , basiert auf Blaise Cendrars Anthropologie Nègre, einer Sammlung von Mythen und Märchen aus Afrika, die dieser 1921 veröffentlichte. In der Adaptierung zum Libretto entstehen in Gegenwart von drei magischen Gottheiten aus einem formlosen 38 Nicole Haitzinger Gebilde Insekten, Säugetiere, Vögel und schließlich Mann und Frau. Neben Blaise Cendrars und Fernand Léger arbeiten mit Darius Milhaud und Jean Börlin zwei weitere europäische Künstler auf Einladung von Rolf de Maré im Kontext der programmatisch auf ein choreographiertes und rhythmisiertes Bildertheater ausgerichteten Ballets Suédois kollaborativ an der Inszenierung. Nicht zufällig schreibt Blaise Cendrars in seiner Hommage à Jean Börlin: „Du weißt nicht, zu tanzen.“ Und weiter, und jetzt folgt die Hommage an den modernen Tänzer, der vom Ballets Russes Choreografen Michel Fokine in Stockholm entdeckt wurde: „Du bist den Seemännern, den Soldaten, den Mulatten, den Negern, den Hawaiianern, den Wilden ähnlich.“ 10 Hier scheint das Diktum der Avantgarden zu Akten der De-Professionalisierung in den Künsten durch, die das Wissen über die Profession (noch) bedingt. 11 Während Cendrars bei Börlin eine zeitgemäße Modellierung des Tänzerkörpers erkennt, polemisiert der Tanzkritiker André Levinson mit seinem Referenzsystem des klassischen Balletts genau dagegen. Er spricht von „Dilettantismus in der Technik“ und vom „Snobismus“ der Appropriation des Afrikanischen, spezifischer vom Widersinn eine spezifische skulpturale Formensprache in Bewegung zu setzen und kritisiert die kolonialistische Praxis des Balletts: „Nach Spanien und dem Orient, nach dem Kongo und der Annexion Benins, bleibt nichts mehr, als das Grönland der Eskimos oder die Prärie der Sioux für das Ballett zu kolonisieren.“ 12 Cendrars hingegen sieht Börlin als Schlüsselfigur für den Gegenwartstanz in Paris, dessen Stätten nun Boulevards, Eisenbahnstationen, Flughäfen etc. sind: Poster und Lautsprecher lassen die Ausbildung an der Académie de Danse vergessen, das Statische und die Dauer, das Maß und den Geschmack, die Grazie und die Virtuosität. Wenn man all das vergessen hat, dann ist man dort, dann findet man den Rhythmus, den schönen Rhythmus der Gegenwart, der fünf neue Kontinente erschließt: Disziplin, Gleichgewicht, Gesundheit, Kraft und Tempo. 13 Im Moment des zunehmenden Verlustes der tatsächlichen alten europäischen Kolonien werden von der Kunst neue „Kontinente“ entdeckt. Ich möchte hier behaupten, das Cendrars nicht zufällig auf das Vokabular der kolonialistischen Entdeckungsreisen zurückgreift. Nach dem Schock des Ersten Weltkriegs, in dem der Literat einen Arm verlor und sich als Künstler in einem verwundeten Europa in Ruinen befand - bezeichnenderweise verfasst er 1919 eine von Hoffnungslosigkeit durchdrungene Erzählung mit dem Titel La Fin du Monde -, wird in den 1920er Jahren für ihn und seine Zeitgenossen der Mythos Afrika zur Projektionsfläche einer neuen Zeit. Es handelt sich dabei um eine europäische „kollektiv geronnene Erfahrung“ von Afrika (Heiner Müller zum Mythos), die wenig mit der tatsächlichen Situation der vielschichtigen und komplexen Kulturen auf dem Kontinent zu tun hat und das Narrativ des westlichen Imperialismus als Geschichte der Gewalt mit dem Besatzungswettlauf, der Kolonialisierung des Kontinents, der Genozid-Kriege und dem transatlantischen Sklavenhandel ausblendet. Im Sinne einer „evolutionistischen Ästhetik“ (Rae Beth Gordon) 14 und nicht einer Adaptierung von zeitgleich prominenten anthropologisch-rassistischen Differenzsetzungen, gingen die Künstler der Les Ballets de Suédois (wie viele andere) davon aus, dass die kontinentalen Welten im Sinne einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen konstruiert sind. 15 Das heißt, dass im gegenwärtigen Afrika das prä-historische Europa 39 Überschreitung der Formen und Zersetzung der Figur entdeckbar wird, das „fortan als Residuum für unverstellte Kreativität, als Sehnsuchtstopos oder als Anfang der Kunst figuriert [. . .]“. 16 Für den Komponisten Milhaud ergibt sich durch die Arbeit am Topos „Ballet Nègre“ - ich zitiere ihn - die langersehnte Möglichkeit, die Elemente des Jazz zu verwenden, denen ich so viele Studien gewidmet habe. Ich übernahm die gleiche Orchestrierung mit 17 Soloinstrumenten wie in Harlem und machte durchgängig Gebrauch vom Jazzstil, um ein rein klassisches Gefühl auszudrücken. 17 Die europäische Gleichsetzung von urbaner afro-amerikanischer Jazz- und Charleston- Kultur mit einer imaginierten ‚ursprünglichen‘ Musik- und Tanzkultur Afrikas ist symptomatisch für die Zeit. Jazzmusik hat in Milhauds Rezeption „ihre Wurzeln in den dunklen Ecken der schwarzen Seele, in den letzten Spuren Afrikas.“ 18 Es ist schließlich Fernand Léger, der das theatrale Erscheinungsbild verantwortet und mit seinen Entwürfen der sogenannten mobilen Hommes-Decors und der Radikalität seiner afrikanistischen Bildwelt in Bewegung „erschrecken“ wollte. Das Afrikanistische ist bei Léger ein singulärer Moment in seinem Oeuvre. 19 Seine Faszination für die Metropole, die Technologie der modernen Welt und populäre Kunstformen wie Music Hall, Revue und Zirkus bringt er in La Création du Monde ein: Das Imaginarium des afrikanistisch konnotierten Weltbeginns wird zum zukünftigen Möglichkeitsraum. Durch die Logik des strengen Konstruktivismus unter Einsatz von mechanischen Gesten und von Tänzern bewegten Hommes Decors treibt Léger nach Levinson die Auslöschung des individuellen Ausdruckskörpers voran. 20 Die Tänzer müssen ihre Rolle als „bewegtes Dekor“ akzeptieren. 21 Figuren und Bühnenbild werden in Légers und Cendrars gemeinsamen Regiekonzept als gleichwertige Elemente verstanden. 22 Der Afro- Futurismus basiert in La Création du Monde auf dem Paradigma des „Künstlers als Ethnograph“ und einer „primitivistischen Fantasie“, die auf der Annahme basiert - ich zitiere Hal Foster: „that the other, usually assumed to be of color, has special access to primary psychic and social processes from which the white subject is somehow blocked [. . .].“ 23 Durch die Entlehnung und Appropriation von Formen können diese Energien quasi inkorporiert werden. 24 Die Tanzwissenschaftlerin Millicent Hodson und der Kunsthistoriker Kenneth Archer re-konstruierten La Création du Monde für eine Ausstellung in Genf im Jahr 2000 als „angemessenes Facsimile“ („reasonable facsimile“), das Residuen des inszenatorischen, choreografischen und bewegungstechnischen Konzepts von La Création du Monde vermittelt. 25 Diese quasiarchäologische Re-Kreation wurde vom kongolesischen Choreografen Faustin Linyekula in La Création du Monde 1923 - 2012 als Zitat aufgenommen - ich komme später auf die gegenwärtige Inszenierung noch einmal genauer zurück. 26 Gerade die Analyse von bewegter Körperlichkeit gestaltet sich mittels dieser Re- Kreation als schwierig, da Hodson und Archer beispielsweise die Kostüme, die in den 1920er Jahren mit Holz und Karton gefertigt werden, durch neue Technologien und zugunsten des Bewegungsspielraums der Tänzer nach Selbsteinschätzung „verbesserten“. Dennoch lassen sich ein paar Beobachtungen machen: Die Choreographie basiert erstens auf der Ausführung eines einfachen Schritt- und Gestenrepertoires. Die motorischen Aktivitäten der Figuren beschränken sich auf rhythmisierte Fortbewegungen im Raum (gehen, springen, drehen) in Kombination mit raumgreifenden Gesten, die den jeweiligen Charakteren (Götter, Götterboten, magische Figuren, Vögel, Affen, Insekten) an- 40 Nicole Haitzinger gepasst und dementsprechend gestaltet werden; so sind die komödiantischen Affen akrobatisch und die Vögel bewegen sich en pointe. Auffallend ist zweitens die Symmetrie in der choreographischen Anordnung nach dem ersten Szenario der Formlosigkeit und des Chaos. Diese wird durch die Paarbildung der insgesamt 24 Figuren (mit Ausnahme der drei Götter) intensiviert. Das Finale - der sogenannte Frühling der Menschheit - ist schließlich als eine Collage von populären Tänzen der 1920er Jahre in Szene gesetzt. Vor allem der Charleston hat sich in dieser Zeit als der wichtigste Ballroom Dance etabliert. Von seinem Einsatz in Afro- Amerikanischen Revue-Nummern über Broadway-Shows wird er schließlich von der Pariser Avantgarde mit ihrer Faszination für das Populäre entdeckt; in dem solistisch oder paarweise ausgeführten Rhythmus- Tanz sind Jazz und Ragtime-Musik mit Kicks, Auf- und Abwippen wie Beinverdrehungen verkörpert. Die Instrumentalisierung des Körpers erfolgt in La Création du Monde erstens nach formalen, repräsentativen Wirkungsaspekten und zweitens über die Betonung der funktionalen, interaktiven Eigenschaften von Bewegung. Vor allem zeigt sich die hier mehr äußere als innere Notwendigkeit, sich auf etwas zu und von etwas weg zu bewegen, im wörtlichen und im metaphorischen Sinn. 27 Bewegungsanalytisch perspektiviert, existieren keine spezifisch aufgeladenen Bewegungsmotive (wie etwa rhythmisierte Hüftbewegungen), die in der europäischen Rezeption der Zeit afrikanistisch konnotiert sind. Es wird vielmehr über Narration, räumliche Figurationen und Rhythmusstrukturen ein Erscheinungsbild, oder vielleicht besser ein Phantasma erzeugt, das im Akt der ästhetischen Wahrnehmung etwas Prä-Rassistisches, Prä-Kolonialistisches, Afrikanistisches aufruft. Cendrars, Léger, Milhaud und Börlin lassen sich kollegial und kollaborativ auf eine Arbeit an der Form und ihrer Überschreitung in ihren jeweiligen Künsten (poetisch, bildlich, musikalisch und choreographisch-tänzerisch) ein, die sie schließlich in La Création du Monde in einer Synthese ausstellen. Der Ballett-affine Kritiker André Levinson empfindet die „Kapitulation“ des Tänzers vor der Bildenden Kunst, das Pastiche der Künste und das neue „hybride Genre“ gar als „Häresie“: „Alles erscheint mehr als Regie als als Choreographie.“ 28 Es ist die Krise der Kunst am Ende der Geschichte des alten Europas und die Heroisierung Afrikas mit seinem vermeintlich anderen Pulsschlag, der in der Verfertigung des form-obsessiven La Création du Monde eine radikal neue künstliche Welt denkbar werden lässt. 29 Man könnte behaupten, dass die vier Künstler sich anthropologisch-ethnologisch/ ethnographisch an das Konzept Ballett als kulturelles Artefakt und quasi europäisiertes, ethnisches Produkt annähern. Das „einzig mögliche Ballet Nègre“ ist als Überschreitung von tradierten Formen und der Zersetzung der Figur im Sinne einer Über-Formung und Über-Mechanisierung (siehe Hommes-Décors) zu verstehen. Überschreitung der Form und Zersetzung der Figur II: Josephine Baker in La Revue Nègre 1925 tritt die aus St. Louis kommende junge Josephine Baker nach ihren Aufsehen erregenden Auftritten als Chorus-Girl in New Yorker Broadway-Shows, in denen sie buchstäblich mit ihrem komödiantischen Talent aus der Reihe tanzte, erstmals im Pariser Théâtre des Champs-Elysées auf. Es ist Fernand Léger, der die Idee der Präsentation einer Revue Nègre hat. Der ehemalige Impresario der Ballets Suédois, Rolf de Maré, spricht schließlich die Einladung an Baker aus. Nicht zufällig wird nach dem skandalösen Ballet Nègre La Création du Monde mit 41 Überschreitung der Formen und Zersetzung der Figur seiner Überschreitung der Kunstformen und den futur-afrikanistischen Hommes-Décors als Protagonisten des modernen Balletts die La Revue Nègre schließlich die Pariser Kunstwelt und das Publikum in Furore versetzen, ja ihre Körper am Höhepunkt der Ära des Jazz und des Charleston gleich einer „Fieberepidemie“ im historischen Wortlaut „infizieren“. 30 La Revue Nègre (1925) ist als populäres Music-Hall-Format konzipiert, in dem 25 afroamerikanische Akteure und Akteurinnen auftreten. Die in New York zusammengestellte Show wird auf Bitte von Rolf de Maré von Jacques Charles, der mehrere Revuen im Moulin Rouge zur Aufführung brachte, stark nach der Pariser Ästhetik der Zeit überarbeitet. Zu frenetischen und synkopischen Klängen einer Jazz-Band wird eine rasche Folge von sieben Vaudeville Tableaux - unter anderem „New York Skyscraper“, „Mississippi Steamboat Race“, „Charleston Cabaret“ - mit kurzen komödiantischen Intermezzi von Josephine Baker inszeniert. Schließlich hat sie im Finale einen „Danse Sauvage“ Auftritt, der in die Geschichte eingehen wird. 31 Josephine Baker wird in der Revue zur Königin der Kolonien und des Charleston stilisiert. 32 Man muss sich die historische Rezeption vergegenwärtigen, um das Phänomen in seiner Komplexität zu verstehen. Der U. S.-amerikanische Poet E. E. Cummings sieht La Revue Nègre als ein neues Modell der ästhetischen Erfahrung, die maßgeblich von der Kunstfigur Josephine Baker bestimmt ist. 33 Die Künstler und Intellektuellen der Moderne finden außerhalb der etablierten Theater und in der Revue das zeitgemäße und zeitentsprechende „strikt ästhetische“ Ereignis, das den Schock als Wirkung privilegiert. Die Revue Nègre transferiert die relational energetischen Qualitäten der als afrikanistisch konnotierten (sozialen) Tänze in den nun formalästhetischen Raum der Revue. Diese wird von der Avantgarde mit ihrem programmatischen Diktum, die „aufdringlichen, vulgären und vitalen“ Seiten des Lebens zu zeigen, 34 als Substitut des elitär empfundenen Theaters etabliert. Josephine Bakers Performance ist ein Coup Théâtrale, in dem temporär jegliche Klassifizierung und Kategorisierung außer Kraft gesetzt ist - sie ist eine unbestimmbare Seins-Figur, ein - ich zitiere E. E. Cummings -„mysteriöses nicht zu tötendes Etwas, gleichzeitig nicht-primitiv und unzivilisiert, jenseits von Zeit, in einem Sinne, wie Emotion jenseits von Kalkulierbarkeit ist“. 35 André Levinson äußert sich in La Danse D’Aujourd’Hui kritisch zu den „Steps nègres“ 36 und erlaubt zugleich eine tiefenstrukturelle Annäherung an Josephine Baker, die ihren Körper nicht nur als Oberfläche für phantasmagorische Afrika- Projektionen ausstellt, sondern als verkörperte Vielheit virtuos in-Szene setzt. 37 Baker betont die dynamischen und energetischen Wirkungsaspekte von Bewegung über die spezifische Regulierung von Energie. 38 Man kann von einer Kontaminierung von Stil sprechen, denn sie hybridisiert in ihrem Tanz das präskriptive Bewegungsvokabular des Charleston mit African Jazz, mit Elementen aus karibischen und lateinamerikanischen Tänzen, Modern Dance, Step, Cakewalk und komischer Mimik (schielende Augen) als Parodie der modernen Zeit. 39 Ich kann mit den Schultern Karussell fahren, ich kann Murmeln spielen mit meinen Augen, ich kann Flunsch machen wie ein Krokodil, ich kann auf Hacken gehen und ich kann auf allen Vieren laufen, wenn ich will und dann schüttle ich alle Blicke ab . . . Mit meinen Händen, mit meinen Armen sage ich, wer ich bin. Ich rudere durch die Luft, ich schwimme durch die Luft. Ich schwitze und ich springe, alles das bin ich! 40 Die vibrierenden Hüftbewegungen und die demonstrative Ausstellung des Hinterteils - 42 Nicole Haitzinger nach Josephine Baker handelt es sich darum: „[. . .] mit den Hüften zu wackeln, rechts herum, dann links herum, von einem Fuß auf den anderen, den Popo spielen zu lassen und mit den Händen zu wedeln“ 41 - sind die einzigen bewegungsaufgeladenen Motive, die sich dem Afrikanistischen zuordnen lassen. Der Zeitzeuge Harry Graf Kessler spricht in seinem Tagebucheintrag vom 13. Februar 1926 von den Akteuren der Revue Nègre als „Mittelprodukt zwischen Urwald und Wolkenkratzer. [. . .] Ultramodern und Ultraprimitiv“. 42 Es sind das Jenseits von bekannten Modi der Repräsentation und die körperliche Überschreitung der Form bis zum temporär Formlosen der Bewegung bei hohem Tempo, die das Faszinosum und Tremendum der Tänzerin Josephine Baker ausmachen. Durch die Privilegierung des Regulierens von Energie wird es möglich, dass körperliche Formen als labile Relationen, als konkrete Offenheiten in Erscheinung treten können. Levinson und E. E. Cummings haben wohl als intellektuelle Zuschauer den ungemein revolutionären Gestus erkannt und begriffen, auch wenn sie die Performance von Baker schließlich wieder nach den dominanten (ästhetischen, kulturellen und politischen) Ordnungen debeziehungsweise re-kodieren. 43 Ihre ästhetische Signifikation und diskursive Kontextualisierung bezieht sich hauptsächlich auf den Kollaps von Formen und das als afrikanistisch aufgeladene Bewegungsmotiv, sprich den demonstrativ präsentierten Hintern der Tänzerin. 44 La Création du Monde und das Finale der Revue Nègre sind einander ähnlich, obgleich ihre Erscheinungsformen nicht unterschiedlicher sein könnten. Es handelt sich nicht um eine Ähnlichkeit in der Form, sondern ihre Überschreitung, die von der jeweils spezifischen Funktionalisierung des Afrikanistischen profitiert. Das Afrikanistische präsentiert sich in beiden Inszenierungen zugleich als Oberflächenphänomen und als Tiefenstruktur. Ersterem, dem Oberflächenphänomen, zuordenbar sind das entlehnte Narrativ eines afrikanischen Schöpfungsmythos, die theatralisierte, dunkle, feminine Haut der Josephine Baker und ihre Präsentation als Quintessenz der Figur des sogenannten europäischen ‚Primitivismus‘ und der ästhetischen Moderne. 45 Das Afrikanistische in der Tiefenstruktur zeigt sich über synkopische Rhythmisierung (Jazz, Charleston) und die Defiguration, die Zersetzung der menschlichen Figur im Tanz. Diese wird in La Création du Monde am augenscheinlichsten über das Ding-Werden (Hommes Decors) und im Finale der Revue Nègre über das Tier-Werden (Animalisierung) von Josephine Baker in Szene gesetzt. Obgleich anzumerken ist, dass in den Inszenierungen jeweils beides, nämlich das Ding-Werden und das Tier-Werden, mit unterschiedlicher Gewichtung eingesetzt wird. 46 Weder La Création du Monde noch die Revue Nègre kreieren eine ethnozentrische Aura oder stellen mittels kinetisch-korporaler oder choreographisch-inszenatorischer Mittel etwas essentialistisch Afrikanisches aus. Die Internalisierung von Afrikanismen und Kreolisierung (Paul Gilroy) 47 dient hauptsächlich zur Überschreitung der tradierten Formen und zur Zersetzung der (Denk-)Figur des Klassischen. Diese künstlerische Methode steht in gewisser Weise quer zur anthropologischen Differenzsetzung mit ihrer evolutionistischen Logik, die den Diskurs der westlichen Anthropologien grundiert. La Création du Monde 1923 - 1912: Figuration I: Polemik Im Jahr 2012 bezieht sich der kongolesische Choreograf Faustin Linyekula in seiner Produktion La Création du Monde 1923 - 2012 43 Überschreitung der Formen und Zersetzung der Figur auf die historische Inszenierung der Les Ballets Suédois, indem er sie quasi als Zitat oder als Tableau in der Re-Kreation von Millicent Hodson/ Kenneth Archer ausstellt. 48 Dramaturgisch setzt er seine eigene 40-minütige Choreografie, getanzt von 24 TänzerInnen einer Prager Ballettkompagnie, als Prolog voran und endet mit einem Epilog. Dieser richtet sich als polemisch formulierte rhetorische Anklage des einzigen Tänzers of colour auf der Bühne gegen das historische Les Ballets Suédois Kollektiv und das Publikum. Es handelt sich um eine von der Wut durchdrungene und auf die aktuelle Situation des Kongo bezogene Klage, in dessen kulturellem Gedächtnis das Trauma und die Wunden der Kolonialherrschaft gegenwärtig lediglich durch eine neokolonialistische Situation, nämlich die Ausbeutung seiner Bodenschätze, abgelöst scheinen. Linyekulas künstlerische Verfahrensweise erinnert in gewisser Weise an das historische Programm der politisch-literarischen frankophonen Negritude Bewegung, begründet in den 1930er Jahren von Aimé Césaire, Léopold Sédar Senghor und Léon Damas, und des Pan-Afrikanismus der 1950er Jahre, die sich beide auf einen operativen Essentialismus stützten, auf eine universale Ontologie des Schwarz-Seins, um ein politisches Programm formulieren zu können. 49 Der kongolesische Anthropologe und Literaturwissenschaftler V. Y. Mudimbe analysiert diese historischen Prozesse mit folgender Erkenntnis: „The alienation caused by colonialism constitutes the thesis, the African ideologies of otherness (black personality and Negritude) the antithesis, and the political liberation the synthesis.“ 50 Die Konstruktion der schwarzweiß Dichotomie und Rassenordnung ist eine unmittelbare Folge des Kolonialismus, die eine „koloniale Membran“ zwischen Kulturen (William Kentridge) etabliert hat, die bis heute nachwirkt. Im Kongo wird in den 1960er Jahren die schwarzweiß Dichotomie durch das sogenannte Authenticité Programm des korrupten Diktators Mobutu Sese-Sekos noch verstärkt, das demonstrativ auf die Autonomie vom imperialen Westen und die Renationalisierung der Staatsidentität ausgerichtet war. In der Inszenierung und den Reflexionen des als zeitgenössisch und kritisch bekannten Faustin Linyekula lassen sich Stereotypisierungen erkennen.Vier Aspekte scheinen für die vorgeschlagene Perspektivierung von Bedeutung: Erstens die Profilierung einer Außenseiterfigur, mit der sich Faustin Linyekula im Modus der Darstellung identifiziert: „Ich musste mich physisch auf der Szene wiedererkennen. Ich brauche einen schwarzen Körper.“ 51 Zweitens die (Uni-) Formierung des ‚weißen‘ Corps de Ballets, drittens das historische Zitat der Aufführung von La Création du Monde aus dem Jahr 1923 und viertens die rhetorische Polemik gegen das Ballet Nègre, gesprochen vom einzigen dunkelhäutigen Tänzer Djodjo Kazadi. Dieser hat bis zu seinem letzten Auftritt meist nur beobachtet oder vereinzelt ins Geschehen eingegriffen, wenn er beispielsweise am Beginn einer Tänzerin ihren Ganzkörperanzug reicht oder schließlich das nach Vorlage von Fernand Léger rekonstruierte Bühnenbild aufbaut. Faustin Linyekula lässt in einem Gespräch mit dem Philosophen Jean-Luc Nancy die Figur als „schwarzen Diener“ gelten, der tänzerisch durch eine gewisse Pulsation („ein Vibrieren in den Hüften“) charakterisiert ist. 52 In einer Art Umkehrung der Anordnung des historischen La Création du Monde (von der amorphen Masse zu Figuren) verwandeln sich im Prolog die am Beginn noch einzeln erkennbaren tanzenden Figuren durch ein gleichförmig (gleichbleibende Phrasierung, gleichmäßige Kraft) ausgeführtes Bewegungsvokabular aus dem Repertoire der zeitgenössischen Ballett- und Tanztechniken und durch die repetitive Choreographie in eine einheitliche Gruppe. 44 Nicole Haitzinger Die Kostümierung mit eng anliegenden schillernden Trikots intensiviert den Eindruck der Uniformität. Es ist nicht die Überschreitung von Formen und die zeitweise radikale Zersetzung der Figur, die die Künstler der Les Ballets Suédois und Josephine Baker mit beinahe gegensätzlichen Mitteln erprobten, sondern ein bewegungstechnisch koordinierter und regulierter Moment der scheinbaren Aussetzung von Formgebung in Linyekulas Choreographie. Die Überschreitung findet in La Création du Monde 1923 - 2012 auf einer anderen Ebene statt, nämlich über einen rhetorischen Gestus der Wut im Epilog, wo die Künstler der Moderne angeklagt werden, ein „Negerballett ohne Neger“ aufzuführen. 53 Am Ende rebelliert die Figur gegen die historische „Blindheit gegenüber der Wunde Afrikas“ und die Ausblendung der „Ähnlichkeit des erlebten Leids“ von Europa im ersten Weltkrieg und von Afrika durch Kolonisationsgewalt. 54 Faustin Linyekula polemisiert gegen den blinden Fleck der Les Ballets Suédois und ihre künstlerische Inkorporierung eines afrikanischen Phantasmas, gleichzeitig erkennt er seinen eigenen nicht, nämlich seine Enthistorisierung des Verhältnisses von Politik und Ästhetik, das spezifiziert und ausdifferenziert werden könnte/ müsste. A mysterious thing said e. e. cummings: Figuration II: Melancholie Im Jahr 1996 präsentiert die portugiesische Choreografin Vera Mantero eine richtungsweisende Inszenierung des zeitgenössischen Tanzes mit dem außergewöhnlichen Titel A mysterious thing said e. e. cummings. 72 Jahre nach Josephine Bakers „Danse sauvage“ Auftritt im Finale der Revue Nègre und 25 Jahre nach der Nelkenrevolution, nach dem Ende des portugiesischen Kolonialkriegs und der Kolonialherrschaft in Afrika erscheint eine Figur auf der Bühne, die eine formale Ähnlichkeit mit der Tänzerin der 1920er Jahre zu haben scheint. Ich zitiere den Performancetheoretiker André Lepecki: [. . .] her body is not a ‚vehicle‘ for Baker’s body, it does not intend to represent it. If something is voiced, if something is referenced, it is not the body of the other, or the voice of the other, but the lament of the shared violence and profound sadness produced on the racialized field. 55 Im total verdunkelten Theatersaal hört man teils verzögerte und unbestimmte, klopfende Geräusche auf dem Holzboden. Plötzlich tritt Stille ein, jemand/ etwas scheint sich in der Bühnenmitte zu befinden. Langsam erscheint in einem eng fokussierten Lichtkegel ein geschminktes und maskenähnliches weibliches Revue-Gesicht (artifiziell weiße Haut, blau-glitzernder Lidschatten, lange künstliche Wimpern und ein sehr roter Mund) mit ruhiger, wachsamer Mimik. Der Akt des poetischen Sprechens mit dem Körper beginnt: Repetitiv, lamentierend und mit der physiologisch ausgeprägten Lautlichkeit einer tragischen Klage; ähnlich werden dieselben Worte wiederholt und sprachlich wie gestisch unterschiedlich akzentuiert. 56 An intolerance A non-vision An inablility A desire An emptiness An emptiness An emptiness An emptiness A tenderness A fall An abyss A joy (Vera Mantero, 1996) 57 Langsam wird der Rest des Körpers sichtbar, der im Gegensatz zum Gesicht bis auf die Hände mit braunem Make-Up geschminkt 45 Überschreitung der Formen und Zersetzung der Figur ist. Auf der Stirn verweist die typische Locke auf die Tänzerin und Kunstfigur Josephine Baker. Durch die zeitgleiche Erscheinung des ‚weißen‘ und ‚schwarzen‘ Körpers wird das Phantasma der zutiefst metaphysischen und abstrakten Rassen-Konstruktion offengelegt. Der dritte Aspekt der ‚Kostümierung‘, der zunächst hörbar, dann durch die Instabilität der Figur erfahrbar und schließlich sichtbar wird, sind Ziegenhufen, auf denen Vera Mantero en demipointe steht: „The doubly racialized woman uncovers yet another trap of colonialistic, patriarchal, and choreographic subjectivities - her body is also bestial“. 58 Nicht nur der Tanz der Josephine Baker, sondern der Artikel Vive la Folie von E. E. Cummings über die Revue und über Josephine Baker ist Referenz für Vera Manteros inszenatorische und choreographische Anordnung. Nicht zufällig ist der Titel des Stückes ein entlehntes und gleichzeitig modifiziertes Cummings-Zitat: Aus „a mysterious unkillable something“ wird „a mysterious thing“. Man könnte noch zahlreiche weiter Bezüge zwischen dem Text und der Inszenierung herstellen. 59 Über die Dauer der Performance zeichnen sich durch den liquiden Schweiß Spuren in den bemalten farbigen Körper, die als weiße Narben sichtbar werden. Die Bewegungsmöglichkeiten sind durch das Stehen auf Ziegenhufen limitiert. Die motorischen Aktivitäten beschränken sich auf die andauernde Verlagerung von Körperschwere zur Beibehaltung einer prekären Balance und die spezifische Artikulation der Arme, Hände und Finger zu poetischen Gesten. Diese ist durch eine hohe Variabilität in der Aufwendung und Verteilung von Energie gekennzeichnet. In A mysterious thing said e. e. cummings treten gleichzeitig drei im „melancholischen Feld des europäischen Postkolonialen“ situierbare Imagines in Erscheinung: der kolonialisierte Sklavenkörper, der sexualisierte Revue-Körper und der instrumentalisierte Ballettkörper, deren Gemeinsamkeit die Erfahrung von Schmerz ist. 60 Manteros unmittelbar verkörperte poetische Klage wird zum Ausdruck der radikalen Isoliertheit einer singulär pluralen Figur, die einen transsubjektiven Blick auf die Grausamkeit der kolonialistischen Praxis (im Politischen wie im Ästhetischen) erlaubt. Ein zweiter wesentlicher Aspekt ist, dass über Vera Manteros tänzerischen Erfahrungskörper die komische und parodistische performative Qualität ihrer Referenzfigur Josephine Baker als Mittel zur temporären Subvertierung von Klischees und Stereotypen, wenn auch schattiert, durchscheint. Die zeitgenössischen Inszenierungen von Faustin Linyekula und Vera Mantero zeichnen sich im Unterschied zu ihren historischen Referenzen weder durch die Überschreitung von Formen noch durch die Zersetzung der Figur aus, sondern vielmehr durch Akte der Formalisierung und Profilierung von Figuren/ Figurationen im postkolonialen (und posthistorischen) Narrativ. Doch während in A mysterious thing said e. e. cummings eine eigene Diskursfähigkeit des Tanzes im theatralen Ereignis existiert, entschwindet in La Création du Monde 1923 - 2012 in seiner „Serie von Zitaten“ - sprich der Außenseiterfigur, der europäischen Tanztechniken und der historischen Re-Kreation - eine mögliche ereignis- und zugleich diskursgenerierende Qualität des Tanzes. 61 Anmerkungen 1 „Lamarck and Buffon explained phenotypic differences environmentally. Their evolutionary hypotheses, which proposed that non- Western people could potentially evolve to resemble Europeans, fell out of favor by late eighteenth century. Biology and race, many 46 Nicole Haitzinger Frenchman came to believe, determined man’s destiny, and biology was fixed, immutable. French science with its racialist thinking was the foundation for the study of exotic people in the new discipline of anthropology.“ Brett A. Berliner, Ambivalent Desire: The Exotic Black Other in Jazz-Age France, Amherst 2002, S. 5. 2 Brenda Dixon Gottschild, Digging the Africanistic Presence, in: American Performance. Dance and Other Contexts, Westport, Conn. 1996, XIV. 3 Siehe Nicole Haitzinger, Jack Hauser (2010), „Kannibalen wie tanzende Tierchen. Der Tanz, die Regimes, das Formlose und die Anthropophagie“, http: / / www.corpusweb. net/ kannibalen-wie-tanzende-tierchen.html [29. 08. 2016]. 4 Stuart Hall, Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg 1994, S. 142. 5 Ich verwende das postnicht als teleologische (prä-/ post), sondern als analytische Kategorie. 6 Vgl. Ina Kerner, Postkoloniale Theorien: Zur Einführung, Hamburg 2012, S. 110. 7 Vgl. ebd., S. 108. 8 Vgl. Berliner 2002; Rae Beth Gordon, Dances with Darwin 1875 - 1910, Vernacular Modernity in France. Farnham 2009. 9 Nancy Van Norman Baer, Paris Modern: The Swedish Ballet 1920 - 1925, San Francisco, Fine Arts Museum of San Francisco 1995, S. 27. 10 Christine Le Quellec Cottier (Hrsg.), Blaise Cendrars. Anthologie nègre. Petits contes nègres pour les enfants des blancs. Comment les blancs sont d'anciens noirs. La création du monde, Paris 2005, S. 467. 11 Die Techniken, auf die vor allem die Bildende Kunst zurückgreift, zielen einerseits auf die Reduktion von kulturellen Zeichen auf ein Minimum, Boris Groys spricht von den „schwachen Zeichen“ und vom „schwachen Universalismus“, und zum andern auf die Kannibalisierung von Jahrtausende alten Kulturtechniken (Max Henry). Diese Zeichen und Gesten zeichnen sich durch die Ausstellung/ Aufführung von eigentlich unsichtbaren Strukturen jenseits von kultureller Repräsentation aus. Beide werden als Konkurrenz für die starken Zeichen der Massenkultur und der Wiederkehr von klassischen Formeln etabliert. Vgl. Nicole Haitzinger, „Die ‚Anti-Künstlerin‘. Spuren einer alternativen Geschichte der Performance im Œuvre von Natalja Goncharova“, in: Nicole Haitzinger und Helmut Ploebst (Hrsg.), Versehen. Tanz in allen Medien, München 2011, S. 20 - 33. 12 „Après L’Espagne et l’Orient, le Congo et le Bénin une fois annexés, il ne restera plus que le Groenland de l’Esquimau Nanouk, ou bien les prairies des Sioux, à coloniser pour le ballet.“ André Levinson, La danse d’aujourd'hui: etudes - notes - portraits, Paris 1929, S. 399 - 400. 13 Le Quellec Cottier, Blaise Cendrars, S. 467. [Übersetzung: Nicole Haitzinger] 14 Gordon 2009. 15 Die Kunst referenziert dabei auf ein Modell, das nicht streng darwinistisch ist. 16 „Die moderne Zeitlichkeit ist paradox. Sie erfindet das Traditionelle, Ursprüngliche, Primitive als eine prä-historische Kategorie, die aber als moderne Kategorie durch und durch historisch ist. Die damit einhergehende Spaltung der Zeit in ‚vormodern‘ und ‚modern‘ machten es möglich, auf die Kunst der vermeintlich ‚Anderen‘, das heißt auf nichteuropäische Künste zurückzugreifen, die fortan als Residuum für unverstellte Kreativität, als Sehnsuchtstopos oder als Anfang der Kunst figurierten.“ Susanne Leeb, Die Kunst der Anderen, „Weltkunst“ und die anthropologische Konfiguration der Moderne, Frankfurt/ Main: Dissertation, 2013, S. 18. 17 Darius Milhaud, Notes Without Music, The Autobiography of Darius Milhaud, New York 1953, S. 148 - 149. 18 Ebd., S. 137. 19 André Levinson, der Fernand Léger als „Hohenpriester“ und „Gefängniswärter“ der göttlichen Mensch-Maschine in der Kunst bezeichnet, erkennt seine Referenzen und Kopien aus dem Repertoire der Ballets Russes: Larionows Insekten, die Vögel aus Coq d’Or, Picassos Manager aus Parade, den Stierkopf von Bakst aus Phedre, die in La 47 Überschreitung der Formen und Zersetzung der Figur Création du Monde in einem kohärenten Ensemble (konzise Lichtregie mit partieller Ausleuchtung und Kontrastierungen, monochrome Farbigkeit, und spezifische Rhythmisierung) zusammengefügt sind. Vgl. Levinson 1929, S. 393. 20 Ebd., S. 393. 21 Qu’ils se décident à être plus chorégraphes que vedettes, qu’il consent à devenir partie du spectacle „à égalité“, qu’ils acceptent le rôle de décor-mobile, qu’ils dirigent euxmêmes l’avènement de l’objet spectacle. Alors vous verrez apparaître sur la scène, nombre de moyens entièrement nouveaux qui jusque-là étaient restés dans l’ombre « dans la coulisse », alors vous aurez le mécanisme des inattendus plastique, qui pourront jouer et animer la scène.“ Fernand Léger, „Le Spectacle. Lumière. Couleur. Image mobile. Objet-Spectacle”, in: Bulletin de l'Effort moderne, n" 7-8 - 9, Paris 1924, S. 7. 22 „Mobilité continue de la scène par déplacements des décors mobiles et personnages fictifs ou réels. Animation de la scène par naissance d’un arbre et divers animaux.“ Le Quellec Cottier, Blaise Cendrars, S. 463. 23 Hal Foster, The Return of the Real: The Avant-garde at the End of the Century, Cambridge, Mass. 1996, S. 175. 24 Vgl. auch Felicia McCarren, Dancing Machines. Choreographies of the Age of Mechanical Reproduction, Stanford 2003, S. 127. „Although Cendrars’s program at time sounds like Marinetti’s, Cendrars here insists on the natural and democratic elements of such a programm, on technologies mobilized for popular entertainments, on the ‚savage‘, the indigenous or American, rather than elite or artificial, basis for such technologies.“ 25 Zur Problematik von Rekonstruktionen vgl. Nicole Haitzinger, „Re-Enacting Pavlova. Re-Enacting Wiesenthal. Zu Erinnerungskultur(en) und künstlerischen ‚Selbst‘-Inszenierungen“, in: Christina Thurner und Julia Wehren (Hrsg.), Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz, Zürich 2010, S. 181 - 192, vor allem S. 182 - 183. 26 Einen ersten Einblick in die Inszenierung liefert der Videozusammenschnitt http: / / www.youtube.com/ watch? v=49WYgv12REU [29. 08. 2016]. 27 Vgl. Claudia Jeschke, Tanz als Bewegungs- Text: Analysen zum Verhältnis von Tanztheater und Gesellschaftstanz (1910 - 1965), Tübingen 1999, S. 169. In La Création du Monde sind - darauf verweisen nicht nur die Rekonstruktion von Hodson/ Archer, sondern ebenso die Artefakte der Inszenierung (Fotografien, Kostümfigurinnen, Bühnenbild) und historische Rezensionen - die Bewegungskonzepte des Mobilisierens und des Koordinierens dominant. 28 Levinson 1929, S. 397. 29 Nach Jean Luc-Nancy ist dies nicht auf eine Aneignung reduzierbar, sondern führte zu einer Verschiebung der Tektonik, einer tiefgreifenden Veränderung Europas. Vgl. den Videomitschnitt vom Deutschen Tanzkongress (2013): La Création du Monde. Gespräch von Claire Rousier, Faustin Linyekula, Jean-Luc Nancy. http: / / www.tanzkongress.de/ de/ dokumentation/ video/ mitschnitte.html [29. 08. 2016] 30 Rae Beth Gordon weist nach, wie präsent im Pariser Unterhaltungstheater seit den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts das Bewegungsvokabular war, das Josephine Baker aufgegriffen hat: „All of the mugging, jumping about and hyper-emotivity that Josephine cultivated in her persona was not new to Parisian stages: it too harkened back to epileptic singers. [. . .] we have to look backward to the 1880 s to see that the salient characteristics of Josephine Bakers performance style - angular, frenetic disarticulation, movement of every part of the body - were not new to Paris audiences. Finally, the unusual marriage of burlesque comedy and unashamed sexual appeal in both movement and undress that was Baker’s trademark had already constituted the novelty of epileptic singers fifty years earlier and as recently as seventeen years before the young black woman appeared in Paris. Granted, their bodies were not undressed to the same extend: they were neither naked nor black. [. . .] The vocabulary of epileptic movement, 48 Nicole Haitzinger contagion and epidemic remains the same, however, that vocabulary has to be reframed in the new historical context.“ Gordon 2009, S. 274. 31 Vgl. Bennetta Jules-Rosette, Josephine Baker in Art and Life: The Icon and the Image, Urbana 2007, S. 47. 32 Ein Film des Auftritts von 1925 ist nicht verfügbar. Einen Eindruck von Bakers Performance gibt folgender Filmausschnitt http: / / www.youtube.com/ watch? v=064oYkj 1LBw [02. 09. 2014]. 33 „By laws of its own structure, which are irrevocable laws of juxtaposition and contrast, the revue is a use of everything trivial or plural to intensify what is singular and fundamental.“ Cummings, S. 116. 34 Vgl. Nicole Haitzinger (2008), „‚Parade‘ von Friktionen. Choreographische Konzepte in der Zusammenarbeit von Jean Cocteau, Pablo Picasso und Léonide Massine“, http: / / www.corpusweb.net/ 10-ex-ante-qparadeq-von-friktionen-2.html [29. 08. 2016] 35 E. E. Cummings, „ Vive la Folie! Analysis of the ‚Revue‘ in General and the Parisian Revue in Particular”, in: Vanity Fair, September 1926, S. 116. „She enters the show twice: first - through a dense electric twilight, walking backwards, on hands and feet, legs and arms stiff, down a huge jungle tree - as a creature neither infrahuman no superhuman, but something both; a mysteriously unkillable Something, equally nonprimitive and uncivilized, or beyond time in the sense that emotion is beyond arithmetic.” 36 „Certaines pose de Miss Baker, les reins incurvés, la croupe saillante, les bras entrelacés et élevés en un simulacre phallique, la mimique de la face, évoquent tous les prestiges de la haute statuaire nègre. Le sens plastique d’une race de sculpteurs et les fureurs de L’Eros africain nous étreignent. Ce n’est plus le dancing girl cocasse que nous croyons voir: c’est la «Venus noire » qui hanta Baudelaire. Sa personnalité dépasse le genre.“ Levinson 1929, S. 277. Der Tanzkritiker präsentiert sich als genauer Analyst des kurzen „Pas des deux des sauvages“ von Josephine Baker und Joe Alex, dem er eine herausragende Bestialität („une superbe bestialité“) zuschreibt. Levinson erfasst die herausragende performative Präsenz von Baker und ihre spezifischen Bewegungsqualitäten mit seinem konservativen und - wie die postkoloniale Theorie argumentiert - „kolonialistisch“ gefärbten Blick. Vgl. Mae Gwendoly, „Henderson, Colonial, Postcolonial and Diasporic Readings of Josephine Baker as a Dancer and Performance Artist“, in: S&F Online, Vol. 6, Issue 1/ 2, Fall 2007/ Spring 2008. http: / / sfonline.barnard. edu/ baker/ henderson_01.htm [29. 08. 2016] 37 Die aktuelle Forschung zu Josephine Baker kommt zur Erkenntnis, dass sie verschiedene rassistische Stereotypisierungen intentional überzeichnete, überblendete und auf diese Weise subvertierte. Vgl. beispielsweise Matthew Pratt Guterl, „Josephine Baker’s Colonial Pastiche”, in: Black Camera, 1.2, 2010, S. 25 - 37. „Colonial pastice, in this context, refers to several features of Baker’s performance, including her well-known propensity to appropriate or mimic the prevailing representations of colonial people. It extends, as well, to an over-the-top assemblage of a diversity of representations, parts, styles, and genres, a technique of performance that is implicitly parodic, if not deeply subversive in unsettling ways.