Forum Modernes Theater
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
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2021
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Balmeenthält das Themenheft: Gender und Kritik herausgegeben von Rosemarie Brucher und Jenny Schrödl Forum Modernes Theater Heft 1/ 2021 Band 32 Inhalt Aufsätze Karl-Heinz Reuband (Düsseldorf) Theater in der Krise? Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Benjamin Hoesch (Gießen) (Non)curating the Creative City: From 100 Grad to Performing Arts Festival Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Themenheft: Gender und Kritik Rosemarie Brucher (Wien) und Jenny Schrödl (Berlin) Editorial - Gender und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Aufsätze Gerald Siegmund (Gießen) Gender-Spielräume: Entunterwerfung als kritische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Miriam Dreysse (Berlin) Kritische Identitäten. Subversive Strategien der Inszenierung von Gender in Theater und Performance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Melanie Hinz (Berlin) Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Annette Bühler-Dietrich (Stuttgart) Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Neslihan Arol (Berlin) Henrike Iglesias ’ s GRRRRRL as Femmage on Stage: A Killjoy Utopia? . . . . . . . . . . . . . 85 Julia Ostwald (Salzburg) Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen: Trajal Harrells Antigone Sr./ Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church (L) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Bettina Wuttig (Marburg) Der postsouveräne Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Rezensionen Leon Gabriel und Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie (Lutz Ellrich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Judith Kemp, „ Ein winzig Bild vom großen Leben “ . Zur Kulturgeschichte von Münchens erstem Kabarett (Marion Linhardt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Sruti Bala, The Gestures of Participatory Art (Katharina Pewny) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Umschlagabbildung: Henrike Iglesias, Oh My, 2018 © Anna Fries. © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. 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Während in den 1970er Jahren die Jüngeren im Publikum überrepräsentiert waren, sind es heutzutage die Älteren. Die Altersbeziehung kultureller Partizipation hat sich grundlegend umgedreht. In dieser Hinsicht spiegelt sich ein Trend wider, welcher die kulturelle Partizipation in der Bevölkerung als Ganzes kennzeichnet. Der Strukturwandel des Publikums geht auf einen Besuchsrückgang auf Seiten der Jüngeren und auf einen Zuwachs auf Seiten der Älteren zurück. Durch die Corona-Pandemie erfährt der Theaterbetrieb eine zusätzliche Herausforderung, deren längerfristige Folgen offen sind. Der Theaterbetrieb wird auf Besucherforschung nicht verzichten können, um unter veränderten sozialen Realitäten bestehen zu können. Dass in Deutschland das Opern- und Konzertpublikum im Laufe der letzten Jahrzehnte älter geworden ist, älter auch als es dem Alterungsprozess in der Bevölkerung entspricht, daran besteht kein Zweifel. 1 Wie aber verhält es sich mit dem Publikum öffentlicher Sprechtheater? Die Datenlage dazu ist spärlich, weil es an Besucherbefragungen mangelt. Eine der frühesten Untersuchungen (wenn nicht sogar die früheste) stammt von der Zeitschrift Theater heute. Diese schrieb im Oktober 1964 Theater in der Bundesrepublik, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz an mit der Bitte, eine Woche lang Fragebögen an ihr Publikum zu verteilen. Der auszufüllende Fragebogen war an die Zeitschrift zurückzusenden. Die Portokosten hatten die Befragten zu tragen. Rund 200.000 Fragebögen wurden an die Theater verschickt, rund 15.000 kamen ausgefüllt zurück. 2 Umgerechnet auf die Zahl der versandten Fragebögen wurden nicht mehr als 7,5 % ausgefüllt retourniert. Gemessen an den methodischen Standards der Sozialforschung ist dies ein wenig befriedigendes Ergebnis. Allerdings muss die niedrige Quote im vorliegenden Fall nicht zwangsläufig bedeuten, dass sich tatsächlich nur so wenige Besucher zur Beantwortung des Fragebogens bereitfanden. Denkbar ist ebenso, dass die Theater die Fragebögen gar nicht in dem Maße auslegten, wie es von den Autoren von Theater heute intendiert war. Mit anderen Worten: Würde man die Zahl der von den Besuchern in die Hand genommenen Fragebögen als Maßstab der Kalkulation wählen, wäre der Anteil zurückgesandter Fragebögen vermutlich höher. Niedrige Ausschöpfungsquoten erhöhen die Gefahr, dass es zu einer verzerrten Repräsentation der Personengruppen kommt, über die man Aussagen treffen will. Aber sie bedeuten nicht notwendigerweise, dass man den Befunden jegliche Aussagekraft absprechen muss. Denn ob es eine nennenswerte Verzerrung gibt, ist maßgeblich Funktion einer thematisch selektiven Teilnahme auf Seiten der kontaktierten Personen. Ob sich damals die engagierten Theaterbesucher überproportional an der Befragung beteiligten und sie sich altersmäßig überproportional aus bestimmten Gruppen rekrutierten und so das Gesamtbild verfälschten, ist eine Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 5 - 12. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0002 offene Frage. Denkbar ist, dass Ältere etwas stärker als Jüngere dazu neigten, den Fragebogen zu beantworten. Aber dass dies nachhaltig den Altersdurchschnitt beeinflusste, ist nach den Erfahrungen mit Besucher- und Bevölkerungsumfragen in anderen Kulturbereichen eher unwahrscheinlich. Berechnet man auf der Basis der gruppierten Altersangaben das Durchschnittsalter der Besucher (arithmetisches Mittel), kommt man in der Erhebung von Theater heute auf einen Durchschnittswert von 35 Jahren (eigene Berechnungen). Ob sich darin das Publikum der Theater in der Bundesrepublik von dem in Österreich oder der Schweiz unterschied, wird in der Veröffentlichung nicht mitgeteilt. Angesichts der Tatsache, dass es damals (ebenso wie heute) mehr Theater in der Bundesrepublik als in Österreich oder der Schweiz gab, kann man jedoch davon ausgehen, dass sich das Durchschnittsalter der deutschen Besucher von dem Gesamtbefund nicht allzu sehr unterschied. So sehr auch die Aussagekraft der Untersuchung von Theater heute unter methodischen Gesichtspunkten begrenzt sein mag (wir wissen nichts über das Vorgehen der einzelnen Theater), stellt sie doch eine bedeutende Pionierarbeit dar: Eine, die erstmals Informationen über die soziale Zusammensetzung des Publikums, deren Besuchsverhalten und deren Besuchsmotive auf der Basis von Besucherumfragen lieferte. Zu Studien, die sich methodisch professionellerer Vorgehensweisen bedienten (indem sie Fragebögen an eine Stichprobe von Besuchern verteilten und diese nach Ende der Vorstellung zurückgeben ließen), kam es erst mehrere Jahre später. Eine der frühesten Untersuchungen, die einer professionellen Erhebungspraxis folgt, stammt von Joachim Scharioth, der im Rahmen seiner Dissertation in den Jahren 1969/ 70 in der Stadthalle Mühlheim sowie in den Theatern Castrop-Rauxel und Bergkamen eine Befragung des Schauspielpublikums durchführte. Es handelt sich, gemessen am deutschen Theatersystem, um eher atypische Spielorte: um Spielstätten ohne ein festes Ensemble und teilweise auch um Mehrzweckhallen (in der Stadthalle Mühlheim z. B. handelte es sich überwiegend um Aufführungen des Schauspielhauses in Düsseldorf). Das Durchschnittsalter der Befragten lag in Bergkamen bei 30,9, in Castrop- Rauxel bei 31,5 und in der Stadthalle Mühlheim bei 37,2 Jahren. 3 Mittelt man die Altersangaben, kommt man auf einen Durchschnittswert von 33 Jahren - ein Wert, der sich nicht allzu sehr von dem Altersdurchschnitt der Theater heute-Untersuchung Mitte der 1960er Jahre unterscheidet. Aus den früheren 1970er Jahren stammt des Weiteren eine Publikumsbefragung im Schauspielhaus der Stadt Kiel. Es handelt sich dabei um ein Mehrspartenhaus, in dem neben dem Musiktheater das Schauspiel seinen Platz hat. Im Schauspiel führte der (inzwischen nicht mehr existente) lokale Klub „ Kritisches Theater e. V. “ in den Monaten März bis Mai 1973 an 31 Abenden eine Befragung durch. Verteilt wurden die Fragebögen von den Mitgliedern des Klubs jeweils vor Beginn der Vorstellung mit der Bitte, den Fragebogen in der Pause oder nach Ende der Vorstellung in bereitstehende Urnen zu werfen (Klub Kritisches Theater 1973). Von den insgesamt 7.319 verteilten Fragebögen kamen 4.313 ausgefüllt zurück (was mit 58 % einer Quote entspricht, wie sie auch heutzutage bei entsprechendem Vorgehen nur unter optimalen Bedingungen erreicht werden kann). Bemerkenswert an dieser Studie sind nicht nur die höchst umfangreiche Größe der Stichprobe und die hohe Zahl einbezogener Vorstellungen (was bis heute keine andere Studie jemals wieder getan hat). Bemerkenswert ist ebenfalls die breite thematische Ausrichtung: Erfragt wurden u. a. 6 Karl-Heinz Reuband nicht nur die Beweggründe für den Besuch des jeweiligen Stückes, sondern auch die Bewertung von Inszenierung, Schauspieler und Inhalt. Letztere Themen gelten allzu oft im Kulturbetrieb als höchst sensibel, die man besser in Besucherumfragen meidet. Aber sie sind letztlich für Erfolg oder Misserfolg beim Publikum höchst bedeutsam. Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang vor allem das Alter der Besucher: Im Durchschnitt lag dieses bei 29,5 Jahren. Dass der Wert so niedrig liegt - niedriger auch als in den zuvor genannten Erhebungen - , ist zweifellos zum Teil der Tatsache geschuldet, dass rund 16 % der Besucher in organisierter Weise als Mitglied einer Schulklasse zur Aufführung kamen. Da in einem solchen Fall der Besuch weniger auf Freiwilligkeit als auf Zwang beruht, werden derartige Besucher üblicherweise nicht in Besucherbefragungen einbezogen (so auch nicht in der Untersuchung von Scharioth). Setzt man das Durchschnittsalter der Schüler, die als Mitglied einer Schulklasse die Aufführung besuchten, mit (ca.) 16 oder 17 Jahren an, kann man jedoch unter Ausklammerung der Schulklassen-Besucher das Durchschnittsalter der Kieler Besucher schätzen. Man kommt dann, eigenen Berechnungen zufolge, auf einen Durchschnittswert von rund 32 Jahren. Gleichgültig, welche der genannten Publikumsuntersuchungen man als Basis des Vergleichs wählt - es wird stets ein Altersdurchschnitt ausgewiesen, der deutlich unterhalb dem der Bevölkerung liegt. Dieser belief sich in der Bevölkerung auf bundesweitere Ebene (16 Jahre und älter) 4 Mitte der 1960er Jahre auf 45 Jahre und Mitte der 1970er Jahre auf 46 Jahre (in Kiel Mitte der 1970er Jahre ebenfalls auf 46 Jahre). Die Überrepräsentation der Jüngeren ist im Übrigen nicht nur für das Publikum im Schauspielhaus der damaligen Zeit typisch, es kennzeichnet auch die Besucher anderer Kultureinrichtungen und Veranstaltungen: von Opern und klassischen Konzerten ebenso wie von Museen. 5 Der Unterschied besteht allenfalls darin, dass sich das Durchschnittsalter im Einzelnen unterscheidet, das Theaterpublikum etwas jünger ist als das Opern- oder Konzertpublikum. Dass die Überrepräsentation der Jüngeren in den Besucherumfragen der 1960er und 1970er Jahre nicht die Folge eines überproportional starken Theaterengagements von Schülern ist (sei es selbstgewählt oder per schulischer Einbindung) - mithin kein Spezifikum schulbezogener Aktivierung oder spezifischer, schülerbezogener Angebote des Theaters zu der damaligen Zeit - , legt u. a. die Untersuchung von Theater heute nahe. Man kann ihr entnehmen, dass vor allem die Altersgruppe der 20 - 29jährigen mit 42 % (gegenüber einem Anteil von 20 % in der Bevölkerung) überproportional vertreten war. Die 15 - 19-Jährigen (die am ehesten der Schülerschaft zugerechnet werden können) stellten nur einen Anteil von 16 % (gegenüber 9 % in der Bevölkerung). Und wie verhält es sich heutzutage? Für die Spielstätten, die einst in die Befragungen eingingen, liegen keine Besucherbefragungen mit entsprechenden Informationen vor. 6 Aus einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung, die 2002 von uns in Kiel durchgeführt wurde, 7 lässt sich für die Befragten, die „ mehrmals im Jahr “ ins Theater gehen (sie entsprechen am ehesten den Befragten in Besucherbefragungen) ein Altersdurchschnitt von 47 Jahren errechnen. 8 Im Vergleich zur Erhebung von 1973 stellt dies eine beträchtliche Änderung in der Alterszusammensetzung dar und spiegelt im Vergleich zur Gesamtbevölkerung der Stadt Kiel einen überproportionalen Alterungsprozess wider, der eine Angleichung an das Durchschnittsalter der Bevölkerung (ebenfalls 47 Jahre) zur Folge hat. Kiel ist kein Einzelfall. Andere Bevölkerungsumfragen aus der gleichen Zeit 9 7 Theater in der Krise? Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation durchgeführt in mehreren Landeshauptstädten der Bundesrepublik, weisen nahezu identische Werte auf Seiten des Publikums und der Bevölkerung auf. 10 Und sie zeigen zudem: Wenn man in einer vertiefenden Analyse berücksichtigt, dass die Jüngeren generationsbedingt über eine höhere Bildung verfügen und den Bildungseffekt rausrechnet, ist eine Altersdifferenz zur Gesamtbevölkerung sehr wohl erkennbar. Der Alterseffekt, der dann zutage tritt, besagt: Je höher das Alter, desto weiter verbreitet ist der Theaterbesuch. Sollte es sich um einen Generationseffekt und nicht um einen reinen Alterungseffekt handeln - die nachwachsenden Generationen also immer weniger zu den Theaterbesuchern zählen - , würde dies bedeuten, dass das Theaterpublikum (über den rein demographischen Rückgang hinaus) längerfristig erodiert, die Jüngeren wegbleiben und sich das Publikum immer mehr aus Älteren zusammensetzt. Und dafür gibt es in der Tat eine Reihe empirischer Hinweise. Mehrere Besucherbefragungen in Großstädten dokumentieren - von einzelnen Ausnahmen abgesehen - gegenüber den früheren Jahren einen weiteren Anstieg des Durchschnittsalters. So lag das Durchschnittsalter der Besucher im Düsseldorfer (2012) und im Kölner Schauspielhaus (2015) bei 52 bzw. 53 Jahren 11 und im (höchst renommierten) Schauspielhaus einer größeren Ruhrgebietsstadt (2012) bei 55 Jahren 12 . Im Vergleich zum Altersdurchschnitt der Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen (der sich zu dieser Zeit auf 50 Jahren belief) spiegelt sich darin eine deutliche Überrepräsentation Älterer im Publikum wider. Dass es sich dabei nicht um regionale Besonderheiten handelt oder Idiosynkrasien der jeweiligen Häuser, belegen bundesweite Untersuchungen. In diesem Zusammenhang ist die Besucherstudie von Johanna Jobst aus dem Jahr 2010/ 11 von zentralem Interesse. Diese stützt sich auf die bislang größte und umfassendste Besucherbefragung in insgesamt 12 öffentlichen (Sprech-) Theatern unterschiedlicher Städte mit zusammen mehr als 2.000 Befragten. Der von Jobst ermittelte Altersdurchschnitt der Besucher beläuft sich auf 53,8 Jahre. 13 Auf durchschnittlich 53 Jahre beläuft sich ebenfalls das Alter derer, die in einer bundesweiten Bevölkerungsumfrage (durchgeführt von uns im Rahmen des Landeskulturberichts NRW) im Jahr 2016 angaben, mehrmals im Jahr in das „ Schauspielhaus, Theater “ zu gehen. 14 In letzterem Fall zählt zu den Besuchern allerdings nicht nur der Besucherkreis öffentlicher (Sprech-) Theater, sondern auch der Kreis derer, die freie und private Theater aufsuchten. Insofern ist diese Zahl im Hinblick auf Aussagen über die öffentlichen Theater mit Einschränkungen versehen (im Hinblick auf den Theaterbesuch als Ganzes jedoch ist sie aussagekräftiger). Bedeutsam an dieser Stelle ist hier vor allem, dass die Überrepräsentation Älterer im Publikum, wie sie sich auf der Städteebene in neueren Studien darstellt, ebenso auf Bundesebene besteht. So disparat auch die einzelnen Studien (gerade aus der Frühzeit) sein mögen, unterschiedlich im Design und Methodologie, so ist doch unverkennbar, dass sich im Lauf der Zeit eine grundlegende Umstrukturierung der Altersbeziehung vollzogen hat: von der Überrepräsentation der Jüngeren zur Überrepräsentation der Älteren. Und wie verhält es sich mit den Privattheatern? Zeigen sie, die in manchen Städten die Mehrheit der Theaterbesucher auf sich vereinen, ein anderes Bild? Die Datenlage ist in diesem Fall noch schlechter als für die öffentlichen Theater. Aber der Gesamteindruck eines grundlegenden Wandels wird auch hier bestätigt. Die früheste Untersuchung in einem Boulevardtheater, die 1979 in München durchgeführt wurde, ermittelte einen Altersdurchschnitt der Besucher von 41 Jahren 15 - ein Wert, der 8 Karl-Heinz Reuband seinerzeit deutlich unter dem der Münchner Bevölkerung lag. Besucherstudien in Boulevardtheatern aus jüngerer Zeit erbringen ein anderes Bild: Nicht nur, dass die Besucher im Durchschnitt etwas älter sind als die Besucher der öffentlichen Theater, die Älteren erweisen sich - ähnlich wie die Besucher öffentlicher Theater - im Vergleich zur Bevölkerung ebenfalls als überrepräsentiert, wie es Studien u. a. aus Düsseldorf und Köln belegen. 16 Wie es sich demgegenüber mit den Verhältnissen in den freien, eher avantgardistisch ausgerichteten Theatern verhält, ist unbekannt. Der einzige Vergleich, der bislang möglich ist, betrifft das Düsseldorfer „ Forum freies Theater “ (FFT). Danach ist das Publikum überproportional jung, und es hat sich im Zeitverlauf kein Wandel von nennenswerter Größe ereignet. Während 2004 das Durchschnittsalter bei 37 Jahren lag, 17 lag es 2018 bei 38 Jahren. 18 Es handelt sich freilich in diesem Fall um einen zeitlich eng begrenzten Beobachtungszeitraum, und er deckt auch nicht die Zeit des größten Wandels im Bereich der öffentlichen Theater ab. Insofern muss an dieser Stelle offen bleiben, inwieweit sich in der Stabilität der Verhältnisse Besonderheiten des FFT oder der freien Theater im Allgemeinen niederschlagen. Nur weitere Erhebungen werden dies klären können. Was aber bedeutet die Altersverschiebung? Welche Prozesse des Wandels verbergen sich dahinter? Nähere Analysen auf der Basis von Bevölkerungsbefragungen - die sich auf den Theaterbesuch per se, ohne Differenzierung in öffentliche oder privater Theater beziehen (andere Vergleiche sind nicht möglich) - legen nahe, dass die Umstrukturierung der Altersbeziehung auf zwei gegenläufige Prozesse zurückgeht: auf einen Rückgang des Theaterbesuchs in der nachwachsenden jüngeren Generation und auf einen Anstieg bei den Älteren. 