“ (S. 26) 38 Analysiert man die verfügbaren Filmausschnitte des Tanzes, so wird deutlich, dass bei Baker Konzept des Regulierens in ihren motorischen Aktivitäten vorherrschend ist - das heißt, dass dynamische und energetische Wirkungsaspekte von Bewegung betont sind.Die Arm- und Beinbewegungen verlaufen simultan und mit starkem Rumpfbezug. Die Koordinierung in der Artikulation der Gliedmaßen ist vielfältig, doch unspezifisch. Auffallend ist das Federn des unteren Körpersektors und das Schwingen der Gliedmaßen, das heißt, dass sich Kraft und Körperschwere entsprechen und ein Eindruck größtmöglicher Elastizität erzeugt wird. Die Verteilung von Energie in der Dauer der motorischen Aktivitäten bleibt gleich und das bei höchstmöglichem Tempo. 39 Vgl. McCarren 2003, S. 160. Vgl. auch: „Baker’s merging of the beautiful and the comic, 49 Überschreitung der Formen und Zersetzung der Figur the exotic and the everyday, can be understood in these terms not as a simple collage of images but as the inclusion in her dancing both of choreographed form and elusive formlessness.“ (S. 174) 40 Josephine Baker, Ich tue, was mir paßt: Vom Mississippi zu den Folies Bergère, Frankfurt/ Main 1980, S. 71. In den von Marcel Sauvage aufgeschriebenen Memoiren aus dem Jahr 1927 - die Tänzerin ist gerade 21 Jahre alt und auf dem Höhepunkt ihrer Karriere - wird deutlich, wie sehr ihr Tanzen von der Verkörperung von erstens rhythmischimprovisatorischen Strukturen und zweitens des Komischen bestimmt ist. 41 „Es handelt sich darum, mit den Hüften zu wackeln, rechts herum, dann links herum, von einem Fuß auf den anderen, den Popo spielen zu lassen und mit den Händen zu wedeln. Seit einiger Zeit wird der Popo zu sehr versteckt. Er ist doch aber da, der Popo! “ Baker 1980, S. 59. 42 Harry Graf Kessler, Tagebucheintrag vom 13. 02. 1926, in: Wolfgang Pfeiffer-Belli (Hrsg.), Tagebücher, 1918 - 1937, Berlin 1967, S. 485. 43 Diese These unterstützt u. a. Gottschild 1996, S. 37. „Stars like Florence Mills, Josephine Baker, and many others unwittingly carried on the primitive legacy, their real contributions misinterpreted and their greatest potential untapped.“ Vgl. dazu auch Henderson 2008, S. 10. 44 „Les possédés sont devenus des « professionnels », mais par son singulier et inquiétant génie, une Joséphine Baker rejoint, d’un bond, la sauvageonne et, d’un autre, notre commun ancêtre animal, quand, courant sur les pointes de pieds et les paumes des mains, elle s’enfuit à quatre pattes dans la coulisse, à l’instar d’un gorille.“ Levinson, 1929, S. 278. 45 Vgl. Anne Anlin Cheng, Second Skin: Josephine Baker and the Modern Surface, New York 2011. „The spectacularization of skin on stage at the turn of twentieth century, instead of simply fulfilling a trajectory of colonial representation, also reveals how the textures of those representations transform and are transformed by the making of ‘modern nakedness‘, be it on buildings or bodies.“ S. 38. 46 Zum Tier-Werden und Ding-Werden in den späten 1920er Jahren, vgl. Georges Didi- Huberman, Formlose Ähnlichkeit oder die Fröhliche Wissenschaft des Visuellen nach Georges Bataille, München 2010, S. 183. 47 Vgl. Paul Gilroy, The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness, Cambridge 1993. 48 Vgl. Anna Wieczorek, „Interkulturelle Verständigung? La Création du Monde 1923 - 2013 von Faustin Linyekula“, unveröffentlichter Vortrag. Ich danke der Autorin für das Manuskript. 49 Ich entlehne dieses Denkmodell von Judith Butler, „Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie“, in: Uwe Wirth (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002, S. 317. 50 Valentin Y. Mudimbe, The invention of Africa: gnosis, philosophy and the order of knowledge, Bloomington 1988, S. 93. 51 Vgl. den Videomitschnitt vom Deutschen Tanzkongress (2013): La Création du Monde. Gespräch von Claire Rousier, Faustin Linyekula, Jean-Luc Nancy. http: / / www. tanzkongress.de/ de/ dokumentation/ video/ mitschnitte.html [29. 08. 2016]. 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. ebd. 54 Ebd. 55 André Lepecki, „The melancholic dance of the postcolonial spectre. Vera Mantero summoning Josephine Baker“, in: André Lepecki, Exhausting dance: performance and the politics of movement, New York 2006, S. 114. 56 Ein erster Eindruck vermittelt sich durch das Dokumentationsvideo http: / / www.frequency.com/ video/ one-mysterious-thingsaid-ee-cummings/ 76295580/ -/ 5 - 30039 [29. 08. 2016]. 57 Hierbei handelt es sich um eine eigene Transkription des in der Inszenierung A mysterious thing said e. e. cummings (1996) von Vera Mantero gesprochenen Texts. 58 Lepecki 2006, S. 115. 50 Nicole Haitzinger 59 Wie beispielsweise Worte, die aufgegriffen werden („atrocious“), oder Beschreibungen der Körperlichkeit „at once liquid and racial“, „a creature neither infrahuman or superhuman“ oder das gestische Singen, die zu wesentlichen Aspekten der zeitgenössischen Performance werden. 60 Lepecki 2006, S. 122. 61 Im Gespräch mit Claire Rousier und Jean- Luc Nancy beim Tanzkongress 2013 erläutert Faustin Linyekula seinen künstlerischen Zugang. „Die Idee des Zitats spricht mich an [. . .] Wie kann ich eine Sprache erfinden, die immer eine Fremdsprache sein wird, wenn man nie schreibt [. . .], wenn man im Bewusstsein die Ruinen hat.“ Die Situation im Kongo („alles ist kaputt“) fordert ihn heraus, eine Sprache zu erfinden, in eine Serie von Zitaten so aneinander gefügt ist, dass es den „Anschein eines Ganzen hat.“ Vgl. den Videomitschnitt vom Deutschen Tanzkongress (2013): La Création du Monde. Gespräch von Claire Rousier, Faustin Linyekula, Jean-Luc Nancy. http: / / www. tanzkongress.de/ de/ dokumentation/ video/ mitschnitte.html [29. 08. 2016] 51 Überschreitung der Formen und Zersetzung der Figur Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen David Roesner (München) Dieser Artikel geht der Frage nach, wie Theatermacher zu unterschiedlichen Zeiten in je eigener Weise einen Begriff von ‚Musikalität‘ als wegweisend für ihr Theaterverständnis thematisiert haben. Musikalität wird hierbei als eine Art Dispositiv verstanden, das als Metapher, Modell oder Methode instrumentalisiert wird, um zu einer je eigenen dramatischen, darstellerischen oder inszenatorischen Qualität zu gelangen. Theaterschaffende wie Johann Wolfgang von Goethe, Adolphe Appia, Wsewolod Meyerhold, Samuel Beckett, Joseph Chaikin, Heiner Goebbels oder Karin Beier haben dabei insbesondere auf drei Metaphern aus dem Diskurs um die Musikalität des Theaters rekurriert: der Regisseur als Dirigent, der Schauspieler als Instrument und die Aufführung als Partitur. Anhand ausgewählter Inszenierungen, Texte und Probenmethoden werden die je eigenen Herangehensweisen dieser Künstler untersucht und verglichen. Einleitung „Ich habe die Vermutung, daß allem und jedem Kunstsinn der Sinn für Musik beigestellt sein müsse“ 1 - diese und viele ähnliche Äußerungen findet man in Johann Wolfgang von Goethes Schriften. Er dokumentiert hierbei - als Theatertheoretiker und erfahrener Praktiker - ein Theaterverständnis, das einen Präzedenzfall für meine Untersuchung zur Frage der ‚Musikalität‘ des Theaters 2 aus poetologischer und praktischer Sicht liefert. 3 Bereits Goethe hatte nämlich eine überaus musikalische Auffassung vom Theater im Allgemeinen und von der Aufgabe des Schauspielers im Besonderen. In Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) heißt es über den Theaterleiter Serlo, den Goethe nicht selten als „Mundstück eigener Überzeugungen“ 4 gebraucht: Er liebte die Musik sehr und behauptete, daß ein Schauspieler ohne diese Liebe niemals zu einem deutlichen Begriff und Gefühl seiner eigenen Kunst gelangen könne. So wie man viel leichter und anständiger agiere, wenn die Gebärden durch eine Melodie begleitet und geleitet werden, so müsse der Schauspieler sich auch seine prosaische Rolle gleichsam im Sinne komponieren, daß er sie nicht etwa eintönig nach seiner individuellen Art und Weise hinsudele, sondern sie in gehöriger Abwechslung nach Takt und Maß behandle. 5 Es verwundert daher nicht, wenn wir über die Theaterarbeit Goethes, seine Einstudierung dramatischer Texte für das Weimarer Hoftheater - ich vermeide den Begriff der Regie, der als solcher noch nicht etabliert war - Folgendes von Pius Alexander Wolff berichtet bekommen: Die Weise, wie Goethe eine dramatische Dichtung auf die Bühne brachte, war ganz die eines Kapellmeisters, und er liebte es, bei allen Regeln, die er festsetzte, die Musik zum Vorbilde zu nehmen, und gleichnißweise von ihr bei allen seinen Anordnungen zu sprechen. Der Vortrag wurde von ihm auf den Proben ganz in der Art geleitet, wie eine Oper eingeübt wird. Die Tempis, die Fortes und Pianos, das Crescendo und Diminuendo usw. wurden von ihm bestimmt und mit der sorgfältigsten Strenge bewacht. 6 Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 52-66. Gunter Narr Verlag Tübingen Exemplarisch finden sich hier einige Metaphern, Modelle und Methoden der Musik, die sich für die Entwicklung des Theaterverständnisses der folgenden 200 Jahre als überaus folgenreich herausstellen sollten und dabei - und das ist die Hauptthese, die ich in diesem Beitrag verfolgen will - wesentliche Reformen und Innovationen des Theaters vorangetrieben haben. Dabei stellt sich natürlich die Frage, welches Musikverständnis der jeweilige Theatermacher 7 zu Grunde liegt und für welches Theaterideal es instrumentalisiert wird? Angelehnt an ein vielzitiertes Wort von Walter Pater - „All art constantly aspires towards the condition of music“ 8 - wäre also zu fragen: An welcher Art von Musik orientieren sich die Theatermacher jeweils und welche unterschiedlichen Ziele verfolgen sie? Ich werde diese hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit am Beispiel von drei Metaphern untersuchen, die besonders häufig im Diskurs um die Musikalität des Theaters fallen: der Regisseur als Dirigent, der Schauspieler als Instrument und die Aufführung als Partitur. Appia: Der Regisseur als Dirigent des inneren Wesens Adolphe Appia ist ein interessanter und geeigneter Einstieg für diese Untersuchung, da er zum einen in seiner Verehrung Wagners noch fest mit dem 19. Jahrhundert verbunden ist, zum anderen mit seinen überaus modernen Ideen zu den notwendigen Reformen von Schauspiel, Raum und Licht der Inszenierungsästhetik des 20. Jahrhunderts wichtige Impulse verliehen hat. Zentral ist bei Appia die Idee, dass das Werk und die Intention des Dichters beziehungsweise des Dichter-Komponisten möglichst unverfälscht auf die Bühne gebracht werden müsse. Das Instrument der Wahl, um die ‚innere Essenz‘, wie er das in Anlehnung an Schopenhauer nennt, des Musikdramas auf die Bühne zu bringen, ist die musikalische Formung der Inszenierung: In sogenannten ‚rhythmischen Räumen‘ und unter musikalischem Einsatz von Licht als eigenständigem Ausdruckmittel soll auch die Leistung des Schauspielers durch klare musikalische Anweisungen über Rhythmus, Melodie und Geste gezügelt und veredelt werden. Appia drückt das so aus: Gerade die Musik bringt den Darsteller und die beweglichen und handhabbaren Inscenierungselemente einander näher, indem sie ersterem jede persönlich-willkürliche Lebensäußerung versagt, und letztere zu einem solchen Grade von Ausdrucksfähigkeit zwingt, daß sie nun in engste Beziehung zur menschlichen Gestalt zu treten vermögen. 9 In dieser Konstellation drängt sich die Idee des Regisseurs als Dirigenten förmlich auf: Bei Appia ist er zuvörderst eine Instanz der Kontrolle und seine Aufgabe vor allem eine musikalische. In der Musikgeschichte gibt es nun eine ganze Reihe von Dirigententypen 10 - vom sanften primus inter pares zum drakonischen Diktator -, auch war und ist natürlich die Idee und Struktur des Orchesters, des Arbeitsplatzes des Dirigenten, fortwährend Veränderungen unterworfen. Robin Maconi geht dabei soweit, das Orchester ein „compendium of civilizations“ 11 zu nennen. Er führt diesen Gedanken weiter aus: The symphony orchestra is a hybrid. Some instruments are old, some are relatively new. Some are for melody, some for noise; some are loud and some are soft; some are played with hands and some with breath; some are for singing and others for rhythm. There are instruments from the East and instruments from the West, some virtually unchanged from ancient times and other embracing the most up-to-date technology. 12 53 Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen An orchestra is also a social microcosm. [. . .] We have been discussing an orchestra as an entity, a performing body. The achievement of unity under the conductor’s baton is the normally overriding impression conveyed of orchestral organization. Certainly up to the mid-eighteenth century, we are conscious of the orchestra being used as a grand ensemble and demonstrating the organizational skill necessary to co-ordinate large numbers of players and to integrate a number of different musical processes simultaneously. 13 Das Orchester hat also einen Übergang vollzogen - von einer vertikal organisierten Sozialhierarchie eines Ensembles, das in der Regel von einem Tasteninstrument aus geleitet wurde, hin zu einem komplexen, industriellen Model, bei dem Produktion und Zeitplanung in kleinere Einheiten und Arbeitsteiligkeiten aufgebrochen werden. 14 Diese kurze Kontextualisierung ist deshalb von Bedeutung, weil im Diskurs über die Musikalität des Theaters, wie ihn Theatermacher führen, alle Metaphern einer bestimmten historischen, kulturellen und individuellen Prägung entspringen. Die Verwendung des Begriffs des Dirigenten bei Appia korrespondiert daher mit einer Entwicklung dieser Rolle im 19. Jahrhundert, weg von einem Instrumentalisten, der ein Ensemble organisiert und koordiniert, hin zu einem hierarchisch und im wörtlichen wie übertragenen Sinne deutlich höher gestellten, genialischen Interpreten und Deuter von Musik. Im Unterschied zu Goethes Praxis besteht hier die Notwendigkeit für einen solchen ‚Inszenierungssouverän‘ nicht allein in der Führung von Schauspielern, sondern in der Koordination des komplexen Ausdrucksgefüges, das Appia mit der Metapher der ‚Partitur der Inszenierung‘ programmatisch benennt. Das Kunstwerk Wagnerscher Prägung, das ihm vorschwebt, macht es nötig, dass beim Regisseur alle Fäden zusammenlaufen und er mit Autorität den grundlegenden Vorbereitungen für die Inszenierung vorsteht wie ein „despotischer Exerciermeister“ 15 und „auf künstlichem Wege die Synthese der Darstellungselemente“ 16 herstellt. Dies bedeutet natürlich eine radikale Abkehr von der im 19. Jahrhundert noch verbreiteten Praxis einer lediglich die Proben organisierenden und dokumentierenden Regie. Bei aller Zentralität und Autorität der Regieposition, die Appia hier entwirft, ist dies nicht als Regietheater avant le lettre zu verstehen: Die totale Kontrolle, die Appia der Regie zuspricht, soll nicht einer Selbstvergrößerung des Regisseurs und seiner konzeptionellen Vision dienen, sondern einzig sicherstellen, dass die dramatische Vorlage als lebendiges Kunstwerk den Zuschauer im Innersten berühren und erwecken kann. Dabei würde sowohl ein sich selbst in den Mittelpunkt stellender Schauspieler - wie sie zu Appias Zeit die Bühnen vielfach bevölkerten - stören, als auch ein allzu ‚sichtbarer‘ Regisseur. Diesmal bemüht Appia eine kulinarische Metapher: „Die Zubereitung des Festmahls durch den Regisseur sollte vom Publikum nicht bemerkt werden, dem ausschließlich heiße und gut gekochte Speisen anzubieten sind.“ 17 Dies impliziert natürlich, um im Bild zu bleiben, auch unaufdringliche ‚Kellner‘, bzw. - um zu einem Topos der klassischen Musik zurückzukehren - ‚unsichtbare‘ Musiker, die möglichst wenig Interferenzen zwischen dem Komponisten und dem Hörer erzeugen. Dies war schon zu Appias Zeiten, in denen virtuose Selbstinszenierungen auf Konzert- und Theaterbühne gang und gäbe waren, nicht selbstverständlich. Meyerhold: Der Dirigent als Handwerker An der Frage zum Verhältnis von Regie, Schauspiel und Publikum setzt auch der 54 David Roesner russische Regisseur, Schauspieler und Theaterlehrer Wsewolod Meyerhold zwei Jahrzehnte später an. Auch ihm ist es darum zu tun, die Rollen von Schauspieler und Regisseur neu zu bestimmen, allerdings steht bei ihm nicht länger der Dramatiker an oberster Stelle - Meyerhold war bekannt dafür, beherzt in die Textvorlagen einzugreifen, diese neu zu strukturieren und zu arrangieren. Entgegen der Konvention, das Werk des Dramatikers und die Arbeit des Schauspielers durch die Tätigkeit des Regisseurs sichtbar werden zu lassen, was er als ‚Theater-Dreieck‘ bezeichnet, schwebt ihm ein ‚Theater der Geraden‘ (siehe Abb. 1) vor: Im ‚Theater der Geraden‘ lässt der Regisseur sein Schaffen, in das vorher das Schaffen des Autors eingeflossen ist [. . .], auf den Schauspieler übergehen. Nachdem der Schauspieler über den Regisseur das Schaffen des Autors in sich aufgenommen hat, stellt er sich dem Zuschauer [. . .] und öffnet ihm seine Seele. 18 In diesem Prozess einer zweifachen Inkorporation, Interpretation und Transformation wird die Metapher des Dirigenten problematisch, was Meyerhold wie folgt thematisiert: Im ‚Dreieck-Theater‘ enthüllt der Regisseur seinen Plan in allen Einzelheiten, bestimmt die Figuren, wie er sie sieht, legt alle Pausen fest und geht dann an die Proben, die so lange dauern, bis seine Konzeption aufs Genaueste und in allen Einzelheiten realisiert ist, bis er das Stück so hört und sieht, wie er es hörte und sah, als er allein daran arbeitete. Solch ein ‚Dreieck-Theater‘ ist mit einem Sinfonieorchester vergleichbar - der Regisseur ist hier der Dirigent. Aber das Theater selbst, dessen Architektur keinen Raum für ein Dirigentenpult des Regisseurs zulässt, deutet damit schon den Unterschied zwischen Dirigent und Regisseur an. 19 Der Schauspieler wird - zumindest in der Theorie Meyerholds - ein eigenständigerer, ko-kreativer Teil des Theaters. Seine Arbeit, so Meyerhold, müsse mehr leisten als dem Zuschauer das Konzept des Regisseurs zu vermitteln: „Ein Schauspieler kann sein Publikum nur inspirieren, wenn er sich in den Autor und Regisseur verwandelt.“ 20 Daran schließt sich bei Meyerhold ein Ausbildungskonzept an, das für Regisseure und Schauspieler gleichermaßen auf ein hohes Maß musikalischer Kompetenz zielt. Auf die Frage, welche Fähigkeiten einen Regisseur ausmachen, antwortet er: Die Schwierigkeit der Regiekunst ist, daß der Regisseur vor allem Musiker sein muss. Gerade er hat mit einem der schwierigsten Bereiche der Musikkunst zu tun, er erarbeitet die szenischen Bewegungen immer kontrapunktisch. [. . .] Würde man mich fragen: ‚welches Abb. 1: Theater-Dreieck und Theater der Geraden nach Meyerhold 55 Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen Hauptfach in der Regie Fakultät einer zukünftigen Universität, welches Hauptfach müsste in das Programm dieser Fakultät aufgenommen werden? ‘ - so würde ich sagen: ‚Natürlich Musik.‘ Wenn ein Regisseur kein Musiker ist, dann ist er ja nicht im Stande, eine echte Aufführung zu erarbeiten. Eine echte Aufführung (ich meine nicht das Opern-Theater, die Theater des Musikdramas und der Musikkomödie -, ich meine sogar solches Sprechtheater, wo die ganze Aufführung ohne jegliche Musikbegleitung abläuft) kann nur ein Musiker in der Regie bauen. 21 „By employing principles of music“, argumentiert Dolja Dragasevic konsequenterweise, „Meyerhold professionalised theatre as an art form, as a discipline that needs to be studied and interpreted with its unique spatial and temporal rules“. 22 Es ist die Fähigkeit musikalischer Kognition 23 , die Meyerhold im Theaterprozess zentral zu etablieren sucht: von rhythmisch genau strukturierten biomechanischen Übungen bis zur Entwicklung einzelner Rollen oder Ensembles auf der Basis von musikalischen Repertoirestücken, die Charakter, Tempo und Struktur eines Auftritts vorgeben, bis sie in die Körper, Gesten, Bewegungen und Habitus der Schauspieler übergegangen sind. Für die Aufführung wurden diese Musikstücke in der Regel nicht mehr gebraucht. Eine solche „physical musicality“ 24 , wie Jonathan Pitches das nennt, soll in Meyerholds Trainings- und Inszenierungspraxis dem Schauspieler zweite Natur werden, verbunden mit physischer Geschicktheit, einem hohen Maß an dramaturgischem Reflexionsvermögen und der Fähigkeit zur Improvisation. Auf dem Weg dorthin soll der Schauspieler üben wie ein Instrumentalist: „An actor must study as a violinist does, for seven to nine years. You can’t make yourself into an actor in three to four years“. 25 Das musikalische Modell, so Béatrice Picon-Vallin, basiert sowohl in Bezug auf Regie und Schauspielen auf einem Ideal von technischem Verständnis, kontrolliertem und progressivem Training, einer einzigen Reihe an Gesetzmäßigkeiten und einem einzigen Vokabular. 26 Dies mag für den Alltag des Schauspielers eine allzu hehre und naive Idee sein; was Meyerhold jedoch über die musikalischen Metaphern eröffnet, ist ein vergleichsweise entmystifizierter Blick auf die Profession des Theaters (gerade, wenn wir es mit zeitgleichen Schriften von Vakhtangov oder Stanislawski vergleichen, die doch immer wieder zum Verschwarmeln neigen 27 ). Meyerhold betont das Handwerkliche und hatte eine Abneigung gegen „künstlerischen Schamanismus“ 28 , wie Michail Gnesin, einer seiner festen Schauspieler, berichtet. Mit Appia und einigen anderen Vertretern der historischen Avantgarde, wie z. B. Georg Fuchs, verbindet ihn die auf den ersten Blick paradox anmutende gedankliche und dann auch praktizierte Volte, das Theater retheatralisieren zu wollen, das Mittel der Wahl dazu aber in seiner Schwesterkunst, der Musik, zu suchen. Ein vergleichbarer Impuls - jedoch verbunden mit einem ganz anderen Musikverständnis - ging knapp ein halbes Jahrhundert später in den 60er und 70er Jahren von der englischsprachigen Theaterwelt aus, wo das Thema der Musikalität im Zuge neuer Reformbestrebungen auf beiden Seiten des Atlantiks wieder in Mode kommt - zwei kontrastive Beispiele seien dabei herausgegriffen: Samuel Beckett und Joseph Chaikin. Becketts Instrumente Auch bei Beckett werden aufgrund seiner akribischen Probenarbeit - seiner sprachlichen-rhythmischen Reduktion, den präzise gesetzten Pausen und der formalen Stren- 56 David Roesner ge - die Metaphern des Stücks als Partitur 30 und des Schauspielers als Instrument häufig bemüht. Beckett-Forscherin Mary Bryden konstatiert: „Whether read aloud or silently, Beckett's careful words resemble elements of a musical score, coordinated by and for the ear, to sound and resound.“ 31 Und der Theatermacher George Devine formuliert ganz ähnlich: One has to think of the text as something like a musical score wherein the ‚notes‘, the sights and sounds, the pauses, have their own interrelated rhythms, and out of their composition comes the dramatic impact. 32 Becketts Stück Play (UA: 1963) ist ein konkretes Beispiel hierfür: In Play, everyday banality is orchestrated like a musical score: characters respond to the light as to a conductor; stage directions about tempo, volume, and tone; and instructions for a repeat, da capo. 33 In Anthony Minghellas kongenialer Filmversion des Stücks wird der dirigierende Scheinwerfer, der in der Bühnenversion drei Sprechern in mannshohen Urnen das Wort erteilt (siehe Abb. 2), durch filmische Mittel ersetzt: Schnitte übernehmen hier den Rhythmus der Wortwechsel und gleichzeitig spielt Minghella mit anderen materiellen Gegebenheiten des Films (siehe Abb. 3 und 4): Rauschen, Unstimmigkeiten im Schnitt, Reißschwenks und Kadrierungskorrekturen, ‚schmutziges‘ Leerband, vermeintliche Projektionsfehler usw. - eine ganze Palette an ‚Rauheit‘ bzw. ‚Körnigkeit‘ des Films im Sinne Roland Barthes‘, die insgesamt zum Eindruck einer getrieben und gleichzeitig auf der Stelle tretenden Musikalität beiträgt. Schon bei Beckett ist diese Musikalität viel mehr als nur eine Metapher: Sie konstituiert vielmehr eine ganz konkrete Probenpraxis. Beckett brachte nicht selten ein Metronom mit auf die Probenbühne, um das Tempo für Sprache oder Bewegung präzise kontrollieren zu können und gab den Darstellern am Klavier bestimmte Töne vor, an denen sich ihre Sprachmelodie orientieren sollte. 34 Er verwendet die in der Musik etablierte italienische Terminologie für seine Regieanweisungen 35 und hatte, wie sich die Schauspielerin seiner Wahl Billie Whitelaw erinnert, eine Präferenz zu inszenieren, indem er ihre Sätze dirigierte. 36 Sie vergleicht daher den Effekt, eine Figur Becketts zu spielen, immer wieder damit, ein Musikinstrument zu werden. Kevin Branigan erörtert dabei das Ziel dieser Konstellation: „The purpose of such an instrumental cha- Abb. 2, 3 und 4: Stills aus Anthony Minghellas Film Play nach Samuel Beckett (2001) 29 57 Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen racter was to act as a resonating channel for the music without seeking to comment upon or interpret the text“. 37 Während die Instrumenten-Metapher historisch deutlich weiter zurückgeht, zum Beispiel auf den französischen Schauspieler des 19. Jahrhunderts Constant Coquelin (1841 - 1909) 38 , basiert sie dort auf der Vorstellung einer Dualität: Der Schauspieler sei eben Instrument und Instrumentalist zugleich. In Becketts Theater ist es, den Beschreibungen seiner Akteure zu Folge eher so, dass sie sich von Beckett „gespielt oder gesungen“ fühlen. 39 Dennoch sollte man differenzieren: Trotz aller Affinität dramatischer Texte zur Musik ist es immer noch so, dass im Drama kaum je das Maß an Präzision und Detaildichte in Bezug auf die geplante Ausführung vorzufinden ist, wie es den meisten musikalischen Partituren westlicher Kunstmusik - wie sie auch für Beckett Vorbild waren - selbstverständlich zu eigen ist. Der interpretative Spielraum ist beim Theatertext immer noch ungleich größer. Man darf aber gleichzeitig nicht unterschätzen, welche Signalwirkung die Auffassung des Theaterstücks und/ oder des Aufführungstextes als Partitur hat und hatte: Sie rückt die Simultaneität und Polyphonie theatraler Vorgänge ins Bewusstsein, zwingt zur Beschäftigung mit Form und Struktur, erinnert an die Möglichkeit rhythmisch präzisen Zusammenspiels, an die Lautlichkeit und klangliche Expressivität von Sprache und die Chancen einer Darstellungsästhetik, die eher von außen nach innen arbeitet. Der Schauspieler sucht hier also nicht im emotionalen Gedächtnis nach Auslösern für analoge Gefühle, aus denen heraus dann Tonfall, Geste, Bewegung resultieren, sondern übt wie ein Musiker eine präzise Form ein und füllt diese dann soweit an, dass sie beim Zuschauer entsprechende emotionale, somatische, geistige oder sonstige Resonanzen auszulösen vermag. Bei Beckett führte der Weg dabei über ein an seinen Vorbildern Beethoven, Schubert, Haydn, Brahms, Zwölftönigkeit und Serialität geschultes Ohr für formale Strenge, als auch über eine Tendenz zur Minimalisierung bis hin zur völligen Stille, die nicht zuletzt im Kontext von John Cage und später auch in konkreter Zusammenarbeit mit Morton Feldman entstand. 40 Joseph Chaikin: Theater im Jazz Habitus Der Kontrast zum US-amerikanischen Regisseur, Schauspieler und Schauspiellehrer Joseph Chaikin, der etwa 20 Jahre nach Becketts Warten auf Godot und Endspiel sein Open Theater in New York zu einigem Ruhm führte, könnte kaum größer sein, auch wenn er ein großer Bewunderer Becketts war und eine der ersten Produktionen des Open Theaters sich eben Becketts Endspiel widmete (1969). Chaikins musikalisches Modell war ein anderes: der Jazz. Nicht zufällig bezeichnete er seine Probenarbeit als ‚jamming‘ und versuchte durch eine pulsierende, synkopische Rhythmizität und musikalisch inspirierte Improvisationstechniken eine Art von Ensemblespiel zu initiieren, das ein Höchstmaß an Präsenz in einem emergenten Prozess freisetzen konnte. Seine Jazzmusikalität zielte auf ein Theaterverständnis, das stark auf kollektiver Kreativität 41 und Prozesshaftigkeit beruhte. Um so mehr mag es verblüffen, dass in seinem Katalog gruppendynamischer Übungen ausgerechnet die Idee des Dirigenten wieder auftaucht - dieses vermeintlichen Erzvertreters von Autorität und Interpretationshoheit. Auf den ersten Blick scheint das unvereinbar und doch sagt Chaikin-Schauspieler Robert Pasolli: „The single most important ensemble device of the Open Theater is the ‚conductor‘“. 42 Die Chaikin Expertin Eileen Blumenthal erläutert: 58 David Roesner The most subtle, and interesting, of Chaikin’s attempts to unite the ensemble in one dynamic were his ‚conductor‘ exercises. Performers were to tune directly into someone else’s energy without imitating the form of the other’s action. [. . .] One performer initiated a gesture and/ or sound with a distinct rhythm and tone; the others then tried to meet it with different gestures and/ or sounds of their own that have the same pulse and feeling as the original. Sometimes the conductor worked with sounds alone and the others only with movement, or vice versa. 43 Es ist ganz deutlich, dass dieser Begriff von „Dirigieren“ wenig zu tun hat mit einer europäischen Tradition, in der wir bei einem Dirigenten an Toscanini, Furtwängler oder Karajan denken. Der Dirigent (der hier übrigens immer mit Anführungsstrichen geschrieben wird) ist keine Instanz von Autorität und besitzt kein interpretatorisches Monopol über den musikalischen oder dramatischen Text; er hat keine Regiefunktion, sondern eine Ensemblefunktion. Alle Schauspieler übernehmen diese Rolle im Wechsel als Stimulus. Während sich klassische Dirigenten innerhalb eines relativ fest kodierten Systems von Anweisungen und gestischen Symbolen bewegen, die auf Klarheit und Unmissverständlichkeit zielen, verwenden Chaikins ‚conductors‘ den ganzen Körper, um rhythmische Impulse zu senden, denen die anderen Mitspieler mit je eigenen Bewegungs- und Lautassoziation begegnen, keine Anweisungen ausführen, sondern lediglich versuchen, Puls und Gefühl 44 des ‚conductors‘ aufzunehmen und zu transformieren. Entscheidend ist dabei auch, dass jeder mal Dirigent ist und es sogar eine Übung gibt, die „conductorless conductor“ 45 heißt, bei der eben niemand Bestimmtem diese Rolle zufällt, sondern die ganze Gruppe versucht, einen kontinuierlichen Fluss an musikalisch-gestischen Impulsen auszusenden und auf sie zu reagieren. Es ist sicher nicht ganz zufällig, dass die Begriffe ‚Dirigent‘ und ‚conductor‘ unterschiedlichen Etymologien entstammen: So kann man ‚dirigere‘ mit lenken, bestimmen, richten, steuern übersetzen, während ‚conducere‘ eher zusammenführen, zusammenziehen bedeutet und im Englischen interessanterweise auch im Sinne elektrischer Leitfähigkeit verwendet wird und somit eine Durchlässigkeit für Energie beschreibt; ebenfalls eine Idee und Metapher, die im Schauspielunterricht und auf der Theaterprobe immer noch ein oft zitiertes Ziel ist. Erklärte Absicht und Hauptinteresse von Chaikins Musikalität sind daher „to heighten the sense that living people are sharing immediate fleeting moments - to emphasize presence“ 46 . Er definiert diesen gleichermaßen ubiquitären wie häufig wolkig verwendeten Begriff des Darstellungs- Diskurses 47 , ‚Präsenz‘, als eine Qualität, „that makes you feel as though you’re standing right next to the actor, no matter where you’re sitting in the theatre“. 48 Es ist also eine Eigenschaft, die sich über den Effekt definiert, den sie hat, und die so ephemer ist, wie das Theater selbst. Er grenzt seine Präsenzvorstellung dabei auch von einem teleologischen Ideal, von einem erreichbaren und kommerzialisierbaren Ziel ab: The industrial mainstream of society is always a pressure to make us ‚achievers‘, to make of us ‚goods‘. Many of our appetites are developed by the industrial society, and most of our models are not picked by us. We are trained and conditioned to be ‚present‘ only in relation to the goal. 49 Jazzmusikalität als musikalische Praxis und lebensweltlicher Habitus, denen das Credo eingeschrieben ist, im Hier und Jetzt zu sein und der Flüchtigkeit des kairotischen Moments gewahr zu werden, dient Chaikin dabei als Model und Vehikel einer anderen, einer selbstgenügsamen Präsenz. 59 Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen Heiner Goebbels: Dem Dirigenten misstrauen Noch ein letzter Sprung in die jüngste Vergangenheit bzw. Gegenwart sei unternommen: ‚Theater als Labor‘, ‚Postdramatik‘, ‚Intermedialität‘, ‚Verfransung der Künste‘ sind die Schlagworte; die Idee der Partitur des Theaters ist nach wie vor in regem Umlauf, allein, die Metapher des Dirigenten scheint einer allgemeinen Autoritätsskepsis weitgehend zum Opfer gefallen zu sein, auch wenn vielen Regisseurinnen und Regisseuren wieder bescheinigt wird, musikalisch zu inszenieren. Es ist daher durchaus programmatisch, dass zum Beispiel in Heiner Goebbels’ szenischem Konzert von 1998 Eislermaterial - eine Hommage an den Komponisten und politischen Kopf Hanns Eisler - das Bühnenzentrum, das der Dirigent als Protagonist eines solchen Konzerts einnehmen müsste, frei bleibt. Goebbels lehnt diese Zentrierung, dieses Einschwören der Zuschauer auf eine Perspektive, auf einen Fixpunkt und auf eine Interpretation ab und beschwört dies vielfach in seiner Ästhetik der Abwesenheit 50 . Markiert wird dies in Eislermaterial durch eine kleine Eisler-Figur, die als Platzhalter im Bühnenzentrum aufgestellt ist (siehe Abb. 5 und 6), aber aufgrund ihrer geringen Größe und mangelnden Lebendigkeit die Abwesenheit des Dirigenten natürlich nur noch stärker akzentuiert. Die Musiker sind darüber hinaus über eine relativ große Distanz und entgegen ihrer Stimmgruppenzugehörigkeit positioniert (siehe Abb. 5), was selbst für das erfahrene Ensemble Modern bedeutet, dass ihnen durch die bewusst erschwerte musikalische Kommunikation eine gesteigerte Aufmerksamkeit und Präsenz abgefordert wird. In dieser und in vielen anderen seiner Arbeiten kehrt Goebbels zudem die alte Metapher vom Schauspieler als Instrument doppelt um: Zum einen werden bei ihm Instrumentalisten zu Schauspielern (oder zumindest zu Performern, denn die Idee einer Als-ob-Ästhetik, die wir mit dem Begriff des Schauspielens vielleicht immer noch verbinden, greift bei ihm nicht). Sie sprechen Text, agieren szenisch, tragen Kostüme und treten so in einen liminalen Zustand zwischen Musiker und Darsteller ein: Wir können sie nicht mehr ‚nur‘ als reine Tonerzeuger lesen, deren theatrale Präsenz wir qua Konvention ignorieren dürfen (wie das zumindest als Idee immer noch für Musiker im klassischen Konzert gilt 51 ), und sie sind noch nicht die Verkörperungsathleten, die in eine Rolle schlüpfen und mit dieser verschmelzen, wie es immer noch das hartnäckige Ideal der psychologischen Schauspielkunst ist. Abb. 5 und 6: Das leere Bühnenzentrum in Goebbels’ Eislermaterial mit kleiner Eisler-Figur (Screenshots der Fernsehaufzeichnung des HR). 60 David Roesner Zum anderen inszeniert Goebbels auch nicht selten Instrumente selbst als eigenständige Mitspieler, die sich im polyphonen Geflecht seiner musiktheatralen Experimente behaupten, wie eine japanische Koto in Schwarz auf Weiß (1996), die unter einem System aus Karabinern und Schnüren liegend von einem Kulissenscharnierstift gespielt wird (siehe Abb. 7). In Eraritjaritjaka (2004), einer - wie Wolfgang Rathert das nennt - szenischen Verrätselung vielfältiger Musik- und Textbezüge aus Canetti-Zitaten und Streichquartetten des 20. Jahrhunderts, 52 gibt es eine Passage, die Goebbels’ Misstrauen dem Dirigenten gegenüber (und damit auch: dem Regisseur Peymannscher oder Steinscher Prägung, deren egomanischen Umgang mit dem Theater er immer wieder kritisiert) explizit auf den Punkt bringt: Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten. [. . .] Der Dirigent hält sich für den ersten Diener an der Musik. [. . .] Der Dirigent steht. Die Aufrichtung des Menschen als alte Erinnerung ist in vielen Darstellungen der Macht noch von Bedeutung. Er steht allein. Um ihn herum sitzt sein Orchester, hinter ihm sitzen die Zuhörer, es ist auffallend, daß er allein steht. Er steht erhöht und ist von vorn und im Rücken sichtbar. Vorne wirken seine Bewegungen aufs Orchester, nach rückwärts auf die Zuhörer. Die eigentlichen Anordnungen gibt er mit der Hand allein oder mit Hand und Stab. Diese oder jene Stimme weckt er plötzlich zum Leben durch eine ganz kleine Bewegung, und was immer er will, verstummt. So hat er Macht über Leben und Tod der Stimmen. 53 Er verwandelt Canettis beißende Kritik am Dirigenten als Alphatier in eine theatrale Satire und einen Kampf des Einzelnen gegen die Gesellschaft, die hier in Form der bürgerlichen Institution des Streichquartetts auftritt, an dieser Stelle aber ausnahmsweise schweigt. Der Dirigent ist seines Klangkörpers beraubt; er ist ein Alphatier ohne Rudel. Abb. 7: Japanische Koto in Heiner Goebbels’ Schwarz auf Weiß (Frankfurt 1996) (Screenshot der ARTE Übertragung der Filmversion des Stücks). 61 Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen Karin Beier: Das Unbehagen der Demokratie in der Kultur Auch bei Karin Beiers Projekt Demokratie in Abendstunden (Köln 2011), dessen Ausgangssituation lose auf Fellinis Film Die Orchesterprobe (Prova d’orchestra, 1978) basiert, sind Dirigent und Orchester Teil der Bühnenfiktion. Zusammen mit dem Musiker Jörg Gollasch webt Beier hier ein intertextuelles Netz aus Protesttexten, Manifesten von Joseph Beuys, John Cage, Rainald Goetz und landet im zweiten Teil bei Elfriede Jelineks Kein Licht: ein wortspielerisch-philosophischer Versuch über Fukushima, ein „Geisterszenario nach dem Super-GAU“ 54 . Szenisch bewegt sich der Abend zwischen Stand-up Comedy, Konzertkabarett, instrumentalem Theater im Sinne Mauricio Kagels und einem kakophonen Happening mit fliegenden Notenblättern und sehr viel Farbe (siehe Abb. 8). Realisiert wird das Ganze von einem gemischten Ensemble aus Schauspielern und Orchestermusikern, zu deren vertraglichen Verpflichtungen es gehörte, den Schauspielern während der Probenzeit Instrumentalunterricht zu geben: Schauspielen und Musizieren, visuelles und akustisches Material, Musik und Lärm, Text und Klang werden hier auf einer großen Palette immer wieder neu gemischt, laufen ineinander und ergeben ein farbenreiches Tableau über die Ästhetik des Protests und das Unbehagen der Demokratie in der Kultur. Wolfgang Pregler als manipulativer Dirigent vertritt und verkörpert dabei ein kontroverses Kunst- und Musikverständnis - zum Publikum gewandt spricht er: Ich weiß gar nicht, was Sie haben. Ein Taktstock ist doch kein negatives Instrument, sondern ein technisches Hilfsmittel, das die Sache erleichtert. Wenn sie Orchestermusiker fragen, was ihnen lieber ist, sagen sie immer: der Stock, der Stock. Es gibt keine Demokratie zwischen Dirigent und Orchester. Wenn etwas nicht klappt, ist es immer allein meine Schuld. 55 Kann Kunst nur in autokratischen Strukturen entstehen oder gibt es, wie es beispielsweise das oben erwähnte Ensemble Modern als selbstverantwortliche GmbH exemplifiziert, auch die Chance künstlerische Qualität gerade in modellhaften sozialen Mikrokosmen zu erreichen? Karin Beiers Inszenierung bietet keine abschließende Wertung oder Beantwortung dieser Frage an. Abb. 8: Karin Beiers Demokratie in Abendstunden (2011). Der Bühnenraum zwischen Orchesterprobensaal und Happening (Screenshot des Videomitschnitts des Schauspiel Köln) Kagels zentrale Idee seines sogenannten ‚instrumentalen Theaters‘, Bewegung, Gesten und Momente theatraler Figuration in die Konzertsituation mit hinein zu komponieren, findet bei Beier ein aktuelles Pendant: Der Begriff des Komponierens und Instrumentierens erweitert sich auf das Bühnengeschehen insgesamt, und verbindet, wie auch bei Kagel, musiktheatrale Form mit Satire und Sozialkritik. 