19 Während früher galt: Je jünger jemand ist, desto eher findet ein Theaterbesuch statt, gilt heutzutage genau das Gegenteil. Je älter jemand ist, desto weiter verbreitet ist der Theaterbesuch. Gäbe es nicht den Anstieg in der kulturellen Partizipation auf Seiten der Älteren, wäre der Anstieg des Durchschnittsalters weniger ausgeprägt, aber es gäbe auch weniger Theaterbesucher. Der Rückgang seitens der Jüngeren wird durch den Anstieg seitens der Älteren gewissermaßen verdeckt, aber er ist nicht verschwunden und setzt sich fort. Welche Ursachen für die Veränderungen in der Partizipation auf Seiten der Jüngeren und der Älteren eine Bedeutung haben, darüber gibt es (mangels verfügbarer Daten) derzeit mehr Spekulationen als empirische Fakten. Manches spricht für ein sinkendes Interesse bei den Jüngeren und für eine veränderte, aktivere Altersrolle der Älteren. Bei den Jüngeren könnten es vor allem veränderte Optionen der Freizeitgestaltung sein, die andere Interessenlagen begründen, in Kombination mit Änderungen in der medialen Praxis (insbesondere was den Rückgang in der Nutzung der etablierten Medien betrifft). Und bei den Älteren könnte es neben Generationseffekten (die Älteren der heutigen Zeit waren einst die Jüngeren der früheren Jahre, die häufig ins Theater gingen) ein Wandel des Selbstbildes sein, der in Kombination mit verbesserten ökonomischen und sonstigen Ressourcen eine aktivere Lebensführung begünstigt. Der Wandel, der sich im Bereich des Theaters ereignet hat, ist nicht auf diesen beschränkt. Betroffen ist die (Hoch-) Kultur als Ganzes. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der Alterungsprozess des Publikums in anderen Kultursparten - wie Oper und klassisches Konzert - zum Teil bereits weiter fortgeschritten ist. Doch über die einzelnen Prozesse der Veränderung, ihre Dynamiken und Ursachen, ist näheres bislang nicht bekannt. Es ist nicht einmal bekannt, wie sehr sich Besuchsfrequenzen un- 9 Theater in der Krise? Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation abhängig von den Besucheranteilen entwickeln und wovon Verbreitung und Häufigkeit des Theaterbesuchs unter Theatergängern abhängen: von alternativen Freizeitoptionen, veränderten Angebots- und Vermittlungsstrukturen, anderen Inszenierungskonzepten oder einem allgemeinen kulturellen Wandel, der unabhängig vom Kulturbereich seine Dynamik entfaltet, aber auf diesen zurückwirkt. Und daran wird (einmal mehr) deutlich, wie bedeutsam es ist - auch auf der Ebene der einzelnen Theater - in systematischer und kontinuierlicher Weise Besucherforschung zu betreiben und diese in die Analyse des allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Wandels einzubetten. Offen ist schließlich auch, wie sich die Corona-Pandemie auf den Theaterbesuch auswirken wird. Angesichts der Tatsache, dass die Älteren überproportional das Publikum bilden und sie es auch sind, die überproportional durch Corona gefährdet sind, ist ein Einbruch in der Nachfrage denkbar. Wie lange dieser anhalten wird, über die Corona Krise hinaus, und wie sehr es längerfristig zu grundlegenden Änderungen in der Zusammensetzung des Publikums kommen wird, ist eine offene Frage. Ebenso ist es eine offene Frage, wie sehr alternative Formate der Vermittlung - etwa Online-Angebote - in der Zukunft eine zusätzliche, realistische Option für den Kulturbetrieb darstellen können, welches Publikum dadurch erreicht und längerfristig an den Theaterbetrieb gebunden wird. Anmerkungen 1 Karl-Heinz Reuband, „ Wie hat sich das Opernpublikum in den letzten Jahrzehnten in seiner sozialen Zusammensetzung verändert? Eine Analyse am Beispiel der Kölner Oper “ , in: Sociologia Internationalis, 51/ 2 (2013), S. 231 - 266. 2 „ Publikum in Deutschland. Die ersten Ergebnisse der Umfrage unter deutschen Theaterbesuchern “ , in: Theater heute 6/ 2 (1965), S. 4 - 8. 3 Joachim Scharioth, Kulturinstitutionen und ihre Besucher. Eine vergleichende Untersuchung bei ausgewählten Theatern, Museen und Konzerten im Ruhrgebiet. Dissertation, Ruhr-Universität Bochum 1974, S. 93. 4 Quelle eigene Auswertungen auf der Basis bundesweiter Statistiken des statistischen Bundesamtes bzw. Angaben des Statistikamtes Kiel. 16 (oder 18) Jahre als Untergrenze zu wählen, macht angesichts des Publikums, das sich in die Aufführungen begibt, Sinn. Das Durchschnittsalter auf die Gesamtbevölkerung ab 0 Jahren zu beziehen (wie in Untersuchungen des Öfteren der Fall, so auch in der Kieler Publikation), führt zu Fehleinschätzungen. 5 Karl-Heinz Reuband, Besucherstudien: Probleme, Perspektiven und Befunde. Eine Bestandsaufnahme für die Kulturpolitische Gesellschaft - Landeskulturbericht Nordrhein- Westfalen, Düsseldorf 2016; Landeskulturbericht Nordrhein-Westphalen 2017, https: / / www.mfkjks.nrw/ landeskulturbericht (Zugriff am 01. 10. 2020); Karl-Heinz Reuband, „ Das Kulturpublikum im städtischen Kontext. Wie sich das Opernpublikum von anderen Kulturpublika unterscheidet “ , in: Ders. (Hg.) Oper, Publikum und Gesellschaft, Wiesbaden 2018, S. 143 - 191; Karl-Heinz Reuband, „ Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation. Ein Langzeitvergleich bundesweiter Bevölkerungsumfragen “ , 1972 - 2016, in: Zeitschrift für Kulturmanagement 1 (2018), S. 23 - 54. 6 Es kam zwar in Kiel im Jahr 2002 zu einer Befragung, doch Angaben daraus zu den sozialen Merkmalen der Befragten (sofern diese überhaupt ermittelt wurden) liegen nicht vor. 7 Karl-Heinz Reuband, „ Kulturelle Partizipation als Lebensstil. Eine vergleichende Städteuntersuchung zur Nutzung der lokalen kulturellen Infrastruktur “ , in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2010, Essen 2010, S. 235 - 246. 10 Karl-Heinz Reuband 8 Die Theaterbesucher in der Umfrage dürften im Wesentlichen die Besucher des öffentlichen Theaters sein (in Kiel gibt es lediglich zwei kleinere Privattheater mit begrenzter Platzzahl). Die Zahl der Befragten, die in der Umfrage angaben, mehrmals im Jahr ins Kieler Theater zu gehen, liegt bei N=205. Unter Einschluss derer, die einmal im Jahr ins Kieler Theater gehen (zusammen N=375), liegt der Altersdurchschnitt bei 45,2. Bei denen, die von sich sagen, sie würden einmal im Jahr gehen, handelt es sich allerdings oft um Personen, bei denen der Besuch realiter mehr als ein Jahr zurückliegt. Insofern ist der Durchschnittswert für den mehrmaligen Besucherkreis aussagekräftiger. Dass durch Rückgriff auf eine Bevölkerungsumfrage der auswärtige Besucherkreis im Schauspielhaus nicht berücksichtigt wird, hat im Übrigen - wie andere Untersuchungen belegen - auf die soziale Zusammensetzung keinen oder allenfalls minimalen Effekt. 9 Reuband, „ Kulturelle Partizipation als Lebensstil “ . 10 Der Altersdurchschnitt der Befragten, die mehrmals im Jahr ins Theater gehen, lag in der Erhebung von 2002 in Hamburg bei 49,9 Jahren (Bevölkerung 49,0), Stuttgart bei 47,6 Jahren (Bevölkerung 47,3 Jahre), München bei Jahren 48,4 (Bevölkerung 47,8 Jahre) und Dresden bei 45,7 Jahren (Bevölkerung 47,4 Jahre) (Quelle: eigene Erhebungen, auf der Basis postalischer Befragungen, jeweils ungewichteter Datensatz). Mal liegen die Werte also etwas über dem Altersdurchschnitt der Bevölkerung, mal etwas niedriger, mal sind sie identisch. Alles in allem halten sich die Unterschiede in Grenzen, differieren gerundet allenfalls um ein Jahr. Dabei ist allerdings zu beachten, dass in der Bevölkerungsumfrage allgemein nach dem Theaterbesuch gefragt wurde. Je nach Stadt können dazu - wie in Hamburg besonders ausgeprägt - in größerem Umfang auch Privattheater dazugehören. 11 Reuband, Besucherstudien, S. 21; Tibor Kliment, „ Das Publikum von Theater und Oper. Soziale Zusammensetzung und die Wirksamkeit von Zugangshürden “ , https: / / www.kulturmanagement.net/ Themen/ Das- Publikum-von-Theater-und-Oper-Soziale- Zusammensetzung-und-die-Wirksamkeitvon-Zugangshuerden,2132; [Zugriff am 20. 03. 2019]. 12 Reuband, Besucherstudien, S. 21. 13 Johanna Jobst, Strategisches Management in Kulturorganisationen. Eine empirische Analyse der Bewertung eines Theaterbesuchs aus Zuschauerperspektive. Dissertation, Universität Konstanz 2012, S. 199. 14 Reuband, Besucherstudien, S. 42. 15 Gudrun Leisentritt, Das eindimensionale Theater. Beitrag zur Soziologie des Boulevardtheaters. München 1979, S. 309; eigene Berechnungen 16 Vgl. dazu: Karl-Heinz Reuband und Angelique Mishkis, „ Unterhaltung oder intellektuelles Erleben? Soziale und kulturelle Differenzierungen innerhalb des Theaterpublikums “ , in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2005, Essen 2005, S. 210 - 224; Karl-Heinz Reuband, „ Das Publikum der privaten und öffentlichen Theater. Soziale Merkmale, Interessenprofile und Formen kultureller Partizipation “ , in: Zeitschrift für Kulturmanagement, 2 (2019), S. 53 - 90. 17 Reuband und Mishkis; „ Unterhaltung oder intellektuelles Erleben? “ , S. 240. 18 2004 waren 28 % älter als 44 Jahre (Reuband, Mishkis, „ Unterhaltung oder intellektuelles Erleben? “ , S. 240), 2018 waren es 33 % (Marx-Zakowski, Wirksamkeit der Social Media Plattformen Instagram und Facebook für das Marketing in Kulturbetrieben. Am Beispiel FFT Düsseldorf. B. A. Arbeit. Hochschule Niederrhein 2018 (unveröffentlicht), S. 70), eigene Berechnungen: Zur Altersstruktur der Kulturpublika auf lokaler Ebene im Vergleich siehe Reuband, „ Das Kulturpublikum im städtischen Kontext. “ . 19 Dies ergibt eine (noch unveröffentlichte) Analyse, in der wir bundesweite Umfragen aus den Jahren 1968/ 69 mit einer bundesweiten Umfrage von 2016 in Beziehung setzten. Hinweise für eine Umkehr der Altersbeziehung finden sich ebenfalls in Umfragen auf kommunaler Ebene (Reuband, „ Die soziale Neustrukturierung des Opernpubli- 11 Theater in der Krise? Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation kums “ , S. 235 f.) sowie in bundesweiten Erhebungen aus den 1970er Jahren im Vergleich zu heute (Reuband, „ Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation. “ ). 