56 Schauspieler und Musiker sind aber nicht nur Instrumente zur Ausführung eines präexistenten Werks, sondern konstituieren dieses erst durch ihre je eigenen, höchst individuellen ‚Instrumentaleigenschaften‘. Dies mündet, so erklärte mir Jörg Gollasch, in eine modulare Dramaturgie, die sich aus einzelnen Bausteinen zusammensetzt, wel- 62 David Roesner che wiederum auf den musikalisch-szenischen Angeboten der Performer basieren. Diese Bausteine werden ihrerseits eher aus musikalischen denn narrativen oder diskursiven Beweggründen zusammengesetzt, miteinander verschnitten, überlagert und rhythmisch verzahnt. Dabei spielt diese Inszenierung - sowohl in ihrer Entstehung als auch ihrer Thematik und Ästhetik - permanent mit den Hierarchien und Rollenzuschreibungen des Theater- und Konzertbetriebs und unterläuft damit die vermeintlich so klare Ausgangssituation des Orchesters als einem bestimmten Soziotop. Nicht untypisch für etliche Theaterformen der Gegenwart finden wir Musikalität also nicht mehr als normative Größe, die das Theater qua ihrer formalen Strenge, emotionalen Direktheit, abstrakter Logik oder energetischer Spiellust revitalisieren soll, sondern als ein eklektisches Netz von Bezügen und Verfransungen (um nochmals Adornos an sich kritisch gemeinten Begriff ins Positive zu verkehren), die der Suche, was Theater und Musik heute eigentlich sind und was sie noch vermögen, dienlich sein sollen, ohne jedoch auf klare Antworten zu zielen. Musikalität ist hier keine Methode oder Metapher mehr, sondern eine fragende, experimentierende Praxis, die es sich lohnt weiter zu untersuchen und zu analysieren. Anmerkungen 1 Johann Wolfgang von Goethe zit. in Hedwig Walwei-Wiegelmann (Hrsg.), Goethes Gedanken über Musik. Eine Sammlung aus seinen Werken, Briefen, Gesprächen und Tagebüchern, Frankfurt/ Main 1985, S. 65. 2 Ich verwende den Begriff der Musikalität im Folgenden im Sinne eines Dispositivs. Angelehnt an Michel Foucaults Definitionen, meint Musikalität also einen Komplex aus Diskursen, sozialen, kreativen, kognitiven, perzeptiven und institutionellen Vektoren und Rahmungen. Musikalität ist damit nicht im alltagssprachlichen Sinne eine individuelle Begabung, sondern eine Qualität der Wahrnehmung, des Tuns und des Denkens, die sich die materiellen, prozessualen und performativen Spielarten von unterschiedlichen Formen von Musik anverwandelt und auf Prozesse des Schreibens, Probens, Spielens, Ausstattens, Beleuchtens und Inszenierens von Theater überträgt. Siehe auch: Jeffrey Bussolini, „What is a Dispositive? “, Foucault Studies 10 (2010), S. 85 - 107; David Roesner, „Musikalität als ästhetisches Dispositiv: Analogien und Transfers“, in: Roberto Nigro, Elke Bippus und Jörg Huber (Hrsg.), Ästhetik x Dispositiv. Die Erprobung von Erfahrungsfeldern, Zürich, Wien und New York 2012, S. 195 - 206 und David Roesner, Musicality in Theatre - Music as Model, Method and Metaphor in Theatre- Making, Farnham 2014. 3 Ausführlicher nachzulesen unter David Roesner, Musicality in Theatre, London und New York 2014. 4 Hellmut Ammerlahn, Imagination und Wahrheit: Goethes Künstler-Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre”. Struktur, Symbolik, Poetologie, Würzburg 2003, S. 152. 5 Johann Wolfgang von Goethe zit. in Walwei- Wiegelmann 1985, S. 65. 6 Pius Alexander Wolff in seinen Aufzeichnungen Über den Vortrag im Trauerspiel, zit. in Dieter Borchmeyer, „‚Saat von Göthe gesäet . . .‘. Die ‚Regeln für Schauspieler‘ - ein theatergeschichtliches Gerücht“, in: Wolfgang F. Bender (Hrsg.), Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren, Stuttgart 1992, S. 261 - 287; hier: S. 275. 7 In diesem und ähnlichen Fällen meine ich die weibliche Form genauso, verzichte aber zugunsten besserer Lesbarkeit auf die Nennung beider. 8 Walter Pater, The Renaissance. Studies in Art and Poetry, Oxford und New York 1986 (1873), S. 87. 9 Adolphe Appia, Die Musik und die Inscenierung, München 1899, S. 35. 63 Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen 10 Anekdotisch und unterhaltend vergleicht Itay Talgam unterschiedliche Führungsstile anhand bekannter Dirigentenpersönlichkeiten in seinem TED talk von 2009: http: / / www.ted.com/ talks/ itay_talgam_lead_like_ the_great_conductors.html [30. 07. 2015]. 11 Robin Maconi, The Concept of Music, Oxford 1990, S. 57. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 59 - 60. 14 Siehe ebd. 15 Appia 1899, S. 42. 16 Ebd. 17 Adolphe Appia, „Theatrical Experiences and Personal Investigations (1921)”, in: Richard C. Beacham (Hrsg.), Texts on Theatre, London/ New York 1993, S. 22 - 28 und S. 161 - 166, S. 161. 18 „The actor freely reveals his soul to the spectator after having incorporated the work of the director, just as the director had incorporated the work of the author“. Vsevolod Meyerhold, aus „On the Theatre“. Translated by Nora Beeson, The Tulane Drama Review, 4/ 4 (1960), S. 134 - 148, S. 142 19 Meyerhold zit. in: Jens Roselt, Regie-Theorien, Berlin 2014, S. 304. 20 Meyerhold 1960, S. 134 - 148, S. 143, meine Übersetzung. 21 Vsevolod Meyerhold, Vsevolod Meyerhold: Theaterarbeit 1917 - 1930, hrsg. von Rosemarie Tietze (München, 1974), S. 175 - 177. 22 Dolja Dragasevic, Meyerhold, Director of Opera. Cultural Change and Artistic Genres, PhD Doctoral Dissertation, Goldsmith College 2005, S. 347. 23 Ich würde außerdem argumentieren, dass einige der Sensibilitäten und Fähigkeiten, die Meyerhold im werdenden Schauspieler auszubilden sucht, insbesondere ein Bewusstsein für und eine Kontrolle über zeitlich-rhythmische Prozesse, durchaus dem vergleichbar sind, was Musikwissenschaftlerin Mary Louise Serafine als Elemente musikalischer Kognition beschreibt. Gerade die Biomechanik als zentrales Element des Trainings bei Meyerhold besteht aus stilisierten, ausgeprägt rhythmischen Bewegungssequenzen, die oft zu musikalischer Begleitung geübt werden, die zur Präzision beitragen soll und bei der Verinnerlichung der musikalischen Proportionen in Länge und Dynamik hilft. Siehe dazu: Kelli Melson, The Practice and Pedagogy of Vsevolod Meyerhold’s Living Legacy of Actor Training: Theatrical Biomechanics, PhD, Exeter 2009. Das trainiert musikkognitive Aspekte im Bereich der „Sukzession zeitlicher Prozesse“ und beinhaltet die Fähigkeiten zu „idiomatic construction“, „motivic chaining“, „patterning“ and „phrasing“ (Mary Louise Serafine, Music as Cognition. The Development of Thought in Sound, New York 1988, S. 74 - 77). Musikalisch-rhythmische Kognition wird so für den Schauspieler ein integraler Teil des Kreierens, Beherrschens und Wiederholbarmachens von Bewegung und Figur im Zuge des Inszenierungs- und Probenprozesses. 24 Jonathan Pitches, Vsevolod Meyerhold, London 2003, S. 97. 25 Meyerhold in: Aleksandr Konstantinovich Gladkov, V. Ė Meĭerkhold und Alma H. Law, Meyerhold speaks, Meyerhold rehearses, Amsterdam 1997, S. 108. 26 „The musical model, regarding both directing and acting, is based on an ideal technical understanding, controlled and progressive training, a single set of laws and a single vocabulary.“ Béatrice Picon-Vallin, „Meyerhold’s Laboratories“, in: Mirella Schino (Hrsg.), Alchemists of the Stage. Theatre Laboratories in Europe, Holstebro, Malta und Wroclaw 2009, S. 119 - 139, S. 135. 27 Vakhtangov schreibt zum Beispiel: „The essence of creativity lies in ‚the richness of an actor's soul and his ability to reveal this richness‘ before the audience“ (zit. in Andrei Malaev-Babel, The Vakhtangov Sourcebook, London 2011, S. 21). 28 Gnesin in Gladkov 1997, S. 65. 29 Siehe Anthony Minghella, Play, 2001, https: / / vimeo.com/ 28766126 [01. 08. 2015]. 30 Siehe auch Sophia Totzevas Kapitel „Der dramatische Text als Partitur“, in: Sophia Totzeva, Das theatrale Potential des dramatischen Textes: Ein Beitrag zur Theorie von Drama und Dramenübersetzung, Tübingen 1995, S. 64 - 67. 64 David Roesner 31 Mary Bryden (Hrsg.), Samuel Beckett and Music, Oxford 1998, S. 2. 32 Devine in Catherine Laws, „The Music of Beckett’s Theatre“, in: Danièle De Ruyter- Tognotti et. al. (Hrsg.), Three Dialogues Revisited (Samuel Beckett Today), Amsterdam 2008, S. 121 - 133, S. 121. 33 C. J. Ackerley und S. E. Gontarski, The Grove Companion to Samuel Beckett, New York 2004, S. 393. 34 Danijela Kulezic-Wilson, „From Musicalisation of Theatre to Musicality of Film: Beckett’s Play on Stage and on Screen“, in: Lynne Kendrick und David Roesner (Hrsg.), Theatre Noise. The Sound of Performance, Newcastle upon Tyne 2011, S. 33 - 43, S. 37 35 Ruby Cohn in Laws, ‚The Music of Beckett’s Theatre‘, S. 121. 36 Whitelaw in ebd., S. 121. Siehe auch W. D. Asmus, „Practical aspects of theatre, radio and television. Rehearsal notes for the German premiere of Beckett’s That Time and Footfalls at the Schiller-Theater Werkstatt, Berlin (1. 9. 76)“, Journal of Beckett Studies, 2 (1977) [Online], http: / / www.english.fsu.edu/ jobs/ num02/ Num2WalterAsmus.htm [28. 02. 2012]. Asmus beschreibt hier detailliert Becketts Probenprozess für die deutsche Inszenierung von Footfalls (1977). 37 Kevin Branigan, Radio Beckett. Musicality in the Radio Plays of Samuel Beckett, Oxford 2008, S. 217, meine Hervorhebung. 38 Siehe Robert Gordon, The Purpose of Playing: Modern Acting Theories in Perspective, Ann Arbor 2006, S. 102. 39 Sie fühlen sich ‚being played or sung by Beckett‘. Bryden, Samuel Beckett, S. 44. 40 Feldman schriebt 1977 die „Oper“ Neither, basierend auf Becketts Vorlage: Die Zusammenarbeit entstand unter anderem aus einer gemeinsamen Antipathie der Kunstform Oper gegenüber. In Words and Music von 1987 nach Becketts Hörspiel von 1962 ist es dann bezeichnenderweise ein sechsmal wiederholter „rap of baton on stand“ (Schlag mit dem Dirigierstab auf das Notenpult), der eine wesentliche strukturelle Unterteilung bewirkt. 41 Siehe auch R. Keith Sawyer, Group Creativity. Music, Theater, Collaboration, Mahwah (NJ) und London 2003; Stephan Porombka, Wolfgang Schneider und Volker Wortmann (Hrsg.), Kollektive Kreativität. Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis. Tübingen, 2006; Hajo Kurzenberger, Der kollektive Prozess des Theaters: Chorkörper - Probengemeinschaften - theatrale Kreativität, Bielefeld 2009. 42 Robert Pasolli, A Book on the Open Theatre, New York 1970, S. 26, meine Hervorhebung. 43 Eileen Blumenthal, Joseph Chaikin: Exploring at the Boundaries of Theater, Cambridge und New York 1984, S. 74, Hervorhebung im Original. 44 Ebd., S. 74. 45 Pasolli 1970, S. 28. 46 Blumenthal 1984, S. 71. Es ist interessant festzustellen, dass es im Falle Chaikins nicht darum geht, eine besonders ‚glaubwürdige‘ oder realitätsnahe Darstellung zu erzielen, wie dies im zeitgleich sehr einflussreichen ‚method acting‘ der Fall ist. Ziel ist also nicht zuförderst die Representation einer (fiktionalen) Figur, sondern das, was Blumenthal ‚presentational performing‘ (ebd., S. 79, meine Hervorhebung) nennt: „Chaikin has experimented with several quasitheatrical forms that acknowledge the reporter along with the report. Storytelling, singing, and interviews all involve someone addressing others here and now but testifying about something that may be from another time or even another mode“ (ebd., S. 79). Die Musik, so Blumenthal, „has provided Chaikin with a general model and tool for drawing theater into more subtle and abstract types of address“ (ebd., S. 97). 47 Für ein breiteres Spektrum an Präsenzkonzepten im Bereich von Theater und Performance siehe u. a. Gabriella Giannachi, Nick Kaye und Michael Shanks (Hrsg.), Archaeologies of Presence, London 2012, darin insbesondere die Kapitel von Rebecca Schneider und Phillip Zarrilli. 48 Joseph Chaikin, The Presence of the Actor, New York 1972, S. 20. 49 Ebd., S. 65. 65 Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen 50 Heiner Goebbels, Ästhetik der Abwesenheit, Berlin 2012. 51 Siehe Christopher Small, Musicking: The Meanings of Performing and Listening. Hanover 1998. 52 Siehe Wolfgang Rathert, „Musikalisches Vexierbild oder Meisterwerk? Reflexionen zu Heiner Goebbels’ Eraritjaritjaka“, in: Jürgen Schläder (Hrsg.), Das Experiment der Grenze, Berlin 2009, S. 189 - 206. 53 Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960, S. 453 - 454. 54 Siehe http: / / www.br.de/ radio/ bayern2/ sendungen/ hoerspiel-und-medienkunst/ hoerspiel-jelinek-keinlicht100.html [04. 02. 2015]. 55 Zit. nach dem Aufführungsmitschnitt des Schauspiel Köln, 2011. 56 Ich habe Jörg Gollasch im May 2012 in Köln interviewt, wobei er von einem dezidierten Interesse Karin Beiers und ihm selbst an Mauricio Kagels und John Cages Philosophien und Praktiken sprach. 66 David Roesner Subjekt auf Probe. Einblicke in ein Theorie-Labor Birgit Peter (Wien) Vorliegende vier Texte von Lorenz Aggermann, Simona Travaglianti, Danijela Weber- Kapusta und Philipp Schulte formulieren aus jeweils subjektiver Position Bestandsaufnahme einer über ein Jahr laufenden Auseinandersetzung zu Theater und Subjektkonstitution. Das vorerst Ungewöhnliche an diesem diskursiven Prozess waren die Bedingungen und Voraussetzungen der Zusammenarbeit. Die vier (damaligen) Doktoranden aus Bern, München und Gießen beschäftigten sich aus sehr unterschiedlichen Perspektiven mit Subjektivationsprozessen um Theater und Performance. Sie reagierten auf den 2008 ausgeschriebenen Call für Doktoranden der Gesellschaft für Theaterwissenschaft im Rahmen ihres 10. Kongresses (Mainz 2010), sich an Theoriebildung zum Kongressthema ‚Theater und Subjektkonstitution‘ zu beteiligen. Dieser Call war der erste Schritt, ein neues Konzept von Nachwuchsförderung seitens der GTW auszuprobieren. Die Überlegungen, den bisher praktizierten Essaypreis zu ersetzen, begründeten sich vor allem aus dem Gedanken, nicht Einzelarbeiten hervorzuheben und so auch einem konservativ-elitären Gestus von Prämierung Rechnung zu tragen, sondern eine Gruppe von Doktoranden zu motivieren, an der inhaltlichen Ausrichtung eines Kongresses teilzuhaben. Da eines der wesentlichen Ziele der Gesellschaft die Nachwuchsförderung ist - weniger im finanziellen als im inhaltlichen Bereich -, wurde der Versuch gestartet, eine institutsübergreifende teamorientierte Forschungsgruppe zum Kongressthema ‚Theater und Subjektkonstitution‘ zusammenzustellen. Für alle Beteiligten bedeutete dies, sich auf eine ungewohnte Forschungssituation einzulassen, methodische, ‚fachkulturelle‘ Grenzen zu überschreiten und andere Zugänge im eigenen Arbeiten mitzureflektieren. Es fanden vier Arbeitstreffen in Bern und Mainz statt, bei welchen sich die Gruppe konstituierte und der Herausforderung stellte, gemeinsam methodische Prämissen für den Kongress zu formulieren. Ziel dieser Arbeit war es, eine Key-Note für Mainz 2010 zu erarbeiten, in der schließlich die Ergebnisse unter dem Titel „Ich auf Probe. Skizzen aus einem Labor zu Subjektivität und Theater“ sehr erfolgreich präsentiert wurden. Nun liegen die Texte vor, die diesen praktisch-diskursiven Vorgang erinnern und weiterverarbeiten. Lorenz Aggermann beginnt mit „Über das Wir zum Ich“ die komplexe Reflexion eigenen Handelns/ Denkens, um philosophische Theoreme zum Subjekt für theaterwissenschaftliche Forschungspraxis neu zu lesen. Wie sich Überlegungen zu Comunitas und Imunitas auf eine zentrale, doch wenig untersuchte ‚Figur‘ theaterwissenschaftlicher Forschung, den Zuschauer, auswirken, zeigt Simona Travagliantis Text zum ‚Theaterliebhaber‘ auf. Zwischen Involviertheit und Distanziertheit changieren Ich/ Wir-Konzepte, denen Fragilität aufgrund der ultimativen Kränkung des Subjekts durch den Tod immer eingeschrieben sind. Danijela Weber-Kapusta wiederum setzte sich mit der Frage auseinander, was Theaterspiel mit Subjekten geschehen lässt bzw. welche Subjekte generiert werden. Am Beispiel der Arbeiten von René Pollesch geht sie Transformationsprozessen von Bühnensubjekten nach. Im Umfeld eines Diskurses um Abschaffung von Subjekt als radikalstem Ausdruck von Subjektivitation bewegt sich der Text von Philipp Schulte. Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 67-68. Gunter Narr Verlag Tübingen Anhand zweier Beispiele (ZOO von aktör&vänner und Product of Circumstances von Xavier Le Roy) zeichnet Schulte den vermeintlichen Freiraum als Ort philosophisch-ästhetischer Konstruktion, wo sich anstatt Subjekt Stilisierung als Subjekt-Surrogat findet. ‚Ich auf Probe‘ ebenso wie ‚Subjekt auf Probe‘ kennzeichnet Prozesse wissenschaftlichen Agierens und Kreierens, die Nachwuchswissenschaftler oder etablierte Wissenschaftler gleichermaßen betreffen und Möglichkeitsräume eröffnen können, doch nur, wenn sie sich den Blick darauf erlauben. 68 Birgit Peter Über das Wir zum Ich. Rückblick auf eine Praxis, Ausblick auf eine Theorie Lorenz Aggermann (Gießen) Über das Wir zum Ich: So paradox lässt sich die Ausgangssituation einer Zusammenarbeit umschreiben, die in kontinuierlichem Austausch der Frage nach dem Subjekt im Kontext der darstellenden Kunst nachging. 1 Paradox, da doch das Ich nach eigener Erfahrung nicht nur unverhandelbar, sondern auch unteilbar, eben rein subjektiv zu sein scheint, und für ein Wir allenfalls die Voraussetzung sein kann - und nicht umgekehrt, auch wenn in mancher Philosophie das Gegenteil behauptet wird. 2 Jedem sein eigenes Ich, ganz exklusiv und singulär. Dass dieses Ich gerade vor dem Hintergrund der darstellenden Kunst diskutiert wurde, welche bekanntermaßen diese Auffassung subvertiert, indem sie diesem Ich zugleich ein Nicht-Ich zu Seite stellt, und dieses Nicht- Ich-Ich überwiegend gegenüber einem pluralen Ihr in Anschlag bringt, war die zweite, apokryphe Setzung. Doch wie im Falle jeder doppelten Verneinung erwies sich gerade diese Konstellation als äußerst produktiv, und so begannen wir über das Ich zu denken und zu sprechen. Kein Wunder, dass in der Serie dieser Paradoxa die Philosophie als jener die darstellende Praxis kontrastierende wie fundierende Diskurs firmierte und nicht seine soziologischen oder gattungsspezifischen Differenzierungen. Philosophie und Kunst, zwei freundschaftlich verwobene Disziplinen, auch wenn sie einander fallweise mit Skepsis und Vorurteilen begegnen: Beide zielen auf das Dysfunktionale, auf das Chaotische, auf das, was sich nicht erfassen lässt. Im Versuch, dieses zu umschreiben, konturieren sie einen gemeinsamen Corpus, der mehr als erörterungs- und diskussionswürdig ist. 3 Das Dysfunktionale zeigt sich indes nur vor dem Hintergrund einer Struktur, einer Ordnung, und diese ist es auch, welche den verschiedenen, mannigfaltigen Ichs ein Zuhause verspricht, in welchem transzendente Intimität und Vertrautheit herrschen. Ich ist ein Subjekt der Ordnung - oder zumindest eines, das die Ordnung sucht. Zugleich steht aber stets die untrügliche Gewissheit im Raum, dass es kein identisches, ungespaltenes Subjekt geben kann, dass die Ordnung, die ein geregeltes Leben ermöglichen soll, nur einen losen Rahmen gibt, der unter Belastung an allen Ecken und Enden knarrt und instabil wird, bricht. Dies evoziert zwangsläufig die Suche nach den Bruchstellen, an welchen das Dysfunktionale deutlich zum Vorschein kommt. Struktur und Chaos stecken also jenes Koordinatensystem ab, in welchem die Politik des Subjektes stattfindet. 4 Die Größe des Feldes, auf dem das Subjekt infolge zu verorten ist, wird bereits in der sprachlichen Mitteilung deutlich, welche die Voraussetzung bildet, die Immanenz zu überwinden und den Schritt über das Animalische hinaus in Richtung Subjekt zu tätigen. Subjekt, das Unterworfene, das der Sprache Unterworfene: „Am Anfang war das Wort. Das Wort war bei Gott und in allem war es Gott gleich.“ 5 Doch bereits das sprechende, stimmliche verfasste Ich meldet Zweifel an. Einerseits stellt sich die Frage, ob es nicht auch Akte der Anrufung gibt, die das Subjekt verfehlen und hierüber auf eine andere, (re) sonore Verfasstheit des Subjekts verweisen, in der Klang und Affekt maßgebliche Determinanten sind und welche der Lesbarkeit, dem sprachlichen Räsonnement entgeht. Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 69-74. Gunter Narr Verlag Tübingen Andererseits sind wir, selbst wenn wir die Vorgängigkeit der Sprache akzeptieren, gezwungen, in ihrer Ordnung eine Öffnung zu belassen, einen Spalt, durch welchen dieser Corpus elastisch bleibt und nicht in der Struktur erstarrt. Das Ich ist stets mehr als Sprache. Denn umgekehrt muss auch das Wort Fleisch werden, um dem Ich begegnen zu können, und Fleisch meint hierbei nicht primär die biologischen Aspekte des Menschseins, sondern all jene Akte, die über einen signifizierbaren Körper hinausweisen. 6 Der sprachlichen Verfasstheit des Subjekts muss also notwendigerweise eine physiologische Praxis gegenüber gestellt werden, in welcher das Ich abseits der Sprache wildert und seinen Corpus weniger expliziert als ausagiert. Diese andere Ebene des Subjekts durchbricht die sprachliche Behausung verschiedentlich, führt sie an ihre Grenzen, lässt sie fallweise gar dysfunktional werden. Doch diese Praxis lässt sich nicht so ohne weiteres definieren, handelt es sich doch hierbei um verschiedene, ineinander übergehende spielerische Akte, die gänzlich ephemer, vor und neben der Sprache ablaufen, und nicht um einen geregelten oder wiederholbaren Prozess. Die Konturen des Subjekts werden deshalb am ehesten durch Fragen ersichtlich, welche stärker eine Entwicklung denn eine mögliche Definition in den Mittelpunkt rücken. Wie generiert sich ein Ich: Über Training zur Kür? Vom Subjekt zum Projekt? Zwischen Anrufung und Aneignung? 7 Mit welchen Worten dieser Verlauf auch skizziert wird, eines ist allen gemein: Jede Subjektkonstitution generiert primär ein Ich auf Probe. Die leitende Überlegung unserer Zusammenarbeit war, dass diesem Verhältnis von Struktur und Dysfunktion von Sprache und Aktion etwas originär Theatrales inhärent ist. Gerade die darstellende Kunst rückt diese Bruchstellen in ihren Fokus; und im Rahmen der Bühne verkehren sie sich, werden vom Mangel zum Versprechen, welches das Theater gegenüber der Theorie in Anschlag bringt und dem Ich mitgibt: Die Dinge nicht besprechen, sondern berühren. Handeln, um der Selbst-Vergessenheit des Wortes zu entkommen. Spielen, um jenen Rest zu umkreisen, den das Wort verfehlt. Wirken, um eine Öffnung in diesen Corpus zu schlagen. Keine Beschreibung, sondern eine elastische Formung, eine Ich-Aktion, selbst wenn diese nur vor unseren Augen und Ohren stattfindet, wir nur als Publikum beteiligt sind. Doch auch hier steht ein Verdacht im Raum, dass dieses Handeln weniger ein Akt der Souveränität als der Subversion ist, welcher die Anrufung durch den anderen zwar konterkariert, aber letztlich nicht wirkungslos macht, sondern im Gegenteil durch seinen tatkräftigen Widerspruch, durch seine physiologische Verneinung mitunter bestätigt. Sub-act statt subiect, aber ebenfalls nicht-ich. Die Reflexion des Ich in der Theorie (der Sprache) und die Repräsentation des Ich in der Praxis (abseits der Sprache, auf der Bühne) stoßen gleichsam an ihre Grenzen. Nicht ich, nicht wir: Es schreibt, es spricht, es spielt. Vielleicht befreit uns in der Tat dieses Gedacht-Werden (durch die Sprache) und Gehandelt-Werden (gegen die Sprache) auf der Bühne von den steten Reaktionen und Reflexionen, vom Unterworfensein an sich: nicht ‚als ob‘, sondern ‚anstelle unser‘. 8 Sowohl Philosophie als auch Kunst zeitigen gerade hierin einen höchst utopischen Charakter. 9 Sie geben beide ein uneinholbares, fantastisches Versprechen auf Befreiung von den Bürden der Subjektivität und lassen die Illusion eines Ichs, das nicht unterworfen ist, zu. Darin liegt der Grundstein ihrer Freundschaft. Die Prämisse, dass Theorien zur Subjektkonstitution ihren kritischen Blick auf jene Taktiken und Praktiken richten, welche das Subjekt in einem Spannungsfeld von Autonomie und Unterwerfung konturieren, 70 Lorenz Aggermann ist dahingehend zu ergänzen, dass ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um subvertierende oder kreierende Akte oder um ein Wechselspiel beider handelt, zuallererst eine Selbstreflexion von den jeweiligen Subjekten eingefordert wird. So verwundert es wenig, dass die Frage „Wie lässt sich über eine Praxis sprechen, um eine Theorie zu gewinnen? “ stets am Anfang unseres Weges vom Wir zum Ich steht, und unsere Begegnungen immer wieder um diese Frage kreisen. Die Voraussetzung, dass gerade das reflektierende und diskutierende Ich ein sprachlich verfasstes ist, macht eine nähere Bestimmung der impliziten und expliziten Qualitäten ebendieser Sprache nötig. Wahrnehmung und Erfahrung, Eindruck und Ausdruck bedingen und beeinflussen einander. Der sprachliche Austausch über das Gesehene und Erlebte führt so häufig dazu, dass Worte nicht nur der Beschreibung und Reflexion, sondern auch der Bezeugung dienen. Jenes notwendige, sich aussprechende Ich, ohne welches die Analyse von Akten und Aufführungen nicht stattfinden könnte, erweist sich zugleich als ein Instrument der Affirmation, welches der Theoriebildung unweigerlich in die Hände spielt. ‚Ich habe diese Aufführung am so-und-so-vielten gesehen‘, dient nicht nur der Beschreibung, sondern verbürgt zugleich die vermeintliche Objektivität des Erlebten, obgleich letztere erst durch diese sprachliche Feststellung entstanden ist. In Kritik gerät hierbei weniger der Sachverhalt der Anwesenheit oder Ko- Präsenz, sondern die Implementation einer Instanz. Das Ich hat etwas gesehen. Das Subjekt macht sich derart, nicht nur zum Garanten, sondern gar zum Initianten einer Ordnung, wo es doch per definitionem nur auf eine Anrufung antworten, 10 oder im besten Fall etwas wiederholen kann, das bereits vorgegeben ist. 11 Die Ordnung, die das wissenschaftliche Subjekt postuliert und zur Theoriebildung heranzieht, ist demnach nicht genuin seine. Aber wie damit umgehen? Wie gerade diese notwendige, apriorische Subjektivität reflektieren? Die Bloßstellung dieses affirmativen und alles andere als souveränen Mechanismus bietet nur bedingt einen Ausweg: ‚Ich wurde am so-und-so-vielten zum Publikum dieser Aufführung‘ entspräche zwar weit eher den Konsequenzen der Philosophie, reduziert sich das Ich hierbei doch geradewegs auf jenen Status, den es aufgrund der vorgängigen Ideologie und des vorgängigen Spektakels für sich beanspruchen dürfte. Sie verkompliziert das Sprechen als auch die Reflexion. Dass das Ich sich als Garant eines objektiven Sachverhalts ausgeben muss, um das dargestellte Ereignis und die hierdurch evozierten Eindrücke und Erfahrungen in Theorie und Wissenschaft überführen zu können, ist eine paradoxale Prämisse, die auch auf methodischer Ebene Konsequenzen zeitigen müsste. Aber wie lässt sich diese Hypostasierung des Ichs zur Instanz im Sprechen vermeiden? Selbst wenn dies in Worten ausgestellt und als responsives Ereignis hervorgehoben wird ‒ ‚mir wiederfuhr. . .‘ ‒ macht eine derartige Äußerung nur die affimierende Dimension des Wortes deutlich, löst sie aber nicht auf. So aber wollte und will keiner von uns sprechen. Die Unterwerfung der Praxis (und der Wahrnehmung) unter die Theorie, ihre sprachliche Verfassung, ist in Wahrheit die Erschaffung eines neuen Faktums, denn Sprache ist kein Medium, welches von ihrem Träger unabhängig einen objektiven Sachverhalt verbürgen könnte, sondern die Artikulation einer Medialität, die jeder urteilenden Distinktion voraus liegen muss. 12 Wir sind und bleiben Subjekte einer Sprache, deren Wort affirmiert. Wir schaffen Wissen parallel zu Erfahrung, Theorie neben Praxis. Dies muss indes kein Nachteil sein. Freundschaft wird durch Zweckfreiheit 71 Über das Wir zum Ich. Rückblick auf eine Praxis, Ausblick auf eine Theorie und Entpflichtung charakterisiert. Philosophie muss sich nicht gezwungenermaßen in ein Verhältnis zu Kunst setzen, es reicht, wenn sie ihr freundschaftlich zur Seite steht. Wesentlich ist der beidseitige Respekt. Theorie und Praxis, Wahrnehmung und Erfahrung, Reflexion und Artikulation lassen sich nicht in ein unmittelbares, ungebrochenes Verhältnis zueinander setzen, gerade das machte die Auseinandersetzung mit Subjektkonzeptionen klar. Und doch stand diese Erkenntnis implizit im Raum, da sie explizit thematisiert, unseren Diskurs auf gänzlich andere Wege geleitet hätte. Weg von fachlichen Spezifika zu einer generellen Wissenschaftstheorie. Indem wir unserem Denken jedoch diese eigene Faktizität zugestanden und auf dieser Basis weiterhin über Theater und Subjektivität sprachen, beließen wir diesen Antagonismus in seiner bereichernden Differenz. Handlungen, Wahrnehmungen und Reflexionen blieben nebeneinander (be)stehen, gerade wenn sie munter mitgeteilt wurden. Unserer wissenschaftlichen Arbeit im Labor kam hierbei zupass, dass diese primär auf realen Zusammenkünften basierte und sich die lebendige Diskussion realitätsnäher als der streng wissenschaftliche Diskurs erweist, 13 da diese die Aufmerksamkeit gleichsam auf Sprache wie auf das Fleisch lenkt, den Brüchen und Übergängen Platz einräumt und so das Subjekt als elastischen Corpus einbezieht. So kamen unsere Reflexionen in ihrer ganzen spielerischen Bandbreite zum Vorschein: Vereinnahmungen und Auslassungen, Sprache und Affekt sowie weitere audiovisuelle Modalitäten erweiterten folglich unseren theoretischen, sprachlichen Austausch und wurden letztlich zu einem polymodalen Palimpsest, das sich in niedergeschriebenen Worten nur ungenügend wiedergeben lässt. Denn es handelte sich um ein Experiment, und nicht um einen Essay, auch wenn diese Zeilen die Gestalt eines solchen annehmen: Nicht nur das Subjekt Ich, auch die Wissenschaft befand sich in Erprobung. In der Tat wäre hieraus wohl die Konsequenz zu ziehen, auch andere Formen denn schriftliche als Zeugnis für Theorie, für wissenschaftliche Arbeit im Allgemeinen zuzulassen. Doch der emanzipatorische und kritische Entwurf einer praktischen Ästhetik war nicht unbedingt das von uns gesteckte Ziel, 14 wir fühlten uns ganz wohl als Subjekte der Sprache, als TheoretikerInnen, die über eine Praxis reflektierten. Unsere Skepsis galt vielmehr der unhinterfragten Macht von Sprache, der Hypostasierung von Begriffen, Schemata und Klassifikationen, welche immer wieder dazu verleiten, eine Ordnung zu behaupten und als Machtinstrument gegenüber der Praxis auszuspielen. Denn dies führt letztlich zu einer Hierarchiebildung, die nicht dem freundschaftlichen Nebeneinander von Kunst und Theorie entspricht. Auch wir missbrauchten fallweise unser Ich als Authentizitätsgarant, postulierten über dieses eine Beweiskraft, eine Objektivität, die ihm weder singulär und individuell zukam, und die das beschriebene und erschriebene Ereignis erst recht verfehlen musste. Dies ist indes weniger als Manko denn als Notwendigkeit zu verstehen, sofern Theorie und Kunst als jeweils eigene Episteme respektiert werden: Die Aufgabe jeglicher Theorie muss darin gesehen werden, sich einer weniger objektiven denn heterogenen und mannigfaltigen Sprache zu bedienen, in welche vielseitige Resonanzen und Reflexionen einfließen. Sie darf sich nicht scheuen, Widersprüche und Öffnungen bestehen zu lassen und mitunter auch im scheinbaren Abseits zu argumentieren. Denn nur wenn Abhängigkeiten und Machtgefüge, die mit jeder Subjekttheorie unweigerlich einhergehen, hinterfragt und subvertiert werden, kann das freundschaftliche Verhältnis von Subjekten und Objekten, von Darstellung und Beschreibung, von Kunst und Philosophie ausgelotet werden. 72 Lorenz Aggermann Gerade hierfür stand das Theorielabor: Ein Ort, an dem nicht nur das Experiment seinen Platz hatte, sondern an dem vor allem Verhältnisse neu bemessen, beurteilt und immer wieder auf die Probe gestellt wurden. Wesentlich hierfür war die Anlage und das Setting dieses Labors, welches Ausdehnung (gut zwei Jahre) und Konzentration (in den jeweils zwei, drei Tage dauernden Treffen) gleichsam ermöglichte. Die Ambivalenz und Heterogenität ergab sich zwangsläufig aus den unterschiedlichen Charakteren der beteiligten Forschenden. Die einzelnen Standpunkte wurden nicht selten durch das Gegenüber dekonstruiert oder ironisiert, verdreht und gewendet, neu zur Debatte gestellt. Hierüber wurden jene Parameter gefunden und besprochen, auf deren Basis sich ein konziser Austausch und ein Fortspinnen der Rede bewerkstelligen ließ. Darüber erzielten wir jene Stringenz, die von einer Theorie gemeinhin erwartet wird. Nur durch gemeinsames und zugleich reflexives Denken ließ sich ein dynamischer und polylogischer Diskurs entfachen. In diesem entsprach unsere wissenschaftliche Arbeit geradewegs jenen Anforderungen, die von anderen an das postmoderne, hybride Subjekt gestellt werden. 15 Wir: Das bessere Ich? Bei dieser Frage setzte regelmäßig Widerspruch ein. So wie die Frage nach der Möglichkeit, subjektive Erfahrung zu theoretisieren den steten Ausgangspunkt unseres Austausches markiert hatte, so stand in derselben Regelmäßigkeit die Frage nach dem Gemeinsamen dieser Arbeit an ihrem Ende, wandten sich die verschiedenen Ichs gegen das Wir. Denn diese wollten nicht in einer Gemeinschaft aufgehen, wollten nicht zu einem mythisches Konstrukt und somit letztlich unmöglich werden, setzt diese Vorstellung doch die Beliebigkeit des einzelnen Subjekts voraus. Weder Ich noch Du, sondern irgendeiner. Undifferenzierte und ständig exponierte Singularitäten, ohne Identität, ohne Individualität, ohne Subjektivität. 16 Wir wollten stattdessen einander freundschaftlich verbunden bleiben. Geradewegs in diesem Gestus stehen auch die vier Artikel dieser Reihe nebeneinander. Was uns die Freundschaft von Philosophie und darstellender Kunst auch und gerade heute lehrt, ist in der Tat: nichtich, nicht-wir. Wessen Subjekte wir auch immer sind: „er hat gut Rollen schreiben - wir machen im Spiel noch ganz andere daraus.“ 17 Anmerkungen 1 Diese Zeilen blicken zurück auf jene von der GTW und der MVUB unterstützte Zusammenarbeit im „Theorielabor Theater und Subjektkonstitution“ an der Universität Bern, bei welcher gemeinsam die gegenwärtige Theatertheorie und -praxis reflektiert wurde und deren Zwischenergebnisse auf dem Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft 2010 vorgestellt wurden. 2 Ein geteiltes Subjekt taucht in der Philosophie seit Fichte (vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre, Hamburg 1997 [1794], S. 110) immer wieder auf. Die Prämisse der Dualität des Subjekts (Ich/ Nicht-Ich) durchzieht den deutschen Idealismus, findet sich aber ebenso in der zeitgenössischen Philosophie als auch verwandten Disziplinen wie der psychoanalytischen Kulturtheorie wieder. 3 Gerade im Falle des Subjektes ist Corpus der einzig mögliche Begriff: In seiner Mehrdeutigkeit zwischen Schrift und Körper changierend, verweist er ebenso auf eine historische Dimension wie Disposition, sowie auf seine Masse und sein Gewicht. Vgl. Jean-Luc Nancy, Corpus, Übersetzung von Nils Hodyas und Timo Obergöker, Berlin und Zürich 2003, S. 47. 4 So in etwa ließe sich Marcus Steinwegs These, dass nur die Freundschaft von Kunst und Philosophie eine Möglichkeit gewährt, dem Subjekt nahezukommen, resümieren. Vgl. 73 Über das Wir zum Ich. Rückblick auf eine Praxis, Ausblick auf eine Theorie Marcus Steinweg, Politik des Subjekts, Berlin 2009, S. 25 - 30. 5 Die bekannten, ersten Worte aus dem Johannes-Evangelium. 6 Vgl. Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt/ Main 2001, S. 91. 7 Das wären subjekttheoretische Implikationen von Marcel Mauss, „Die Techniken des Körpers“, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie. Bd. 2, Frankfurt/ Main 1997, S. 199 - 206; Vilém Flusser, Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdungen, Frankfurt/ Main 1998 und Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995.. 8 Vgl. Robert Pfaller, Ästhetik der Interpassivität, Hamburg 2008. 9 Vgl. Steinweg 2009, S. 57. 10 Vgl. Louis Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, in: Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg und Westberlin 1977, S. 108 - 153. 11 Vgl. Butler 1995. 12 Vgl. Werner Hammacher, „Afformativ, Streik“, in: Christiaan L. Hart-Nibbrig (Hrsg.), Was heißt »Darstellen? , Frankfurt/ Main 1994, S. 340 - 371, S. 349. 13 Vgl. Paul Zumthor, „Mündlichkeit/ Oralität“, in: Karlheinz Barck (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, Stuttgart und Weimar 2002, S. 234 - 255, S. 234. 14 Vgl. Gesa Ziemer, Verletzbare Orte. Entwurf einer praktischen Ästhetik, Berlin und Zürich 2008, S. 162. 15 Vgl. Peter V. Zima, Theorie des Subjektes. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen 2000, S. 368; Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Göttingen 2006, S. 34. 16 Vgl. Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Berlin 2003, S. 78. 17 Ludwig Tieck, „Der gestiefelte Kater. Ein Kindermärchen in drei Akten mit einem Zwischenspiel“, in: Ludwig Tieck, Werke in einem Band, hrsg. von Peter Plett, Hamburg 1967, S. 243 - 304, S. 286. 74 Lorenz Aggermann Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber: Ein Versuch, den Zuschauer zu theoretisieren Simona Travaglianti (Bern) Im zeitgenössischen Theater, ob nun auf experimentelleren Off- oder etwas weniger verspielten Stadttheaterbühnen, hat sich die Rolle des Zuschauers verändert: Sie wurde aufgewertet. Im Rahmen verschiedenster inszenierter Situationen fungiert der Zuschauer wesentlich häufiger als aktiver Teilnehmer, als anwesender Zeuge, als partizipierender Mitgestalter, der zusätzlich eine gewisse Mit-Verantwortung an den Geschehnissen trägt, als dass er passiver Konsument oder Voyeur sein darf. Dies wurde natürlich erst möglich, nachdem er belehrt, beschimpft und angeschrien wurde. Nachdem er, von Indien aus ferngesteuert, spazieren geführt wurde. Nachdem er gebeten wurde, auf den Brettern, die einst die Welt bedeuteten, Platz zu nehmen, anstatt im Parkett. Nachdem er basisdemokratisch über die Abschiebung illegaler Migranten mitbestimmen durfte. Nachdem er in ein intimes Gespräch mit dem Künstler höchstpersönlich involviert wurde, auf gleicher Augenhöhe, face to face. Oder nachdem ganz einfach das Licht im Zuschauersaal nicht ausgeschaltet wurde. Natürlich: Nachdem er an bestimmte Nicht-Theater-Orte geführt wurde, wie in kalte Industriehallen, aseptische Atombunker, erlebnisreiche Einkaufszentren oder an Plätze, Orte und Straßen inmitten des städtischen Raumes. Aus seiner vermeintlichen Passivität befreit, wird der Zuschauer zum Mit-Beteiligten, Ko-Autor oder Katalysator der theatralen Aktion. Neben den Performern erhält auch er eine Rolle, die konstitutiv ist und das Zustandekommen der Aufführung determiniert. Die Position und Konzeption des Zuschauers wird in Bewegung versetzt, so sehr, dass sich zeitweilig die Grenze zwischen Betrachter und Darsteller aufzulösen scheint. Dieses Phänomen taucht in unterschiedlichen zeitgenössischen Theaterprojekten und -formen auf. Die Position des Theaterzuschauers möchte ich nun anhand eines Beispiels aus den 1970er-Jahren analysieren. Die Theaterformation Squat Theatre, in den 1970er und 1980er Jahren in New York ansässig, bringt die Zuschauer in eine fürs Theater regelrecht nonkonformistische Lage und spielt mit dem Dispositiv der theatralen „Schauanlage.“ 1 Ihre Projekte scheinen mir für die Auseinandersetzung mit der Rolle des Zuschauers äußerst bedeutsam zu sein. Mit der Inszenierung Andy Warhol’s Last Love (1978) soll die Figur des Zuschauers an dieser Stelle anhand von drei Gegenpaaren diskutiert werden: Die Partizipation und die Distanz; die Position und die Situation des Zuschauers; der individuelle Standpunkt und die Teilnahme an einer (Zuschauer-) Gemeinschaft. Diese drei Paare dienen als Eckpfeiler, um die Frage nach der Subjektkonstitution des Zuschauers zu stellen. Die Zuschauer des Squat Theatres Die ursprünglich aus Ungarn stammende Theatergruppe Squat Theatre lässt sich 1977 in New York an der 23. Straße in einem Geschäftsraum nieder, der für die drei wichtigsten Inszenierungen Pig, Child, Fire! (1977) 2 , Andy Warhol’s Last Love (1978) und Mr. Dead and Mrs. Free (1981) als Spielstätte genutzt wird. Anders als der Name suggeriert, handelt es sich beim Squat Theatre nicht um Hausbesetzer, sondern um Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 75-87. Gunter Narr Verlag Tübingen moderat kritische und surrealistisch angehauchte Theaterkünstler. Bereits in ihrer Heimatstadt Budapest hatte sich das Squat Theatre einen eigentümlichen Ort für ihre Theaterarbeit ausgesucht: eine Wohnung. 3 Mit dem New Yorker Kaufladen wird dieses Experiment fortgeführt und konkretisiert, ausgefeilt und verdichtet. Die Straße wird einbezogen und mittels der Glasfront des Ladenlokals kann eine einzigartige Zuschauer-Schauspieler- Beziehung erzeugt werden: Das Spiel vollzieht sich im Geschäft und auf der Straße. 4 Es handelt sich um zwei parallele Aufführungsstätten, die immer wieder zur Überlappung gebracht werden. Diese Konstellation ist für die Aufführungen des Squat Theatres charakteristisch und ermöglicht gemäß Richard Schechner, der das Squat Theater interessiert beobachtete, drei Zuschauertypen: Derjenige, der Eintritt bezahlt hat und im Geschäft als offizieller Zuschauer sitzt; derjenige, der als Passant zufälligerweise vorbeikommt und entweder in die auf der Straße gespielten Szenen verwickelt wird oder neugierig und verstohlen durch das Schaufenster die Szenerie im Laden betrachtet; letztlich derjenige, der die Aufführung im Inneren gesehen hat und nochmals kommt, um sie von der Straße aus zu sehen. 5 Das Spiel selbst findet vorwiegend im Inneren des Theaterraumes statt. Vor der Fensterfront im Ladenlokal befindet sich eine leicht erhöhte Bühne, die von den Mitgliedern des Squat Theatre selber Proszenium, also Vorbühne, genannt wird. Der Vorhang hinter dieser Vorbühne ist beim Squat Theatre das Schaufenster, also eine durchsichtige Glasscheibe, die den Blick des Zuschauers auf die 23. Straße freigibt. Dieser „Vorhang“ kann als Grenze oder Trennwand fungieren, aber als eine durchlässige, durchsichtige und auch fragile Grenze, die allenfalls auch durchbrochen werden kann. Hinter einer Vorbühne befinden sich, in der Tradition der illusionistischen Guckkastenbühne, die Bühne und das Bühnenbild. Beim Squat Theatre sind Bühne, Bühnenbild und Prospekt im engeren Sinne die 23. Straße in New York, im weitesten Sinne die Stadt New York als Ganzes. Diese Situation wird verschiedentlich genutzt: An erster Stelle einfach als Hintergrund oder Szenerie, die von den Ereignissen im Theater unabhängig ist. Da es sich hierbei um die 23. Straße handelt, ist die Szenerie kontinuierlich in Bewegung und verändert sich unentwegt, auch ohne eine inszenatorische Einmischung. An zweiter Stelle fungiert die Straße als zusätzliche, durch die Glasscheibe physisch getrennte Bühne des Squat Theatre, ob dies nun die Straße direkt vor der Glasfront betrifft oder die Straßen New Yorks, die per Projektion ins Theater geholt werden. Das Wechselspiel von Innenraum zum außerdiegetischen Außenraum, bzw. Projektionsraum, zeigt sich besonders markant in Andy Warhol’s Last Love aus dem Jahr 1978. Für den zweiten Akt dieser Produktion werden die Zuschauer über das Treppenhaus vom ersten Stock des Wohn- und Geschäftshauses ins Ladenlokal geführt. Der Laden ist bestuhlt, die Glasfront des Geschäfts mit einer Leinwand verdeckt. Eine Projektion wird in Gang gesetzt, die beidseitig, von der Straße aus und von innen gesehen werden kann. Parallel dazu wird auf Tonband Kafkas kaiserliche Botschaft aus der Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer vorgelesen. Die kafkaeske Nachricht spricht die Zuhörer direkt an: „Der Kaiser - so heißt es - hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet.“ 6 Die Botschaft stellt die Tonspur des stummen Filmes und eine over- Stimme im Theater- und Geschäftsraum dar, die bloß im Inneren zu vernehmen ist. Auf dem Bildschirm gestikuliert zunächst der Unterhaltungsmedienhändler Crazy Eddie 76 Simona Travaglianti tonlos, dann erscheint ein Darsteller zu Pferd, der aussieht wie Andy Warhol, 7 und durch New York reitet. Er kann als Bote der Erzählung identifiziert werden, die der Zuschauer im Squat Theatre gerade hört, und der, wie Kafkas Bote, verschiedene Hindernisse bewältigen muss. Während er inmitten der Wolkenkratzer Manhattans reitet und sich durchkämpft, betritt eine bewaffnete Frau das Ladenlokal an der 23. Straße, zielt auf die Leinwand und erschießt einen Statisten des Films. Damit tritt sie mit der filmischen Ebene in direkte Interaktion. Im Film reitet „Andy Warhol“ weiter, hält in China Town bei einem Chinesen und bekommt eine Sahnetorte ins Gesicht geschleudert. Auf dem Kuchenboden findet er eine Nachricht. Es ist der vorletzte Satz aus Kafkas kaiserlicher Botschaft: „Niemand dringt hier durch und gar mit einer Nachricht eines Toten.“ 8 Daraufhin nimmt er ein Taxi und steigt direkt neben dem Geschäftslokal des Squat Theatres aus. Noch immer auf dem Bildschirm, sehen die Zuschauer von Andy Warhol’s Last Love wie der Darsteller von Andy Warhol auf sie zukommt. Dann tritt er auf, geht von der Straße in den Laden und zündet das Licht an. Die Leinwand, die als Projektionsfläche diente, wird wie ein Vorhang gezogen. Die Zuschauer von Außen sehen nun direkt ins Innere, sehen die Szene und die anderen Zuschauer, die drinnen auf ihren Plätzen sitzen. Die Zuschauer im Inneren erblicken nun ebenfalls die anderen Zuschauer, die durchs Schaufenster ins Innere spähen. Der zweite Akt endet damit, dass die Fensterscheibe der Glasfront eingeschlagen und einem Squat- Darsteller, der zuvor vom Laden aus im Film erschossen wurde und nun vor dem Squat Theatre tanzt, ein Bier hinaus gereicht wird. Der nun anwesende „Andy Warhol“ sitzt im dritten Akt im Squat Theatre und seine Stimme stellt seinen letzten Lieben Fragen. Die Stimme kommt nach wie vor aus den Lautsprechern, ist aber direkt mit den szenischen Abläufen verbunden. Eine der beiden Frauen, die Ulrike Meinhof darstellt, verurteilt und erschießt ihn. Damit wird vor der Glasfront eine Mylarfolie heruntergelassen. Sie wirft den Zuschauern - innen wie außen - ihr eigenes Spiegelbild zurück und schirmt Ladenlokal und Straße klar voneinander ab. Die 23. Straße direkt vor dem Squat Theatre ist ferner auch der zweite Ort, an dem eine Zuschauerposition sich etablieren kann. Passanten, die zufälligerweise vorbeikommen, betreten versehentlich die Bühne und mutieren schlagartig von schaulustigen Passanten zu Performern und Zuschauern zugleich. Als Performer beteiligen sie sich an einer Aufführung und erkennen nicht, dass es sich um eine Aufführung handelt, sondern nehmen die Abläufe als real wahr. Als Zuschauer vor dem Schaufenster wird ihre Position eins zu eins mit den Zuschauern im Inneren gespiegelt. Der Theaterkritiker Roger Copeland beschreibt die Disposition wie folgt: Passers-by of all descriptions invariably begin to peek inside, sometimes pressing their faces up against the glass for a better look. One’s first temptation is to laugh at those unsuspecting souls who have unwittingly wandered into a performance. But soon it becomes appartent that the paying audience is as much on display as those random spectators are. 9 Das Schaufenster des Squat Theatres ermöglicht, wie es Copeland beschreibt, die Gestaltung von zwei Positionen, von welchen aus der Zuschauer blicken kann und gleichzeitig als Zuschauer ins Visier gerät: Auf der einen Seite des Schaufensters sitzt die Zuschauerpartei, die bezahlt hat und entweder lachend oder mit Irritation darauf reagieren kann, dass nie vollkommen klar ist, ob der Zaungast, der vor dem Schaufenster hält, ein planmäßig beteiligter Performer oder ein stehengebliebener Passant ist, was gespielt 77 Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber ist und was nicht. Die spontane, unvorhersehbare Intervention seitens der Straße ist natürlich in den Projekten des Theatres einkalkuliert. Für die im Inneren sitzende Zuschauerpartei betreten die allfälligen Passanten die Bühne der Geschehnisse und werden zum integrativen Teil der Aufführung, sie werden zu Performern. Auf der anderen Seite des Schaufensters, auf der Straße, steht die andere Zuschauerpartei und blickt in den Laden, nimmt die Vorgänge auf der dazwischengeschalteten Vorbühne wahr und erkennt ebenfalls deren Verlängerung: Es ist das ‚Parkett‘, in welchem die anderen Zuschauer sitzen. So gesehen werden die auf den Stühlen sitzenden Zuschauer zur Szenerie hinzugezählt; eine Rolle als Mitbeteiligte kann auch ihnen zugeteilt werden, selbst wenn sie ein etwas statisches Bühnenbild darstellen. Kurzum, auch sie werden mittels der Blicke der anderen Zuschauer zu Performern. Partizipation und Distanz Der Zuschauer des Squat Theatres, ob er nun im Geschäftslokal sitzt und zuschaut oder außen an der Fensterfassade steht und zusieht, rahmt mit seinem Blick einen von ihm geschiedenen und auf Distanz gehaltenen anderen Raum, in welchem eine theatrale Aktion stattfindet. Die Theaterwissenschaftlerin Josette Féral arbeitet bei ihrer Bestimmung der Eigentümlichkeit der Theatralität ein hilfreiches Modell heraus, das für die Analyse der Inszenierungen des Squat Theatres äußerst aufschlussreich ist. 10 Ausgehend von drei verschiedenen Beispielen leitet sie die Konstellation von Blicken in theatralen Situationen her, in und außerhalb der Institution Theater. Sie kommt zum Schluss, dass Theatralität entsteht, wenn es zu einer doppelten Spaltung des Blickes kommt. Dies kann Féral zufolge durchaus in einer alltäglichen Situation vorkommen. Entscheidend ist, dass der Betrachter mittels seines Blickes auf ein bestimmtes Geschehen den alltäglichen Raum neu einteilt und rahmt. Diesem anderen, von ihm geschiedenen und von den Alltagsgeschehnissen isolierten Raum, unterscheidet ein Zuschauer aufgrund von „events, behaviours, physical bodies, objects and space without regard for the fictional or real nature of the vehicle's origin.“ 11 Es handelt sich hierbei um einen virtuellen Raum, einen Raum „belonging to the other“ 12 , aus welchem „fiction can emerge.“ 13 Umgekehrt übernehmen die in diesem anderen Raum Handelnden die Kontrolle über ein Fragment des Alltags, trennen es, indem sie es in Anspruch nehmen, von den umgebenden Geschehnissen ab. Féral spricht damit von einem Prozess, der eine reziproke Blickrelation beinhaltet: [T]heatricality appears to be more than a property; in fact, we might call it a process that recognizes subjects in process; it is a process of looking at or being looked at. It is an act initiated in one of two possible spaces: either that of the actor or that of the spectator. In both cases, this act creates a cleft in the quotidian that becomes the space of the other, the space in which the other has a place. 14 Die doppelte Spaltung des Blickes erfolgt nach Féral, wenn eine Situation des Betrachtens und Angeschaut-Werdens sich einstellt, ein wechselseitiges Zu- und Anschauen also. Aus diesem Blickverhältnis wird eine Spaltung erzeugt, in welcher Subjekte, die in einen bestimmten Prozess verwickelt sind, beidseitig erkannt werden können. Dadurch entstehen zwei Räume: Ein Raum, in dem etwas dargestellt und eine Geschichte („fiction“ oder „illusion“ in Férals Worten) erzählt werden kann, und ein Raum des Betrachtens. Ein Bühnenraum und ein Zuschauerraum. Angewandt auf die Inszenierungen im Squat Theatre muss Férals Modell aller- 78 Simona Travaglianti dings, aufgrund der durchsichtigen Trennwand des Schaufensters, erweitert werden. Für die Zuschauer im Inneren des Geschäftslokals könnte die Situation einer konventionellen, institutionellen Theatersituation entsprechen: Sie sitzen auf ihren bezahlten Plätzen. Die Rampe der Vorbühne trennt sie von den Geschehnissen auf der Bühne. Behütet sitzen sie im Zuschauersaal, neben ihnen andere Zuschauer. Jeder einzelne Zuschauer rahmt und bestimmt die theatrale Aktion auf der Bühne als solche. An und für sich könnte er auf seinem Sitzplatz in die erzählte Geschichte versinken und sich seinem kulturellen Konsum hingeben. Doch der Zuschauerblick wird gestört und kann sich nicht „ungehindert auf den fiktionalen Raum ausrichten.“ 15 Er wird gestört durch die durchsichtige Bühnenhinterwand, welche die Straße zur Verlängerung der Bühne macht und so der Realität, der Unvorhersehbarkeit und Spontaneität der Straße willentlich Einlass gewährt. Die doppelte Spaltung des Blickes von Josette Féral wird in Andy Warhol’s Last Love nochmals verzweifacht. Nicht nur die Handelnden, die eine Fiktion oder Illusion herstellen, blicken zurück, sondern auch die andere Zuschauerfraktion im Innenwie auch im Außenraum. Damit wird der Zuschauerblick zweifach gestört, da er zweifach erwidert wird. Dies demontiert die Behaglichkeit der Zuschauerposition, weil das Betrachten auffällig gemacht wird. Josette Férals Theatralitätskonzept beinhaltet damit eine direkte Teilnahme - oder Partizipation -, die sich über ein Blickverhältnis einstellt. Nur mittels eines handelnden Blickes, der betrachtet und zuschaut, aushandelt, rahmt und einteilt, kann sich eine theatrale Situation generieren. Der Zuschauer behält indes immer eine gewisse Distanz zu den Geschehnissen. Die Abgrenzung stellt sich in dem Moment ein, in dem er erkennt, dass es sich um eine Theateraufführung handelt. In Andy Warhol’s Last Love lässt sich diese Distanzierung am prägnantesten bei der Zuschauerfraktion herausarbeiten, die sich auf der 23. Straße befindet. Per Zufall in die Aufführung hineingeraten, bastelt sich dieser Zuschauer einen Sinn zusammen, aus den wahrnehmbaren Fragmenten im Inneren des Squat Theatres und mit den Ereignissen auf der Straße, ob sie nun zur Inszenierung gehören oder nicht. Dabei spielt sein Blick, der rahmt und entscheidet, was zum Stück zählt und was nicht, die entscheidende Rolle. Indem er weitgehend eine Partizipation akzeptiert, nimmt er gleichzeitig eine Distanzierung vor, die seine eigene Position plötzlich ins Zentrum rückt. Er muss seine Position aushandeln und sich entscheiden, ob er weitergehen möchte oder auf der Verlängerung der Bühne des Squat Theatres stehen bleibt. Vor allem entscheidet er, wie er sich an der Aufführung beteiligen will, als Performer und/ oder als Betrachter. Position und Situation Indem die Zuschauer des Squat Theatres im Inneren wie auch die Zuschauer außen durch die gegenüberliegende Zuschauerpartei in ihrem Betrachten betrachtet werden, wird ihre Steh- oder Sitzposition bedeutungsvoll, weil sie eigenständig auszuhandeln ist. Durch die auffällig gemachte Tätigkeit des Zuschauens und durch den Einbezug dieser Tätigkeit gerät der eigentliche Ort, 16 auf welchem die Zuschauer sitzen, gehen oder stehen, in den Brennpunkt. Dies ist dem Blickdispositiv des Squat Theatres mit seiner spezifischen und durchsichtigen Bühnenhinterwand geschuldet. Die Raumeinteilung, die mittels der transparenten Glasfront des Ladenlokals zwei verschiedene Zuschauerpositionen spiegelt und eine konventionelle Betrachterposition stört, hat aber noch eine weitere Konsequenz. Josette Férals reziproke Blickrela- 79 Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber tion beruht auf der Annahme, dass das, was zwischen diesem Blickaustausch entsteht, eine in sich geschlossenen Fiktion oder Illusion darstellt. Mit der Emergenz einer Fiktion oder Illusion als Resultat eines Wechselverhältnisses, das auf einem Blickaustausch basiert, geht sie undifferenziert um. In Andy Warhol’s Last Love wird aber eine in sich abgeschlossene Erzählung mit den unterschiedlichsten Mitteln fortwährend unterlaufen. Neben der Konfrontation des Innenmit dem Außenraum und mit der Gegenüberstellung der Zuschauer innen und außen, spielt insbesondere der Einsatz der Stimme, die aus dem Lautsprecher kommt, eine bedeutende Rolle in der Unterbrechung einer abgerundeten Fiktion. Die aus den Lautsprechern eingespielte Stimme ist nicht klar einer Person oder einem Darsteller zuzurechnen. Als over-Stimme 17 ist sie sowohl von der Projektion und den darin auftretenden Darstellern (Crazy Eddie und „Andy Warhol“), als auch von dem dann auftretenden Schauspieler losgelöst. Der Inhalt der Tonbandnachricht, die kaiserliche Botschaft, die sich direkt an den Zuschauer wendet, unterstreicht ein scheiternder Illusions- und Kommunikationsversuch. Der Inhalt der kaiserlichen Botschaft, die Nachricht eines Toten, wird nicht enthüllt, sondern kann nur erträumt werden, wie dies der letzte Satz der Parabel besagt: „Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.“ 18 Damit wird eine raum-zeitliche, stimmige und abgerundete Illusion aufgebrochen. Eine bündige, in sich geschlossene Fiktion - gar eine spektakuläre Fiktion - wird verhindert. Es handelt sich um eine Situation, in welcher der Zuschauer nicht „consommateur d’illusions“ 19 ist. Vielmehr muss er sich einbringen und träumen, und so die Lücken von Andy Warhol’s Last Love eigenständig, mit seiner Vorstellungskraft bereichern. Die Position und Verortung des Zuschauers bekommt eine zentrale Bedeutung, weil er sich mit einer aufgebrochenen Fiktion konfrontieren muss. Das Bewusstsein des eigenen Standortes wird verstärkt und unterstrichen. Oder um die bereits erwähnte Aussage von Gerald Siegmund vollständig aufzugreifen: Wenn sich der Zuschauerblick nicht ungehindert auf den fiktionalen Raum ausrichten kann, dieser andere Raum sich also nicht eindeutig als anderer Raum etablieren kann, vermag der Ort des Zuschauers selbst auffällig zu werden. Unabhängig von unserem Status als Zuschauende und dem damit verbundenem Raum wird unser Blick und unsere Aufmerksamkeit auf den realen Ort gelenkt, an dem, wie Aleida Assmann es bereits formuliert hat, bereits gehandelt wurde, an dem bereits etwas stattgefunden hat. Die Geschichtlichkeit des Ortes wird selbst dabei auffällig und ins Spiel der Blicke integriert und ausgespielt. 20 Sowohl durch diese spezielle Konstellation der Zuschauer und der theatralen Aktion in den Inszenierungen des Squat Theatres als auch durch die angewendeten Verfahren in ihrer Theaterarbeit treten der konkrete Ort und die spezifische Position, die der Zuschauer einnimmt, in den Vordergrund. Dadurch wird sich jeder Zuschauer seiner jeweiligen Zuschauerposition bewusst und die Wahrnehmung kann immer wieder von der inszenierten Geschichte auf den realen Ort abgleiten, an dem er sich befindet und der ihn umgibt. Damit sieht sich jeder Zuschauer mit der Aushandlung seiner eigenen Position konfrontiert, wie auch mit seiner je individuellen und subjektiven Situation. Für die Bestimmung der Situation möchte ich an dieser Stelle die Konzeption bzw. die Konstruktion einer Situation einführen, welche die Situationisten auf besonders prägnante Art und Weise formuliert haben. Die Situationistische Internationale ist eine 80 Simona Travaglianti Avantgarde-Bewegung, die von 1957 bis 1972 bestand. Bereits für die Namenswahl erscheint der Begriff Situation entscheidend: Ihr künstlerisches Hauptanliegen ist die Konstruktion von Situationen, 21 die als konstruierte Zwischenfälle aufzufassen sind, und welche der Verunsicherung und der Beschleunigung eines Bruchs dienen. Damit, so die Absicht der Situationisten, kann es zur Subversion einer in sich geschlossenen, fiktionalen und spektakulären Welt kommen, und Gewohntes wird mit einer veränderten Wahrnehmung angeblickt. In einem Artikel aus dem Jahr 1960 mit dem Titel „Théorie des moments et construction des situations“ erklären sie ihr Bestreben mit folgenden Worten: „La situation, étroitement articulée dans le lieu, est complètement spatio-temporelle. Les moments construits en ‚situation‘ [peuvent] être considérés comme les moments de rupture [et] d'accélération.“ 22 Der reale Standort und der spezifische Ortsbezug spielen bei der Konzeption der Situation eine entscheidende Rolle. Erst wenn sich ein Zuschauer an einem ganz bestimmten Ort positioniert hat, seine Wahrnehmung ins Spiel bringt und aufs Spiel setzt, kann es gemäß der Situationistischen Internationale zu einer konstruierten Situation kommen. Nur indem sich ein Zuschauer an einem ganz spezifischen Ort einfindet, dort willentlich und bewusst das Risiko einer veränderten Wahrnehmung eingeht und gegen Gewohnheiten, Normen und Regeln aufbegehrt, können Brüche in der Wahrnehmung beschleunigt und erzeugt werden. Der Ort spielt bei den Situationisten eine Hauptrolle und fungiert als Mitgestalter, mit welchem permanent ein Dialog aufgebaut werden soll. In den site-specific-Aufführungen des Squat Theatres ist dieser Ort das Geschäftslokal, das wie die Theatergruppe selbst Squat Theatre heisst, und die Strasse davor, beziehungsweise die Stadt New York. Im Squat Theatre, an der 23. Straße in New York, intervenieren kontinuierlich distanzierende Zuschauer. Diese sitzen und stehen, blicken und betrachten. Sie fügen Brüche ein, sie konstruierten Situationen. So betrachtet, erhält der Name der Gruppe plötzlich eine wesentliche Signifikanz: Etwas wird „gesquattet“, eine Besetzung findet statt. Durch diese spezifische Blickposition und -situation nehmen die Zuschauer des Squat Theatres die unterschiedlichen Theaterräume in Beschlag, sie finden sich darin ein, benutzen und gestalten sie mit. Auch wenn die Grenze zwischen Passant, Mitakteur und Zuschauer sich zeitweilig zu verflüssigen scheint, wird sie sofort wieder errichtet durch den Blick und durch das Bewusstsein, in eine theatrale Aktion hineingeraten zu sein. Diese doppelte Spaltung des Blickes, wie Féral es nennt, ermöglicht das Ausloten einer bestimmten Zuschauerposition, die zwischen Partizipation und Distanzierung oszilliert und sich nicht definitiv festlegen muss, sondern aufgrund der Zuschauersituation immer wieder ins Spiel geraten kann. Die jeweilige Situation des Zuschauers vermag die Brüche, die in der Inszenierung Andy Warhol’s Last Love bereits angelegt sind, zu beschleunigen und die Fiktion offen zu halten. Damit wird eine multiple Interpretation ermöglicht. Jeder Zuschauer hat sein eigenes Stück gesehen, ausgehend von seiner Position und Situation, seiner Anteilnahme und/ oder Distanzierung. Vereinzelung und Gemeinschaft Jeder Zuschauer hat in den so angelegten Inszenierungen des Squat Theatres also eine andere Aufführung gesehen. Selbst ein Zuschauer im Inneren des Ladenlokals hat nicht dasselbe gesehen wie sein Sitznachbar, von dem Zuschauer vor dem Squat Theatre ganz zu schweigen. Damit kann jedem einzelnen Zuschauer des Squat Theatres eine 81 Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber Rolle zugesprochen werden, die aufgrund dieser Disposition und dieses Dispositivs ins Rampenlicht rückt. Als Mitbeteiligter, Teilnehmer oder Zeuge kann die Stellung des Zuschauers mit einer gewissen Aktivität in Verbindung gebracht werden. Zuvor wurde Férals Vorschlag zur Bestimmung der Theatralität mithilfe einer reziproken Blickrelation betrachtet, die der Zuschauer vornimmt. Diese Handlung, die ein Aushandeln von Räumen und eine Rahmung der Geschehnisse impliziert, stellt Zuschauersubjekte ins Zentrum und spricht ihnen eine gewisse Eigenständigkeit für die vorgenommene Spaltung des Blickes zu. Jacques Rancière hält in der Benennung des Zuschauers als „emanzipierten Zuschauer“ ebenfalls an einer Handlung fest. Er löst den Blick von einem Voyeur und somit von einer ihm inhärenten Passivität ab und schreibt der Handlung des Zuschauens eine Aktivität zu. Mit den Worten Rancières handelt der Zuschauer, auch wenn er vermeintlich reglos im abgedunkelten Parkett sitzt: Er beobachtet, er wählt aus, er vergleicht, er interpretiert. Er verbindet das, was er sieht mit vielen anderen Dingen, die er gesehen hat, auf anderen Bühnen und an anderen Arten von Orten. Er erstellt sein eigenes Gedicht mit den Elementen des Gedichts, das vor ihm ist. [. . .] Sie [die Zuschauer] sind somit distanzierte Zuschauer und aktive Interpreten des Schauspiels, das ihnen geboten wird. 23 Diese Möglichkeit, Rancière spricht sogar von „Macht“, zur Assoziation und Dissoziation, verwandelt jeden einzelnen Zuschauer in einen emanzipierten und aktiven Zuschauer. 24 Als emanzipierter Zuschauer partizipiert er, ohne komplett involviert zu sein, und tut dies auf seine je individuelle Art und Weise, mit seinen Erfahrungen, Erinnerungen und Fantasien, Unterscheidungsbestrebungen und Bestätigungsbedürfnissen. Er interpretiert aktiv und inmitten einer Gruppe von Zuschauern, also mehr oder weniger gleichgesinnten Theaterliebhabern, dem Publikum. Rancières emanzipierter Zuschauer der ästhetischen Konfrontation ist ein zur Handlung ermächtigtes Subjekt, aber keinesfalls ein Kollektivsubjekt. 25 Doch stellt es nicht eine Verkürzung dar, wenn man an dieser Stelle beim vereinzelten, wenn auch emanzipierten - da blickenden, beobachtenden und damit handelnden - Zuschauer stehenbleibt? Rancières Überlegungen scheinen mir zu kurz zu greifen, insbesondere in Bezug zur allgemein geduldeten Annahme, dass dem Theater eine gemeinschaftsstiftenden Funktion innewohnt. Zuerst bestimmt Rancière ein die Theaterkunst konstituierendes Paradox - ohne Zuschauer kein Theater - 26 und spricht dem Theater mit folgenden Worten jegliche gemeinschaftsbildende Eigenschaft ab: Die kollektive Macht, die den Zuschauern gemeinsam ist, liegt nicht in ihrer Eigenschaft Mitglieder eines Kollektivkörpers zu sein oder in irgendeiner spezifischen Form der Interaktion. Es ist die Macht, die jeder oder jede hat, das, was er/ sie wahrnimmt, auf seine/ ihre Weise mit dem besonderen intellektuellen Abenteuer zu verbinden, die sie jedem anderen ähnlich macht, insofern dieses Abenteuer keinem anderen gleicht. Diese gemeinsame Macht der Gleichheit der Intelligenzen verbindet die Individuen, lässt sie ihre intellektuellen Abenteuer untereinander austauschen, insofern sie sie getrennt voneinander hält, die sie alle fähig sind, die Macht aller zu verwenden, um ihren eigenen Weg zu gehen. 27 Indem Rancière den emanzipierten und vereinzelten Zuschauer zu einem Zuschauer macht, der sich gewissermaßen der szenischen Aktion unterwirft, um sich zum Akteur, Übersetzer und Interpreten seiner intellektuellen Abenteuer erheben zu können, gliedert er ihn wieder in eine homogene 82 Simona Travaglianti Gruppe ein. Es ist die Verschiedenheit, die alle Zuschauer gleich macht. Wie Nikolaus Müller-Schöll es in seiner Kritik an Rancières emanzipiertem Zuschauer ausdrückt, ist „jeder Betrachter [ein] Handelnder (acteur) seiner Geschichte und zugleich deren Betrachter [und wird] dadurch den anderen [Zuschauern] ähnlich [da er] mit ihnen die Fähigkeit der Assoziationen und Dissoziationen [teilt], aber weiter nichts.“ 28 Obwohl Rancière das Publikum parzelliert und jeden emanzipierten Zuschauer zum vereinzelten Betrachter erklärt, schließt er ihn trotzdem in eine, in sich bündige, ästhetische Gemeinschaft ein, die durch die Kommunion aller Versammelten erst entstehen kann. Es ist eine unhinterfragte Eingliederung in ein, in dieser Form zuvor inexistentes Ensemble, in welchem Zuschauer wie Darsteller sich zusammenschließen zu einem romantischnostalgischen Miteinander. Dies passiert wohlgemerkt in der einzigartigen Situation Theater, in welcher sich Performer und emanzipierte Zuschauer kopräsent begegnen können. Was sich, ausgehend von und während dieser performativen Zusammenkunft entwickelt und produziert, nennt er „eine dritte Sache.“ 29 Mit diesen Ausführungen verbindet Rancière all seine Singularitäten zu einer Gemeinschaft, obwohl er eigentlich dagegen argumentiert. Indem er jeden einzelnen Zuschauer abkapselt und isoliert, bindet er ihn ein in eine Gemeinschaft der verschiedenartigen Singularitäten, in eine „Gemeinschaft der Subjekte ohne Identität.“ 30 Dies schließt eine gewisse Beliebigkeit aller Mitglieder ein. Wie es Giorgio Agamben in Die kommende Gemeinschaft erklärt, wären alle Mitglieder einer so gedachten Gemeinschaft Teil des „qualunquismo“. Jeder Teilnehmer an einer so konzipierten Gemeinschaft wäre also Irgendeiner. Als Irgendeiner wird nach Agamben das Subjekt als apolitisch, undifferenziert und als sich ständig exponierende Singularität aufgefasst. Dies hat zur Folge, dass dieser Irgendeiner, ein Subjekt ohne Identität und Individualität darstellt. 31 Wie könnte man eine Gemeinschaft der Theaterliebhaber heute denken? An der gemeinschaftsstiftenden Funktion des Theaters, die auf einer einstimmigen Kommunion oder homogenen Fusion basiert, lässt sich kaum festhalten. Wir tauchen als Theaterzuschauer nicht mehr in eine erzählte und dargestellte Geschichte ab, wir identifizieren uns nicht mehr mit den Figuren auf der Bühne. Das hat uns das postdramatische Theater endgültig ausgetrieben. Durch den Aufbruch einer in sich geschlossenen Illusion oder Fiktion, wie ich dies exemplarisch mit der Aufführung Andy Warhol’s Last Love ausgeführt habe, rückt die subjektive Position und Situation der Zuschauer in den Fokus. Die Subjektivität der einzelnen Zuschauer konstituiert sich performativ und während der Aufführung. Trotzdem befinden sie sich in einer Gruppe von gleichgesinnten Theaterliebhabern, teilen die gleiche Zeit und setzen sich dem gleichen künstlerischen Projekt aus. Rancières Gemeinschaftssinn, der auf einer Union der gemeinsamen Unterschiedlichkeit gründet, die alle Zuschauer teilen, lässt einen Aspekt unbeachtet, auf den Josette Féral für die Bestimmung der Theatralität hingewiesen hat und der für die Aktivität des Zuschauens wie auch für die Frage der Gemeinschaft nützlich ist: Die Tatsache, dass aufgrund einer doppelten Spaltung des Blickes dem Anderen ein Raum gegeben werden muss, sodass die Illusion oder Fiktion zum Vorschein kommen kann. Damit sich eine Gemeinschaft konstituieren kann, eine Gemeinschaft, die durchaus fragil und temporär sein kann, wie diejenige des Theaters, muss eine Beziehung zur Alterität akzeptiert werden. Dieses Andere lässt sich aber nur negativ fassen und vom Eigenen abgrenzen. Nicht die Heterogenität von Rancière vereint Subjekte und 83 Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber Singularitäten. Férals Konstellation des wechselseitigen Zuschauens und Angeblickt-Werdens ermöglicht dem individuellen Subjekt eine „Exposition gegenüber dem, was seine Abgeschlossenheit unterbricht und es nach Außen kehrt [. . .].“ 32 Damit basiert die Zusammenkunft eines so gedachten Subjektes nicht auf einer Teilhabe, einem positiven Haben, sondern auf einer Negativität, einem Fehlen oder Mangel. Wie es Roberto Esposito in seiner Konzeption der Gemeinschaft formuliert, ist „das Gemeine nicht vom Eigenen gekennzeichnet, sondern vom Uneigen(tlich)en - oder, drastischer gesagt, vom Anderen.“ 33 Erst die reziproke Relation mit der Alterität und eine darauf basierende, negativ definierte Gemeinschaft, scheint für den Versuch zu greifen, eine Theorie des Zuschauers aufzustellen. Der Versuch, den Zuschauer theoretisch zu fassen Mit den Gegenpaaren Partizipation und Distanz, Vereinzelung und Gemeinschaft lässt sich die Frage des Zuschauers aufgreifen. Um ihn theoretisch zu fassen, so meine These, müssen darüber hinaus zwei weitere Elemente hinzugedacht werden, die anders als die ersten vier Parameter nicht Oppositionen darstellen: die Position und die Situation. Die Situation, die Brüche einleitet und eine fiktive Abgeschlossenheit verhindert, und die Position des Zuschauers, also sein Stand- und Betrachterpunkt, lassen sich meiner Ansicht nach in einer Auseinandersetzung, in welcher es um die Frage des Zuschauers und seiner Subjektkonstitution geht, nicht wegdenken. Mit Josette Férals doppelter Spaltung des Blickes gerät die Position des Zuschauers in den Brennpunkt. Seine Positionierung an Ort und Stelle beruht auf dem aktiven Aushandeln, das zwischen Partizipation und Distanzierung pendelt. Diese doppelte Spaltung wird in der Aufführung Andy Warhol’s Last Love vom Squat Theater bei der Zuschauerfraktion, die draußen auf der 23. Straße steht, besonders deutlich. In Férals Konzeption der Theatralität fehlt eine Reflexion bezüglich der Fiktion oder Illusion, und wie sich diese produziert und gestaltet. Mit der Hinzufügung der Situation als Komponente, die eine spektakuläre, in sich geschlossene Illusion unentwegt verhindert, kann Férals Modell erweitert und präzisiert werden. Die Situation leitet Brüche ein, beschleunigt sie und fordert die Zuschauer auf, sich einer Alterität zu öffnen. Das Verhältnis zum Anderen lässt den Zuschauer gleichzeitig als vereinzelten und doch gemeinschaftlichen Zuschauer dastehen, da die Abgeschlossenheit seiner Subjektivität aufgrund eines Mangels ausgestellt wird. In Andy Warhol’s Last Love wird der Andere an erster Stelle immer wieder mit dem Tod in Verbindung gebracht. Der Einsatz der Parabel von Franz Kafka, die die Botschaft eines Toten darstellt, bringt ein Fehlen oder einen Mangel in Bezug zur Alterität besonders treffend zum Ausdruck. Der Inhalt der Nachricht des Kaisers, der bereits tot ist als sich sein Bote damit auf den Weg macht, wird nicht dargelegt. Von der Botschaft bleibt nur der Übermittler, der Bote übrig, der in der kafkaesken Parabel allerdings den Fangarmen eines autoritären, kaiserlichen Systems nicht entkommt. Der Empfänger der Botschaft kann sich den Inhalt daher nur erträumen und sich vorstellen, wozu er mittels der direkten Ansprache auch aufgefordert ist. In Andy Warhol’s Last Love dringt der Bote durch und tritt im Squat Theatre auf. Doch er ist stumm. Die Nachricht des Toten lässt sich, selbst wenn der übrig gebliebene Bote alle Hindernisse bewältigt hat und durchkommt, nicht übermitteln. Sie lässt sich nur erdenken. An zweiter Stelle wird in der Aufführung des Squat Theatres noch eine andere Bezie- 84 Simona Travaglianti hung zur Alterität stimuliert. Diese erstellt sich über die Konfrontation mit der gegenüberstehenden Zuschauerfraktion, in der man sich als Zuschauer spiegelt. Unterstrichen wird damit, dass wir als Subjekte in einer Gemeinschaft vereint sind, doch wiederum nur über den Anderen, der nichts anderes darstellen kann als den Tod. Nur in unserer Sterblichkeit sind wir als Subjekte vereint, wie es Maurice Blanchot formuliert: Qu'est-ce donc qui me met le plus radicalment en cause? Non pas mon rapport à moimême comme fini ou comme conscience d'être à la mort ou pour la mort, mais ma présence à autrui en tant que celui-ci s'absente en mourant. Me maintenir présent dans la proximité d'autrui qui s'éloigne définitivement en mourant, prendre sur moi la mort d'autrui comme la seule mort qui me concerne, voilà ce qui me met hors de moi et est la seule séparation qui puisse m'ouvrir, dans son impossibilité, à l'Ouvert d'une communauté. 34 Anmerkungen 1 Ulrike Hass, Das Drama des Sehens: Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, S. 143 ff. 2 Pig, Child, Fire! wurde vor dem Exil in New York produziert und 1977 in Rotterdam uraufgeführt. In New York wurde das Stück wieder aufgenommen. 3 Diese Entscheidung war nicht nur praktisch, sondern auch politisch. Sie hatten in Ungarn ein Auftrittsverbot. 4 Dieses Setting scheint bei allen Produktionen des Squat Theatres verwendet zu werden. Die Beschreibung der Aufführung Mr. Dead and Mrs. Free, beispielsweise von Suzanne Körösi („Squat Theatre’s‚ Mr. Dead and Mrs. Free’“, in: TDR, Vol. 25, Nr. 4, Winter 1981, S. 75 - 81), bezieht sich auf die Aufführung, die in Köln anlässlich des Festivals „Theater der Welt“ 1981 gezeigt wurde, und somit nicht im Squat Theatre an der 23. Straße in New York stattfand. In der Beschreibung wird darauf hingewiesen, dass ebenfalls eine Glasfront im Bühnenhintergrund benutzt wird, ohne jedoch näher darauf einzugehen. Der Artikel beschreibt ausschließlich das, was auf der Bühne passiert. 5 Richard Schechner, „Notizie, sesso e teoria della performance“, in: Claudio Vicentini, Bologna: Mulino (Hrsg.), Il teatro nella società dello spettacolo, S. 11 - 33, hier S. 20. Dieses Setting gilt für alle Aufführungen des Squat Theatre, die im Geschäftslokal in der 23. Straße gezeigt wurden. Für eine Aufführung von Mr. Dead and Mrs. Free anlässlich eines Festivals wird ebenfalls von einer Glasfront als Bühnenhintergrund gesprochen, siehe hierfür weiter hinten Fußnote 11. 6 Franz Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer: Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlass, hrsg. von Max Brod und Hans Joachim Schoeps, Berlin 1931, S. 22 - 23. 7 Es handelt sich dabei um einen Schauspieler mit langem, blondem Haar und einer Warhol-Maske. 8 Adele Edling Shank und Theodore Shank, „Andy Wahrhol’s Last Love“, in: The Drama Review, Vol. 22, Nr. 3, Sept. 1978, S. 11 - 22, hier, S. 18. Der Satz wird in der Aufführung auf Englisch verwendet: „Nobody could fight his way through here, least of all somebody with a message from a dead man.“ 9 Roger Copeland, „Squat Theatre Explodes Conventions“, in: The New York Times, 17. 10. 1982. 10 Josette Féral, „Theatricality: The Specificity of Theatrical Language“, in: Substance, #98/ 99, Vol. 31, Nr. 2/ 3, 2002, S. 94 - 108. 11 Ebd., S. 97. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 98. 15 Gerald Siegmund, „In die Geschichte eintreten: Performatives Erinnern bei Rimini Protokoll und Klaus Michael Grüber“, in: Moritz Csáky und Christoph Leitgeb (Hrsg.), Kommunikation - Gedächtnis - Raum: Kulturwissenschaften nach dem ‚Spa- 85 Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber tial Turn‘, Bielefeld 2009, S. 71 - 92, hier S. 72. 16 Ganz bewusst wird an dieser Stelle von Ort und nicht von Raum gesprochen. Diese Unterscheidung geht auf Michel de Certaus L'intervention du quotidien: 1. Arts de faire aus dem Jahr 1980 zurück. Darin definiert er den Ort als fest verankert und von seiner Lage abhängig. Der Raum hingegen ist für de Certau mobil und entsteht erst aufgrund der darin ausgeführten Praktiken. 17 Für die Unterscheidung von off- und over- Stimme siehe: Michel Chion, L'audio-vision: son et image au cinéma, Paris 1990; Alain Boillat, Du bonimenteur à la voix-over: voixattraction et voix-narration au cinéma, Lausanne 2007 oder meine Ausführungen in: „Debords unzertrennliche Montagen in Critique de la séparation“, in: Andy Blättler u. a. (Hrsg.), Intermediale Inszenierungen im Zeitalter der Digitalisierung: Medientheoretische Analysen und ästhetische Konzepte, Bielefeld 2010, S. 129 - 146. 18 Kafka 1931, S. 23. 19 Guy Debord, „La société du spectacle. Thèse 47“, in: Jean-Louis Rançon (Hrsg.), Guy Debord: Œuvres, Paris 2006, S. 781. 20 Siegmund 2009, S. 72. Auf diese Unterscheidung von Ort und Raum von de Certau greift auch Gerald Siegmund zurück und erweitert damit das Theatralitäts- und Blickmodell von Josette Féral. Er bezieht sich dabei auf Call Cutta (2004) von Rimini Protokoll und Klaus Michael Grübers Winterreise (1977). 21 Guy Debord, „Rapport sur la construction des situations et sur les conditions de l'organisation et de l’action de la tendance situationniste internationale“, in: Jean-Louis Rançon (Hrsg.), Guy Debord: Œuvres, Paris 2006, S. 309 - 328. Dieses Manifest wurde im Juni 1957 veröffentlicht und diente als Basis für die Gründung der Situationistischen Internationalen. 22 internationale situationniste, „Théorie des moments et construction des situations“, Nr. 4, S. 10 - 11, hier S. 11. 23 Jacques Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, aus dem Französischen von Richard Steurer, Wien 2009, S. 23 - 24. Original: Jacques Rancière, Le spectateur émancipé, Paris 2008, S. 19: „Il observe, il sélectionne, il compare, il interprète. Il lie ce qu'il voit à bien d'autres choses qu'il a vues sur d'autres scènes, en d'autres sortes de lieux. Il compose son propre poème avec les éléments du poème en face du lui. Elle participe à la performance en la refaisant de sa manière, en se dérobant par exemple à l'énergie vitale que celle-ci est censée transmettre pour en faire une pure image et associer cette pure image à une histoire qu'elle a lue ou rêvée, vécu ou inventée. Ils sont à la fois ainsi des spectateurs distants et des interprètes actifs du spectacle qui leur est proposé.“ 24 Rancière 2009, S. 27, meine Hervorhebung. 25 Interessanterweise betrachtet Rancière in La mésentente (1995) Subjekte des Ästhetischen, die ein Geschmacksurteil zu fällen haben, nie als Teil einer Gemeinschaft, während politische Subjekte erst durch den Zusammenschluss zu einer Gruppe (der Anteillosen) zu Wort kommen. 26 Rancière 2008, S. 12. 27 Rancière 2009, S. 27, im Original S. 23: „Le pouvoir commun aux spectateurs ne tient pas à leur qualité de membres d’un corps collectif ou à quelque forme spécifique d'interactivité. C’est le pouvoir qu’a chacun ou chacune de traduire à sa manière ce qu’il ou elle perçoit, de le lier à l’aventure intellectuelle singulière qui les rend semblables à tout autre pour autant que cette aventure ne ressemble à aucune autre. Ce pouvoir commun de l’égalité des intelligences lie des individues, leur fait échanger leurs aventures intellectuelles, pour autant qu’il les tient séparés les uns des autres, également capables d’utiliser le pouvoir de tous pour tracer leur chemin propre.