12 Karl-Heinz Reuband (Non)curating the Creative City: From 100 Grad to Performing Arts Festival Berlin 1 Benjamin Hoesch (Gießen) The independent performing arts in Berlin, counterpart to the established city and state theatre system, have undergone fundamental change over the last decades. As part of this change, the 100 Grad Festival, a crucial event for the scene for over twelve years, ended in 2015 and was replaced by the Performing Arts Festival (PAF), which addresses the city of Berlin as a whole. This paper will trace the institutional transition from 100 Grad to PAF by highlighting organizational continuity and differences, and by analyzing the discourse accompanying the shift in the field of Berlin ’ s independent performing arts. The point of departure for the paper are questions of curation, which both festivals reject, yet re-employ in different strategies, especially towards emergent artists. However, contextualizing the festivals within broader tendencies in city development - the governmentality of the ‘ creative city ’ - shows that opposing strategies may equally fall in line with aesthetic capitalism, leading to a paradoxical outcome. (Not) Curating a Festival “ [T]his festival is not curated and is presented by the independent performing arts community itself[.] ” 2 With this statement, the Performing Arts Festival Berlin (PAF) introduces itself in the “ About ” section of its website. What reads as just a descriptive characterization of the festival, is in fact an ambitious claim with far-reaching consequences: Curating a festival is usually understood as the selection and arrangement of artistic productions by the organizers or representatives, who are tasked as curators, aligning all individual contributions with overarching ideas and ensuring that the aesthetic quality matches institutional expectations. As Florian Malzacher explains, a curator “ not only sets the artworks into a given discourse ” , but “ creates that discourse himself for his own environment ” - a practice of exercising power: “ it ’ s about choice, about defining who is allowed to be a part of it, allowed to produce and present, allowed to earn money. ” 3 While the history of modern theatre festivals is closely connected with the practice of curation, its counter concept, non-curation, is less common, but just as deeply rooted: When the Edinburgh International Festival (EIF) was founded in 1947 as one of the first major festivals after World World II, the uncurated Edinburgh Festival Fringe emerged immediately as - in the words of performance theorist and author of Theatre & Festivals, Keren Zaiontz - “ a deliberate counterpoint to the tastemakers of the EIF ” 4 . The Edinburgh Fringe not only grew to far surpass the EIF, becoming the world ’ s largest art festival, but also set an example for the spread of uncurated fringe festivals all over the world. If a festival in this tradition declares that it is ‘ not curated ’ , it rejects the normative judgment that lies in every selective decision, lets art speak for itself and relinquishes quality control in order to allow for nonconformism: “ participation in fringes around the globe is, ideally, open to anyone seeking to throw their hat in the ring. ” 5 More than just Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 13 - 25. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0003 an organizing principle, the absence of curatorial authority indicates the absence of hierarchical power and becomes a prerequisite for self-representation: the performing arts and artists are supposed to be not the object displayed by the festival, but subjects presenting themselves as a community. Fringe festivals might see themselves as “ antidotes to the paternalistic (We know what art is good for you) programming choices of established festivals and repertory festival theatres ” 6 ; however, as Zaiontz illustrates regarding the Edinburgh Fringe, they willingly or unwillingly produce their own dynamics of exclusion with high economic barriers and the rationing of time and venues, resulting in “ a push-and-pull between the socially democratizing and homogenizing forces ” 7 . Seen in this light, the short introductory statement declaring a renunciation of curation and the self-representation of an independent community raises more questions than it answers: Is there really no selection mechanism at work, be it based on aesthetic, formal, economic, social or political criteria? And how does an independent community present itself? The claim made by the PAF must seem audacious, especially in its local context: After all, the field of independent artists in Berlin is estimated to comprise over 6,000 people and 500 groups in a wide range of disciplines, styles and institutional contexts. 8 In its selfunderstanding, PAF suggests that it represents this community as a clearly defined body with one identifiable collective will. But which of the many artistic voices wrote that sentence and how many would subscribe to it? The festival ’ s characterization of itself as “ not curated ” seems even more dubious in the light of its historical background. In fact, PAF was only established in 2016 and followed in the footsteps of another festival that had run for twelve years: 100 Grad (German for ‘ 100 degrees ’ ). Despite having a very different organizational structure, 100 Grad also claimed to be non-curated, thus allowing Berlin ’ s community of independent performing artists to present themselves on their own terms: “ Join in at 100 Grad Berlin - marathon, runway and party of Berlin ’ s independent scene! ” 9 As we will see, such statements by festival organizations do not reflect the actualities, but rather outline a utopian goal towards which organizations can work in very different ways. In the distinctive organizational models of 100 Grad and PAF - both, in fact, versions of the fringe festival - , different, sometimes opposing strategies are employed to achieve the same goal. These strategies, however, are not neutral, but rather involve different understandings of what curating is and can be - and, moreover, what the independent performing arts in Berlin are and strive to be. Both festival models do not target specific audiences, but claim to be festivals for the artists, celebrating the diversity of the artistic scene. 10 However, the different self-understandings, as this paper will show, are closely linked to the position of the independent performing arts in the city of Berlin, its relationships towards the nonartist broader public and models of the city that the art scene wants to follow or reject, to antagonize or help create. This paper will trace the institutional transition from 100 Grad to Performing Arts Festival Berlin by highlighting organizational continuity and differences, and by analyzing the discourse accompanying the shift in the field of independent performing arts in Berlin. As part of their cultural and political agenda, festivals refer to and distinguish themselves from each other ’ s strategies of (non-)curating; however, placing the festivals in the context of broader historic tendencies in city development shows that opposing strategies may equally fall in line with aesthetic capitalism, leading to a paradoxical outcome: expansion and apparent 14 Benjamin Hoesch achievements of performing arts in a city can turn against the community itself, making independent artistic practice even harder in the future. 100 Grad Berlin: Precarious Marketing Tool as Counterculture The festival 100 Grad was initiated in 2002 by two independent Berlin theatres - Sophiensæle and Hebbel am Ufer (HAU). Both venues had themselves only been founded a few years before, with the mission to house theatre productions and guest performances outside the established city and state theatre system. Under the direction of Amelie Deuflhard at Sopiensæle and Matthias Lilienthal at HAU, both gained recognition for programmes that transcended disciplinary and national boundaries, including festivals of contemporary dance or music as well as numerous international co-productions. 11 But as they relied heavily on the local scene for both their artists and their audience, they also aspired to become key institutions for Berlin ’ s independent performing arts. In this balancing act, the festival 100 Grad with its focus on the local instead of the international sphere, helped to maintain connections and familiarity with the scene, which embraced both HAU and Sophiensæle as centres of its community: Deuflhard called 100 Grad a “ simultaneous amusement park, trade fair, wedding and family meeting ” . 12 For 100 Grad, HAU and Sophiensaele - later joined by the smaller venues Ballhaus Ost and Theaterdiscounter - greeted artists with radical openness. Each year, they issued an open call for artistic contributions of all genres and production contexts - without any topical or formal guidelines; the first 120 entries submitted after the opening of registration were automatically accepted. Thus, the organizers had no control over what was shown on their stages. For performing artists, capacity was the only obstacle to appearing in their programme, which resulted in a self-proclaimed ‘ theatre marathon ’ of 120 shows - with five shows running simultaneously - over only four days. Such an open stage programme, of course, was only possible with strict structural limitations that all shows had to meet: without exception, they were allowed to last a maximum of 45 minutes and had to be set up and dismantled in half an hour. The festival offered basic technical support, but no funding for productions, artists ’ fees or travel and accommodation. Given these requirements, it is no surprise that the majority of participants were non-established, mostly young artists without prior institutional attachment: students or recent graduates from art and theatre schools, hopeful artists-in-the-making, semiand wannabe professionals. The organizers of 100 Grad promised them a chance to make an entrance into Berlin ’ s art scene, and they hoped to be ‘ discovered ’ or, at least, gain recognition. These aspirations were instigated by successful examples - and by promising statements by the organizers: “ 100 Grad has already prompted several tours in recent years. Especially smaller theatres [. . .] have issued invitations after their scouting at 100 Grad ” , Lilienthal told a newspaper in 2011. 