“ 28 Nikolaus Müller-Schöll, „Das undarstellbare Publikum: Vorläufige Anmerkungen für ein kommendes Theater“, in: Sigrid Gareis und Krassimira Kruschkova (Hrsg.), Ungerufen: Tanz und Performance der Zukunft, Berlin 2009, S. 82 - 90, hier S. 85. 29 Rancière 2009, S. 21. Erika Fischer-Lichte nennt diese dritte Sache den „performativen Raum“. Siehe Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/ Main 2004, 86 Simona Travaglianti S. 187 ff. Für Nicolas Bourriaud ist es die „esthétique relationnelle“. Siehe Nicolas Bourriaud, Esthétique relationnelle, Dijon 2001. Mario Perniola kritisiert es harsch als „idealen, weil puren Kommunikationsakt“: Dieser zeichne sich aus durch eine totalitäre Einkapselung des Austausches, in welchem Zuschauer und Performer als gleichwertige Partner in einen Dialog treten. Dabei müssen beide Fraktionen äußerst sensibel und rezeptiv sein, damit dieser Austausch gelinge, und gleichzeitig seien sie beide unfähig, das, was vermittelt wurde, über den Moment der Rezeption und Transmission hinauszutragen. Siehe: Mario Perniola, Contro la communicazione, Torino 2004. 30 Siehe Marcus Steinweg, Subjektsingularitäten, Berlin 2004, S. 87. 31 Giorgio Agamben, La communità che viene, Torino 2001, S. 53. 32 Roberto Esposito, Communitas: Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin/ Zürich 2004, S. 18. 33 Ebd., S. 16. 34 Siehe Maurice Blanchot, La communauté inavouable, Paris 1983, S. 21. Blanchot greift dabei Georges Batailles Überlegungen auf, insbesondere seine Überlegungen in und zu „Acéphale“. Sein Text ist ebenfalls eine Antwort auf den Artikel von Jean-Luc Nancy, „La communauté désoeuvrée“ aus demselben Jahr. 87 Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber Die Verwandlungen des Bühnensubjekts: Fallbeispiel René Pollesch Danijela Weber-Kapusta (München) In der zeitgenössischen deutschen Theaterlandschaft gilt René Pollesch als Vertreter eines theoretischen, reflexiven oder essayistischen Theaters, 1 in dem die konstitutiven Elemente des dramatischen (und illusionistischen) Theaters - fiktive Figuren, fiktive Handlung und dramatischer Dialog - 2 über Bord geworfen werden. Statt fiktive Rollen und Geschichten auf der Bühne darzustellen und sich mit ihnen zu identifizieren, geht es in Polleschs Vorstellungen viel mehr darum, über wissenschaftliche Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen zu diskutieren. „Theoretische, philosophische oder theaterästhetische Texte werden aus ihrer Behausung des Lesezimmers, der Universität oder der Theaterschule geholt“ 3 und innerhalb des ästhetischen Rahmens der Aufführung erörtert, diskutiert und problematisiert. Trotz zahlreicher inhaltlicher und inszenatorischer Übereinstimmungen mit dem von Hans-Thies Lehmann eingeführten Genre des essayistischen oder theoretischen Theaters, zeichnen Polleschs Inszenierungen zahlreiche Besonderheiten aus, die es unmöglich machen, sein Theaterschaffen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. 4 Dieselbe Bedeutung, die Pollesch der Wiederbelebung eines dialektischen - häufig auch politisch genannten - Theaters zumisst, 5 hat in seinem Schaffen auch die Anknüpfung an verschiedene Traditionen des komischen Theaters und ihre modifizierte Fortführung. Besonders gern bewegt er sich dabei im Bereich des Boulevardtheaters, dessen Konventionen einerseits bedient, andererseits aber auch thematisiert und infrage gestellt werden. Neben der spezifischen Vermischung von theoretischen und komischen Elementen stellen die Arbeit mit immer denselben Fragen und Inhalten bzw. das Prinzip des seriellen und zyklischen Schaffens sowie das Einbeziehen neuer Medien die dritte Besonderheit seiner Theaterarbeit dar. 6 Themen wie Wohnen, Arbeit, Geld und Liebe, Neokapitalismus oder Ausbeutung werden in Serien fortgesetzt und mit minimalen Unterschieden an verschiedenen Theaterhäusern perpetuiert. 7 Unabhängig vom aktuellen thematischen Schwerpunkt bleibt ein Motiv wie ein roter Faden in allen Inszenierungen präsent: die Frage nach der Konstitution des Subjekts in der neokapitalistischen Welt. Von seinen frühen Serien wie Heidi Hoh 1 - 3, www-Slums 1 - 10 und Prater Trilogie bis zu den späteren Stücksammlungen Liebe ist kälter als das Kapital und Kill Your Darlings, geht Pollesch hartnäckig und nachhaltig wie kaum ein anderer zeitgenössischer Dramatiker und Theatermacher der Frage nach dem Stellenwert und der Identitätskonstitution des zeitgenössischen Subjekts nach. Die spezifischen Erfahrungen, wie man in unserer Zeit zum Subjekt wird und ein Subjekt ist, bilden den Dreh- und Angelpunkt aller seiner Inszenierungen und Theatertexte. Mit besonderem Interesse behandelt er dabei individuelle wie auch überindividuelle Taktiken und Praktiken, die einen entscheidenden Einfluss auf die Identitätskonstitution seiner Zeitgenossen ausüben. Eine besondere Anforderung an die Schauspieler, die Polleschs Theatertexte aufführen, besteht darin, sich vom traditionellen Identifikationstheater loszulösen und neue Möglichkeiten theatraler Praxis zu erkunden. Obwohl sich Polleschs Schauspieler mit den dargestellten Rollen nicht Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 88-96. Gunter Narr Verlag Tübingen identifizieren und die Konstruktion fiktiver Figuren ständig unterwandern, gelingt ihnen eine völlige Auflösung der dramatischen Person trotzdem nicht. Was in Polleschs selbstreferenziellem Theater eigentlich passiert, ist eine permanente Überlappung von Tradition (des dramatisches Theaters) und ihrer gezielten Auflösung. Die Schauspieler wechseln in atemloser Geschwindigkeit zwischen der Konstruktion einer dramatischen Person, ihrer gleichzeitigen Dekonstruktion und dem nahtlosen Übergang in den Modus entindividualisierter Sprachmaschinen, 8 die nicht im Dienst der Handlung und der Figur stehen, sondern zum Mittel für die Reflexion über bestimmte gesellschaftliche Themen werden. Sowohl die Schauspieler als auch die ganze Inszenierungen entwickeln sich zu einer Art Bricolage, die aus Fiktion und Dekonstruktion, Funktionalisierung, Authentizität und Selbstinszenierung besteht. Dieses eigentümliche Verfahren des szenischen Spiels setzt die traditionellen theater- und literaturwissenschaftlichen Analysebegriffe außer Kraft. Mit Kategorien wie dramatische Person, Figur, Typ oder Charakter lassen sich Polleschs Theatertexte und Inszenierungen nicht analysieren. Die Bestimmung eines individuellen Subjekts misslingt dabei nicht, weil es an besonderen Merkmalen einer Person fehlt, sondern weil Pollesch mit oppositionellen Strategien arbeitet, die die Bestimmung eines Subjekts als individuelle und kohärente Persönlichkeit unterwandern. Im Einklang mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, 9 die die Identität als eine kontingente Größe und einen nie abschließbaren Prozess verstehen, will Pollesch seine Rezipienten für ein verändertes Verständnis der Subjektkonstitution sensibilisieren. Die Darsteller im Theater René Polleschs wechseln Namen, Rollen, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Funktion und Ansichten. Für den Rezipienten ist es eine unmögliche Mission, daraus das Bild einer kohärenten Figur zu erschaffen. Das Changieren der Schauspieler zwischen verschiedenen Identitäten und Einstellungen bedeutet jedoch nicht den Abschied vom Subjekt, sondern, wie es die Theaterwissenschaftlerin Martina Leeker hervorhebt, „die Auflösung des Konzepts von einer Identität und einem Selbst. Es geht darum, höchst unterschiedliche ‚Selbsts‘ hervorzubringen, zwischen denen man beständig hin und her zu wechseln vermag.“ 10 Gerade mit diesem fluiden Subjektbegriff, welcher sich nicht durch eine fixe Identität und einen inneren Wesenskern auszeichnet, sondern ein komplexes Spiel und Erproben unterschiedlicher, momentaner Identitäten denk- und erfahrbar macht, müssen René Polleschs Schauspieler permanent arbeiten. Auffällig an Polleschs Inszenierungen ist dabei, dass seine Darsteller die ganze Zeit im Dienste eines „Ich“ sprechen, dem Rezipienten aber die genaue Bestimmung dieses „Ich“ verweigern.Trotz aller Herausforderungen vor die sich die Theaterbesucher gestellt sehen, ergeben sich der Reiz und der ästhetische Genuss der Inszenierungen gerade aus dem permanenten Oszillieren der Schauspieler zwischen der Gestaltung einer minimalen Rolle und ihrer gleichzeitigen Dekonstruktion. Dabei geht es Pollesch nicht darum, eine Sprache zu schaffen, die sich aus dem Dienst einer Figur befreit und um ihrer selbst Willen besteht, 11 sondern darum, einen überindividuellen Sprachdiskurs zu erschaffen, der nicht mehr im Dienst „einer“ fiktiven Figur, eines Subjekts, eines Schauspielers steht. Eine Textpassage, die im traditionellen Theater eine dramatische Person oder eine Figur sprechen würde, wird bei Pollesch in einem ununterbrochenen Redefluss von mehreren Darstellern vorgetragen. Der Text gehört nicht einem, sondern allen Darstellern. Dadurch wird zwar das Konzept einer individuellen dramatischen Person aufgelöst, jedoch nicht das Konzept eines Subjekts 89 Die Verwandlungen des Bühnensubjekts: Fallbeispiel René Pollesch überhaupt. Pollesch geht es nicht um die Überwindung des Subjekts, sondern um die Auflösung des „figuralen“ Sprechens. Die Sprache ist für Pollesch kein Charakterisierungsmittel, kein besonderes Merkmal, anhand dessen sich ein Subjekt oder eine Figur von anderen Subjekten und Figuren absondern lässt. Auf die veränderte Funktion der Sprache verweist auch die Einführung eines neuen Sprachdiskurses. Der Theaterbesucher wird statt mit den gewohnten dramatischen Dialogen und Monologen mit den Darstellern konfrontiert, die Ausschnitte aus diversen philosophischen, soziologischen, psychologischen, wirtschaftlichen und anderen wissenschaftlichen Studien wie auch aus Tageszeitungen, der Boulevard-Presse oder der populären Kultur vortragen. Die dramatische Figur, die sich auf der Bühne traditionsgemäß durch Sprechen und Handeln konstituierte, wird bei Pollesch von einem Subjekt abgelöst, das weder die Handlung aktiv mitgestaltet, noch dem Geschehen passiv ausgeliefert ist, 12 sondern zur Schnittstelle verschiedener Sprach- und Machtdiskurse wird, und sich folglich als Subjekt bestimmter Praktiken konstituiert. Dabei kommt es zu einer interessanten Umkehrung der Verhältnisse. Während sich der Text immer mehr von einem individuellen Träger loslöst und durch die Verteilung an verschiedene Darsteller die persönliche Rede einer dramatischen Figur durch einen entindividualisierten Sprachdiskurs ersetzt, vollzieht sich der Moment der Subjektivierung auf einer anderen Ebene - auf der des Schauspielerkörpers. Der Prozess der Subjektkonstitution vollzieht sich nicht im inneren Kommunikationssystem, sondern in der physischen Präsenz des Schauspielers, an seinem Körper, seiner physischen Erscheinung. Anstelle eines fiktionalen Subjekts wird im Theater René Polleschs der reale Schauspieler als Subjekt „ausgestellt“. Von besonderer Signifikanz ist dabei, dass der Körper des Schauspielers dem Korpus standardisierter mimischer und gestischer Zeichen aus dem Bereich des dramatischen Theaters weiterhin verhaftet bleibt. Gerade im Bereich kinesischer Zeichen zeigt sich in paradigmatischer Weise, wie stark die Schauspieler trotz neuer Anschauungen über die Rolle und Funktionen des Theaters, auf alte Theatersemantik zurückgreifen. Damit wird der Körper des Schauspielers im Theater René Polleschs nicht nur zum Ort der Subjektkonstitution und -dekonstitution, sondern auch zum Ort, an dem die Zeichen des bürgerlichen Sprechtheaters, gezielt eingesetzt oder unbewusst fortgesetzt, immer wieder zum Ausdruck kommen. Um die gerade behandelten Besonderheiten des Theaters von René Pollesch auch am Beispiel einer Vorstellung zu veranschaulichen, wird im Folgenden die Inszenierung seines Theatertextes Liebe ist kälter als das Kapital am Stuttgarter Staatstheater einer Analyse unterzogen. Diese Inszenierung entstand 2007 im Rahmen einer Projektwoche zum Thema des Deutschen Herbstes und seiner zeitgenössischen künstlerischen Rezeption. Trotz der klaren Themensetzung des Stuttgarter Theaterprojekts sind die Bezüge zum Deutschen Herbst bei René Pollesch äußerst spärlich geblieben. Im Mittelpunkt des Interesses stehen nicht die Akteure der Roten Armee Fraktion, sondern die Aktualität der Frage, die einmal Andreas Baader und Ulrike Meinhof zum bewaffneten Kampf veranlasste: Gibt es in der zeitgenössischen Gesellschaft die Möglichkeit einer Veränderung der vorherrschenden sozialen, politischen, geschlechterspezifischen Verhältnisse? Die zentrale Frage nach der Möglichkeit des individuellen Widerstands wird bei Pollesch mit der Frage nach der Handlungsfreiheit des zeitgenössischen Subjekts verbunden. Die beiden Fragen werden von den Schauspielern Katja Bürkle, Silja Bächli, 90 Danijela Weber-Kapusta Florian von Manteuffel, Christian Brey und Bijan Zamani - vor dem Hintergrund ihrer Profession - behandelt. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei die Fragen nach der individuellen Freiheit des Künstlers im Prozess des künstlerischen Schaffens bzw. nach den spezifischen Arbeitsbedingungen, mit denen sich die Schauspieler als Arbeitnehmer abfinden müssen. 13 In Liebe ist kälter als das Kapital gibt es eine Szene, die wie ein roter Faden die ganze Inszenierung durchzieht. In dieser Szene geht es um den Konflikt der Schauspieler, die sich der Durchführung einer Ohrfeige auf der Bühne verweigern. Das Motiv der verweigerten Ohrfeige ist eine Referenz auf John Cassavettes Film Opening Night. 14 Genauso wie Polleschs Inszenierung, die mit dem Thema „Theater im Theater“ und „Film im Theater“ spielt, handelt auch John Cassavettes Film von der amerikanischen Theaterwelt. In seiner Inszenierung paraphrasiert René Pollesch eine Szene aus Opening Night, in der die Broadway-Diva Myrtle Gordon bei einer Theaterprobe die Durchführung einer Ohrfeige ablehnt. Das Motiv der verweigerten Ohrfeige wird in Liebe ist kälter als das Kapital zum Mittel der Hinterfragung einer kontroversen These: „Schauspieler werden geschlagen. Das ist die Tradition.“ Mit diesem Satz schreien sich Polleschs Darsteller immer wieder gegenseitig an und stellen dadurch die hierarchische Arbeitsstruktur infrage, laut derer sie sich den Anordnungen einer übergeordneten Regieinstanz unterwerfen müssen. Diese unterworfene, machtlose Position des Schauspielers wird auf die Spitze getrieben. So lautet das Stichwort in der letzten Szene der Vorstellung nicht mehr „Schauspieler werden geschlagen“, sondern „Schauspieler werden erschossen“ bzw. „Schauspieler werden erschlagen“. Das Bild eines Subjekts, das sich kritiklos den bestehenden Arbeitsbedingungen unterwirft, wird jedoch von den fünf Schauspielern nicht akzeptiert, sondern einer permanenten Hinterfragung ausgesetzt. Die Schauspieler rebellieren dabei nicht nur gegen das hierarchische Arbeitssystem, sondern auch gegen die herrschende Darstellungsnorm, der zufolge sich ein Schauspieler mit seiner Rolle identifizieren muss. Mit der Frage nach der Möglichkeit des individuellen Widerstandes, der Veränderung der bestehenden Arbeitsbedingungen und der sozialen Verhältnisse, nähert sich Pollesch dem thematischen Komplex der Stuttgarter RAF-Woche. Sein Interesse gilt jedoch nicht dem kollektiven, sondern dem individuellen Widerstand. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage, ob die Negation als Akt des Widerstands gegen Herrschaftsstrukturen noch möglich ist bzw. ob dieser Akt als Widerstand überhaupt noch wahrgenommen wird, oder ob er vom System schon vorweggenommen und dadurch von vornherein neutralisiert und als Widerstand ausgeschlossen wurde. 15 Obwohl die Inszenierung keine direkte Antwort auf diese Frage gibt, öffnet sie dennoch eine positive Perspektive. Die auftretenden Schauspieler geben nämlich ihre kleinen Rebellionen nicht auf, sondern insistieren auf ihrem Recht, „Nein“ zum Burn-out, Identifikationstheater oder zur Unterwerfung zu sagen. Gerade die alltäglichen Arbeitsbedingungen spielen laut Pollesch im täglichen Prozess individueller Identitätskonstitution eine zentrale Rolle. Liebe ist kälter als das Kapital kritisiert die durch die materielle Not ermöglichte Ausbeutung der Schauspieler, das pausenlose Changieren zwischen der Film- und Theaterwelt. Solches Multitasking, das von den Schauspielern nahtlose Übergänge zwischen verschiedenen fiktiven Ebenen erfordert und folglich die Wahrnehmung des eignen Selbst und der eigenen Realität beeinträchtigt, wird in Polleschs Inszenierung einer heftigen Kritik unterzogen: Die Realität kommt den Schauspielern nicht mehr wirklich vor. Die Grenzen zwischen der Fiktion und der Realität 91 Die Verwandlungen des Bühnensubjekts: Fallbeispiel René Pollesch verwischen, genauso wie die Grenzen zwischen einer fiktiven Figur und dem eigenen Selbst: C[hristian Brey]: „Und jetzt gerade sollte es doch losgehn, oder? Oder aus sein? Was soll es denn jetzt? Ja, ich weiß, das sind so Fragen! Aber ich bin so verunsichert, wenn ich nie weiß, geht’s jetzt los oder hört’s jetzt auf? Ich renn dauernd zwischen Film und Theater hin und her und frag mich, wann es denn endlich losgeht.“ 16 Die Unmöglichkeit, verschiedene Fiktions- und Realitätsebenen voneinander zu trennen, quält nicht nur die Schauspieler, sondern auch den Rezipienten. Das Spiel mit verschiedenen inhaltlichen Ebenen, mit Parallelhandlungen zwischen denen rasant und abrupt gewechselt wird, ist ein Markenzeichen René Polleschs. 17 Auch in Liebe ist kälter als das Kapital wird das szenische Geschehen durch gewollte Vermischung von unterschiedlichen Spielebenen extrem verkompliziert. Obwohl von einer klassischen dramatischen Handlung mit Anfang, Mitte und Ende nicht die Rede sein kann, lässt sich doch eine „Rahmensituation“ bestimmen. Sie besteht aus den Gesprächen der Schauspieler, die auf ihren Auftritt in einem Film oder in einer Theatervorstellung warten. Die zweite Spielebene stellen Motive aus Cassavettes Film. Auf der dritten Spielebene wird eine Fernsehreihe über die CDU-Welt gedreht, auf der vierten der Film RAF - Der Wüstenfuchs. Der Zuschauer wird dabei nicht nur durch übergangslose Überlappung von diesen vier Spielebenen überfordert, sondern auch durch die Montage von zahlreichen intertextuellen Motiven, deren Autoren und Quellen in der Vorstellung nicht genannt werden. Am Anfang der Vorstellung lassen sich verschiedene Spielebenen immerhin noch mithilfe von zwei getrennten Spielräumen voneinander trennen. Die für Pollesch Inszenierungen typische Einteilung des Bühnenraums in Vorder- und Hinterbühne ist auch in Liebe ist kälter als das Kapital erhalten. In den ersten Szenen bleibt der Raum der Vorderbühne noch als Ort einer Theaterfiktion erkennbar. Die Vorstellung beginnt mit einer fünfzehnminütigen stummen Szene, in der jeder der fünf Schauspieler mit derselben Aufgabe auf die Bühne kommt: Unter immer schwierigeren körperlichen Bedingungen auf einen Bankautomaten zu klettern und anschließend durch ein Fenster zu springen. 18 Am Anfang der Aufführung hat dieses Fenster eine symbolische Funktion: Es trennt die Vordervon der Hinterbühne. Die Vorderbühne ist der Ort der Theateraufführung. Der fiktive Charakter dieses Raumes wird durch die Eröffnung der Hinterbühne bloßgestellt. Ein Teil der Hinterbühne ist für die Zuschauer direkt sichtbar, während der nicht sichtbare Teil mithilfe von Kameras auf einen Bildschirm übertragen wird. Die zweite Szene, die auf der Vorderbühne stattfindet, stellt eine freie Paraphrase einer Szene aus Opening Night dar. Dass es bei Pollesch um Theater im Theater geht, wird klar, auch ohne Cassavettes Film zu kennen, denn gleichzeitig zur Aktion auf der Vorderbühne läuft auch eine Aktion auf der Hinterbühne: Dort stellen die Schauspieler, die gerade „nicht auftreten“, für ihre auf der Vorderbühne agierenden Kollegen die notwenigen Requisiten parat. Die unterschiedlichen Spielebenen lassen sich zu Beginn der Vorstellung noch immer voneinander trennen. Die Film- und Fernsehszenen finden auf der Hinterbühne statt und verschleiern nicht ihren fiktiven Charakter, sondern verweisen explizit auf die Setting-Maschinerie durch die Ausstellung von Kameras und Mikrophonen. Schließlich verhilft die Raumeinteilung am Anfang der Vorstellung auch dazu, die Rahmensituation zu bestimmen. Sie stellt immer wieder dieselbe Situation dar: Schauspieler, die an einem Tisch auf der Hinterbühne sitzen und über das verloren gegangene 92 Danijela Weber-Kapusta Gefühl für die eigene Realität und Identität diskutieren. Diese in den ersten Szenen noch einbehaltene räumliche Trennung unterschiedlicher Spielebenen wird im Laufe der Inszenierung aufgehoben. Gedreht, gespielt und diskutiert wird sowohl auf der Vorderals auch auf der Hinterbühne. Die rasanten Übergänge aus einer Szene in eine andere machen es unmöglich, mit Sicherheit festzulegen, wo es um ein Film-Setting, wo um die Rahmensituation und wo um eine Theaterprobe geht. Diesem Verwirrungsspiel auf der Ebene des szenischen Geschehens entspricht ein Verwirrungsspiel auf der Ebene des Rollenspiels. Polleschs Anspruch an seine Schauspieler, keine Rollen zu spielen, verkompliziert sich dadurch, dass seine Theatertexte trotzdem in Rudimenten fiktive Figuren aufweisen. Im Falle von Liebe ist kälter als das Kapital wird das schon im Theatertext suggeriert, in dem eine Art Personenverzeichnis darauf hinweist, dass die Darsteller des Stücks unter den Namen der schwedischen Filmschauspielern Liv Ullmann, Stellan Skarsgard, Max von Sydow und Erland Josephson auftreten. Neben diesen historischen Personen weist das Personenverzeichnis auch eine erfundene Gestalt - die Protagonistin des Films Opening Night - Myrtle Gordon auf. Sich mit den Besonderheiten des Darstellungsstils im Theater René Polleschs auseinanderzusetzen, bedeutet für einen Analytiker, neue Wege der Inszenierungsanalyse einzuschlagen. Wie schon hervorgehoben, stellen Polleschs Darsteller keine individuellen dramatischen Figuren, Typen oder Charaktere dar. Gleichzeitig verzichten die Schauspieler nicht vollkommen auf das Rollenspiel. Pollesch spielt ganz bewusst mit der minimalen Rollen- und Situationskonstitution, genau wissend, dass gerade in solchen Momenten der spezifische Genuss seiner Vorstellungen erfahrbar wird. Die übliche Pollesch-Taktik besteht dabei darin, den Inhalt einer Szene voranzukündigen, aber danach doch etwas völlig anderes spielen zu lassen oder eine neue Diskussion zu eröffnen. Ein Beispiel dafür gibt eine Szene, in der Christian Brey der Katja erklärt, wie sie in der gleich zu spielenden Szene Liv Ullman darzustellen hat: C[hristian]: „Liv Ullmann, Sie werden in die Bedienung eines Bankautomaten eingewiesen, und der Ihnen zur Seite gestellte Polizist ist, wie die Kunst, zum Zeigen verdammt. Wo ist denn der Polizist? [. . .] Frau Ullmann! Wir haben jetzt leider keinen Polizisten, der Ihnen zeigen kann, wie man diesen Automaten bedient . . . Obwohl das eigentlich die Szene gewesen wäre.“ 19 Gleich nach dieser Replik hält Christian Brey einen philosophischen Monolog über den unsichtbaren Charakter der Macht und den referenziellen Charakter der Kunst, um anschließend nicht die angekündigte Szene mit dem Polizisten und dem Geldautomaten spielen zu lassen, sondern die Inszenierung in eine völlig andere Richtung überzuleiten. Ein weiteres für die Zuschauerverunsicherung zuständiges Verfahren besteht darin, übergangslos zwischen einer rudimentären Rolle und einer Sprachmaschine zu wechseln. Ein gutes Beispiel dafür gibt eine Szene, in der Biljan Zamani eine Diskussion zwischen Katja Bürkle und Silja Bächli mit der folgenden Replik unterbricht: „Max von Sydow ist noch nicht da! Und die Vorstellung beginnt gleich! “ Im Anschluss daran erscheint Christian Brey in der Rolle Max von Sydow, der wiederum die betrunkene Myrtle Gordon spielt. Die Szene wechselt an dieser Stelle abrupt in einen Monolog, in dem Biljan Zamani über die Bezugslosigkeit des zeitgenössischen Theaters zu seiner eigenen Realität räsoniert und für die Ablösung des „warmen“ durch einen „kalten“, Schauspielers plädiert, 20 der sich mit seiner Rolle nicht identifiziert. 93 Die Verwandlungen des Bühnensubjekts: Fallbeispiel René Pollesch Je mehr sich die Inszenierung dem Ende nähert, desto schneller wechseln die Schauspieler zwischen unterschiedlichen Rollen und Spielebenen. Der ununterbrochene Wechsel der Schauspieler zwischen unterschiedlichen Spiel- und Realitätsebenen, ihr Springen aus einer Rolle in eine andere, die Verwandlung in entindividualisierte Sprachmaschinen sowie die restlose Zuschauerüberforderung wurden von Diedrich Diederichsen zutreffend beschrieben: Erste Regel ist, stets in der Schwebe zu halten, ob die Schauspieler etwaigen Personen eines Dramas entsprechen. Weder dementieren noch bestätigen! Die drei oder vier Personen, die die Texte sprechen, repräsentieren zeitweise tatsächlich vier Personen, dann wieder nur eine oder zwei. Sie sind, unabhängig vom Geschlecht der Darsteller, mal Männer oder Frauen, wechseln das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, den Namen, die Funktion, den Beruf. Dann wieder bleibt aber die Verbindung eines Namens mit einem bestimmten Job konstant und man ahnt, dass es doch dramatis personae gibt. Zumindest auf dem Papier. 21 Diese Art des Bühnenspiels, in deren Rahmen die Darsteller ohne Einfühlung zwischen verschiedenen Rollen und abstrakten Sprachmaschinen wechseln, wurde zur Wiege einer neuen Schauspielmethode. Diedrich Diederichsen zufolge sind die Schauspieler bei Pollesch „konstitutiv nicht ganz sie selbst wie sie auch nicht jemand anders sind“. 22 Mit dieser Feststellung sind wir erneut bei der alten These vom doppelten Charakter des Schauspielers angelangt. Es war schon Benoit Constant Coquelin, der den Schauspieler zu einer Art „Doppelwesen“ erklärt hat, in welchem sich der Spieler und das gespielte Instrument vereinen. 23 Seit der historischen Avantgarde sind zahlreiche Versuche unternommen worden, eine Seite dieses „Doppelwesens“ bzw. den Schauspieler als semiotisches Zeichen aufzulösen. Trotz aller avantgardistischen und postdramatischen Experimente konnte sich das Theater bis heute nicht von seinem subjektbezogenen Charakter loslösen. Dieses Paradox wurde schon 1964 in Joachim Kaisers Satz - „Das Material trotzt der Entpersönlichung“ - auf den Punkt gebracht. 24 Die Frage danach, welche Auswirkungen der Auftritt eines Menschen für die Wahrnehmung des Rezipienten hat, erfreut sich auch in den zeitgenössischen Untersuchungen eines erhöhten Interesses. So geht auch Doris Kolesch der Frage nach, „wie eine antipsychologische, antimimetische und nicht repräsentative Figurenzeichnung mittels einer körperlich anwesenden Person, mittels eines leibhaftig agierenden, sich stimmlich artikulierenden Menschen geschehen kann.“ 25 Eine Antwort darauf gibt das Theater René Polleschs. Die Entstehung eines individuellen Bühnensubjekts - sei es eines fiktiven, sei es eines realen - wird durch unterschiedliche Taktiken absichtlich unterwandert. Zu den paradigmatischen Verfahren gehört es, eine Rolle auf mehrere Schauspieler zu verteilen (Beispiel Myrtle Gordon), aber auch umgekehrt einen Schauspieler zwischen verschiedenen Rollen und abstrakten Sprachmaschinen changieren zu lassen. Eine weitere Methode in der Sabotage des Subjekts besteht darin, die unterschiedlichen Spielebenen ineinander zu verschachteln und immer an der Stelle zu unterbrechen, an der sich gerade ein Subjekt, eine Rolle oder eine Situation zu konstituieren beginnt. Die Auflösung von narrativen und figurativen Prinzipien im Theater von René Pollesch bewegt den Rezipienten dazu, seine Aufmerksamkeit auf die physische Erscheinung der Schauspieler zu lenken. Wichtig ist nicht mehr, wer gerade dargestellt wird oder was gerade erzählt oder gemacht wird, sondern wie es dargestellt, erzählt oder gemacht wird. Der Schauspieler als Künstler, 94 Danijela Weber-Kapusta sein materieller Körper, seine spezifische Art der Gestikulation, der Mimik, der Stimmenmodulation rückt in den Mittelpunkt des Interesses. Fiktiv oder real, das Subjekt, der Mensch oder das Individuum bleibt im Mittelpunkt sowohl des dramatischen als auch antidramatischen bzw. postdramatischen Theaters. Anmerkungen 1 Siehe Hans Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt/ Main 1999, S. 203 - 205. 2 Siehe Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, München 2001. 3 Siehe Lehmann 1999, S. 203. 4 Den Besonderheiten des Theaterschaffens von René Pollesch gehe ich auch in der folgenden Studie nach: Danijela Kapusta, Personentransformation. Zur Konstruktion und Dekonstruktion der Person im deutschen Theater der Jahrtausendwende, München 2011, S. 134 - 144. 5 Siehe Frank M. Raddatz, Penis und Vagina, Penis und Vagina, Penis und Vagina. René Pollesch über Geschlechterzuschreibungen, das Normale als Konstruktion und die Theoriefähigkeit des Alltags, in: M. Raddatz, Brecht frisst Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert, Leipzig 2007, S. 195 - 213. 6 Mit dem Format der Theaterserie wurde Pollesch bereits während des Studiums der angewandten Theaterwissenschaft in Gießen vertraut. Von besonderer Bedeutung war dabei die Theaterarbeit des amerikanischen Regisseurs und Künstlers John Jesurun, der in dieser Zeit in Gießen unterrichtet hatte. 7 Tobi Müller bezeichnet Polleschs Theaterschaffen als „performative Wiederholung des beinahe immer gleichen Projekts: in schnellen [. . .] Schrei- und Schnellsprech- Orgien etwas über den Cyberspace, den Kapitalismus und die Geschlechterdifferenz zu erzählen.“ Tobi Müller, Was am Boden zappelt, ist nicht tot, in: Theater der Zeit 4/ 2001, S. 18. 8 Gerda Poschmann spricht von sogenannten Sprach- und Funtkonsträgern. Mit diesen Begriffen beschreibt sie die Sprecher der „nicht mehr dramatischen Theatertexte“, die keine dramatischen Personen mehr darstellen. In solchen Theatertexten und ihren Inszenierungen kommt es zu einer Verselbstständigung der Sprache, die ihre menschlichen Träger auf bloße Vermittler bestimmter Diskurse reduiert. Es geht um eine Umkehrung der Verhältnisse: Die Sprache steht nicht mehr im Dienste des Subjekts, sondern das Subjekt im Dienste der Sprache. Siehe Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext, Tübingen 1997. 9 Siehe Marcus Steinweg, Die Politik des Subjekts, Zürich und Berlin 2009; Vilém Flusser, Vom Subjekt zum Projekt. Menschenwerdung, Bensheim und Düsseldorf 1994, Wolfgang Kraus, Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne, Herbolzheim 2000. 10 Martina Leeker, Nachmoderne Performativität und Subjekte der Fremdheit. Kommentierung der Hellerauer Werkstätten, in: Martina Leeker (Hrsg.), Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten, Berlin 2001, S. 232 - 293, hier S. 238. Alle Hervorhebungen M. L. 11 Vgl. dazu das Kapitel Sprache als Hauptdarsteller in der schon genannten Studie von Gerda Poschmann. 12 Über die Konstitution des Subjekts im modernen Drama siehe Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas (1880 - 1950), Frankfurt/ Main 1965. 13 Das Thema „Theater“ hat mittlerweile den Status eines Serien-Formats erreicht. In einer Reihe von Inszenierungen setzt sich Pollesch immer wieder mit den ästhetischen und ideologischen Besonderheiten des institutionellen Sprechtheaters auseinander. Vgl. dazu René Pollesch, Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke, Texte, Interviews, Hamburg 2009. Die Häufigkeit, mit der sich Pollesch am Theater als Thema abarbeitet, begründet er durch die eigene Profession bzw. den Anspruch darauf, das Theater als Ort der Auseinandersetzung mit den eigenen 95 Die Verwandlungen des Bühnensubjekts: Fallbeispiel René Pollesch Arbeitsverhältnissen und -erfahrungen zu nutzen. 14 Über die Funktion und die Anwendungsweise der Medien im Theater von René Pollesch siehe den Essay von Birgit Lengers, „Ein PS im Medienzeitalter. Mediale Mittel, Masken und Metaphern im Theater von René Pollesch“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Theater fürs 21. Jahrhundert, Sonderband von Text + Kritik, Xl/ 04, München 2004, 143 - 155. 15 Das wird auch in der Stellungnahme der Schauspieler deutlich, die sich die Frage stellen, ob ihr „Nein“ oder ihre „Revolte“ überhaupt möglich ist: K[atja Bürkle]: „Ich werde hier dauernd mit Psychologie neutralisiert und mit Moral! Ja, was ist das denn für ein Kasparletheater, diese Moral und die Psychologie? Der dazu dienen soll, die Ursachen zu bekämpfen, dieser Beeindruckungsapparat, der die totale Verzweiflung neutralisiert, und immer nur so tut, als hätten wir ein kleines Problem, das sich schon wieder legt, aber ich hab hier KEIN KLEINES PRO- BLEM! Womit haben wir es denn hier zu tun? Diese Neutralisierungsmaschine! “ In: Pollesch 2009, S. 189. 16 Ebd., S. 194. 17 Pollesch übernimmt die filmische Technik der schnellen Schnitte. Die Szenen, die in dieser Art miteinander kombiniert werden, stehen jedoch in keinem inhaltlichen Zusammenhang zueinander. Siehe dazu Lengers 2004. 18 Als erste erscheint Katja Bürkle, die noch ohne besondere Hindernisse auf den Bankautomaten klettert und durch das Fenster springt. Danach erscheint Christian Brey, der es mit einem Buch in den Händen wiederholt, Silja Bächli, die auf einem Papier unter einem Glas vermutlich einen Käfer gefangen hält und damit auf den Bankautomaten steigen muss, danach Florian von Manteuffel, der als ein Mann mit Krücke dasselbe Ziel hat und letztlich Biljan Zamani, der als ein Blinder mit Blindenstock auftritt und den zu besteigenden Automaten erst finden muss. Der Kreis wird durch den zweiten Auftritt Katja Bürkles geschlossen, die genauso wie beim ersten Mal, den Bankautomaten ohne hindernde Requisiten besteigt und damit die stumme Szene beendet. 19 Pollesch 2009, S. 202 - 203. 20 Vgl. die 70. Minute der Inszenierung, oder S. 208 - 209 im Theatertext. 21 Diedrich Diederichsen, „Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen. Das kulturtheoretische Theater von René Pollesch“, in: Theater heute 3/ 2002, S. 56 - 63, hier S. 58. 22 „Polleschs Theater ist gewissermaßen ein neues Genre. Die Darsteller repräsentieren hier keine erdachten Figuren, aber sie treten auch nicht einfach im eigenen Namen auf wie bei der Performancekunst. Sie sind auch nicht einfach Schauspieler, die distanzierend und ironisch auf ihre eigene Arbeit verweisen, um etwaige Illusionen zu zerstören - wie in der Tradition des Brecht-Theaters. Ihre ontologische Position ist durchaus verwandt mit der eines Pop-Musik-Performers: die Darsteller befinden sich erkennbar nicht in einem alltäglichen Modus der Selbst- Identität, doch ihre Präsenz ist auch überhaupt nicht vom Begriff des Schauspiels gedeckt. Sie sind konstitutiv nicht ganz sie selbst wie sie auch nicht jemand anders sind.“ Diedrich Diederichsen, „Maggies Agentur“, in: René Pollesch, Prater Saga, Berlin 2005, S. 7 - 19, hier S. 15. Auch in: Stefan Tigges, Dramatische Transformationen, Bielefeld 2008, S. 101 - 110. 23 Siehe Toby Cole und Helen Krich Chinoy (Hrsg.), Actors on Acting, New York 1970, S. 192. 24 Joachim Kaiser, „Grenzen des modernen Dramas“, in: Theater heute 12/ 1964, S. 12 - 15, hier S. 14. 25 Doris Kolesch, „Szenen der Stimme. Zur stimmlich-auditiven Dimension des Gegenwartstheaters“, in: Arnold 2004. S. 156 - 165, hier S. 161. 96 Danijela Weber-Kapusta Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils am Beispiel von ZOO von aktör&vänner und von Xavier Le Roys Product of Other Circumstances Philipp Schulte (Gießen) I. Kümmere Dich um mich! - ZOO von aktör&vänner Zwölf Personen, eigenartig uniformiert, „Schutzanzug“ hatte der Performer mit dem Klemmbrett es genannt, sitzen in einer Art Warteraum in einem Gebäude in der Masthuggsterrasse in Göteborg, und warten, bis sie einzeln aufgerufen werden. Sie sind allesamt Teilnehmer an der Performance ZOO des schwedischen Produktionskollektivs aktör&vänner (Regie: Johan Forsman und Johan Rödström). Überall liegen Informationsbroschüren herum. An den Wänden befinden sich Tafeln, die in fehlerhafter Schreibmaschinenschrift allerlei Wissenswertes aus der Welt der Insekten mitteilen. Ein weiterer Performer betritt den Raum. Er ruft den ersten Teilnehmer auf und bittet ihn an einen kleinen Schreibtisch, der die insgesamt bürokratische Atmosphäre des Raumes nur noch unterstützt. Hier liegt schon ein Schriftstück parat, ein Vertrag: Es handelt sich um eine Einverständniserklärung des Teilnehmers, der sich mit seiner Unterzeichnung bereit erklärt, der vorübergehenden Adoption und Inobhutnahme eines Insekts zuzustimmen. Nach getätigter Unterschrift wird der Teilnehmer gebeten, sich zu einem Ausgabefenster in der Wand zu begeben. Sein Name wird deutlich genannt, und er erhält endlich, worauf er die ganze Zeit gewartet hat: in einem etwa 30x20 cm großen, durchsichtigen Gefäß sein „Adoptionskind“, eine lebendige Kakerlake. Für die Dauer einer Stunde hat er der Adoption zugestimmt, eine Stunde hat er nun die Verantwortung für diese Kakerlake, die übrigens einen sehr kurzen und fremdartigen Namen trägt, so etwa Bög oder Träg oder auch Groch. Zwanzig Minuten später. Die Teilnehmer sind inzwischen in einen weiteren Raum geleitet worden, der in krassem Gegensatz zu der Behördenästhetik des vorigen steht. Dafür erinnert er aber auf beunruhigende Weise aufgrund seines Maßstabs und seiner Form an das Gefäß, das jeder Teilnehmer in seinen Händen hält und in dem sich die kleinen, gar nicht so kleinen Kakerlaken noch immer tummeln. Es ist sehr warm und riecht nach Gewächshaus. Ein Außen lässt sich nur schwer ausmachen, obwohl es hinter den Wandfolien existiert. Es ist nicht ganz leicht, sich auf den Raum zu konzentrieren, denn etwas anderes erweckt gerade die Aufmerksamkeit. Jeder Teilnehmer trägt inzwischen einen Kopfhörer, dessen Kabel verbunden ist mit den kleinen Kakerlakengefäßen, eine Übersetzungsmaschine, wie es genannt wurde. Tatsächlich ist da neben vielem Glucksen und Rauschen und leisem Fauchen ein zartes Stimmchen zu hören, kindlich und hoch wie von einem winzigen Wesen, und es möchte gehört werden, es ruft, unendlich leise und doch hörbar: „Mutter“ oder „Vater“, und „Bist du das, da draußen? “ Eine Stimme, die via Kopfhörer erklingt und unweigerlich mit einer Kakerlake in Verbindung gebracht wird, ruft jeden Teilnehmer an und bestimmt ihn so als Mutter oder Vater. Es ist zu bezweifeln, dass Louis Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 97-110. Gunter Narr Verlag Tübingen Althusser genau diese Situation im Sinn hatte, als er vor bald vierzig Jahren sein Konzept der Anrufung beschrieben hat, in seinem marxistisch geprägten Text Ideologie und ideologische Staatsapparate 1 . Bei ihm ist es noch der beispielhafte Polizist, der durch ein schmetterndes „He, Sie da! “ ein Individuum in ein Subjekt verwandelt, es „rekrutiert“ 2 . Eine gewisse Fatalität kennzeichnet Althussers Denken: Bei ihm gibt es kein Entrinnen vor der Ideologie. Alle unsere Praktiken werden, und zwar schon im Augenblick ihres Vollzuges, zu ideologischen, dadurch dass sie unabwendbar etwas wiederholen, was durch Staatsapparate, Institutionen überliefert wurde. Der Polizist als Vertreter einer Behörde ruft im Modell an, das Subjekt dreht sich anerkannt und sich dadurch auch selbst anerkennend und unterwerfend um. Dies sei „ein Phänomen, das nicht allein durch ein ‚Schuldgefühl‘ erklärt werden kann, trotz der Vielzahl der Leute, die ‚sich etwas vorzuwerfen haben‘.“ 3 Die zeitliche Abfolge dieses Vorgangs existiert nur im Modell, tatsächlich stellt sich Althusser dies in ständiger Simultanität vor: Individuen werden nicht erst zu Subjekten, sie sind es immer schon. In ZOO von aktör&vänner sieht sich das Teilnehmersubjekt einer Vielzahl von Situationen ausgesetzt, in denen es derartig angerufen und subjektiviert wird. Ermöglicht wird diese ständige Ansprache durch die Angabe seines Namens in einem ausführlichen Fragebogen im bisher verschwiegenen ersten Teil der Performance. Die immer höflichen Akteure rufen auf, wer in den Warteraum gehen darf. Sie rufen auf, wer die Schutzkleidung anlegen soll. Sie rufen auf, wer den Vertrag mit seinem Namen unterschreiben und seine Kakerlake in Empfang nehmen darf. Die klaren Prozeduren und Regeln, nach denen alles geschieht, die behördenartige Inneneinrichtung der beiden Vorräume tun ihr übriges, um diesen Eindruck des Zu-Funktionieren-Habens in einem System zu unterstützen. Man richtet sich nach den Anweisungen, beobachtet die anderen Teilnehmer, wie sie es tun, akzeptiert das Als-ob der Situation, weil es sich so leicht vergessen lässt. Und im nächsten Schritt übernimmt man dann scheinbar selbst Verantwortung, sorgt gewissermaßen selbst dafür, dass das System im angestrebten Sinne funktioniert, vollzieht eine Praxis, die unabdingbar systemisch vorherbestimmt ist. Die Anrufung erfolgt nun von einer anderen Seite. Nicht mehr von einem Kontrolleur, der Gehorsam mahnt, sondern von einem Hilfe suchenden Wesen, der Kakerlake. Mit ihrem scheinbaren Stimmchen betont die alles andere als scheinbare Kakerlake, ohne die schützende Obhut, für die man vertraglich verantwortlich ist, schutzlos ausgeliefert zu sein. Diese Situation, für eine Kakerlake in dem anvertrauten Behälter vorübergehend verantwortlich zu sein, zugespitzt durch die kindliche Anrufung aus den Kopfhörern, ruft also Aspekte einer Elternschaft wach, mit allem, was damit zusammenhängt: eine Schutzfunktion, die sich vor allem in der Vorsicht äußert, mit der die Teilnehmer mit den Behältnissen umgehen, deren Insassen vor größeren Erschütterungen bewahrend. Außerdem auch eine Funktion der Ernährung und der Unterhaltung, aber auch Erziehung, also einer Prägung im gesellschaftlichen Sinne: Denn im Vorraum noch können für den Betrag von einem Euro unterschiedliche kleine Gegenstände erworben werden, welche man durch eine kleine Klappe im Gefäß seinem Schützling anbieten kann - kleine Karottenstücke, die sie fressen, kleine Murmeln, mit denen sie spielen, wenn sie dazu in der Stimmung sind; sogar eine Wippe ist darunter. Die Teilnehmer machen davon ausgiebig Gebrauch und werden auf diese Weise, durch die Übernahme institutionell geregelter Praktiken also, Teil jenes subjektkonstituierenden Kreislaufes, wie ihn Althusser beschreibt. 98 Philipp Schulte Das Theater ist ein Ort, an dem Subjektivität reflektiert wird. Es ist sein Merkmal, dass es einerseits selbst Menschen institutionell unterwirft, formt, prägt - dass es auf diese Weise Mechanismen des Unterwerfens aufzeigt, beim Versuch, Gemeinschaften zu bilden (Republiken wie die griechische, Nationen wie die deutsche, Klassen wie die der Arbeiter, Szenen wie die der Intellektuellen). Diese Mechanismen bestimmen das Theater selbst in vielen seiner Arbeitsformen, die Struktur, welche durch den Vorgang des Inszenierens erzeugt wird. Die Inszenierung ist der Versuch festzulegen, wie etwas - und jemand - auf der Bühne zu wirken hat, wie er sich zu geben hat, um als etwas Bestimmtes wahrgenommen zu werden. Und wenn es in zeitgenössischer Performance Art gerade diese Formen des Inszenierens und Repräsentierens sind, die immer wieder aufs Neue in Frage gestellt werden, mal konsequent, mal nebenbei, so werden genau dadurch auch Prozesse der Subjektivierung nach Alternativen befragt. Und, freilich, auch auf inhaltlicher Ebene hat sich Theater immer mit diesen Prozessen beschäftigt. ZOO zeigt das auf spezielle Weise in einer aktuellen Ästhetik. Aber auch schon Iphigenie und Hamlet, und wie sie alle heißen, sind Gewährsleute, dass die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und deren Befolgung zur Akzeptanz als Subjekt führt, schon immer Thema war. Aber es ist eben genauso typisch, zumindest oft im zeitgenössischen Theater und in der Performance Art, dass Zweifel an der Richtigkeit, an der Alleingültigkeit dieser Prägung genährt werden sollen: Wir versuchen uns oft an der Beschreibung künstlerischer Taktiken, die die Souveränität des vom System kreierten Subjekts in Frage stellen, dadurch dass sie das, was sich der Inszenierung sperrt, begünstigen. Das Theater ist somit Schauplatz der Unterwerfung und Subjektbildung, aber genauso Schauplatz der Entunterwerfung. Auch in ZOO sperrt sich etwas der Inszenierung. Es ist die Kakerlake selbst. Auch sie sieht sich Subjektivierungsprozessen ausgesetzt, wurde von aktör&vänner inszeniert. Auch sie hat von den Künstlern einen Namen erhalten, er ist handschriftlich im Vertrag eingetragen, und sie wird durch die Rahmung und Behauptungen der Performance gesetzt als Obhut bedürfendes Wesen. Ihr wurde eine Stimme gegeben, auch wenn es freilich etwas ‚suspense of disbelief‘ seitens der Teilnehmer voraussetzt, die Übersetzungsmaschinerie als glaubwürdig anzunehmen. Das rationierte Essen, die Spielzeuge, die man für seinen Schützling erwerben kann - all das sind Ergebnisse der Bemühungen der Künstlergruppe, das Insekt zu vermenschlichen. Die Kakerlake wird als Kreatur, als Ge-schöpf inszeniert - und sperrt sich doch dieser Inszenierung ganz und gar. Denn so intensiv die Inszenierungsbemühungen auch sein mögen: Das Tier krabbelt und zappelt in seinem Käfig, und wenn man es verkehrt herum hält - dann faucht es auf so fremdartig-gefährliche Weise, dass jeglicher Inszenierungsversuch als billiger Trick verblasst. Es ist diese Reibung zwischen der versuchten Verniedlichung und Entschärfung dieses allzu verrufenen Insektes einerseits und seiner unbestreitbaren Wildheit und dem Ekel, den es trotz allem zu erzeugen in der Lage ist, andererseits. Nichts scheint sich hier nach einem vorgegebenen Regelsystem oder nach kulturellen Verhaltensmustern zu richten, nichts scheint hier auch nur annähernd subjektivierbar zu sein. Die Kreatur ist inszeniert, doch ihr reales Fauchen sperrt sich jeglicher Inszenierung. Prozesse der Anrufung, der Subjektivierung werden angedeutet, nur das hier die Subjektivierung eben nicht funktionieren kann, zu wild und fremd und unmenschlich ist das Wesen, und genau das wird vorgeführt - mit Übertragungsmöglichkeiten auf die reale Situation der Teilnehmer. 99 Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils Besonders die Einrichtung des Raumes, in der sich der zweite Teil von ZOO abspielt, führt dazu, dass man die Situation der Kakerlake leicht als modellhaft deuten kann. Der Raum, in dem die zwölf Teilnehmer geführt werden, gleicht, wie erwähnt, vom Aufbau unverkennbar jenen kleinen Gefäßen, in denen sie ihr persönliches Insekt transportieren. Beides hat die Form eines halbierten Zylinders, beide Böden sind mit organischen, geruchsintensiven Materialien bedeckt, beide haben eine weitgehend transparente Außenhülle. Hindurchschauen, nach außen, kann man da nicht. Dafür kann man einzelne Bewegungen wahrnehmen, Scheinwerfer erzeugen Schatten und Lautsprecher entfernte Geräusche. Der Rückschluss ist simpel, vielleicht zu simpel, und gerade dadurch unweigerlich: So wie die Kakerlake in ihrem Gefäß, so ich in meinem; so wie sie Regeln eines Apparates unterworfen ist, so auch ich. Der subjektivierende Vorgang, der an ‚meiner‘ Kakerlake durchgeführt wird, den auch ich an ihr durchführe, kann äquivalent zu den subjektivierenden Vorgängen betrachtet werden, die im Verlauf der Performance an mir durchgeführt werden. Der unterzeichnete Vertrag ruft uns beide beim Namen und verpflichtet uns scheinbar zu einem bestimmten Verhältnis zueinander über einen bestimmten Zeitraum hinweg. Die Regeln, die für mich aufgestellt werden, die Beschränkungen, die die Räume mir auferlegen, gelten auf anderer Ebene ähnlich für ‚meine‘ Kakerlake. Und schließlich, vor allem, eine Frage, die sich aufdrängt: Verhält es sich bei mir genauso wie bei dem eigenwilligen Insekt? Besteht die Möglichkeit, dass ich mich, von außen betrachtet, ebenso schlecht inszenieren, subjektivieren lasse, wie die Kakerlake, welche sich so unübersehbar wild krabbelnd und fauchend ihrer Inszenierung als niedliches Wesen widersetzt? Nicht so sehr unterscheidet sich diese Selbst-Beobachtung, die ganz automatisch entsteht, von denen, die Theaterzuschauer schon immer begleitet haben, wenn sie etwa Rückschlüsse vom Existenzkampf Hamlets oder den extremen Situationen, in die Marina Abramović sich begeben hat, auf die eigene Situation gezogen haben. Dieses Reflexionspotential durch Vorführen, durch Modellhaftigkeit, aber wie im Falle von ZOO auch von Partizipation, versucht eben durch Vorführung genau das zu unterwandern, was die Ideologie, das diskursive Machtsystem so stark macht: Die Tatsache, dass sie ihren eigenen ideologischen Charakter stets verbirgt. Insgesamt vier Stationen, vier Räume erlebt der Besucher von ZOO, die ihm jedes Mal eine neue Wahrnehmungshaltung abverlangen, zu einem neuen probeweisen Selbstentwurf anhalten: das Wartezimmer, wo er, noch ohne Schutzanzug, einen Fragebogen ausfüllt; der Übergaberaum, wo er den Vertrag unterzeichnet und seine Kakerlake in Empfang nimmt; dann die große Kopie des kleinen Käfigs, worin sich der längste Teil der Performance abspielt; und schließlich werden die Teilnehmer noch in eine Art Bar geleitet, an der ein Epilog stattfindet, auf den ich noch zu sprechen komme. Auch der Stil der Performance verändert sich von Raum zu Raum, was erst wie eine Aktion mit hoher Teilhabe der Zuschauer wirkt, wandelt sich zu einer Performance mit passiverer Zuschausituation, die schließlich durch ein kurzes Solo durch einen der Akteure abgelöst wird. Immer wieder neu wird ein Teilnehmer angerufen, immer wieder neu muss er sich entwerfen lassen. Doch gerade dieser verhältnismäßig schnelle Wechsel der Umgebungen und Situationen schafft auch die Möglichkeit eines Freiraums: Was dadurch angeregt wird, kann als Form der selbstreflektierten Entunterwerfung im Foucaultschen Sinne gefasst werden. Foucault erläutert sein Konzept der Entunterwerfung mit Hilfe des Begriffes der Selbst-Stilisier- 100 Philipp Schulte ung. Dieser Begriff beschreibt immer auch ein Wechselverhältnis aus Einfügen und Ausfügen, aus opting-in und opting-out 4 , zwischen der Anpassung an ein gegebenes symbolisches System und dem Versuch der Subversion einzelner Aspekte desselben, ein Spannungsverhältnis, das in Subjektivitätstheorien eine so wesentliche Rolle spielt. Gerade auf diese Weise lässt sich der Epilog der Performance verstehen: Nachdem jene vertraglich geregelte eine Stunde vorüber ist, nachdem die zwölf Teilnehmer ihre Tiere wieder abgegeben haben und ihr eigenes Gefäß wieder verlassen, gibt es noch ein letztes kleines Zimmer. Ein weiterer Performer, der bislang noch nicht aufgetreten ist, wartet dort auf sie. Es handelt sich um einen Mann asiatischer Herkunft, eine hochgewachsene Erscheinung, der durch ein androgynes Aussehen auffällt, welches von dem Frauenkleid, das er trägt, und seiner Langhaarfrisur, die durch ein kleines Spängchen gebündelt wird, noch unterstützt wird. Er begrüßt die Teilnehmer zurück in der Realität, indem er sie kurz aufklärt, welche Sendungen sie heute Abend im Fernsehprogramm verpasst haben. Und schließlich teilt er einige autobiographische Details mit, dass er als Kind aus Korea adoptiert wurde, oder von seinen Aggressionen, die er lange gegen Menschen und Tiere gehegt hat. Der von ihm gewählte Stil in Kleidung und Äußerung lässt dabei Rückschlüsse darauf zu, welchen gesellschaftlichen Erwartungszusammenhängen er ausgesetzt war und ist, welchen Normen er sich fügt - und welchen eben nicht, und in welcher Haltung. Dass genau dieses Spannungsverhältnis zwischen Ein- und Ausfügung nicht nur ZOO modellhaft beschäftigt, sondern freilich auch übertagbar ist auf Subjektivierungsprozesse in unserer alltäglichen Lebenswirklichkeit, das macht dieser Auftritt des koreanisch-stämmigen Schweden am Ende der Performance deutlich. Die Performance ZOO, die sich von Raum zu Raum immer wieder neu erfunden hat und mit den Erwartungshaltungen ihrer Teilnehmer spielt, bricht in ihrer letzten Sequenz konsequent auch mit der zuvor von ihr etablierten fiktiven Ebene und lenkt die Wahrnehmung und Reflektion der mehr und mehr zu Zuschauern gewordenen Gäste von der Ebene des Spiels zu einer quasi-dokumentarischen Ebene. Eine brisante, weil nicht ausschließlich spielerische Komponente jenes Spiels mit der Subjektivität kommt so zum Vorschein. Die Aussetzung der Ungläubigkeit, welche angesichts der ‚sprechenden Kakerlake‘ noch willentlich herbeigeführt werden musste, stellt sich am Schluss von ZOO, viel leichter her. Das Kunstprojekt zeigt sich hier, unmittelbar vor der Ausgangstür des Theaterhauses, nicht mehr als Spiel, welches einige Regeln der Wirklichkeit vorübergehend aussetzt, sondern eben als Teil dieser Wirklichkeit, die uns gestaltet und unterwirft und die es, falls möglich, sich entunterwerfend selbst zu gestalten gilt - denn Selbststilisierung ist nach Foucault und Judith Butler nichts anderes als eine Form von Kritik an gegebenen Machtstrukturen. II „Was ist Kritik? “ 5 Diese Frage stellte Michel Foucault sich und seinen Zuhörern in seinem gleichnamigen Vortrag im Jahr 1978. 6 Dieselbe Frage in einem anderen Vortrag mit demselben Titel stellte 22 Jahre später Judith Butler und schloss eine ausführliche Analyse und Auslegung des Foucault-Textes an. 7 „Was ist Kritik? “ - bei beiden Theoretikern ist dies die Kurzform für eine Fragestellung, die sich so formulieren lässt: Durch welche Mittel kann das Subjekt sich entunterwerfen, wie kann es eine freiwillige Unknechtschaft, eine reflektierte Unfügsamkeit entwickeln, um den diskursiven Vorgaben potentiell oder zumindest temporär zu entkommen? Butler 101 Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils zeigt etwas Faszinierendes in ihrem Vortrag. Sie zeigt, dass Foucaults Vortrag performativ zu verstehen ist, dass er das, worüber er spricht, den Akt der Entunterwerfung, selbst in seinem Vortrag probt. Auf die Frage eines Zuhörers, aus welcher Quelle sich jene Entunterwerfung denn speise, woher also der Wille zum Widerstand käme, antwortet Foucault auf eine listige Weise: „Ich bezog mich nicht auf eine Art fundamentalen Anarchismus, auf eine ursprüngliche Freiheit, die sich schlechterdings und grundlegend jeder Regierungsentfaltung widersetzt. Ich habe davon nicht gesprochen - aber ich will es absolut nicht ausschließen.“ 8 Eine weitere Antwort gibt er nicht. Foucault spricht nicht von einer ursprünglichen Freiheit als ontologisch gesetzte Triebfeder für sein Modell. Gleichzeitig tut er es aber auch nicht nicht. Butler nun weist darauf hin, wie schwer verständlich diese und andere Stellen in Foucaults Vortrag zu verstehen seien, wenn man sich nicht gleichzeitig die Art und Weise vorstellte, mit der Foucault das von ihm Ausgesprochene in Szene setze. Davon geht sie aus, dass Foucault diese Worte eben nicht ontologisch setzt - sondern dass er sie „mit List inszeniert“ 9 - und er erprobt sie so: Die Inszenierung eines Wortes [. . .] ist nicht dessen Aussage, aber wir könnten sagen, dass die Aussage, mit List inszeniert, einer ontologische Suspension unterworfen wird, sodass sie ausgesprochen werden kann. Und wir könnten sagen, dass dieser Sprechakt den Ausdruck ‚ursprüngliche Freiheit‘ vorübergehend von der epistemischen Politik befreit, in der er lebt, und zugleich eine gewisse Entunterwerfung des Subjekts innerhalb der Politik der Wahrheit vollzieht. 10 Foucault sei seltsam unerschrocken, denn er weiß ja, dass er jene „ursprüngliche Freiheit“ nicht begründen kann, das will er auch gar nicht; und gerade diese hingenommene Nichtbegründbarkeit ist es, die sich in einer listigen, augenzwinkernden Aussprache ausdrückt. „Kritik beginnt mit [. . .] dem Scheitern der Totalisierung des Subjekts, das erkannt und unterworfen werden sollte.“ 11 Und das Mittel der Artikulation ebenjenes Reibungsverhältnisses ist das der Selbststilisierung. Ein Inszenieren mit List also, ein probehaftes Austesten von und Experimentieren mit alternativen Anwendungen diskursiv vorgegebener Muster - das ist die (sehr butlerianische) Richtung, in die Butlers Auslegung von Foucaults Vortrag geht. Dieses Inszenieren ist als kreativ anzusehen, da es über die vorgegebenen diskursiven Normen hinausgeht bzw. sich ihnen teilweise widersetzen kann. Butler interpretiert Foucault dahingehend, dass es keine Ethik und keine Politik geben kann „ohne Rekurs auf diesen singulären Sinn von Poiesis“ 12 . Das Subjekt zeigt sich somit ein weiteres Mal als gefertigt und fertigend, und zwar nicht in einer zeitlichen Abfolge, sondern eher in einer Art Gleichzeitigkeit. Und diese singuläre Poiesis im Spannungsfeld zwischen Geformtsein und Formen bezeichnet Foucault als Selbststilisierung. Dass das ein sehr passender Begriff ist, möchte ich im Folgenden zeigen. Und mehr noch: Meine These ist, dass es gerade diese Begriffe von Stil und Stilisierung sind, die die subjektbildenden Prozesse von Unterwerfung und Entunterwerfung theaterwissenschaftlich, ja auch aufführungsanalytisch greifbar machen könnten. Der Stilbegriff passt deshalb zum erörterten Subjektbildungsmodell, da er etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts einem paradoxalen Bedeutungswandel unterliegt und es seitdem zwei sich widersprechende Tendenzen gibt, die mit ihm gefasst werden sollen. Da ist zum einen die Betrachtung von Stil als einem erkennbaren, isolierbaren und normativen Element unter vielen, welche ein Kunstwerk auszeichnen. Er ist hier einem Prinzip der Kontinuität verschrieben, 102 Philipp Schulte das mit einer künstlerischen Tradition verbunden ist und sich an sie hält. Stil wird hier im Sinne eines Sich-Einfügens in ein bestehendes Wertesystem verstanden, einer Unterwerfung unter gegebene Normen. Stil bedeutet hier künstlerisch im Wesentlichen so etwas wie Machart, Art und Weise der Herstellung. 13 Eine ‚Stil-Revolution‘ nun, die zumindest im Bereich der Literatur die zweite Tendenz begründet, verortet beispielsweise Aleida Assmann im England des 18. Jahrhunderts. Damals führte eine zunehmende Alphabetisierung dazu, dass die Masse des religiösen Schrifttums immer mehr durch neuartige profane Genres verdrängt wird und somit auch der Literaturkritik einen deutlichen Aufschwung bescherte. 14 Auch Foucault sieht die Geburtsstunde der Kritik und damit der Frage, wie man ‚so nicht regiert wird‘ in dem Moment, wo die christliche Pastoral nicht mehr ausschließlich mündlich in der Macht des Papstes lag, sondern wo sie schriftlich durch zahlreiche Interpreten immer wieder neu ausgelegt und gedeutet werden konnte, bis hin zu ihrer Profanisierung. Eine zweite Dimension des Stilbegriffs erlebte hier ihr noch zaghaftes Entstehen, und es ist diejenige, die heute weitgehend dominiert, wenn auch nicht ausschließlich ist: Stil als individuelles Sich-Ausfügen aus dem System, als Regelabweichung. Stil ist, wenn ein Versuch der Manifestation von „gesteigerter Eigenheit“ 15 unternommen wird, eine Mischung aus dem alten Konzept der Nachahmung und dem neuen der künstlerischen Produktion. Dieses Ausfügen kann sich nur innerhalb eines Sich-Einfügens vollziehen, die Entunterwerfung nur innerhalb einer Unterwerfung. Somit ist Stil die positive Variante der Kritik. Sich einfügen, sich ausfügen; sich einer hergebrachten Stilistik anpassen, oder beim Versuch, einen Individualstil zu entwickeln durch versuchte ‚Erwartungsbesiegung‘ - in genau diesem Spannungsfeld spielt sich auch Kunst, namentlich darstellende, seit jeher ab. In der Bestimmung einerseits der definitorischen Merkmale unterschiedlicher Stilistiken, Theater-Formen und Genres aus verschiedenen Epochen liegt daher die eine Aufgabe einer zeitgenössischen Theaterwissenschaft; die detaillierte, an konkrete Beispiele in ihrer ganzen Bandbreite gebundene Beschreibung derjenigen Theaterphänomene - seien es künstlerische Projekte oder einzelne Darstellungsaspekte in diesen Projekten - eine zweite, die in unmittelbarer Kooperation mit der erstgenannten erfolgen muss; nur so kann das stetige Wechselverhältnis zwischen der Bildung von Stilistiken und dem Sich-Ereignen von temporären Individualstilen dargestellt werden. Das moderne Verständnis von Stil ist nicht, wie das alte Verständnis der Stilistiken, durch fixe Regeln zu bestimmen, besteht ja gerade seine Bewegung darin, Regeln über- oder unter-zu-erfüllen, mit ihnen zu spielen und zu brechen. Die Notwendigkeit, sich als Subjekt immer wieder neu einzuordnen und zu erfinden, wurde durch die Struktur der Performance ZOO erörtert; auf ganz andere Weise findet sie sich wieder bei einem Künstler, dessen Arbeiten ausgesprochen geeignete Beispiele sind, wenn es um Prozesse des Ein- und des Ausfügens geht: beim Tänzer und Choreographen Xavier Le Roy. III. Den Aufstand proben: Entunterwerfung durch Stilisierung in Xavier Le Roys Product of Other Circumstances Eine schwarze, leere Studiobühne; leer bis auf eine Leinwand an der Rückwand, einen Laptop auf einem kleinen Schemel im vorderen, linken Bereich, und leer bis auf den Performer in ihrer Mitte, einen Mann um die Fünfzig in kurzärmeligem T-Shirt und bequemer Hose. Es handelt sich um Xavier Le 103 Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils Roy, der seinem Publikum dabei zusieht, wie es allmählich seine Plätze einnimmt, aufmerksam verfolgt er den Vorgang, manchmal nickt er jemandem freundlich zu. Als alle sitzen, beginnt er: „Let’s start.“ Er legt seine Brille ab, zieht seine Schuhe aus, begibt sich in den hinteren Bühnenbereich - und beginnt zu tanzen. Sehr langsam bewegt Le Roy sich zunächst, mit eigentümlich abgewinkelten Händen und verkrampft wirkenden Fingern, als würde er sich vor etwas schützen. Er bewegt sich vor allem auf dem Boden, weit streckt er seine Arme aus, als würde er etwas Unsichtbares halten; manchmal kann man den Eindruck bekommen, er ahme ein Tier nach. Auch seine Mimik ist auffällig: Die Augen sind meistens geschlossen, die Partie um den Mund ist verzerrt, dann öffnet Le Roy ihn, um kehlige, röchelnd-saugende Geräusche zu erzeugen. Die ganze Bewegungssequenz erweckt vorerst vage Erinnerungen an die Tanzform des Butoh. Nach etwa fünf Minuten bricht Le Roy seinen Tanz abrupt ab, trinkt einen Schluck Wasser und wendet sich dann wieder direkt an seine Zuschauer: „This dance is a part of a story I would like to tell you this evening. The story will be about two hours long.“ Dies ist der Beginn der Lectureperformance Product of Other Circumstances aus dem Jahr 2009. Die Geschichte, die Le Roy in Product of Other Circumstances erzählt, beginnt mit dem Moment, als ein Freund, der Choreograph Boris Charmatz, ihn an eine offensichtlich von ihm selbst irgendwann einmal übermütig getroffene Aussage erinnerte, er könne den Tanzstil des Butohs in nur zwei Stunden lernen. Charmatz bat Le Roy, diese Vorgabe in die Tat umzusetzen, und zwar auf dem von ihm organisierten Festival „Re- Butho“. In Product of Other Circumstances zeigt uns Le Roy nun - etwa zwei Stunden lang - auf humorvolle und charmante Weise, das vorläufige Ergebnis seiner Arbeit: Wie er sich der asiatischen Tanzform angenähert hat - nämlich auf der Grundlage seiner wenigen eigenen Erfahrungen und Erinnerungen, dann vor allem mit der Hilfe von Google, Wikipedia, Youtube und einigen Lehrbüchern -, er erörtert den Prozess des Recherchierens und Probens in seiner Freizeit, und er präsentiert uns sogar zwei kurze Choreographien, einmal ein Reenactment, dann eine freier mit dem Material umgehende Sequenz, inspiriert von den Ergebnissen der Recherche. Indem er uns an einem zweistündigen Aneignungsprozess teilhaben lässt, der tatsächlich viel länger gedauert hat, kommt er indirekt dem Auftrag der Parole „Butoh in zwei Stunden“ nach. Auf mindestens drei Ebenen lässt sich nun der Widerstreit zwischen Ein- und Ausfügung in Le Roys Arbeit beobachten. 1. Product of Circumstances und Product of Other Circumstances Auf einer ersten Ebene beschäftigt sich Product of Other Circumstances mit seiner über zehn Jahre älteren Vorgängerarbeit Product of Circumstances. Die intensive theoretische Auseinandersetzung mit Le Roys Arbeit setzte vor etwas über zehn Jahren ein, als er mit einer anderen Lectureperformance dieses Genre einem größeren, vor allem tanzinteressierten Publikum bekannt machte, mit dem viel diskutierten Projekt Product of Circumstances. Auch diese Vortragsperformance selbst kann somit als Setzung, als Begründung eines bestimmten Stils gelten, der dadurch in einer bestimmten Theaterszene immer populärer wurde und heute als etablierte Form betrachtet werden kann, wobei der künstlerische Vortrag bekanntermaßen auf eine sich ausfügende Weise mit der konventionellen Form des akademischen Vortrags umgeht. Und auch inhaltlich bewegte sich Le Roy in diesem Projekt buchstäblich zwischen Tendenzen des Ein- und des Aus- 104 Philipp Schulte fügens, wenn er seine Lust am Tanzen ebenso erörtert wie seine körperliche Inkompatibilität, sich unterschiedliche vorgegebene Tanzstilistiken anzueignen, seinen Werdegang als Wissenschaftler ebenso wie seine Skepsis gegenüber dem System Wissenschaft. Ebenso kann dieses Spannungsfeld in den meisten weiteren von ihm choreographierten Arbeiten ausgemacht werden, so auch in Xavier Le Roy oder besonders deutlich in seiner Version des Sacre du Printemps, wo er sich mit dem Bewegungsmaterial des Dirigenten Sir Simon Rattle auseinandersetzt. Und diese oszillierende Bewegung zwischen regelorientiertem Einfügen und kreativem Ausfügen findet sich nun wieder, um eine Ebene weitergetrieben, in Le Roys Lectureperformance Product of Other Circumstances. Wie der Titel schon zeigt, handelt es sich um eine direkte Anknüpfung an Product of Circumstances. Wieder bedient sich Le Roy der Form des Vortrags, diesmal aber nicht, um seine biographische Entwicklung als Wissenschaftler und Tänzer einer vergangenen Dekade zu erörtern; diesmal deckt seine Schilderung einen weit kürzeren Zeitraum von wenigen Monaten ab. Auch auf dieser Ebene gelingt es Le Roy, Erwartungshaltungen zu brechen, wenn er in dem von ihm populär gemachten Genre einen neuen Haken schlägt. Statt einer biographisch motivierten Lebensgeschichte - ‚wie ich zu dem wurde, was ich heute bin‘ - äußert er eine vergleichsweise kurze, ein konkretes Projekt betreffende Erzählung - ‚wie diese Aufführung zu dem wurde, was sie gerade ist‘. In Product of Other Circumstances zeigt Le Roy auf diese Weise, dass Stil im Sinne des Ausfügens nur in probeartigen Zusammenhängen temporär Bestand haben kann; hat er sich einmal entwickelt, kann er schnell zur Stilistik werden; die einem ganzen Genre zu Prominenz verhelfende Arbeit Product of Circumstances belegt das in gewisser Hinsicht. Nur in einer Probe ist es möglich, jene vorübergehende, imaginäre, listig zu äußernde ‚Freiheit‘ zu genießen, auf welche Foucault und Butler sich berufen. 2. Butoh tanzen können und Butoh tanzen proben Das Spiel zwischen Ein- und Ausfügung findet auf einer zweiten Ebene in Auseinandersetzung mit der label-artig getroffenen Aussage - „Ich lerne Butoh in zwei Stunden! “ - statt, die nicht mehr erinnerter Ausgangspunkt und Motto der Arbeit ist. Die Behauptung, so Le Roy sie denn wirklich getroffen hat, entspricht übergangslos jenen, die wir gewohnt sind, in einer auf Effektivität hin ausgerichteten Vermarktungsgesellschaft zu hören: „Englisch lernen in zwei Monaten“, „Fünf Kilo weniger in zwei Wochen“, „Hegel verstehen in zwei Tagen“. . . Dass es zudem der kaum fassbare ‚Stil‘ des Butohs ist, den Le Roy kühn als schnell lernbar qualifiziert hat, macht die Unmöglichkeit, ja Dreistigkeit des Vorhabens nur noch deutlicher. So wurde auch ‚Butoh‘ von Kazuo Ono im Prinzip als Label vielmehr für eine bestimmte Haltung im Umgang mit Tanz entwickelt als für eine Tanzform selbst. Die widersprüchlichen Definitionen und Beschreibungen, die Le Roy im Internet findet und nach denen Butoh auch schon mal darin bestehen kann, sich gar nicht auf der Bühne zu bewegen - „There is no set style, and it may be purely conceptual, without any movement, with or without an ordiance“ -, unterstreichen dies. Butoh proben, sich dieser liminalen Form also annähern, das ist freilich möglich. Und so berichtet uns Le Roy von diesem Proben- und Annäherungsprozess, indem er die von ihm getroffene Aussagen in actu listig inszeniert, ebenso listig vielleicht, wie Ono einst den Begriff des Butoh erfunden haben mag. Le Roys individuelle bzw. durch andere Einflüsse geprägte Herangehensweise an jene 105 Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils nur schwer greifbare ‚Stilistik‘ sind das Thema von Product of Other Circumstances. Schon früh im Verlauf der Lectureperformance macht Le Roy klar, was er alles nicht unternommen hat, um Butoh zu erlernen: So ist er beispielsweise nicht nach Japan gereist, und er hat sich auch geweigert, an Butoh-Workshops teilzunehmen, um sich etwas von einem Lehrer vermitteln zu lassen. Dazu hatte er keine Zeit, er bekam dafür kein Geld vom Produzenten Charmatz, und wahrscheinlich hatte er auch gar keine Lust dazu, weil er sich für eine grundsätzlich andere Annäherungsweise entschieden hat. Le Roy setzt sich - ganz unsystematisch und persönlich - auseinander mit dem, woran er sich erinnert und was ihm bei Recherchen im Internet auffällt. Von dem, was er dort vorfindet, lässt er sich leiten, und trifft - „you’ll never know with the internet. . .“ - erwartungsgemäß auf das übliche Allerlei, welches das Netz und die Popkultur zur Verfügung stellt. Und er trifft auch auf sich selbst. Denn als einen der ersten Treffer auf der Ergebnisliste von Google für die Sucheingabe ‚butoh in 2 hours‘ stößt er auf sein eigenes Zitat, welches er entweder selbst geäußert oder Charmatz ihm in den Mund gelegt hat. Somit hat die geübte Werbeabteilung des Re-Butoh-Festivals bereits selbst dafür Sorge getragen, dass Le Roy und sein Vorhaben ins Netz eingespeist worden sind. Das ist wenig hilfreich, aber witzig, und zeigt, was auch Product of Other Circumstances im Ganzen zeigt, dass die Umstände, die uns prägen und bestimmen, unmöglich von uns selbst zu trennen sind; dass wir, wenn wir Produkt von anderen Umständen sind, dennoch Spuren im Diskurs hinterlassen, die wiederum zu Umständen für andere oder wieder für uns selbst werden können. Die Diskrepanz zwischen dem leicht vermarktbaren Motto „Butoh in zwei Stunden“, zwischen der Schwierigkeit, einen klaren Butoh-Stil tatsächlich eindeutig zu identifizieren (im Sinne eines „Das ist Butoh, und das ist es nicht“) und schließlich die vom Choreographen tatsächlich praktizierter Herangehensweise, welche sich aus dem ihm gegebenen körperlichen, zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten ergeben hat, definiert ein Spannungsfeld. Und dies ist das Feld, in dem Le Roys Ein- und Ausfügen stattfindet. Er fügt sich ein und aus in ein gut funktionierendes Vermarktungssystem für darstellende Künste, welches dankbar mit werbetauglichen Catchphrases umgeht. Er fügt sich ein und aus in bestehende, von Kazuo Ono entwickelte, von anderen Tänzern wiederum adaptierte, verfälschte, von Le Roy selbst erinnerte, angeeignete Praktiken des Butoh, um nicht ‚den‘ Stil des Butoh zu erlernen, sondern seinen eigenen Butoh- Stil zu entwickeln. Die drei längeren Bewegungssequenzen, die Le Roys Lectureperformance gliedern, beschreiben diesen Prozess des Aneignens von Fremdem mit den Möglichkeiten und dem Begehren des Eigenen. Der beschriebene Tanz am Anfang bereitet auf das Thema der sich anschließenden zwei Stunden vor. Ein Zuschauer ahnt vielleicht schon, dass hier eine erste Annäherung an Butoh stattfindet. Doch dieser Tanz findet vor der Sprache statt, bevor Le Roy beginnt, diese Bewegungen sprachlich zu kontextualisieren. Anders ist dies bei Beginn der zweiten Tanzsequenz, die etwa nach einer Stunde erfolgt. Hier hat die Kontextualisierung schon stattgefunden, die Zuschauer wissen, was Le Roys Projekt ist. Diese Kontextualisierung hat eine klare Funktion, die Le Roy auch später ausführt: Sie vermeidet einen bloß identifizierenden, evaluierenden Blick des Publikums und regt stattdessen zur Reflexion über das Gesehene ein. Rückblickend erläutert er die Anfangssequenz und die Technik, die er dabei eingesetzt hat: Konkrete Bilder habe er sich vorgestellt - einen Mann, einen Baum, ein Tier - und inspiriert dadurch seine Bewegungen assoziativ hervorgebracht. In der zweiten Abfolge verfährt 106 Philipp Schulte er anders: Sein Tanzen hier ist ein Nachahmen einer Butoh-Choreographie, die Le Roy vor Jahren gesehen hat, unterstützt durch eine Videodokumentation. Aus dem vorsichtigen Annähern an eine Stilistik wird hier ein einigermaßen detailgetreues Re- Enactment, ein Einfügen in vorhandenes Material. Diese Idee aber, Fremdes nachzuahmen und es sich so anzueignen, widerspricht seinem Interesse: „You have to find your own Butoh, and this was not really my butoh, it was their butoh. . . So I dropped the idea.“ Was Le Roy schließlich gegen Ende der Performance präsentiert - wie bei den vorigen beiden Sequenzen beginnt er auch wieder in der hinteren rechten Bühnenecke - ist das vorläufige Ergebnis seiner monatelangen Recherchearbeit, die er in den vorausgegangenen fast zwei Stunden seinen Zuschauern erläutert hat. Erst durch diese detaillierten Ausführungen ist es ihnen nun möglich geworden, das Spannungsfeld, in dem Le Roy sich selbst choreographiert hat, zu erkennen. Nach all den Informationen wissen wir, was uns gezeigt werden soll: Wir kennen Le Roys Experiment, und wir sehen die Person Le Roy in ihrer eigenen Körperlichkeit in Auseinandersetzung mit der irgendwie vorgegebenen und schwer sich anzueignenden Stilistik des Butohs. Diese Stilistik bildet dabei den Gegenpart und die Reibungsfläche, mit der Le Roy sich konfrontiert und mit der er nun - mal sich anpassend einfügend, mal an ihr scheiternd bzw. sie kreativ transformierend, sich also ausfügend - umgeht, immer aber in jenem notwendigem Wechselverhältnis zwischen beiden Tendenzen. 3. Institutioneller Rahmen und persönlicher Freiraum Auf einer dritten Ebene findet die Thematisierung mit Prozessen des Sich-Ein- und Ausfügens in der Weise statt, mit der der Künstler Le Roy sich gegenüber der Institutionalisierung des zeitgenössischen Bühnentanzes und dem System der Bühnen und Festivals, das sie strukturiert, verhält. Auch dies ist ein wichtiger Aspekt in vielen seiner früheren Arbeiten. Denn was bedeutet es, den Entstehungs- und Rechercheprozess zu einer künstlerischen Arbeit so detailliert während der Aufführung selbst zu schildern? Statt eines Produktes, welches sich als ausgereift und fertig behauptet, gelingt es Le Roy, Vorgänge des Probens mit in die Aufführung zu integrieren. Oder vielmehr: Sie bestimmen den Charakter der Performance. Mit entwaffnender Offenheit verweigert sich der Choreograph marktorientierten Forderungen nach einem fertigen, in sich stimmigen Produkt, welches sich nicht den Erwartungen der Unterhaltsamkeit und auch Kurzweiligkeit - „Butoh in zwei Stunden“ - beugt. Auf diese Weise entzieht sich Le Roy gängigen organisatorischen und kuratorischen, kultur- und sozialpolitischen Konventionen des Performance-Art- Marktes. Auch dies thematisiert er direkt in Product of Other Circumstances: End of august I got this receipt from the production office. And that was somehow interesting: the proposal was 1.300 Euro. My first reaction was: ‘Wow. Two hours work and maybe ten or twenty minutes dance - that’s very well paid.’ But of course at this time already I failed because I worked much more than two hours. Am Ende der Performance wird Le Roy hier noch konkreter: The French administration sends me a letter every year telling me how much I earn by hour, or what I should earn. And last year it was 29 Euro an hour. So I did this very fast calculation: 1.300 Euro, 12 % for the administration and production, and the rest. . . counting the taxes and all this: I should have worked 26 hours. But of course I worked more. And then I thought, what does it 107 Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils mean? It was interesting for me to realize that I have done this in a way more in my freetime than in my time where I am supposed to work. So the conclusion of this would be that this work is more like an amateur work, a work that is done as a hobby piece. [. . .] What the whole story produces is also a space for me to be detached from certain pressure or expectations. I was not at all in the situation where I had to look for a coproduction to find the money and to pay the people or to find the time to get the people together, the premiere and all this. This proposal somehow freed me from these conditions. Le Roy gefällt diese Arbeitsweise, weil für ihn so ein Raum entstanden ist, in dem er unberührt sei von einem gewissen Druck und bestimmten Erwartungshaltungen - ein Raum anderer Umstände. Diese ‚Freiheit‘ des Probens ist der Weg, den Le Roy gewählt hat, um den systemischen Vorgaben zumindest teilweise und vorübergehend zu entgehen. Den Anforderungen eines professionellen Kunstmarktes, Kunstproduktion unbedingt als kreative Arbeit zu betrachten, kann Le Roy in diesem Projekt zumindest teilweise entgehen. Indem er darauf besteht, es als Hobbystück zu betrachten, fügt er sich vorübergehend aus diesen professionellen Ansprüchen aus und gibt sich so das Gefühl einer gewissen Freiheit, die Kreativität erst möglich macht. In der Aufführung nun, die freilich schon wieder viel stärker den pragmatischen Zwängen und Bedingungen der Institution eines Festivals oder Theaters unterworfen ist, spielt diese Freiheit trotzdem immer noch eine wichtige Rolle - wenn auch vielleicht eben nicht mehr als jene beim Probenprozess von Le Roy empfundene Freiheit, so doch immerhin noch in Form einer listigen Inszenierung, eines raffinierten Hinweisens auf die Notwendigkeit jenes Freiraums, den sich der Künstler in seiner Auseinandersetzung mit seinen Auftrag- und Geldgebern immer wieder aufs Neue erkämpfen muss. In Product of Other Circumstances werden Le Roys Zuschauer Zeugen einer ermöglichenden De-Ontologisierung: zum einen jener ‚Freiheit‘, zum anderen der Tanzform des Butohs, zum dritten auch der Möglichkeit eines subversiven Verhaltens von Xavier Le Roy selbst. Durch die akribische Erörterung ihres eigenen Entstehungsprozesses und die sprachliche Kontextualisierung ihrer eigenen Mittel und Gegenstände arbeitet die Performance fast ausschließlich mit probehaften, als probehaft ausgewiesenen Setzungen, die jederzeit wieder ausgehebelt werden können. Le Roy bringt sich ‚so etwas wie‘ Butoh bei, er erfährt dabei ‚so etwas wie‘ eine kreative Freiheit entgegen den Anforderungen eines professionellen Kunstmarktes, und er kann sich auf diese empfundene Quasi-Freiheit berufen, wenn er ‚so etwas wie‘ die Möglichkeit eines subversiven Verhaltens diesem System gegenüber aufzeigt. Jene ursprüngliche Freiheit, von der Foucault nicht spricht und von der er nicht nicht spricht, ist somit eng verwandt mit Le Roys persönlich erfahrener Freiheit bei den Proben zu Product of Other Circumstances. Diese Freiheit kann nur im Verhältnis bestehen, als ‚Freiheit von etwas‘ und zeigt sich in der Performance einmal mehr als eine, die nur im Abgleich mit, in Reibung zu den Umständen gedacht und empfunden werden kann. Nur durch das aufzeigende Zitieren und Kenntlichmachen von normativen, wenn auch teilweise selbst gewählten Vorgaben - der Stilistik des Butoh, der Performance-Art-Szene, den Erwartungen der Produzenten und des Publikums - kann eine vorübergehende Abweichung von diesen Vorgaben erfolgen; Le Roys Freiheit entwickelt sich in einer Situation der Umstände und Zwänge. Seine Erzählung dieser Umstände und Zwänge ist zugleich die Erzählung seines listigen Umgangs mit ihnen - „this dance is part of a story. . .