13 As this proves, while the programming of 100 Grad avoided curation, the festival event itself was not void of curatorial power but rather aimed to attract decision makers from other theatres. Moreover, a competition was held as part of the festival: An independent jury of young journalists and curators from other festivals awarded the five best shows a prize without financial endowment, but with the promise of more prominent mentions in press reports plus an invitation to give a further guest performance at Best of 100 Grad, a mini-festival held a few months later. 15 (Non)curating the Creative City: From 100 Grad to Performing Arts Festival Berlin It is notable, however, that, in addition to these young emerging artists, established professionals also took part in the festival. Some of them had already toured nationally and internationally, but still lacked institutional ties to Berlin. For those planning to connect with the city ’ s independent performing arts scene, it seems to have been obligatory to first appear in the professionally less attractive environment of 100 Grad. Participating in the festival, thus, served as a marketing tool and an investment in expected future collaborations. Yet surprisingly, 100 Grad ’ s open calls did not just reach and resonate with the Berlin community, but - despite its precarious conditions - attracted more and more artists from other German cities and other European countries. Over time, the festival became less about Berlin ’ s artistic community, and instead a touring venue and transit station for an interregional and international scene. 100 Grad contributed significantly to the development of a touring market for low-budget and technically simple productions, often mainly fuelled by the artists ’ own time and resources, as well as their hope for more remunerative work in the future. The growth in the number of applications to more than 300 per year (the first 120 of which continued to be accepted) proves the attractiveness of the Berlin scene for such aspirations as well as the range of a pull-effect initiated by the open stage principle. 14 Discourse analysis around the 100 Grad Festival shows that competitive and strategic functions of the festival were downplayed in order to promote a collective spirit and a cult status of the festival in the artistic community. The organizing institutions HAU and Sophiensæle relativized their own power position during the festival. In retrospect, their representatives described the festival as “ chaos ” and “ excess ” , which as such eludes authoritarian control. 15 The organizers emphasized their own passionate overexertion and exhaustion, which they shared with artists and audience, calling their festival “ an insane, manic thing with magnificent colleagues ” . 16 This ironic ambiguity was mirrored by the critics: Even the most nostalgic reviews and commentaries on 100 Grad do not attribute a generally high aesthetic quality to the festival, but rather see it as a “ lovely mixture of discoveries, nonsense and whimsy ” - which they nevertheless value as the distinctive “ charm ” of 100 Grad. 17 The discourse matches Zaiontz ’ description of the fringe festival as “ one of those rare sites where audiences and critics expect, even accept, failure as part of the indiscriminate culture of the festival ” 18 . In this playful embracing of negativity, both the organizers and the audience mark the festival and its community - the independent performing arts in Berlin - as the city ’ s counterculture. The term ‘ counterculture ’ denotes a relatively isolated environment with a distinctive code, positioned by its members under the surface of a mainstream culture and imagined to be resistant to or at least decoupled from its major forces. As counterculture, the independent performing arts do not even aspire to address everyone in Berlin, but rather to evade or subvert the rules of the functional city by revaluing that which is mainly excluded from the mainstream and its norms of efficiency, productivity and conformity to the market. Institutional Delegitimization and Reinvention It is very obvious, however, that the countercultural self-conception of 100 Grad is paradoxical, given the immense productivity by a vast amount of serial, unpaid artistic labour which constituted the festival itself. This is why, in later years, critical voices emerged: 16 Benjamin Hoesch They accused the organizers of demanding and encouraging self-exploitation of the artists and questioned whether the celebration of precarious excess in institutions that could only offer a very short-term and fragile home really served the arts and artists. 19 This criticism became more valid with the overall changes in Berlin ’ s independent performing arts: The scene had developed a higher degree of self-organization and confidence, artists formed associations such as Landesverband freie darstellende Künste (LAFT) in 2007 and Koalition der Freien Szene in 2012. In the following years, these platforms successfully made demands for more public funding of the independent performing arts and a recognition of their contribution to the city ’ s cultural profile. Instead of being grateful for a volatile chance to appear on an open stage, artists and producers in such associations negotiated with cultural policy makers and lobbied for lasting improvements in their working conditions. Their attitude towards 100 Grad was, at the very least, ambivalent: The associations participated in the ancillary programme of the festival in order to reach out for new members, but also to advocate for non-precarious professionalism. 20 The minutes of the members ’ meetings of LAFT since 2013 document discussions about the idea of creating their own festival, coupled with harsh criticism of 100 Grad: There is currently no festival in Berlin of the whole independent scene. [. . .] The 100 Grad Berlin Festival has not covered all important independent venues. Diversity was not displayed. Therefore, the 100 Grad Berlin Festival should not be continued. 21 With its legitimacy questioned, the festival did not manage to achieve a durable institutional life independent of its original promoters: Only few years after the founders Deuflhard and Lilienthal left their respective theatres and the city, it was announced that the thirteenth edition of 100 Grad in 2015 would be the last. The new artistic directors of Sophiensæle and HAU sought a collaboration with LAFT in the development of a new festival format: “ The aim is to organize a Berlin-wide festival including all venues in 2016 and following years. ” 22 Thus, the Performing Arts Festival Berlin was born - and LAFT became its main organizer. PAF: Reflecting Change in Berlin ’ s Independent Performing Arts PAF officially describes the event as the “ successor ” to 100 Grad, which “ pays tribute to the new situation ” : Over the last twelve years, the city of Berlin as well as the independent performing arts community have changed and developed enormously. A vast number of new, international artists and groups have moved to the city and many existing groups have established and professionalized themselves. Numerous new performance venues and locations have opened and the quality as well as quantity of independent productions have increased. 23 These fundamental changes - which the organizers not only describe, but also support and performatively evoke - led to the drastic formal alterations of PAF compared to the 100 Grad festival. They are based on four major aspects: First, the professionalism of the independent performing arts - for LAFT both an aim of many of their consulting or advanced training activities and an important argument in the political struggle for improved working conditions or minimum wages. This crucial claim, however, seemed no longer compatible with the open stage principle. Apparently, organizers feared that independent performing arts could be too 17 (Non)curating the Creative City: From 100 Grad to Performing Arts Festival Berlin easily confused with amateur theatrics or hobby art enthusiasts if they risked admitting anyone defining themselves as artists to the highly sought after stages. 24 But how could they ensure the professionality of the participants without selecting and curating them? This became possible with the second aspect of change: the growth in independent performance venues and, with it, an institutional diversification of the scene, including private theatres, community centres, cooperative rehearsal spaces and restored or appropriated historical buildings. The organizers of PAF attempted to include this whole spectrum with a radical decentralization: They called upon all independent theatre organizations to participate as venues and to schedule and finance shows for the festival. In fact, from the beginning, between 50 and 60 locations all over Berlin responded to the call and submitted their contributions. 