“ Die Frage aber, worin der Ursprung, die ermöglichende Triebfeder einer derartig um tem- 108 Philipp Schulte poräre Ausfügung bemühten Selbststilisierung liegt, das kann Le Roy nicht begründen - ebenso wenig, wie Foucault es konnte, der stattdessen mit genealogischen Konstruktionen à la Nietzsche arbeitete. Und auch Le Roys Erzählung nimmt manchmal die Züge einer solchen genealogischen Konstruktion an. Martin Saar beschreibt Nietzsches genealogischen Stil als „kritisch motivierte Kunst der drastischen Darstellung“ 16 . Selbstverständlich stilisiert Nietzsche beispielsweise in der Genealogie der Moral 17 auf eine andere Weise als Foucault in seinem Vortrag Was ist Kritik? und Foucault auf eine andere Weise als Le Roy in Product of Other Circumstances: Alle drei stilisieren sich selbst und ihr (Sprach-)Handeln auf je eigene Art. Doch in einem Punkt sind sie ähnlich: Und diese Ähnlichkeit liegt gerade im Vorgang der narrativen und inszenierten Konstruktion jener letztlich nicht nachweisbaren ‚ursprünglichen Freiheit‘, einer Konstruktion, die nicht theoretische Gegenentwürfe zu scheinbaren Gewissheiten produziert, sondern vielmehr „kritische Anfragen an gegenwärtiges Selbstverständnis“ 18 stellt. Althussers Modell der bestimmenden Anrufung durch die uns umgebenden Strukturen, der sich kein Subjekt jemals entziehen kann, kann als fatalistischer Ansatz betrachtet werden. Der Akt der sich ausfügenden Entunterwerfung, der freiwilligen Unknechtschaft dagegen kann immer nur von Subjekten geprobt werden, die sich nicht als vollständig unterworfen begreifen möchten - so auf der Bühne durch einen Performer wie Le Roy, so durch dazu aufgeforderte Teilnehmer der Performance ZOO von aktör&vänner. Die hingenommene Nichtbegründbarkeit der ‚ursprünglichen Freiheit‘, auf welche ein Subjekt sich hierbei beruft, berufen muss, kann sich in einer listigen Stilisierung ausdrücken. Mit dieser These schließe ich: Philosophische und künstlerische Äußerungsformen sind prädestiniert dazu, Räume einzurichten, die die Bildung von - sich einfügendem, sich ausfügendem - Stil ermöglichen. Und damit sind sie auch prädestinierte Äußerungsformen sich heranbildender Subjektivität: Orte notwendig gesetzter Subjekte auf der stetigen, tätigen Suche nach ‚so etwas wie‘ einer ursprünglichen Freiheit, ihren setzenden Anrufungen zumindest gelegentlich, vorübergehend zu entkommen. Anmerkungen 1 Vgl. Louis Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, in: Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg und Westberlin 1977, S. 108 - 153. 2 Ebd., S. 142. 3 Ebd, S. 143. 4 Vgl. Aleida Assmann, „‚Opting in‘ und ‚opting out‘. Konformität und Individualität in den poetologischen Debatten der englischen Aufklärung“, in: Hans-Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselementes, Frankfurt/ Main 1986, S. 127 - 143. 5 Teile des zweiten Hälfte des vorliegenden Artikels sind in überarbeiteter Form und ins Englische übersetzt erschienen in: Philipp Schulte, „Alternative Genealogies: Critique and Style in Contemporary Performance Art“, in: Philipp Schulte, Anneka Esch-van Kan, Stephan Packard (Hrsg.), Thinking - Resisting - Reading the Political, Zürich und Berlin 2013, S. 275 - 290. 6 Vgl. Michel Foucault, Was ist Kritik? , Berlin 1992. 7 Vgl. Judith Butler, „Was ist Kritik? “, in: Rahel Jaeggi, Tilo Wesche (Hrsg.): Was ist Kritik? , Frankfurt/ Main 2009, S. 221 - 246. 8 Vgl. Foucault 1992, S. 52 f. 9 Vgl. Butler 2009, S. 243 (Hervorhebung nicht im Original). 10 Ebd. 11 Ebd., S. 240. 109 Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils 12 Ebd., S. 244. 13 Vgl. hierzu Hans-Martin Gauger, Über Sprache und Stil, München 1995. 14 Vgl. Assmann 1986. 15 Ebd., S. 141. 16 Vgl. Martin Saar, Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt/ Main 2007, S. 139. 17 Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, Stuttgart 1988. 18 Saar 2007, S. 141. 110 Philipp Schulte Rezensionen Swetlana Lukanitschewa. Das Theatralitätskonzept von Nikolai Evreinov. Die Entdeckung der Kultur als Performance. Tübingen: A. Francke Verlag, 2013, 367 Seiten. Nikolai Evreinov (1879 - 1953) sei, so urteilte Mitte der 1920er Jahre der Petersburger Altphilologe Boris Kazanskij, „von dem Dämon der Theatralität besessen“ (S. 194). Alle großen Fragen der Zeit, sei es der Psychologie, Anthropologie oder der Kulturtheorie, würden von ihm mit der Zwangslogik eines Morphinabhängigen auf das immer gleiche Prinzip, jenen ‚theatralen Instinkt‘ zurückgeführt, den er als entscheidende anthropologische Konstante in der Menschheitsgeschichte ausgemacht zu haben glaubte. Swetlana Lukanitschewas Studie, eine überarbeitete Fassung ihrer 2012 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin angenommenen Habilitationsschrift, nimmt erstmals das umfangreiche kulturtheoretische und dramatische Gesamtwerk des russischen Theaterreformers (inklusive der in seinem Pariser Nachlass erhaltenen Quellen) in den Blick und entwirft eine differenzierte Perspektive auf den monomanen Theatrokraten, eine Zentralfigur der europäischen Theaterreform des frühen 20. Jahrhunderts. Ihr gelingt das Kunststück, den für Evreinov zentralen Gedanken eines vor-ästhetischen, menschlichen Transformationswillens variantenreich (sowohl biographisch und werkimmanent als auch kultur- und ideologiegeschichtlich) herauszuarbeiten und die verschiedenen Ebenen überzeugend miteinander zu verschalten. Der Name Nikolai Evreinov ist durch die Theatralitäts-Forschung der 1980er und 1990er Jahre, namentlich durch die Arbeiten von Joachim Fiebach, Eleonore Kalisch und vor allem durch Erika Fischer-Lichte, als Erfinder und Apologet des Begriffs ‚Theatralität‘ (theatral’nost) erneut in das Bewusstsein der deutschsprachigen Theaterwissenschaft gerückt. Doch bleibt es aufgrund der schwierigen Übersetzungssituation einer russischkundigen Leserschaft vorbehalten, sich eingehender mit der Theaterphilosophie Evreinovs zu befassen. Die überzeugend aufgebaute, präzis formulierte und mit 29 Abbildungen illustrierte Studie ist in sechs Kapitel untergliedert. In den ersten beiden Kapiteln leuchtet die Verfasserin den kultur- und theatergeschichtlichen Kontext für Evreinovs Wirken als Theaterreformer aus. Sie skizziert die russische Theaterentwicklung als ein Nebeneinander von Adelskultur und einer sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts emanzipierenden Volkskultur (S. 30). Aufgrund dieser dichotomen Struktur sei der Kontrast zwischen ‚natürlich‘ und ‚theatralisch‘, ‚echt‘ und ‚gespielt‘ in Russland sehr viel stärker ausgeprägt als anderswo in Europa. Das ideengeschichtliche Umfeld Evreinovs wird durch die Suche nach Erlösungsstrategien im russischen Kunstdiskurs des sogenannten Silbernen Zeitalters (der Zeit zwischen 1880 und 1917) bestimmt, hier vor allem durch das theurgische Kunstkonzept und die Sophienlehre von Vladimir Solov’ëv. Im dritten Kapitel (50 - 214), dem Herzstück der Studie, folgt die Verfasserin der Entstehung des Theatralitätskonzepts zwischen 1905 und 1917. Sie stellt das Wechselspiel von ästhetischer Theorie, früher Dramatik und den Regiearbeiten am Starinniyj Theater, im Theater von Vera Komissarževskaja sowie insbesondere im Kabarett dar. Zwischen 1908 und 1917 erscheinen die zentralen Schriften Die Theatralisierung des Lebens, Theater als solches und Theater für sich selbst. Letztere Schrift birgt die Quintessenz der Evreinovschen Lehre von der Theatrokratie, d. h. der Omnipräsenz des Theaters im Leben. Der Handlungsimpuls, der dem Erkennen der Allmacht des Theaters entwächst, soll im Endeffekt in die Eudämonie münden, in eine „Welt, die ein Individuum ohne Rücksicht auf die in der Gesellschaft etablierten Normen und Vorschriften nach seinen Bedürfnissen gestalten kann“ (S. 177). Das vierte Kapitel (S. 215 - 287) widmet sich der nach-revolutionären Phase seines Schaffens bis zur Emigration nach Paris 1925. In diese Zeit fällt sein Interesse an Methoden der Machtinszenierungen (Theater und Schafott), die berühmte Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 111-112. Gunter Narr Verlag Tübingen Masseninszenierung Erstürmung des Winterpalais (1920), die Entwicklung einer Theatertherapie (Aktionskatharsis) und die Ausdehnung der Theatralitätskonzeption auf die Tierwelt (Das Theater bei den Tieren). Unter den im fünften Kapitel (288 - 340) behandelten Werken und Inszenierungen aus der Emigrationszeit, in denen Evreinov seine Theaterphilosophie an das kapitalistische Umfeld anpasst, ist besonders das technophile Drama Der Radio-Kuss oder Der Roboter der Liebe hervorzuheben. Eine knappe Zusammenführung dient schließlich der nochmaligen Befestigung der in den Buchtitel aufgenommenen Hauptthese (S. 341 - 344). Die Studie, die nach der „Entdeckung der Kultur als Performance“ in den Reformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts fragt, entfaltet dort ihre größte Kraft, wo sie das konkrete Funktionieren eines widerspruchsvollen Philosophierens schildert. Es ist schnell klar, dass Evreinovs Schriften nach systematischen Kriterien oftmals inkonsistent und die mitunter irrsinnigen Thesen (auch aus zeitgenössischer Sicht) rasch widerlegbar sind. Der Autorin zufolge wäre eine Bewertung von Evreinovs ästhetischen Schriften (hier vor allem Theater für sich selbst) auf einer rational argumentativen Ebene verfehlt (siehe insbes. S. 167 - 214). Seine Popularität als Autor verdanke sich vielmehr dem Aufführungscharakter seines Schreibens, in welchem sich eine überbordende, disziplinübergreifende Zitierlust mit dem Ankündigungs- und Behauptungsgestus des Conférenciers verbinde. Evreinov nehme gegenüber seinen Lesern verschiedene Rollen ein, vorzugsweise die des Harlekin oder eines mittelalterlichen Doctor Prolocuteur. In einer zirkulären Bewegung werde der Leser einer Wucht des Behauptens ausgesetzt, die suggestiv eben jenen theatralen Instinkt anzusprechen suche, den Evreinov variantenreich als anthropologische Gegebenheit immer schon voraussetzte. Evreinov adressiere seine Leser auf einer gleichsam vorreflexiven, somatischen Ebene (S. 175 ff.). Auf allfällige Parallelen zu Antonin Artaud, der mit Evreinovs Philosophie vertraut gewesen sein dürfte, geht die Verfasserin wiederholt ein (siehe etwa S. 163). Äußerst spannend lesen sich zudem die Passagen zur ideologischen Anpassungsfähigkeit Evreinovs in der post-revolutionären Zeit, die im Licht seiner These des quasi naturgesetzlichen menschlichen Verwandlungswillens betrachtet werden können (S. 215 - 224). Als kleines Manko der Studie fällt auf, dass das von der Verfasserin zusammengetragene Bildmaterial nicht durch eine quellenkritische Würdigung in die Untersuchung eingebunden ist. Auf ein Namens- und Sachregister wurde bedauerlicherweise verzichtet. Swetlana Lukanitschewa leistet in ihrer Studie eine beeindruckende (nicht zuletzt übersetzerische) Grundlagenarbeit, die wichtige Impulse für ein besseres Verständnis der europäischen Theaterreformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts birgt. Nach der Lektüre des Buches wird deutlich, dass es wohl allein dem weitgehenden Fehlen von Übertragungen aus dem Russischen geschuldet ist, wenn Nikolai Evreinov in der (deutschsprachigen) Theaterforschung noch immer nicht in einem Atemzug mit Georg Fuchs, Peter Behrens, Max Reinhardt, Adolphe Appia oder Gordon Craig genannt wird. Amsterdam JAN LAZARDZIG Ingrid Hentschel, Una H. Moehrke, Klaus Hoffmann (Hrsg.). Im Modus der Gabe / In the Mode of Giving. Theater, Kunst Performance in der Gegenwart / Theater, Art, Performance in the Present. Bielefeld: Kerber Verlag, 2011, 207 Seiten. Dieser Tagungsband basiert auf einem im Juni 2010 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld veranstalteten Symposium „Konzepte der Gabe in der Gegenwartskunst“. Das programmatische Modell von ‚Kunst als Gabe‘ dient hier als Dispositiv für ethisch-ästhetische Gegendiskurse zur allgegenwärtigen Ökonomisierung darstellender und bildender Kunst. Mit dem fast allen Beiträgen gemeinsamen Beharren auf der aufklärerischen Idee ästhetischer Autonomie wird eine vorschnelle Vereinnahmung der Kunstpraxis für aktuelle sozio-kulturelle und bildungspolitische Zwecke grundlegend in Frage gestellt. Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 112-114. Gunter Narr Verlag Tübingen 112 Rezensionen Neben der kunsttheoretischen Annäherung an das Konzept der Gabe unternimmt der Band zumindest ansatzweise auch den Versuch, der gegenseitigen Bedingtheit von Kunstwissenschaften und künstlerischer Praxis i. S. einer pratice based research Gestalt zu verleihen. Allerdings beschränken sich die Darlegungen zahlreicher praktischer Projekte nicht selten auf eine kurze Konzeptbeschreibung und Fotodokumentation. Darin zeigt sich indirekt auch die generelle Schwierigkeit, körperliche Performanz und Interaktionsphänomene in das Medium der Wissenschaftssprache zu bannen. Besonders von internationalen bzw. interreligiösen Kunstprojekten, wie dem von Klaus Hoffmann allzu knapp präsentierten Theatre for a Change aus Ghana und der Performance Wishuponastar Smadar Yaarons vom israelischen Acco Theater, würde man sich ausführlichere Beschreibungen wünschen. Hanne Seitz gelingt es hingegen in ihrer Darstellung von This Baby Doll will be a Junkie - einer Wiener Intervention im öffentlichen Raum von Ulrike Möntmann über die Biographien drogenabhängiger Frauen - den bisweilen zwiespältigen Charakter von Kunst als gesellschaftlich verstörender, „giftiger Gabe“ (S. 95) aus der Doppelperspektive ästhetischer Theorie und Praxis zu erhellen. Auch Christine Biehlers Projektpräsentation Landarbeit 07, eine mehrjährige Gemeinschaftsaktion professioneller Künstler mit Hildesheimer Studierenden und Bewohnern des niedersächsischen Dorfs Heinde, vermittelt einen umfassenden Eindruck vom Austausch zwischen traditioneller Dorfkultur und Kunst bei der Realisierung einer ephemeren, sozialen Skulptur im ländlichen Raum. Den theoretischen Bezugspunkt des Modells von ‚Kunst als Gabe‘ bildet vor allem Marcel Mauss’ Essai sur le don, in dem der Gabentausch als ein umfassendes kulturtheoretisches Paradigma analysiert wird. In den Beiträgen von Gerhard Stamer und Klaus Lichtblau werden die Differenzen zwischen der außerhalb des ökonomischen Kreislaufs stehenden, durch Reziprozität gekennzeichneten ‚Gabe‘ und der Logik des kapitalistischen Äquivalententauschs, systematisch und historisch untersucht. Erst mit der juristischen Verankerung der ‚Schenkung‘ ohne Verpflichtung zur Gegengabe, wie etwa im Bürgerlichen Gesetzbuch seit 1900, ist deren Einseitigkeit und die damit verbundene Abgrenzung von Warentausch und Kauf rechtlich definiert. Die Ökonomie des Gabentauschs zielt primär auf Etablierung bzw. Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen innerhalb eines Kollektivs bzw. zwischen benachbarten Gemeinschaften. Dadurch unterscheidet sie sich vom individuellen, auf ‚Berechenbarkeit‘ ausgelegten, modernen gesellschaftlichen Warentausch. Wie Lichtblau im Anschluss an die jüngere Mauss-Rezeption ausführt, ist das ethnologische Konzept der prinzipiell reziproken Gabe von der einseitigen ‚reinen‘ oder ‚authentischen Gabe‘ unterschieden. Letztere beruht stets auf einer - mit der Vorstellung eines ursprünglichen Gottes verknüpften - Schöpfungstheologie. Diese These wird an späterer Stelle auch von dem praktischen Theologen Gerhard Marcel Martin bekräftigt. Anhand von Beispielen religiöser bzw. religiös inspirierter Kunst aus verschiedenen Weltreligionen verweist er auf die strukturelle Verwandtschaft zwischen theologischen Schöpfungsmythen und künstlerischen Schöpfungsprozessen. Aus ethnologischer Sicht verbindet sich mit der Gabe hingegen stets ein, wenn auch verhülltes, soziales ‚Interesse‘, nämlich die Anknüpfung bzw. dauerhafte Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen. Analog hierzu, so Lichtblau, erschöpfe sich auch die gesellschaftliche Bedeutung moderner Kunst weder in der ökonomischen Verwertbarkeit noch seien künstlerische ‚Gabe‘ oder ‚Begabung‘ auf - letztlich religiös fundierte - einseitige Schöpfungsprozesse reduzierbar. Automatisch rücken dabei Fragen zur Kunstrezeption und -kritik in den Vordergrund. Hier hätte sich, gerade im Hinblick auf den fast allen Beiträgen zu Grunde liegenden ästhetischen Autonomieanspruch, eine Bezugnahme auf neuere Konzepte der relationalen Ästhetik, wie sie etwa von Nicolas Bourriaud vertreten werden, wohl als gewinnbringend erweisen können. Die meisten der hier versammelten kunst- und theaterwissenschaftlichen Annäherungen an den ‚Modus der Gabe‘ berufen sich jedoch auf Eugenio Barbas Theateranthropologie. Ian Watson weist in seiner Gegenüberstellung von Mauss’ Konzept des Gabentauschs und Barbas Praxis der ‚theatrical barters‘ aus den 1970er Jahren allerdings auf einen fundamentalen Unterschied hin: Durch die Differenz zwischen der von Barbas 113 Rezensionen Gruppe dargebotenen künstlerischen Performance und der kulturellen Performance indigener Gemeinschaften werde zwar ein Kulturkontakt initiiert, doch würden die ‚theatrical barters‘ im Gegensatz zu Mauss’ Modell gesellschaftlicher Gabenökonomie letztlich kaum auf einen dauerhaften, Gemeinschaft stiftenden Kulturaustausch abzielen. Mögliche Grenzüberschreitungen zwischen den Praktiken künstlerischer und kultureller Performance führt hingegen der iranische Theaterwissenschaftler Mohammadreza Farzad ins Feld. Bezeichnenderweise gründet seine Argumentation gerade nicht im ästhetischen Autonomieanspruch westlicher Kunst. Farzad differenziert - unter Rekurs auf Tönnies’ Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft - zwischen der Ökonomie der ‚Gabe‘ als sozialem Kitt kulturell weitgehend homogener Gemeinschaften und der Opferhandlung bis hin zum Märtyrertod. Letztere spielen eine tragende Rolle in der religiösen und nationalen Identitätsbildung. Am Beispiel des traditionellen persischen Passionsspiels Ta’ziyeh, in dem das Martyrium von Imam Hussein, Enkelsohn des Propheten Mohammed, thematisiert wird, stellt er vor dem realen Hintergrund islamischer Selbstmordattentate die provozierende Frage nach den möglichen Konsequenzen ästhetischer und kultureller Performanz jenseits der symbolischen Formen. Mit der Überführung von Text (der noch die Spuren einer ‚Heiligen Schrift‘ in sich trägt) in performatives, soziales Handeln wird sowohl die Trennung zwischen dem Bereich der Religion bzw. Kunst und dem der Politik wie auch die Differenz von Gesellschaft und Gemeinschaft obsolet. Dass sich das Konzept der Gabe in rituellen und künstlerischen Performances gerade im transitorischen Raum sozialer, transzendenter und ästhetischer Erfahrungen realisiert, verdeutlicht auch der abschließende Beitrag von Ingrid Hentschel. Gleichzeitig akzentuiert sie abermals den bereits von Una H. Moehrke ins Spiel gebrachten ‚Mehrwert‘ performativer Kunst: Als ein sich erst in der Gemeinschaft von Performern und Publikum realisierendes „Präsent der Präsenz“ (S. 117) entzieht sie sich der ökonomischen Logik des materiellen Warentauschs. Im Modus der Gabe präsentiert sich auch die äußere Aufmachung der Publikation: Mit vielen farbigen Abbildungen, assoziativen Zwischentexten, leserfreundlichen Abstracts und einem ungewöhnlichen Schriftbild im Flattersatz auf satiniertem Papier vermag der Band dem Leser und Betrachter auch ein optisches und haptisches Erlebnis zu bescheren. München KATHARINA KEIM Christina Schmidt. Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater. Bielefeld: transcript Verlag, 2010, 374 Seiten. Wer sich mit Einar Schleef und allgemein mit der Frage des Chors im heutigen Theater befasst, wird diese Publikation als Nachschlagewerk betrachten, denn Christina Schmidt gelingt in ihrer hervorragenden Untersuchung die Vermittlung und Veranschaulichung einer anspruchsvollen Theaterreform, die radikal mit unseren Darstellungs- und Wahrnehmungsgewohnheiten bricht. Nur eine umfangreiche Auseinandersetzung mit Schleefs Werk kann eine solche Klarheit des Blicks und des Ausdrucks verschaffen, die bereits im programmatischen Titel und in der 11seitigen Einleitung mit deren wirkungsvoller Erörterung der Grundbegriffe und -fragen zum Vorschein kommt. Dass Schleef „den Chor als zentrale Theaterfigur begreift“, bedeutet zunächst die Abwendung von einer ich-zentrierten Auffassung desselben, womit sich sein Theater „von anderen theatralen Einsätzen chorischer Ästhetiken“ (S. 9 - 10) deutlich absetzt: Statt einer massenhaften Ansammlung oder „ex negativo als dekonstruierte[r] und vervielfältigte[r], ehemalige[r] Einzelfigur“ (S. 11) wird der Chor als Theaterfigur und das Theater selbst als „realer Versammlungsort“ (S. 14) kenntlich gemacht. Dabei fokussiert Christina Schmidt auf drei späte chorische Inszenierungen des 2001 verstorbenen Regisseurs, Ein Sportstück von Jelinek (Burgtheater, Wien, 1998), den Golem in Bayreuth von Ulla Berkewicz (Burgtheater, Wien, 1999) sowie Verratenes Volk nach Döblin, Nietzsche, Milton, Dwinger und anderen (Deutsches Theater, Berlin, 2000). Statt einer beliebigen Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 114-116. Gunter Narr Verlag Tübingen 114 Rezensionen Beschreibung eines theatralen Phänomens wird zuerst anhand der zwei ersten Beispiele in einem mit „Tragödie als Bühnenform“ betitelten ersten Teil „das begriffliche Instrumentarium entwickelt und die methodische Herangehensweise zur Analyse von Schleefs szenischem Denken entfaltet“ (S. 19), womit in Teil II die „Porträtierung einer Inszenierung“ (S. 19) am Beispiel von Verratenes Volk erfolgen kann. Mit der Darstellung der „archäologischen Lektüre der verwendeten Texte“ anhand des neu erschlossenen Archivmaterials in Schleefs Nachlass an der Akademie der Künste (Berlin) und durch die „Genese der Inszenierung“ (S. 20) überhaupt wird Schleefs vom Chor ausgehendes szenisches Denken verdeutlicht. In Schleefs Neuinterpretation der Theatergeschichte ist der mit Shakespeare erfolgte Durchbruch des Protagonisten auf Kosten des Chors und der Frau zugleich ein tiefer, schmerzlicher Verlust, dem durch eine Wiederbelebung der Tragödie dringend entgegenzuwirken sei. Unter diesem Begriff versteht Schleef den „konfliktuöse[n] Zusammenhang szenischer Orte“ (S. 16), wie er in der ‚antiken Konstellation‘ zum Ausdruck kommt, als Elektra auf dem Proszenium „vor dem Palast“ steht, während sich der Chor in der Orchestra, das heißt dem Publikum am nächsten, behauptet. Die Frage ist nun, so Schmidt, „wie der Chor wieder Einzug in einem Theater halten [kann], dessen Bühne ihm nicht nur dramaturgisch, sondern auch baulich keinen Auftrittsort mehr bietet“ (S. 18). Denn das Verschwinden der Chor-Figur hängt auch, so hält Schleef in Droge Faust Parsifal (1997) fest, eng mit der Erfindung der Zentralperspektive zusammen und mit der Feststellung, dass nur eine „Einzelfigur im Fluchtpunkt erscheinen [könne], keine Gruppe“ (S. 15). Darüber hinaus sind seit dem Barock die Theatereinrichtungen als „rein optisch erschlossene Räume“ (Ulrike Haß) organisiert, in denen die Zuschauer als „passive Voyeurs“ (S. 32) eines „vor ihnen und in einem anderen zweiten, vom Zuschauersaal getrennten Raum stattfindenden Schauspiel“ (S. 27) sitzen. Es gilt also die Mittel zu untersuchen, mit denen Schleef in seinen Inszenierungen dem Chor zu neuem Leben verhilft, aber auch die „Räumlichkeit der Chorfigur“ sowie „die Bearbeitung der theatralen Wahrnehmung durch das chorische Theater“ zu hinterfragen und das Augenmerk auf die „Auffassung von Sprache, Text und Figur“ (S. 11) zu richten. Dass Schleef den Konflikt nicht nur als Grundprinzip des Theaters, sondern allgemein als existenzielle Kernfrage auffasst, wird in Schmidts Analyse verdeutlicht, indem sie die seinen Inszenierungen innewohnende Gewalt als Provokation des Publikums zu verstehen gibt. Über die neue Konfiguration der Bühne durch Stege, Podeste, über die systematische Sprengung des Bühnenrahmens und allgemein des Guckkastentheaters hinaus ist Schleef durch die „energistische Form des Chorauftritts“ (S. 13) und das ständige Übergreifen in den Zuschauersaal um eine Aufhebung der alten Darstellungs- und Wahrnehmungsmodi bemüht. Auf diese Weise werden die Zuschauer notwendigerweise aus der Passivität gerissen und zum aktiven Widerstand gezwungen. Schleefs Theater konfrontiert das Individuum mit dem Kollektiv, die Figur mit dem Chor und gewinnt somit in den Jahren der Wende und der Wiedervereinigung eine politische Brisanz, die im weitaus längsten letzten Teil von Schmidts Untersuchung über Verratenes Volk am Deutschen Theater 2000 zur vollen Geltung kommt. Mit dem aggressiven Untertitel Wir sind ein Volk. Wir waren ein Volk. Verratenes Volk ist dieses ‚Volksspiel‘ als neuer Versuch einer Rückführung des tragischen Bewusstseins in Zeiten des nationalen Jubels konzipiert, womit Schleef Individuum und Kollektiv mit dem Ausgestoßensein und der agonalen Dynamik konfrontiert. Bei aller Gewalt seiner unversöhnlichen Weltanschauung (Lehmann) spricht es doch sehr für Schleefs integratives Denken und reformatorische Grundeinstellung, dass er dem Theater eine entscheidende Rolle beimisst und in dieser Überzeugung seinen Einflussbereich zu erweitern bestrebt ist. Dass hiermit Ausgestoßene und Randerscheinungen eine tragische Würde erlangen, ist, wie Schmidt eindrucksvoll beschreibt, auf Schleefs Auffassung einer kontaminierenden Bühnenform zurückzuführen. Die Vervielfältigung der szenischen Situation „vor dem Palast“ und die Verstreuung der Darstellungs- und Wahrnehmungsquellen ermöglichen es, die Formwerdung selbst als konfliktträchtigen Störfaktor zu problematisieren. Wie Christina Schmidt in dieser Untersuchung meisterhaft dokumentiert, erlaubt 115 Rezensionen Schleefs Rehabilitierung des Chors als unentbehrlichen Bestandteil der Bühne in dieser Hinsicht eine vollständige, effektvolle und dauerhafte Verwandlung unseres Theaters in einen realen Versammlungsort. Paris MARIELLE SILHOUETTE Jeanette R. Malkin/ Freddie Rokkem (Eds.). Jews and the Making of Modern German Theatre. Iowa City: University of Iowa Press, 2010, 304 Seiten. Als im Juli 2010 während des XVI. Weltkongresses der International Federation for Theatre Research (IFTR) die Buchpräsentation von Jews and the Making of Modern German Theatre stattfand, war der Hörsaal der Ludwig-Maximilians-Universität München zum Bersten voll. In der Tat verdient das Vorhaben der Herausgeber Jeanette R. Malkin und Freddie Rokkem, die Rolle von Juden und Nicht-Juden an der Entwicklung eines modernen deutschen Theaters in den Jahren 1871 bis 1933 zu beleuchten, besondere Aufmerksamkeit. Die Beiträge des Bandes halten sich von gesellschaftlichen, historischen und wissenschaftlichen Stereotypen weitgehend fern und öffnen zugleich neue Perspektiven auf das Thema: Dazu gehört die Betrachtung der Zeit vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten ebenso, wie die Korrektur der These von der Mitgestalterrolle der Juden an der deutschen Kultur („contribution history“, S. 3), bis hin zum Verständnis von der jüdischen Bevölkerung als Teil der gesellschaftlichen Gesamtstruktur („part of its fabric“, S. 3). Wichtig zu erwähnen ist zudem, dass es den Herausgebern mit diesem Band erstmals gelungen ist, interkulturelle Perspektiven in einem Sammelband zu vereinen. Tatsächlich bestätigt die Vielzahl der Aufsätze mit den unterschiedlichsten Schwerpunkten und den vielfältigen Zugangsweisen zu diesem Thema nicht nur die (in sich) widersprüchliche Situation jüdischer bzw. nicht-jüdischer Theatermacher im deutschsprachigen Raum, insbesondere in Deutschland und Österreich, die jegliche monokausale Deutung verbietet. Die Breite der Ansätze und Perspektiven vermittelt zudem neue Erkenntnisse über die vielfältigen Verbindungslinien zwischen Juden und Nicht-Juden auf dem Theater sowie deren Wirkung und Rückkoppelungseffekte vom Theater in gesellschaftliche und politische Kontexte. Das Theater als Ort ästhetischer, kultureller, intellektueller und politischer Sinnkonstitution, aber auch als Produktionsstätte mit spezifischen Organisationsstrukturen, vermag auf ganz besondere Weise das komplexe Problem jüdischer Identitätsbildung zu veranschaulichen, was auch an der theatralen Ausdrucksform vom Verstecken und Zeigen, von der Maskerade eines (vermeintlich) Authentischen oder an der flexiblen Binarität von Präsenz und Repräsentation liegen mag. Diese Vielfalt zu vermitteln, versucht beispielsweise der Aufsatz von Anat Feinberg, der überzeugend darlegt, dass das Interesse von Juden am Theater, bei den Machern wie beim Publikum, im Wilhelminismus zwar durchaus auch der Rezeption des bildungsbürgerlichen Kanons, der Texte Lessings, Goethes und Schillers geschuldet war. Vor allem aber seien das Praktizieren von Theater im privaten Familien- und Freundeskreis - wie etwa die Erinnerungen von Sammy Gronemann, Sohn des Hannoverschen Rabbis, zeigen - oder auch die theatrale Komponente religiöser Riten Ursachen für ebenso frühkindliche wie intensive Theatererfahrungen gewesen, die wiederum nicht selten in Berufen mündeten, die mehr oder weniger eng mit dem Theater zu tun hatten. Die Annahme von der Assimilation an ein deutsches Bildungsbürgertum relativiert auch Peter Jelavich, der zwar, wie Feinberg, zugibt, dass vor allem die ethischen Konzepte der deutschen Aufklärung, wie Offenheit, Toleranz und damit auch Pluralität, viele Juden im deutschsprachigen Raum begeistert hätten und weniger die Anpassung an eine (vermeintlich) homogene Vorstellung einer deutschen Kulturnation. Dies verdeutliche die Entwicklung einer pluralen Theaterkultur der so unterschiedlich orientierten Theatermacher Otto Brahm und Max Reinhardt. Deren Ästhetiken wiederum belegten, dass von einer spezifisch jüdischen Ausdruckskultur schlichtweg nicht zu sprechen sei, sondern allenfalls von einem hohen Maß an Sensibilisierung Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 116-117. Gunter Narr Verlag Tübingen 116 Rezensionen und Offenheit für unterschiedliche Theaterinhalte wie Theaterästhetiken, befördert durch die den Juden zugewiesene Außenseiterposition. Eine analoge Vielfalt ist zudem im jiddischen Theater anzutreffen, wie Delphine Bechtel ausführt. Das jiddische Theater, selbst in hochkulturelles Theater und Unterhaltungstheater unterteilt, aber häufig als Theater der Unterprivilegierten wahrgenommen, sei in Wahrheit ein Ort der Versammlung unterschiedlichster kultureller Stile und Sprachen gewesen. Das Theater sei eine Möglichkeit, ein Hybrid an (Sprach- und Sprech-) Stilen nicht nur zu präsentieren, sondern auch zu inszenieren, und werde damit zum bewussten Verhandlungsort einer Vielzahl von Stimmen, das es ermögliche, die ironische Brechung vorgefertigter Haltungen auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft vorzuführen. Dass die Vielzahl dieser Stimmen keineswegs Eintracht innerhalb der jüdischen Gemeinschaft bedeutete, belegt wiederum die Untersuchung von Hans-Peter Bayerdörfer, der am Beispiel des Kabaretts in Berlin und Wien vor 1933 darlegt, dass es innerhalb der „jewish community“ durchaus wechselseitigen Widerspruch gab. Die theatrale Praxis der jungen Kabarettisten, namentlich Walter Mehring und Kurt Tucholsky, belege nicht nur deren reges Interesse an neuen, unkonventionellen Theaterformen. Sie zeige, so Bayerdörfer, auch ein Widerstandspotential gegenüber konventionalisierten Meinungen des jüdischen Establishments von einer angemessenen Auffassung jüdischer Identität in einer sich neu definierenden nationalen Gemeinschaft. Ihre Kritik zielte vor allen Dingen gegen die offensichtlich allzu liberale und auch inaktive Haltung gegenüber einer antijüdischen Propaganda. Auf eine kritische Lektüre monokausaler Deutungsmuster zielt auch Bernhard Greiners Beitrag zur Entwicklung jüdischer Theaterkultur im deutschsprachigen Raum: Das Theater verhandele in Praxis wie Theorie erst seit Ende des 18. Jahrhunderts die Binarität von Realismus und Idealismus, von der faktischen Integration der Juden und deren idealisierter Selbstinterpretation, da die Notwendigkeit einer Anpassung die Frage nach einer idealen jüdischen Identität überhaupt erst als Problem habe aufkommen lassen. Die Sehnsucht nach einer jüdischen Identität, gepaart mit der Ambivalenz jüdischer Selbstwahrnehmung, verdeutlicht wiederum die Analyse von Arnold Zweigs Theaterutopie durch Peter W. Marx: Arnold Zweigs Vorstellung vom Theater als Beitrag zu einer authentischen jüdischen Kultur, wie er sie in dem jüdischen Ensemble aus Vilnius und der Hebräischen Habima zu erkennen glaubte, sei erkauft gewesen durch eine imaginierte Homogenität. Die tatsächliche Interferenz dieser Truppen mit dem nicht-jüdischen europäischen Mainstream-Theater musste Zweig, um dieser Utopie gerecht zu werden, ausblenden. Es scheint, als vermöge das Theater aufgrund seiner binären Disposition von Rolle und Selbst - wie kongruent diese auch immer ausfallen mag - die Frage nach der Identität überhaupt erst in dieser Tiefendimension aufzuwerfen. Sie bildet den Nexus der Beiträge von Jews and the Making of Modern German Theatre. Im Eingangsaufsatz spricht Steven E. Aschheim von den Problemen einer essentialistischen Identitätsrhetorik mit all ihren (tragischen) Konsequenzen. Dabei zeigt sich, dass hier die Debatte um den Anteil einer performativen, also handlungsorientierten Konstruktion von Identität überhaupt erst die Möglichkeit einer kritischen Genealogie essentialistischer und damit eben auch rassistischer Zuweisungen eröffnet. Die Verbindung von Außenseiterposition und theatraler Praxis wirkt hier nicht nur destabilisierend, sondern eben auch produktiv, indem sie die Selbstwie Fremdwahrnehmung in besonderer Weise zu schärfen vermag. Hildesheim MIRIAM DREWES Daniele Daude, Oper als Aufführung - Neue Perspektiven auf Opernanalyse. Bielefeld: transcript Verlag, 2014, 291 Seiten. Neue Perspektiven auf Opernanalyse verspricht Daniele Daude mit ihrer Dissertation Oper als Aufführung. Ihr Ziel ist es, „ein systematisches Instrumentarium zu entwickeln, mittels dessen die Prägungen einer Opernaufführung [. . .] in den Analyseprozess mit einbezogen werden“ (S. 14). Für ihre Untersuchung wählte Daude zwei an der Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 117-119. Gunter Narr Verlag Tübingen 117 Rezensionen Staatsoper in Berlin entstandene Inszenierungen von Ruth Berghaus: Der Barbier von Sevilla (Premiere: 1968, damals noch auf Deutsch gesungen) und Pelléas et Mélisande (1991). In sieben Aufführungsbesuchen zwischen 2002 und 2008 (viermal Barbier und dreimal Pelléas) gewinnt Daude ihre (primären) ‚Forschungsgegenstände‘. Dabei verfolgt sie nicht mehr das Ziel einer Tansformations- oder Inszenierungsanalyse, sondern stellt eine Aufführungsanalyse vor. Jeder Aufführung ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das in „Sequenzen“ (Aufführungsausschnitte unterschiedlicher Länge) gegliedert ist. Zu Beginn jeder Sequenz wird aus Daudes Beobachtungsprotokoll zitiert. In zwei Teilanalysen (erste Barbier-Aufführung/ „Sequenz 2“, erste Pelléas-Aufführung/ „Sequenz 4“) und zwei Komplettanalysen (vierte Barbier- und dritte Pelléas-Aufführung) sind es Rollenfiguren bzw. ihre DarstellerInnen („Figurenanalyse“) oder die vier unterschiedlichen Ebenen von Dramaturgie (Basis Libretto), Musikdramaturgie (Partitur), Inszenierung und Aufführung („Vier- Schritt-Analyse“), mit denen die Analysen gegliedert sind. Theoretisch-methodisches Rückgrat ist die Begriffstrias „Gesten, Knoten, Korrespondenzen“. Der (weite) Gestenbegriff zielt auf den „produzierenden Pol einer Aufführung“. Die Autorin unterscheidet „musikalische Gesten“, „inszenatorische Gesten“ und „performative Gesten“ (aufführungsspezifische Momente der Bedeutungserzeugung). Der Knotenbegriff bezieht sich auf „den rezipierenden Pol einer Aufführung“. Knoten sind erfahrene Spannungsmomente, die aus individueller ästhetischer Erfahrung resultieren. Analog zu den Gesten wird zwischen musikalischen bzw. musikdramaturgischen Knoten, Inszenierungsknoten und Aufführungsknoten unterschieden. Daude macht es sich zur Aufgabe, performative Gesten und Aufführungsknoten zu identifizieren und zu erläutern. Ein markantes Merkmal der Arbeit ist die Darstellung des Prozesses, den die Autorin in der Beschäftigung mit ihren Gegenständen (die Inszenierungen und Aufführungen derselben) durchlaufen hat. Sie stellt fest, „dass Aufführungen nach unterschiedlichen Kriterien erfasst werden, je nachdem, ob es der erste, zweite oder dritte Besuch einer Inszenierung ist“ (S. 260). Teilweise (wie etwa bei der dritten Barbier-Aufführung) fließen auch Publikumsbeobachtungen oder -befragungen ein. Die Befragung von einzelnen Aufführungsbesuchern gerät bisweilen recht bizarr und trägt eher zu einem Erkenntnisgewinn über die Befragten als zur Aufführung bei, etwa bezüglich der Reichweite des Begriffs „expressionistisch“ (S. 234). Zwischengeschaltet ist für jede Inszenierung ein Kapitel „Inszenierungsanalyse“, das insbesondere auf Recherchen im Nachlass Berghaus’ (Regiebuch, -klavierauszug, Notizen und Protokolle) basiert. Im Fall vom Barbier wird eine vergleichende ‚Analyse‘ mit der Inszenierung von Daniel Slater (Komische Oper Berlin 2002) vorgenommen, bei welcher die Autorin als Regiehospitantin beteiligt war. Das begriffliche Grundkonzept „Gesten, Knoten, Korrespondenzen“ erweist sich zumindest in seinen Grundzügen als fruchtbar. Die Unterscheidung von Inszenierungs- und Aufführungsknoten vermag allerdings nicht vollends zu überzeugen. Ist es überhaupt sinnvoll von „Inszenierungsknoten“ zu sprechen? Denn es sind ja - zumindest im Konzept von Daude - nie Inszenierungen, die ästhetisch erfahren werden, sondern immer nur Aufführungen (von Inszenierungen). Die Differenzierung von Inszenierungs- und Aufführungsknoten ist da schwer durchhaltbar. Inszenierungsknoten können doch nur als Aufführungsknoten wahrgenommen werden. Und was (in der ästhetischen Wahrnehmung) womöglich ausschließlich als Aufführungsknoten identifiziert wird, könnte immer auch Inszenierungsknoten sein. Aus der Konzentration auf die Aufführungen gelingen bemerkenswerte Einzelbeobachtungen. Etwa bezüglich der subtilen Verbindung der beiden Figuren Geneviève und Pelléas, die durch die „gleiche Langsamkeit“ ihrer Bewegungen hergestellt wird. Daude formuliert hierfür die Kategorie „performative Korrespondenz“ (S. 180). Nuanciert beobachtet wird auch, wie Rinat Shaham (Mélisande) in der Haarszene (III.1) den Namen „Pelléas“ singt: „ohne Eile, ohne schleppende Emphase“; eine „leichte Unterstreichung des aufgezeichneten Tenuto“ vermag dabei ihre Klage zu verdeutlichen. Denn durch die von Pelléas hier missverstandene Rosenmetapher verliert sie ihren „Verbündeten und Spielkameraden“ (S. 196). Oder Katharina Kammer- 118 Rezensionen loher (Rosina), die durch ihre Realisierung der inszenatorischen Gesten eigene performative Gesten kreiert und so eine sexualisierte Lesart für Rosina eröffnet (S. 127). Das sind aufschlussreiche Blicke auf feinste Wirkungsmechanismen innerhalb einer Opernaufführung. Der - nicht explizit formulierte - Schwerpunkt der Analysen liegt auf proxemischen Vorgängen in den Aufführungen. Bewegungen der Darstellerkörper im Raum werden genau beobachtet, beschrieben und oft im Sinne einer kohärenten Dramaturgie gedeutet. Trotz einiger Ausnahmen (etwa die Unterschiede in der musikalischen Interpretation der Dirigenten Michael Gielen und Simon Rattle betreffend, S. 228) ist die Beschäftigung mit der Musik (als Klangereignis) in einem Grad ausgeprägt, der sie als eine Nebensache erscheinen lässt. So etwa bei der Figurenanalyse von Figaro: „Die emphatische Art und Weise seiner musikalischen Gestaltung ist Hinweis sowohl auf das Übertreiben seiner Heldentaten wie auch auf seine eigentliche Überforderung“, ist hier die einzige Aussage, die die Musik einbezieht (S. 92). Bartolos Figurenanalyse kommt ganz ohne aus (S. 94). Bei der Untersuchung der Musikdramaturgie der Brunnenszene (Pelléas, II.1) wird im Wesentlichen erläutert - und dies ist eine nicht nur hier in Anspruch genommene Vorgehensweise -, wie der untersuchte Ausschnitt musikalisch zu gliedern ist (S. 183 - 186). Die Beschreibung trägt dann recht ausgeprägt den Charakter von nacherzählter Musik: „Vom Moment des Verlustes des Ringes an fügt Debussy ein weiteres, aus abwärtsgehenden Triolen und vier Achteln bestehendes Motiv ein.