25 PAF organizers did not judge or select them, but compiled everything that was practically possible into the festival programme and advertised it with equal acknowledgment given to all institutions and artists. This is what they mean by characterizing themselves as an uncurated festival: The power of selection is spread among the many contributing parties, as each theatre location decides on its own terms which artists, genre or aesthetics will be co-produced. Thus, a stronger organizational commitment to the artists, who become figureheads for the coproducing venue, is required, as well as a much closer link between performance and location, also allowing for site-specific or public-space work. Compared to serial touring performances in a black box theatre, institution, location and artists strongly overlap in the PAF programme and shape each other ’ s public identities. This close connection is the reason for a new requirement in the festival regulations: PAF ’ s Open Call is explicitly limited to only “ Berlin-based groups and/ or artists ” . 26 In order to not misinterpret this return of the independent performing arts to the local sphere as a form of self-isolation from external influences, one has to take a third aspect of change into account: the increasing internationalization of Berlin ’ s independent performing arts scene. With more and more artists from a wide range of countries moving to the city and many others making it their base for international co-productions and worldwide touring, the categorical differentiation between the local and the international sphere collapses. PAF tries to enhance this development, by advertising internationally, by providing all information - also for contributing venues - in German and English, or by inviting professionals - including curators - from abroad to a special networking programme. As the local scene is understood to be constantly influenced by and influencing international markets, the new regulation - requiring all participating artists to have their “ working base ” in Berlin - does not limit cross-boundary exchange or cut the local scene off from international competition. “ Introducing . . . ” : The Curated Centre of an Uncurated Programme Nevertheless, one source of influx into the scene is now under selective control - a segment the former festival 100 Grad had mobilized, but never regulated: young, emerging artists, newcomers (or, to use the German term, ‘ Nachwuchs ’ ). At PAF, they are now able to apply to a special programme line, hosted by the same organizations as 100 Grad: Sophiensæle, HAU, Ballhaus Ost and Theaterdiscounter. With this prominent institutional backing, the newcomers ’ platform is not part of the ancillary programme, but rather at the centre of the whole festival - 18 Benjamin Hoesch while at the same time detached from the regular programme by the focus placed on it: In fact, the first PAF in 2016 started with three days of only newcomers ’ pieces to “ kick off the festival ” before three days of the regular programme. 27 Since the following year, newcomer shows have been mingled with all the other events - but still cover prime time slots and the very first pages in the printed programme. Why this central position for what could be justly considered a niche programme? Feeling indebted to non-established artists and taking pleasure in ‘ discovering new talent ’ could certainly be said to have been inherited from 100 Grad. But more than that, it seems crucial for the institutional legitimacy of PAF as its successor to not appear as a closed circle, but to enable and encourage innovation and the influx of interesting people, ideas and practices. Aware of these expectations, PAF organizers present themselves as sympathetic and supportive: In order to put your foot in the door, the door still has to be at least a crack open. Precisely because of the fact that it ’ s especially difficult for young artists and ensembles who are not yet established within Berlin ’ s independent performing arts community to find an open door in the right place for themselves and their audience, the festival is again dedicating a special focus this year to newcomers within Berlin ’ s theater landscape. The goal in all of this is not only to enchant the audiences, but also to ease access to the production houses for young artists. And, of course, the other way around. 28 Since 2017, the newcomers ’ platform has been called “ Introducing . . . ” and open to any artists, groups, and collectives whose work is based in Berlin or will be based in Berlin, who work professionally but who are not yet professionally established in Berlin ’ s independent performing arts community and who define themselves as “ newcomers ” in the broadest sense. 29 This very broad scope acknowledges that a wide range of artists of different ages, backgrounds and status face problems establishing and securing a professional career in Berlin ’ s independent performing arts and therefore may find “ Introducing . . . ” an attractive proposal. But as much as PAF emphasizes openness, solidarity and support, “ Introducing . . . ” differs from 100 Grad as well as from the overall festival in one key aspect - all acts are explicitly and meticulously selected and curated. In the four years of PAF until 2019, the number of applications to the newcomers ’ platform increased from 80 to 165 per year, while the number of invited acts decreased from 15 to only six. The few chosen ones, after all, are presented prominently, provided with performance fees and technical support, and invited to special mentoring and feedback talks. As for new faces in the scene, this programme values quality over quantity: access to Berlin ’ s independent performing arts becomes exclusive, but those who make it get a fair chance to endure on the professional market. Compared to 100 Grad, the relation between the community of independent performing arts and newcomers now seems reversed: For Amelie Deuflhard, 100 Grad “ presents the humus of theatre, which nourishes the scene. ” 30 Now it is the “ community opening itself ” , which shares its achievements and knowledge with the limited number of newcomers selected to help them sustain their artistic practice. While the influx and market dynamics of the scene seem to be under its own control, the city of Berlin is portrayed as completely open to innovative performing arts - as in this description of the “ Introducing . . . ” programme: 19 (Non)curating the Creative City: From 100 Grad to Performing Arts Festival Berlin artists introduce themselves to a local independent performing arts community, artists present themselves to a new audience, artists encounter the profiles and structure of Berlin ’ s production institutions and the artists mutually get to know each other. They also introduce themselves to the Berlin audience and get ready for their first date - with all of the accompanying butterflies in the stomach and exciting curiosity about the unknown. 31 Berlin: Towards the Creative City This imagined affectionate relationship between artists and the audience is also a new aspect in the discourse of the independent performing arts - especially, as the audience becomes a far more general public: From 100 Grad to PAF, attendance figures have risen from 3,500 to 11,000 - which shows not just an expansion of a community, but a radical transformation of the festival ’ s public sphere, which is now intended to reach “ throughout the entire city [. . . ,] both for a Berlin-based audience as well as interested parties and professionals throughout Germany and abroad ” . 32 The fourth, most momentous aspect of change, therefore, reframes the relationship of the independent performing arts towards the city and puts an end to their former countercultural self-understanding. Instead of taking pride in resisting or decoupling from mainstream culture, the changes for independent performing arts are now seen as identical with the development of Berlin in general. Arts are understood to be an integral and indispensable part of the city ’ s overall culture, and to contribute to shaping its future direction. But what kind of city are the independent performing arts in Berlin imagining, when they claim to represent and mobilize the city as a whole? There is one influential contemporary model in city development which ascribes a crucial position to the artist ’ s community: The “ creative city ” . The debate on the creative city - which has had an immense impact on both academia and policies of urban planning - was primarily initiated by economist Richard Florida. In his Rise of the Creative Class from 2002, Florida puts economic success in a post-industrial age down to the 3 T ’ s a city must bring together: technology, talent and tolerance. 33 The third factor is Florida ’ s boldest proposal: Tolerance - a general openness to diversity - attracts talent as human capital to the city, highly skilled creative workers, who find the environment for their preferred lifestyles, and subsequently bring high-paying jobs with them. The arts and artists seem to be both an indicator of and a propellant for the level of tolerance in a place: Florida advises measuring what he calls the ‘ Bohemian Index ’ , the concentration of artists, designers and entertainers in a city, to determine the degree of tolerance. 34 The idea of the creative city as a global trend in urbanism has clearly resonated with local politics in Berlin: In 2004, the city administration issued its first ‘ Cultural Economy Report ’ ; one year later, Berlin joined the UNESCO Creative Cities Network. 35 Seen in the context of Florida ’ s model, the strong presence of the independent performing arts in all their diversity at PAF indicates Berlin ’ s tolerance and fulfils a function in its cultural development towards an economically successful creative city. It is no coincidence that the festival received its main funding in the first three years from the European Fund for Regional Development within the scope of a programme called “ Promoting the Innovation Potential in Culture ” . The subsequent debate on urban planning has largely taken up the role of artists and the arts as a soft factor for the local economy. 36 Influential urbanist Charles 20 Benjamin Hoesch Landry describes the city as a “ creative ecology ” : A creative city is a place where people feel they can fulfil themselves, because there are opportunities. Things get done. It is a place where people can express their talents which are harnessed, exploited and promoted for the common good. These talents act as a catalyst and role model to develop and attract further talent in a self-reinforcing cycle. 37 For such a productive atmosphere to unfold, Landry recommends developing the ‘ cultural resources ’ of a city by identifying a certain local distinctiveness: “ The aim is to pull attention to the city, to create a richness of association and recognition and to grab profile. ” 38 This strategy has certainly been adopted by urban policymakers in Berlin, which has subsequently gained recognition in the discussion of creative cities, with Landry listing it among only four cities - together with London, New York and Amsterdam - which “ have been comprehensively creative over time ” . 39 The development of distinct cultural resources, though, can only be successful, when it is fuelled by cultural players on all levels. The organizers of PAF make considerable efforts to contribute to the distinct profile of Berlin; LAFT began its founding manifesto from 2007 with a claim to local distinctiveness: “ Berlin has developed more and more into a city of arts and culture. ” 40 Advertising PAF both internally and externally as a showcase of Berlin ’ s creative productivity, the independent performing arts lend themselves to creative city development as a component of a unique Berlin urban landscape, and they aspire to iconic status in the city ’ s cultural self-definition in order to strengthen their position. German sociologist Andreas Reckwitz cites the discourse and practice of the creative city as one dimension of a universal imperative to creativity in contemporary culture. 41 He notices that Florida and Landry - both working not only as scholars, but also as policy consultants - switch constantly from descriptive observations to normative instruction on how to achieve the ideal of the creative city. According to Reckwitz, this ideal mobilizes a self-conception of the city in terms of culture, an observation frame that the city applies to itself through its social actors. 42 Independent performing artists seem to have adopted this self-alienated perception. In announcements and advertising for the Performing Arts Festival, they describe their own community as a culture for the eyes of a foreign observer: “ The festival team looks forward to welcoming you along on a six-day journey through Berlin ’ s independent performing arts community. ” 43 Thus, showcasing the independent performing arts and self-observation of the scene as a distinctive urban culture become one - the creative city strategy is internalized and incorporated. For Reckwitz, this paradigm is a programme of ‘ cultural governmentality ’ of the city, drawing upon Michel Foucault ’ s concept of advanced liberal government as the control over self-control. 44 In contrast to classic urban planning as top-down implementation and stipulation of clear-cut models, the creative city paradigm as a secondorder control system harnesses the initiative and momentum of the community: No one forced the organizers of PAF to align the independent performing arts with the city ’ s strategy of development, but they see this alliance as their most promising means of organising and representing themselves in the city. And they pass the principle of governmentality on: Instead of taking on curatorial responsibility, PAF relies on the self-regulation of participating organizations and individuals in order to ensure artistic quality and fulfil expectations of creativity. Under this paradigm, the difference between curation and uncurated ad- 21 (Non)curating the Creative City: From 100 Grad to Performing Arts Festival Berlin mission dissolves - as both may become power mechanisms pushing towards conformity. Outlook: Arts in the Creative City With the growing realization of these power mechanisms, the ideal of the uncurated selfpresentation of the entire scene is becoming less and less a token of pride and worth preserving. That is why, in the future of the festival, an even stronger, more explicit shift is to be expected from the arts scene ’ s interests towards those of outside visitors: In her opening speech to the 2019 festival, PAF ’ s new artistic director Sarah Israel announced that she was planning to curate the festival more strongly in the coming years. As representing the whole of Berlin ’ s independent performing arts scene is impossible in one festival, she argued, it would instead be a matter of selecting exemplary shows as paradigmatic representatives of the city. In this way, the festival programme would also become more worthwhile visiting for a general audience outside the scene. Subsequently, for the 2020 edition, six theme-based series of programming dedicated to current societal questions were decided on by a six-person selection committee. Applications had to align themselves with one of the programme lines and underwent an aesthetic, thematic and political evaluation process, after which only 40 productions were selected. However, restrictions in the fight against the COVID-19 pandemic prevented the programme from taking place as planned and led to the cancellation of all live events. Instead, a Digital Showroom was established on PAF ’ s website, where all invited artists and participating venues were able to present themselves and their work in videos and trailers, in order to “ provide a virtual tour of Berlin ’ s independent performing arts community ” 45 . In times of unprecedented crisis, PAF resorts to what it apparently understands as its current main mission: presenting the independent performing arts as a productive part of a creative city to an outside observer. Only the coming years will reveal if these latest reforms and experiences have lasting ramifications for the festival. It seems, however, as if the concerns of the founders of 100 Grad and also PAF ’ s initial designers, who rejected curation, may prove valid: The peculiarity and wilfulness of the independent performing arts community are increasingly overruled in order to bring it in line with the city ’ s dominant trends - the development towards a creative city. In a case study on Berlin, Reckwitz characterizes the genesis of the creative city “ as a product of an interference and mutual enforcement of countercultural critique against the functional city and aesthetic capitalism ” . 46 While the different approaches of (non-) curating the creative city had success in making the independent performing arts more visible and bringing them into political discussion and consideration, these strategies are not without risks: According to the creative city paradigm, the strong presence of artists and their scene “ turns out to be an amazingly strong predictor of everything from a region ’ s high-technology base to its overall population and employment growth ” 47 - but the artists themselves do not necessarily benefit. Economic development may be accompanied by increased living costs - in Berlin especially with an exorbitant rise in rents. Exploding costs for accommodation, but also for rehearsal spaces outweigh the moderate increase in public funding and leave many artists with a precarious living. When the co-founder and speaker of Koalition der freien Szene, Christophe Knoch, resigned in 2018, he argued that the situation for the independent arts in Berlin has deteriorated despite higher fund- 22 Benjamin Hoesch ing. Artists used to be able to earn a month ’ s modest cost of living in a week with a side job and invest the rest of their time in artistic work; now, such an income would be consumed entirely by private rents. 48 Thus, securing a professional life may become even more difficult for the majority of independent artists in a creative city. In contrast to the many enthusiastic advocates of the creative city, Reckwitz understands it as a potentially conflicting constellation: A quadrangle of politics, economy, middle-class consumers and artistic communities fight out their diverging interests in self-preservation and expansion. 49 In their development from counterculture to forerunners of the creative city, as reflected in the transition from 100 Grad to PAF, Berlin ’ s independent performing arts gained much recognition as a cultural resource, but may have abandoned their singularity as arts and, paradoxically, lost some ground in this fight. Notes 1 An earlier version of this paper was presented at the International Federation for Theatre Research (IFTR) Conference: “ Theatre, Performance and Urbanism ” , at the Shanghai Theatre Academy, on July 10, 2019. Participation in the conference was made possible by the International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) at the Justus Liebig Universität Gießen. All research was conducted in the nationwide research network “ Crisis and Institutional Transformation in Performing Arts ” , funded by the German Research Society (DFG). 