“ (S. 186) Unter Einbezug des folgenden, die „szenenbezogene Analyse“ komplettierenden Unterkapitels „Inszenierungs- und Aufführungsanalyse“ fällt auf, dass die separiert betrachteten Ebenen Musikdramaturgie und Inszenierung/ Aufführung auch im weiteren Verlauf der Analyse weitgehend separiert bleiben (S. 186 - 189). Ähnliches ist auch bei der Vier-Schritt-Analyse bezüglich der Verratsszene (III.4) festzustellen (S. 243 - 257). Es gibt praktisch keine Verbindung zwischen der musikdramaturgischen und der Inszenierungs-/ Aufführungsebene. Doch gerade hier würden sich doch die Fragen stellen: Wie wirkt in der Aufführung die Szene auf die Musik und umgekehrt? Wie stellt sich dieses Zusammenwirken in der Ereignishaftigkeit der Aufführung dar? Was trägt die aufgeführte Musik zur Prägung der Aufführung bei? Im Ansatz ist dies, etwa bei dem erwähnten Gielen-Rattle-Beispiel, durchaus erkennbar. Doch diese Fragen konsequent(er) von der Aufführung her zu erörtern, wäre spannend gewesen. Es ist die Aneinanderreihung der „Sequenzen“, einer „Sammlung von Momenten“ (S. 136), die sich im größeren Zusammenhang der Arbeit als Manko erweist. Die Teilanalysen wünschte man sich methodologisch im Einzelnen ausführlicher kommentiert und in den gesamtanalytischen Kontext stärker eingebunden. Beim Vergleich der Inszenierungen von Berghaus und Slater rühmt Daude Berghaus’ „wesentlich andere Auffassung von Oper“, die die „spezifisch musikdramatische Form“ respektiere (S. 118). Es bleibt aber unklar, worin denn das Spezifische der musikdramatischen Form liegt. Dass Berghaus die Bühne nicht „auf eine repräsentative Funktion“ reduziert (wie Slater), sondern sie „als eine weitere narrative Ebene im komplexen Operngewebe“ (S. 118) betrachtet, ist ein spannendes Ergebnis bezüglich Berghaus’ Inszenierungsarbeit und ihrer „wesentlich anderen Auffassung von Oper“ (S. 118). Es sagt aber nichts darüber aus, ob und wie dies mit der „spezifisch musikdramatische[n]“ Form zusammenhängt. Die wechselseitigen Defizite in der musikwissenschaftlichen und theaterwissenschaftlichen Disziplin in puncto Opernaufführung mit einem Buch zu tilgen, ist eine unlösbare Aufgabe. Wie Daude selbst klarstellt, sind aufführungs- und inszenierungsanalytische Herangehensweisen theaterwissenschaftlicher Provenienz „Spezifizierungen eines umfassenden opernanalytischen Kontextes, in dem Opern aus unterschiedlichen Blickwinkeln und von unterschiedlichen Ausgangspunkten her erforscht werden“ (S. 223). Die verschiedenen Strategien seien daher „weniger gegeneinander auszuspielen als vielmehr als komplementäre Techniken zur Ergründung von Opern zu verstehen“. Dem kann man nur zustimmen und die aufführungsanalytisch gewonnenen, opernanalytischen Perlen, die sich zweifellos in dem Buch finden, inspiriert zur Kenntnis nehmen. Thurnau/ Bayreuth BERND HOBE 119 Rezensionen Sebastian Breu. Anatomie des Alltags. Postdramatischer Realismus bei Hirata Oriza und Okada Toshiki. München: Iudicium Verlag, 2014, 139 Seiten. Japanisches zeitgenössisches Theater wird heute außerhalb Japans immer bekannter. Aktive Theatermacher stellen in verschiedenen internationalen Theaterfestivals wie in Brüssel, Mannheim und Wien ihre Arbeiten vor, und manche Uraufführungen finden sogar außerhalb Japans statt. Das nichtjapanische Publikum kann jedoch im Normalfall nicht erkennen, wie sich die (Körper-) sprachen in den einzelnen Aufführungen voneinander unterscheiden. Eine systematische und sorgfältige Antwort auf diese Frage gibt Anatomie des Alltags. Postdramatischer Realismus bei Hirata Oriza und Okada Toshiki. Der Autor Sebastian Breu studierte in Wien, Osaka und Berlin Japanologie und Vergleichende Literaturwissenschaft und arbeitet zurzeit an seiner Dissertation an der Graduate School of Arts and Sciences der Universität Tokyo. Er betreut außerdem als Dramaturg verschiedene japanische Theatergruppen, deren Vorstellungen in und außerhalb von Japan stattfinden. Aufgrund seiner profunden Japanischkenntnisse und Erfahrungen aus der Theaterpraxis erklärt Breu die (körper-)sprachlichen Charakteristika der Arbeiten zweier leitender zeitgenössischer japanischer Dramatiker/ Regisseure, Hirata Oriza und Okada Toshiki (im Japanischen wird der Familienname dem Vornamen vorangestellt). Analysiert werden die Prinzipien und Prozesse ihrer Dramen- und Regiearbeit. Die Einleitung skizziert die Entwicklung des japanischen Sprechtheaters, das sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem europäischen Einfluss mit der Darstellung der Realität auseinandergesetzt hat. Die Arbeiten einiger jüngerer Theatermacher werden jedoch als eine neue Art von Darstellung der Realität betrachtet. Der Schlüsselbegriff, den Hirata Oriza hierfür vorschlägt, ist „Theater der zeitgenössischen Umgangssprache“. Im ersten Teil des Buchs untersucht der Autor Hiratas Theorie. In den vergangenen hundert Jahren bis zu Hiratas Ansatz wurde das japanische Sprechtheater von der „‚Darstellung der Realität‘ innerhalb der Formgrenzen und Genrekonventionen des dramatischen Theaters“ (S. 35) dominiert. Sie wurde bei Hirata als „die ‚Lüge‘ des Theaters“ aufgehoben, so dass ein „postdramatischer Realismus“ (Breu) entstand. Hirata „fordert einen Paradigmenwechsel‚ von einem Theater, das Handlung darstellt, zu einem Theater, das Zustände darstellt“ (S. 36); in seinem Theater herrscht der „Realismus der Anwesenheit“ (S. 39). Breu erweitert Hiratas Ansatz durch Luhmanns Systemtheorie und Bunias Fiktionstheorie. Im zweiten Teil werden die Praxen von Hirata und Okada am Beispiel ihrer repräsentativen Dramen analysiert. Hiratas Noten aus Tokyo (1994) verfolgt ruhige, doch manchmal höchst angespannte Gespräche in einem Museumsfoyer. Hirata, der realistische Alltagsszenen in Japan untersucht und sich für die Subjektivität von „Japanisch Sprechenden“ (S. 64) interessiert, lässt seine Schauspieler „so emotionslos wie möglich“ (S. 80) agieren. Sein Text ist zudem mit „mathematisch genauen Anweisungen“ (S. 81) versehen, wie in einer Partitur. Die Zeichenlegende am Anfang des Dramas bestimmt z. B. simultan ausgesprochene Sätze, überlappende Sprechtexte oder Pausenlängen. Okadas ebenso exakte Art der Realitätsdarstellung wird als eine weiterentwickelte Version des postdramatischen Realismus betrachtet. In seinem Fünf Tage im März (2004), das ein Tokyoter Stundenhotel während des Irak-Kriegs zum Schauplatz wählt, findet man viele Gemeinsamkeiten zu Noten aus Tokyo. Beide erzählen „von einem Krieg in der Ferne, der durch den Alltag in Tokyo gefiltert wie ein fiktionales Ereignis erscheint“. Beide „portraitieren mit hoher Detaillastigkeit einen kleinen Ausschnitt des Lebens in der Großstadt“ und „zeigen ein ausgeprägtes Problembewusstsein für den Status Quo der japanischen Gesellschaft und des japanischen Theaters“ (S. 99). Okada schreibt aber in den Sprechtext ein sogenanntes Noise ein, das im Alltag erkannt, aber in Dramen meist ignoriert wird. Dies bedeutet, dass sein Text durch „[p]räzise Ungenauigkeiten“ (Breu) charakterisiert ist. Okada identifiziert außerdem Sprecher und Rolle nicht und „lässt eine beliebige Anzahl von Akteuren als anonyme Diskursträger Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 120-121. Gunter Narr Verlag Tübingen 120 Rezensionen (‚Schauspieler 1‘ etc.) auftreten“ (S. 110). Seine Schauspieler sind „auf der Bühne keine Persönlichkeiten, sondern Körper im fast schon mathematischen Sinne“ (S. 111). Zusammenfassend behauptet Breu, das Theater der zeitgenössischen Umgangssprache sei „eine Reinkarnation von realistischem Texttheater unter den Bedingungen allgemeiner Sprach- und Repräsentationsskepsis“ (S. 117). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Okadas Aussage, dass er von Brechts Aufsatz Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegeben werden? beeinflusst worden sei. Fünf Tage im März könnte also „eine ‚epische‘ oder ‚verfremdete‘ Variante von Hiratas Theater der zeitgenössischen Umgangssprache“ (S. 119) genannt werden. Außerdem lasse sich „[i]n der [. . .] eröffneten Distanz zwischen Erzählern und Erzähltem, zwischen Sprache und Körper - und damit auch: zwischen Tokyo und dem Krieg im Irak“ „eine Verwandtschaft zur Theatermontage von Bertolt Brecht entdecken“ (S. 121). Berücksichtigt man die Arbeiten von Hirata und Okada, kann man die Frage von Brecht sehr wohl bejahen, allerdings „nur, wenn man zugibt, dass sie [die heutige Welt, K. H.] dabei unsichtbar bleiben muss“ (S. 122). So wie in den letzten Jahren japanische Gastspiele außerhalb Japans zugenommen haben, ist auch öfter in deutscher Sprache über japanisches Sprechtheater geschrieben worden. Fischer-Lichte (2010) hat die ersten Auseinandersetzungen der japanischen Intellektuellen mit der Rezeption des europäischen Sprechtheaters im transkulturellen Kontext diskutiert. Auch die Arbeiten der zeitgenössischen japanischen Theatermacher sind Gegenstand der Forschung, wie z. B. bei Lehmann/ Hirata (2009) oder Pewny (2011) für die vorliegende Zeitschrift. Im Vergleich mit den genannten Arbeiten, die einem theaterwissenschaftlichen oder philosophischen Ansatz folgen, wählt der Japanologe Breu einen soziolinguistischen Ansatz und konzentriert sich auf den Aspekt der (Körper-)sprache. Ein weiteres Verdienst liegt in der Übertragung aktueller umgangssprachlicher japanischer Zitate aus den Texten in die deutsche Umgangssprache. Hierbei muss jedoch bemerkt werden, dass die Übersetzung an einigen Stellen noch zu schriftsprachlich ist. Um den Ton der japanischen Umgangssprache genauer zu treffen, sollten die Wortwahl im Deutschen noch lässiger und der Satzbau noch unvollständiger sein. Wie man sich verhält, hängt eng damit zusammen, was und wie man spricht. Dieses Was und Wie des japanischen zeitgenössischen Sprechtheaters, und die Frage, warum die Praxen japanischer Theatermacher in der jüngsten Zeit anders sind als die der konventionellen Theatermacher, erklärt Breu zum ersten Mal ausführlich in deutscher Sprache. Gleichzeitig wird, wie der Autor zu Beginn selbst anmerkt, „Hiratas einflussreiche Schauspieltheorie [. . .] erstmals im Rahmen einer kommentierten Analyse für den deutschen Sprachraum zugänglich“ (S. 9) gemacht. Einige kleine typographische Fehler stören zwar den Lesefluss an einigen Stellen, beeinträchtigen jedoch den Gesamtwert des Buches nicht. Neben den ausführlich angeführten Zitaten sind auch das Glossar zu Schlüsselbegriffen und -personen (S. 127 - 139) und die abgedruckten Bühnenfotos für das Verständnis dieser jüngsten Form des japanischen Theaters hilfreich. Tokyo KEN HAGIWARA Bernd Stegemann. Kritik des Theaters. Berlin: Theater der Zeit, 2013, 334 Seiten. Eine Kunst, die so sehr Gefallen daran findet, ihre eigenen Verfahren zu dekonstruieren, dass sie darüber versäumt, die Wirklichkeit der ökonomischen Verhältnisse zu verstehen und ihnen etwas entgegenzusetzen, leistet keine wirksame Kritik des neoliberalen Kapitalismus. Ihre lustvoll-reflexiven Experimente spielen vielmehr dessen Deregulierungen zu. Im Verzicht auf Opposition oder dialektische Konfliktzuspitzung hängt sie der Idylle eines friedlichen und vielfältigen Nebeneinanders nach, während die Ausbeuter ungestört den gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtum abschöpfen. So lautet die an Ève Chiapello und Luc Boltanski anschließende These der Kritik des Theaters von Bernd Stegemann, der an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin Dramaturgie und Theaterge- Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 121-123. Gunter Narr Verlag Tübingen 121 Rezensionen schichte lehrt und Dramaturg an der Schaubühne am Lehniner Platz ist. Den Vorwurf, eine ernsthafte Analyse und Gegenwehr zuliebe narzisstischer Selbstbespiegelung zu verpassen, richtet er insbesondere an das „postmoderne Theater“. Nachdem Theater von der griechischen Antike bis zum bürgerlichen Realismus und Brechts epischem Drama menschliches Verhalten mimetisch dargestellt und in der jeweiligen Ästhetik des Mimetischen die Möglichkeiten weltverändernden Handelns erörtert habe, kollabiere die Distanz von Darstellung und Dargestelltem in der vermeintlichen Authentizität der Performance. Ein Theater, das Menschendarstellung unterlässt oder Rollen nur mehr als Material für performative Effekte benutzt, verliere die Fähigkeit, Alternativen zum Status quo aufzuzeigen. Seine Raffinesse, die der Intelligenz des Publikums durch Kooperation mit dessen informiertem, verfeinertem Geschmack schmeichelt, wirke prinzipiell affirmativ. Die Schärfe dieser Polemik läuft über vier von fünf Kapiteln dadurch ins Ungefähre, dass man bloß raten darf, wer sich hinter dem postmodernen Theater verbirgt: Künstler, die lieber mit ‚Laien‘ arbeiten als mit professionellen Schauspielern (ergo: die Gruppe Rimini Protokoll, bei denen die Nichtschauspieler aber gerade nicht als Authentizitätsträger auf der Bühne stehen, sondern als Vertreter anderer Berufe mit deren jeweiligen Performance- und Präsentationskompetenzen). Oder solche, bei denen infantilkichernde Ironisierung sich als politischer Dissens aufspielt (was vielleicht auf einige Inszenierungen von Stegemanns Wegbegleiter Nicolas Stemann zutrifft). Während der Autor mit Hegel, Marx, Luhmann und David Graeber ein enges, aber luzides Konzept von kapitalistischer Ausbeutung vorlegt und knapp die Hauptepochen europäischer Theatergeschichte rekapituliert, wird der Gegner schemenhaft aus französischer Philosophie der 1980er, dem „performative turn“ und der Angewandten Theaterwissenschaft an der Universität Giessen zusammengesetzt. Der Ehrenkodex dialektischen Denkens gebietet eigentlich, das Angefeindete in seinen stärksten und präzisesten Momenten aufzusuchen. Doch Stegemanns Widerpart „postmodernes Theater“ offenbart meistens (es gibt kurze Ausnahmen) genau die Eigenschaften, die das Urteil ‚dem Kapitalismus dienlich! ‘ mit geringster Mühe denunziert. Im fünften Kapitel, das den Titel „Theater“ trägt, treten hinter der Pauschalpolemik konkretere Anliegen hervor, und es scheint mir ratsam, die Kritik des Theaters von ihnen her zu lesen. Stegemann räumt da etwa ein, dass die Impulse zu den künstlerischen Veränderungen des Theaters im Zeichen der Performance aus einer freien Szene kamen, deren Arbeit die Stadt- und Staatstheater dann in Besitz nahmen - direkt, indem man die Gruppen für Gastspiele engagierte oder koproduzierte, oder durch Übertragung ihrer ästhetischen Strategien auf Drameninszenierungen. Der „Vereinnahmungsversuch des Stadttheaters“ sei „von geringer künstlerischer Sensibilität“, heißt es diesbezüglich. „Der Kampf der Avantgarde gegen die Institutionen der Kunst wird im Stadttheater täglich neu verloren“. (S. 239) Das erinnert auch daran, dass die Entwicklungen, die im deutschen Sprachraum zur Entstehung eines Performance-Theaters führten, ursprünglich im Zusammenhang mit der Ökonomie und Politik von Arbeitsbedingungen standen. Wenn sie den Schauspieler zugunsten des Selber-Performens abschafften und die schauspielerische Darstellung teils gleich mit, verfolgten Kollektive wie She She Pop, Gob Squad, Showcase Beat Le Mot usw. damit den Wunsch nach anderen Formen des Zusammenarbeitens als an den großen Bühnenbetrieben, wo fordistische Arbeitsteilung mit ihren rigiden Funktionshierarchien herrschte und ‚das Künstlerische‘ sich als hysterische Besetzung bürokratischer Strukturen eingerichtet hatte. Die Reflexion performativer Kunst auf ihre eigenen Voraussetzungen, die Stegemann erst als neoromantische Selbstreferenzästhetik verwirft, galt, wie er zugesteht, keineswegs allein der Aufführung, sondern vor allem auch dem Prozess ihres Erarbeitens. Diese Differenz ging verloren in einem Stadttheaterbetrieb, der Performance-Formate gerade aufsog, damit er institutionell so weiterlaufen konnte wie bisher. Stegemann möchte aus ähnlichen Überlegungen das „Künstlertheater“ reaktivieren, dessen Tradition von Stanislawski über Brecht bis zu Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil und Peter Steins früher Schaubühne reicht. Eine ästhetisch- 122 Rezensionen politische Sendung, die Techniken des epischen Theaters weiterführt, soll Theaterspielen den künstlerischen Bedürfnissen anpassen. Dazu empfiehlt Stegemann den Theatermachenden, „Gemeinschaft“ zu wagen, um dem Marktliberalismus mit widerständigen Produktionsformen zu begegnen. Da der Autor die Autorität des Regisseurs vehement in Frage stellt, kann man annehmen, dass diese Gemeinschaften anders als die Truppen von Stanislawski, Brecht, Mnouchkine und Stein keine Mini-Diktaturen sind, in denen das familiäre Miteinander die Repression perfektioniert, sondern ‚irgendwie demokratischer‘. Neben der offen gelassenen Frage nach der Finanzierung und praktischen Organisation solcher Künstlertheaterarbeit bleiben bei mir Zweifel, ob die Erzählung vom isolierenden, die Menschen zum Egoismus erziehenden Kapitalismus und der heilsamen Gemeinschaft trägt. Die Stadttheaterblasen, deren Bewohner einander einreden, ein Schicksal zu teilen, zeigen, dass starke Gemeinschaftsimaginationen mit allen erdenklichen ökonomischen und politischen Grausamkeiten vereinbar sind. Die kritische Wirkung dessen, was aus der Institution Theater heute geworden ist, könnte geradezu daher kommen, dass sie uns an die schlechteste aller Gemeinschaften gemahnt: die aggressiv-defensive Verschwörung derjenigen, die wider besseres Wissen das einstmals Zentrale, das Privileg des ‚besonderen Ortes‘ verteidigen. Etwas von dieser Diagnose klingt durch Stegemanns Kritik des Theaters hindurch, obwohl er antritt, den besonderen Ort des Theaters zu retten. Große Institutionen haben die Macht, künstlerische Arbeitsweisen und Ästhetiken unabhängig davon weiterzuschleppen, ob irgendjemand so arbeiten und solche Arbeiten hervorbringen mag. Abseits von institutioneller Trägheit hängt die Kunst an Vorlieben und Abneigungen, die nicht zunächst ihr selbst, sondern dem Leben gelten. Welche Kunst entstehen wird, lässt sich schwerlich ohne Bezug dazu besprechen, wie Menschen gern zusammen leben und arbeiten. Statt bloß die Arbeitsleistung einer kritischen, die Welt auf ihre Änderbarkeit hin prüfenden Mimesis zu fordern, wäre nach den Motivationen zu solchem Arbeiten zu forschen. Das Theater könne wie ein spielendes Kind sein, voller Selbstvertrauen und gesunder Skepsis zugleich, versichert Stegemann im letzten Satz. Wer hat Lust, diesen Kindheitstraum zu realisieren? Und welche Lust wäre das heute? Berlin KAI VAN EIKELS Rimini Protokoll. ABCD. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld. Recherchen 100. Berlin: Theater der Zeit, 2012, 176 Seiten. Roland Schimmelpfennig. Ja und Nein/ Sí y No. Vorlesungen über Dramatik/ Conferencias sobre dramática. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld. Recherchen 107. Berlin: Theater der Zeit, 2014, 234 Seiten. Kathrin Röggla. Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld. Recherchen 116. Berlin: Theater der Zeit, 2015, 108 Seiten. Die Universität des Saarlandes organisiert seit 2012 die Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik, die von Rimini Protokoll, Roland Schimmelpfennig, Kathrin Röggla, Albert Ostermaier und 2016 von Falk Richter übernommen wurde. Zu den ersten drei Dozenturen sind im Verlag Theater der Zeit Publikationen erschienen - zuletzt Kathrin Rögglas Die falsche Frage. In ihren drei Vorträgen fragt Kathrin Röggla nach der Möglichkeit des Theaters und dramatischer Literatur in der heutigen Gesellschaft. Sie entwirft ein heterogenes Bild gegenwärtiger Gesellschaft, indem sie sich nicht zuletzt auf eine Vielzahl theoretischer Positionen beruft. Ausgangspunkt ihrer ersten Vorlesung ist das Primat des ökonomischen Diskurses, der auch das Theater bestimme, ein Marktdenken, in das die Autorin selbst verstrickt sei (vgl. S. 17). Katrin Röggla „will Gesellschaft als Zusammenhang verstehen, auch wenn er nicht mehr in der geschlossenen Form beschreibbar ist“ (S. 22). Theater brauche vor allem eines: Zeit für „Theo- Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 123-125. Gunter Narr Verlag Tübingen 123 Rezensionen rie und systemische Impulse“ (S. 18), Zeit für ästhetische Setzungen und Positionierungen. Sie richtet sich damit vor allem gegen ein Theater des Performativen, des reinen Ereignisses und der „Gegenwartsschleifen“ (S. 22), ein Theater auch, das schneller und marktgerechter, da unmittelbarer produzieren könne. Sie plädiert für einen „Wirklichkeitsstopp“ (S. 18) und schließt hiermit, wenn auch nicht kritiklos, an Bernd Stegemanns oder Fritz J. Raddatz’ Kritik des Performativen an. Röggla macht sich auf die Suche nach der Möglichkeit gegenwärtigen Theaters, das nicht in der Gegenwart verharrt, sondern Zukunft eröffnet, und der Möglichkeit, dieses Theater im dramatischen Schreiben zu fundieren. Sie „interessiert der Text, der Text, der Text! “ (S. 82), und sie „will Formen des Sprechens finden, die den Gewaltzusammenhang gesellschaftlicher Verhältnisse deutlicher hervortreten lassen und gleichzeitig unterlaufen.“ (S. 22) Auf dieser Suche begegnet sie unter anderem Roland Barthes und der Atopie des Schreibens oder Gilles Deleuze und der Idee des Textes als Fremdsprache wie Territorium. Fremdsprachen „zielen auf eine relevante Struktur“ (S. 30), sind „Zusammenballungen sprachlicher Zumutungen“ (S. 29). Mit ihnen möchte sie sich an die Grenze der Sprache begeben, auf Hexenlinien, die das System durchbrechen, reiten. Und so hofft Röggla auf die „Verschiebung durch den Konjunktiv, das Fehlen einer zentralen Figur, Verrückung durch Rhetorik, durch die paradoxe Anwesenheit eines Erzähler-Ichs“ (S. 30), um das Abwesende, die blinden Flecken an der Grenze des Schweigens sichtbar zu machen. Röggla gelingen immer wieder treffende Beschreibungen ihrer eigenen Werke: „Meine Figuren sind paradoxe Kollektive, Teams, die eher Nicht-Teams sind, die eigentlich immer gegeneinander arbeiten“ (S. 61). Die Autorin wendet sich gegen die „Kollektivseligkeit“ (S. 60), wie sie derzeit im Theater zelebriert werde, gegen eine „Romantisierung der Revolte“ (S. 56). Und sie fragt beständig, wie in einer „zu Ende individualisierten Gesellschaft mit narzisstischen Störungen und Depression“ (S. 54), im „Spiegelkabinett des personalized Internet“ (S. 77) oder in der „Mainstreamisierung kritischer Positionen“ (S. 71) Theatertexte zwischen Markt- und Realfiktionen noch Widerstand leisten können. Roland Schimmelpfennig bekundet gleich auf den ersten Seiten von Ja und Nein, zu Beginn der ersten Vorlesung, dass die Theorie, das Schreiben über das Schreiben, nicht das seinige sei (vgl. S. 18). Konsequent verzichtet er dann auch weitgehend hierauf. Seine drei Vorlesungen setzen sich zum größten Teil aus Passagen seiner Theatertexte zusammen - durchbrochen von biographischen Skizzen und knappen Notizen zum Theater und dem literarischen Schreiben. Der Band ist zweisprachig erschienen; er vereint die deutschsprachigen Vorlesungen und ihre Übertragung ins Spanische. Das Theater thematisiert für Schimmelpfennig immer den Menschen, es „handelt vom Individuum und seinem Bezug zu der Gesellschaft, zur Welt.“ (S. 20) Der Dialog ist für Schimmelpfennig daher elementarer Bestandteil von Theater. Dabei fasst er den Begriff des Dialogs weit: vom dramatischen Dialog, über den Dialog zwischen Stück und Regieteam bis zum Dialog von Inszenierung und Publikum. Der Dialog als „Kern jeder zivilisierten, friedlichen Gesellschaft“ (S. 48) dient Schimmelpfennig auch zur Begründung der gesellschaftlichen Relevanz von Theater - auch dann, wenn es sich um kein Theater des „reinen Dialogs“ handle, sondern um gesprochene Prosa. Auch „narratives Theater“ ließe Bilder in den Köpfen der Zuschauer entstehen, und auch hier werde ein „demokratischer Pakt“ (S. 78) eingelöst, der den Zuschauer „zum mündigen Partner der Phantasie“ (S. 78) mache. „Es geht im Theater automatisch um das WIR, um das ‚Miteinander‘, um das ‚Miteinandersprechen‘“ (S. 60). Auch Schimmelpfennigs Vorlesungen lassen sich als Plädoyer für den Theatertext lesen, für die Notwendigkeit literarisch „verdichteter Sprache“ (S. 49), denn „entscheidende Grundlage dieses Kunstwerks ist der Text“ (S. 48), der das Theater beseelen könne (S. 18) und den Schimmelpfennig als „Gesprächsangebot“ (S. 49) versteht, um „die Notwendigkeit der Veränderung“ (S. 78), „Aufstieg und Fall und Fortschritt“ (S. 78), den Menschen in seiner Vergänglichkeit zu thematisieren. „Theater ohne Geschichte“ sei hingegen eine „oft sprach- und theorieverliebte Sackgasse“ (S. 28), denn „Theater erzählt Geschichten. Immer.“ (S. 20) Schimmelpfennigs Aussagen zum Theater bleiben sehr allgemein und erscheinen oftmals 124 Rezensionen normativ. Mit dem eigenen Schreiben, der Spezifik seines dramatischen Schaffens setzt sich der Autor kaum oder nur ansatzweise auseinander. Dafür kommen seine literarischen Texte zu Wort. Insofern ließe sich Ja und Nein auch als ein Gesprächsangebot verstehen, als Begründung eines Dialogs - weniger vielleicht über seine Texte, als vielmehr mit ihnen. Denn Schimmelpfennig findet es ohnehin besser, das „Theater spricht für sich selbst.“ (S. 77). Rimini Protokolls Abecedarium basiert auf vier Vorträgen aus dem Jahr 2012 und stellt, folgt man dem ersten Eintrag ABCD, eine Art, wenngleich auch nicht umfassender Bestandsaufnahme dar, durch die sich der Leser seinen eigenen Weg bahnen müsse. ABCD ist kein Nachschlagewerk. Zu erwartende Einträge - wie „Experte“ oder „Expertentheater“ - fehlen, obgleich Darsteller im Werk selbst 25 Mal als Experten bezeichnet werden (wie der Eintrag „Analyse“ verrät). Immerhin: Unter den Titeln der Arbeiten von Rimini Protokoll findet der Leser verlässlich kurze Zusammenfassungen und Erklärungen zu den jeweiligen Produktionen. Vieles andere ergibt sich en passant auf dem Weg, beim Durchstöbern der oftmals von Ironie gekennzeichneten Einträge. Nicht immer hat das, was unter den einzelnen Schlagwörtern angeführt wird, direkt etwas mit Theater zu tun. Nicht immer findet sich überhaupt etwas unter den Schlagwörtern, mancherorts nur Schweigen. Mit Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel wurde die erste Poetikdozentur mit Theatermachern und Autoren besetzt, die keine Geschichten erfinden, sondern versuchen, fremde Erzählungen, „einzurahmen, auszuwählen und zu fokussieren, zu verbinden“ (Autor). Sie suchen und finden ihre Erzählungen im Theater des Alltags, und so findet sich unter dem Eintrag „Theater“ auch „nur“ eine Tätigkeitsbeschreibung indischer Call-Center-Telefonisten, die in die Rolle nordenglischer Telefonisten schlüpfen (wie sie dies auch in Call Cutta taten). Ihr „parasitäres Theater“ (Prognosen) beschreiben sie als „ein Museum, in dem die Dinge und Menschen aus einer gewissen hektischen Kausalität herausgehoben scheinen. [. . .] Es geht um eine bestimmte Konzentration von Aufmerksamkeit“ (Wirkung). Die gewohnte Theaterpraxis, wie sie Ende der Neunziger Jahre vorzufinden gewesen sei, das Theater, das eine eigene Welt behaupte und von dem „keine neue Wirklichkeit kommen würde“ (Notizen zu einer Poetikvorlesung), scheint die Autoren immer wieder zu befremden. Johannes Birgfeld sieht in seinem Nachwort das Theater Rimini Protokolls einer „Poetik des Zusehens, Zuhörens und der Nähe“ (S. 172) verpflichtet. Diese Nähe zeigt sich auch in ABCD, wenn Haug, Kaegi und Wetzel selbst als Experten auftreten, aber vor allem auch, wenn sie ihre Experten in zahlreichen Auszügen nochmals zu Wort kommen lassen. Über Umwege, über Anekdoten und Fundstücke, teils ironischen Statements und Beobachtungen sowie Erzählungen des Alltags nähert sich der Leser Rimini Protokoll an, um sich nach und nach ihren Kosmos zu erschließen. Mit Kathrin Röggla, Roland Schimmelpfennig und Rimini Protokoll versammeln die drei, zur Saarbrücker Poetikdozentur erschienen Publikationen sehr unterschiedliche Positionen gegenwärtigen Theaters. Alle drei Bände sind versehen mit einem Nachwort Johannes Birgfelds, der in einem, wenn auch kurzem Aufriss der Forschungspositionen (insbesondere zum Werk Schimmelpfennigs) die Autorenpositionen gewinnbringend ergänzt bzw. sie im Kontext gegenwärtigen Theaters zu verankert sucht. München JOSEF BAIRLEIN 125 Rezensionen Autorinnen und Autoren Bernd Hobe ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth auf Schloss Thurnau und unterrichtet in den Studiengängen B. A. Musiktheaterwissenschaft und M. A. Musik und Performance. Derzeit arbeitet er an einer Dissertation zum Thema aufführungsbasierte Opernanalyse. Birgit Peter studierte Theaterwissenschaft und Philosophie an der Universität Wien. Ihre Dissertation und Habilitation verfasste sie zu Zirkusgeschichte. Sie ist die Leiterin des Archivs und der Sammlungen am tfm und lehrt an der Universität Wien, als Gast an der Universität Leipzig und der Universität Bern. Seit 2008 ist sie Vizepräsidentin der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, mit dem Aufgabengebiet Nachwuchsförderung. Ihre Forschungsschwerpunkte und Publikationen liegen in den Bereichen: Zirkus, Fachgeschichte, verdrängte Theatergeschichte, Antisemitismus. Danijela Weber-Kapusta studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Vergleichende Literatur. 2011 promovierte sie an der Ludwig- Maximilians-Universität München. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kroatischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Zagreb (Institut für kroatische Theatergeschichte), Lehrbeauftragte am Institut für Theaterwissenschaft in München und externe Mitarbeiterin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien (Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte). Ab dem Wintersemester 2016 leitet sie das von der DFG geförderte Projekt „Kultur-Macht-Identität“ am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München. David Roesner ist Professor für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Musiktheater an der LMU München. Er forschte und lehrte bisher an den Universitäten Hildesheim, Exeter und Kent. Nach dem Studium der Kulturwissenschaften an der Stiftung Universität Hildesheim promovierte er dort mit einer Arbeit zu Theater als Musik (Narr 2003). Forschungsschwerpunkte sind die Musikalisierung des Theaters und die Theatralisierung der Musik, Sound und Performance, Intermedialität sowie Performativität und Musikalität in Videospielen. Zuletzt publizierte er die Monographie Musicality in Theatre: Music as Model, Method and Metaphor in Theatre-Making (Ashgate 2014). Für weitere Informationen siehe http: / / mhn.academia.edu/ DavidRoesner. Jan Lazardzig ist seit 2013 Associate Professor für Theaterwissenschaft an der Universiteit van Amsterdam. 2001 - 2010 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin und im SFB „Kulturen des Performativen“. 2010/ 11 hatte er eine Gastprofessur an der Kunstakademie Münster. 2011 - 2013 war er Postdoc-Stipendiat der Alexander von Humboldt Stiftung an der University of Chicago. Seine aktuellen Forschungsfelder sind Technik- und Wissensgeschichte des Theaters, Ansätze der Theaterhistoriographie und Fachgeschichtsschreibung, Zensurgeschichte des Theaters. Josef Bairlein studierte Theaterwissenschaft, Philosophie und Neuere deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er auch als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Er ist Dozent an der Theaterakademie August Everding/ Hochschule für Musik und Theater sowie an der Akademie der bildenden Künste in den Studiengängen Regie, Schauspiel und Bühnenbild. Kai van Eikels ist Philosoph, Theater- und Literaturwissenschaftler und arbeitet am Institut für Theaterwissenschaften der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kollektivformen wie „Schwärme“ oder „Smart Mobs“, Kunst und Arbeit, Performance und Politik. Aktuelle Veröffentlichungen: Die Kunst des Kollektiven (Fink 2013), Art works - Ästhetik des Postfordismus (mit dem Netzwerk Kunst + Forum Modernes Theater, 27 (2012 [2016]), 126-128. Gunter Narr Verlag Tübingen Arbeit, bbooks 2015); Theorie-Blog: https: / / kunstdeskollektiven.wordpress.com Katharina Keim ist Privatdozentin am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München. Sie lehrte an der West-Universität Temesvar/ Rumänien und am Drama Department der University of Alberta in Edmonton/ Kanada. Promotion zu Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers (Tübingen 1998), Habilitation mit der Studie Von der Bühne ins Buch. Übersetzungen französischer Dramen zwischen Spätbarock und Frühaufklärung (LMU München 2011). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Theatergeschichte der Frühen Neuzeit, postdramatische Theaterformen, Übersetzungsstudien sowie Theater und Religion(en). Katharina Pewny, Dr. habil., ist Professorin für Performance Studies an der Universität Gent. Dort lehrt und forscht sie zu den Themen: Ethik und Politik des antiken Theaters und der gegenwärtigen performativen Künste, Dramaturgie und Religion/ Spiritualität. Sie ist Direktorin des Forschungszentrums S: PAM (Studies in Performing Arts and Media) und (Mit-)Herausgeberin der Serien Agent. New Research in Performance Studies und Studies in Performing Arts and Media. Ken Hagiwara ist Professor an der Meiji Universität (Tokio), School of Global Japanese Studies. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Geschichte des japanischen und deutschen Theaters, insbesondere das Dokumentartheater. Er studierte Germanistik und Theaterwissenschaften in Tokio, Bonn und Berlin und war Research Associate am Theatermuseum der Waseda Universität (Tokio). Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit ist er auch als Übersetzer und Dolmetscher bei Gastspielen von Theaterproduktionen aus deutschsprachigen Ländern in Japan (Rimini Protokoll, René Pollesch, Christoph Marthaler u. a.) unter dem Namen Ken Hagiwara-Wallentowitz tätig. Lorenz Aggermann arbeitet derzeit im DFG- Forschungsprojekt Theater als Dispositiv. Sein Interesse gilt der epistemologischen als auch der sonoren und affektiven Dimension von Theater (Der offene Mund, Berlin 2013), sowie diversen Figurationen von Alterität (Lernen, mit den Gespenstern zu leben (Hrsg.), Berlin 2015; Beograd Gazela - Reise in eine Elendssiedlung, Klagenfurt 2008). Er studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Europäische Ethnologie und Germanistik an den Universitäten in Wien und Berlin und arbeitete als Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern. Seit 2012 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der JLU Gießen. Marielle Silhouette wurde 2011 zur Universitätsprofessorin für Theaterwissenschaft an der Universität Paris Nanterre ernannt. Als promovierte Germanistin arbeitet sie über das deutschsprachige Theater von der Moderne bis zur Gegenwart. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theatergeschichte (Archiv, Genealogie), Theater und Kultur, Ästhetik und Praxis. Marvin Carlson is Sidney E. Cohn Professor of Theatre, Comparative Literature and Middle Eastern Studies at the Graduate Center, City University of New York. He has received an honorary doctorate from the University of Athens, the ATHE Career Achievement Award, the ASTR Distinguished Scholarship Award, the George Jean Nathan Award for Dramatic Criticism, and the Calloway Prize. He is the founding editor of the journal European Stages, and the author of numerous books and articles in the areas of theatre history, theatre theory and dramatic literature. Miriam Drewes, Dr. phil., studierte Theaterwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Politische Wissenschaft in Wien und München. Nach der Promotion im Jahr 2008 war sie bis 2014 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department Kunstwissenschaften der LMU München tätig, von 2015 bis 2016 als wissenschaftliche Projektkoordinatorin am Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Seit Mai 2016 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Herder-Kolleg der Universität Hildesheim. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit arbeitete sie als Publizistin und Filmdramaturgin. 127 Autorinnen und Autoren Nicole Haitzinger absolvierte ihr Dissertationsstudium an der Theater- Film- und Medienwissenschaft (TFM)/ Universität Wien. Sie ist aktuell als Assoz. Professorin am Fachbereich Kunst-, Musik- und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg tätig; als Dramaturgin und Kuratorin nimmt sie an diversen internationalen Projekten teil wie beispielsweise der Ausstellung Kunst - Musik - Tanz. Staging the Derra de Moroda Dance Archives im Museum der Moderne Salzburg (2016). Mitarbeit im DFG-Forschungsprojekt „Kulturelle Inszenierung von Fremdheit im ‚langen‘ 19. Jahrhundert“ (2003 - 2006). Internationale Lehre und Gastvorträge. Leitung des Universitätslehrgangs Kuratieren von szenischen Künsten gemeinsam mit Sigrid Gareis (ab 2017), stellvertretende Sprecherin der Doc-School „Geschlecht_transkulturell“. Aktuelle Bücher: Resonanzen des Tragischen. Zwischen Ereignis und Affekt (Turia + Kant 2015) und Chor-Figuren. Transdisziplinäre Beiträge, hrsg. gem. mit Julia Bodenburg und Katharina Grabbe, (Rombach 2016). Redaktionsmitglied bei Corpus: www.corpusweb.net. Patrice Pavis war lange Jahre Professor der Theaterwissenschaft an der Universität Paris, Canterbury und Seoul. Er war auch Gastprofessor an verschiedenen deutschen Universitäten. Letzte Publikationen auf Englisch: Dictionary of Performance and Contemporary Theatre (Routledge 2016); Performing Korea (Palgrave 2016), Let's embrace in the Cherry Orchard. Theater (University of Chihuahua Press, Mexico 2014). Philipp Schulte ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft Gießen und Referent für die Hessische Theaterakademie in Frankfurt/ Main. Er studierte Theaterwissenschaft in Bergen (Norwegen) und Gießen, wo er auch 2010 zum Thema Identität als Experiment promovierte. Zwischen 2012 und 2014 war er Leiter des Internationalen Festivalcampus der Ruhrtriennale. Er hat zahlreiche theatertheoretische Aufsätze und einige Bücher veröffentlicht und arbeitet als freier Dramaturg für Kollektive und Solokünstler_innen. Schulte lehrte und lehrt am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft Gießen, an der Norwegischen Theaterakademie Fredrikstad, an der Goethe-Universität Frankfurt, an der Otto-Falckenberg-Schule München sowie an der Akademie der Darstellenden Künste Ludwigsburg. Simona Travaglianti studierte Theaterwissenschaft, Histoire et esthétique du cinéma und Kunstgeschichte an den Universitäten Bern und Lausanne. Im Rahmen des Graduiertenkollegs „Intermediale Ästhetik: Spiel - Ritual - Performance“ promovierte sie mit der Arbeit Situationsräume: Zur Emergenz theatraler Räume aus der Site-Specificity. Danach war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt „Intermedialität“ an der Hochschule der Künste Bern und assoziierte Forscherin im Forschungsprojekt „The Interior: Art, Space, and Performance“. 128 Autorinnen und Autoren Aus dem Inhalt Christopher Balme (München) Editorial .......................................................................................................................................................5 Aufsätze: Patrice Pavis (Paris) Empire of Signs: From Japan towards Korea? .........................................................................................7 Marvin Carlson (New York) Immersive Theatre and the Reception Process.....................................................................................17 Katharina Pewny (Ghent) Hearing the Political, Sounding Death: The Human Microphone and Motus’s Alexis. Una tragedia greca (2010)........................................................................................................................26 Nicole Haitzinger (Salzburg) Überschreitung der Formen und Zersetzung der Figur: Zur Funktion des Afrikanistischen in La Création du Monde (1923) und La Revue Nègre (1925) ............................................................37 David Roesner (München) Von Dirigenten, Partituren und Instrumenten - Musikalische Metaphern in Schauspieldiskursen .............................................................................52 Thematische Beiträge: Subjekt und Subjektkonstitution: Birgit Peter (Wien) Subjekt auf Probe. Einblicke in ein Theorie-Labor ..............................................................................67 Lorenz Aggermann (Gießen) Über das Wir zum Ich. Rückblick auf eine Praxis, Ausblick auf eine Theorie .................................69 Simona Travaglianti (Bern) Der involvierte und distanzierte, vereinzelte und gemeinschaftliche Theaterliebhaber: Ein Versuch, den Zuschauer zu theoretisieren................................................................................. ....75 Danijela Weber-Kapusta (München) Die Verwandlungen des Bühnensubjekts: Fallbeispiel René Pollesch...............................................88 Philipp Schulte (Gießen) Sich einfügen, sich ausfügen. Überlegungen zum Begriff des Stils am Beispiel von ZOO von aktör&vänner und von Xavier Le Roys Product of Other Circumstances ..................................97 Rezensionen