2 “ Background & History. ” https: / / 2019.performingarts-festival.de/ en/ about/ festival [accessed on June 5, 2020]. 3 Florian Malzacher, “ Cause & Result: About a job with an unclear profile, aim and future ” , in: Frakcija 55: Curating Performing Arts (2010), pp. 10 - 19, here: p. 14. 4 Keren Zaiontz, Theatre & Festivals, London 2018, p. 69. 5 Zaiontz, Theatre & Festivals, p. 72. 6 Ibid., p. 73. 7 Ibid., p. 69. 8 As of 2018, according to the information brochure “ Independent Performing Arts Made in Berlin ” , published yearly by LAFT - also online: https: / / pap-berlin.de/ die-bereiche-des-performing-arts-programm/ distribution-und-marketing/ informationsbroschuere/ [accessed on July 31, 2019]. 9 “ Ausschreibung: 100° Berlin Festival 2015. ” http: / / www.ballhausost.de/ produktionen/ 100grad-2015-ausschreibung-de/ [my translation; accessed on July 31, 2019]. 10 Cf. “ Background & History. ” https: / / performingarts-festival.de/ index.php/ en/ about/ festival; “ Herzlich Willkommen zu 100° Berlin 2015! ” https: / / 100grad.wordpress.com/ festival-2/ festival/ [accessed on July 31, 2019]. 11 Cf. Amelie Deuflhard (ed.), Spielräume produzieren. Sophiensæle 1996 - 2006, Berlin 2007; Kirsten Hehmeyer/ Matthias Pees (eds.), Import Export. Arbeitsbuch zum HAU, Berlin 2012. 12 Amelie Deuflhard, “ Ideengenerator Freie Szene. Eine Zwischenbilanz für die Sophiensæle ” , in: Deuflhard (ed.), Spielräume, pp. 66 - 70, here: pp. 67 - 68. 13 Tom Mustroph, “ Theater-Zapping. Das Festival ‚ 100 Grad ‘ ging zuende ” , in: Neues Deutschland, March 2, 2011 [my translation]. 14 Cf. “ Howto: 100° Berlin. Interview mit der 100° Festivalleiterin des HAU, Silke zu Eschendorff. ” https: / / 100grad.wordpress.com/ 2011/ 02/ 25/ howto-100 %c2 %b0-berlin/ [accessed on July 31, 2019]. 15 Cf. Henni Kristin Wiedemann, “‘ Das Festival ist ziemlich einmalig ‘ - Interview mit Christiane Kretschmer. ” https: / / 100grad. wordpress.com/ 2013/ 02/ 22/ das-festival-istziemlich-einmalig-interview-mit-christianekretschmer/ #respond [my translation; accessed on July 31, 2019]. 16 Anna Lazarescu, “ Interview mit Kathrin Veser. ” https: / / 100grad.wordpress.com/ 2013/ 02/ 23 (Non)curating the Creative City: From 100 Grad to Performing Arts Festival Berlin 22/ interview-mit-kathrin-veser/ [my translation; accessed on July 31, 2019]. 17 Cf. Patrick Wildermann, “ Bühne frei! ” , in: Tagesspiegel, June 23, 2017; Patrick Wildermann, “ Requiem für ein Festival ” , in: Tagesspiegel, March 1, 2015 [my translation]. 18 Zaiontz, Theatre & Festivals, p. 72. 19 Cf. Mustroph, “ Theater-Zapping ” . 20 Cf. “ Protokoll der Mitgliedervollversammlung des LAFT Berlin, am 11. 2. 13 im Heimathafen Neukölln, Karl-Marx-Straße 14, 12043 Berlin. ” https: / / www.laft-berlin.de/ uploads/ media/ MitgliederversammlungProtokoll11. 02. 13.pdf [accessed on July 31, 2019]. 21 “ Protokoll der Mitgliedervollversammlung des LAFT Berlin, am 24. 03. 2015 in der Vierten Welt, Adalbertstr.4, Galerie, 10999 Berlin. ” https: / / www.laft-berlin.de/ fileadmin/ user_upload/ LAFT_Berlin_Mitgliederversammlung_Protokoll_24. 03. 2015_01.pdf [my translation; accessed on July 31, 2019]. 22 “ Bericht des Vorstands, September 2014 bis September 2015. ” https: / / www.laft-berlin. de/ berichte-des-vorstands/ bericht-september-2014-bis-november-2015.html? L=824 [my translation; accessed on July 31, 2019]. 23 https: / / performingarts-festival.de/ index.php/ en/ about/ festival [accessed on July 31, 2019]. 24 Cf. Wildermann, “ Requiem ” . 25 The existence of so many independent art and theatre venues as well as their (re)activation by the festival are a result of the radical changes in Berlin after the fall of the Iron Wall; vacancies and unclear issues of property in former industrial, administrative or representational buildings made way for experimental usage, some of which was able to be perpetuated or later resumed. Cf. Bastian Lange, Die Räume der Kreativszenen. Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin. Bielefeld 2007, p. 20. 26 “ FAQs for Open Submissions Format of the 2019 Festival. ” https: / / archive.performingarts-festival.de/ en/ 2019/ about/ open-calls/ open-submissions/ faqs/ [accessed on July 31, 2019]. 27 Cf. “ Performing Arts Festival Berlin. 23. - 29. Mai 2016. ” https: / / archive.performingarts-festival.de/ en/ 2016/ [accessed on July 31, 2019]. 28 “ More about Introducing. ” https: / / archive. performingarts-festival.de/ en/ 2017/ extras/ introducing/ more-about-introducing/ [accessed on July 31, 2019]. 29 “ The 2019 Newcomers ’ Platform Introducing . . . ” https: / / archive.performingarts-festival.de/ en/ 2019/ about/ open-calls/ introducing/ [accessed on July 31, 2019]. 30 Deuflhard, “ Ideengenerator ” , p. 68 [my translation]. 31 “ Introducing . . . ” https: / / 2019.performingarts-festival.de/ en/ 2019/ program/ introducing [accessed on June 5, 2020]. 32 https: / / performingarts-festival.de/ en/ about/ festival [accessed on July 31, 2019]. PAF ’ s ‘ theatrical public sphere ’ is understood here in the sense Christopher Balme calls its ‘ institutional matrices ’ : “ Theatre ’ s very institutionalized status can engender a vigorous public sphere because it is part of the cultural body politic of a community ” ; clearly, institutional transformation also changes this theatrical public sphere. Christopher B. Balme: The theatrical public sphere. Cambridge 2014, p. 45. 33 Cf. Richard Florida, The Rise of the Creative Class: And How It ’ s Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life, New York 2002, p. 249 - 266. 34 Cf. ibid., p. 260. 35 Cf. Andreas Reckwitz, “ Kreative Stadt Berlin? Zur Selbstkulturalisierung des Urbanen im ästhetischen Kapitalismus ” , in: Lettre International 86 (2009), pp. 181 - 185. 36 Cf. David Emanuel Andersson/ Åke E. Andersson/ Charlotta Mellander (eds.), Handbook of Creative Cities. Northampton 2011. 37 Charles Landry, “ A roadmap for the creative city ” , in: Andersson/ Andersson/ Mellander, Creative Cities, pp. 517 - 531, here: p. 521. 38 Ibid., p. 523. 39 Ibid., p. 517. 40 Landesverband Freie Theaterschaffende Berlin e. V., “ Manifest. ” https: / / www.laft-berlin. de/ uploads/ media/ Manifest_LAFT_Berlin_22. 11. 2008.pdf [my translation; accessed on July 31, 2019] 24 Benjamin Hoesch 41 Cf. Andreas Reckwitz, The Invention of Creativity: Modern Society and the Culture of the New. Malden, 2017. 42 Cf. Andreas Reckwitz, Kreativität und soziale Praxis: Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2016, p. 156. 43 “ Editorial ” , in: LAFT Berlin (ed.): Performing Arts Festival Berlin. Berlin 2019, p. 7. 44 Cf. Reckwitz, Kreativität und soziale Praxis, pp. 161 - 162. 45 https: / / performingarts-festival.de/ en/ digitalshowroom/ contributions-paf-2020 [accessed on June 5, 2020]. 46 Reckwitz, “ Kreative Stadt Berlin? ” , p. 184 [my translation]. 47 Florida, The Rise of the Creative Class, p. 260. 48 Cf. Daniel Stoecker, “ Wenn die Möglichkeit zu scheitern fehlt ” , in: taz, April 12, 2018. 49 Cf. Reckwitz, Kreativität und soziale Praxis, p. 182. 25 (Non)curating the Creative City: From 100 Grad to Performing Arts Festival Berlin Themenheft: Gender und Kritik herausgegeben von Rosemarie Brucher und Jenny Schrödl Editorial - Gender und Kritik Rosemarie Brucher (Wien) und Jenny Schrödl (Berlin) Verschiedene Auseinandersetzungen mit der Kategorie ‚ Geschlecht ‘ in den szenischen Künsten in Gegenwart und Geschichte verstehen sich selbst als kritisch oder werden mit dem Anspruch verbunden, hegemoniale Normen von Geschlechtlichkeit zu durchbrechen oder zu unterminieren. Die Strategien und Formen der Kritik sind äußerst heterogen und reichen von sogenannten Genderperformances - etwa in Form von Geschlechter-Parodie, Maskerade oder Cross-Dressing - über inhaltliche Auseinandersetzungen, sprachliche oder ästhetische Prozesse der Dekonstruktion, bis hin zu Figuren des Dritten, wie etwa Cyborgs oder Monster. Ebenso vielfältig sind die Gegenstände der Kritik, die bestimmte dominierende Bilder von Weiblichkeit, Männlichkeit oder Geschlechtlichkeit ebenso einschließen wie Zweigeschlechtlichkeit, Heterosexualität bzw. Heteronormativität, Ungleichheiten oder Diskriminierungen bzw. Privilegierungen. Häufig betreffen sie neben Gender auch andere Identitätskategorien (race, class, age, dis/ ability etc.). Zudem werden im Zuge dieser kritischen Auseinandersetzungen alternative Formen geschlechtlich-sexuellen Seins präsentiert, die hegemoniale Perspektiven konsequent überschreiten. In den darstellenden Künsten sind auf diese Weise diverse Möglichkeiten der Kritik an normativen Setzungen entstanden wie auch Utopien zur Überschreitung von Geschlechtergrenzen oder zu anderen Formen geschlechtlicher Existenz. Derartige geschlechtliche Inszenierungen verweisen stets auf eine konstitutive Brüchigkeit und Ambivalenz von Kritik selbst. In diesem Sinne stellt beispielsweise Judith Butler bereits in Gender Trouble fest, dass Genderperformances im Sinne von Parodie, Travestie oder Drag nicht per se als subversiv gewertet werden dürfen. „ Die Parodie an sich ist nicht subversiv. “ 1 Zudem scheint sich Kritik immer in einem Verhältnis zur Norm bewegen zu müssen, die sie auch noch im kritischen Gestus der Verwerfung perpetuiert und so letztlich erhält. Aus diesem Grund wird vielfach von einer Krise der Kritik gesprochen. Die Modelle einer möglichen kritischen Praxis vervielfältigen sich. 2 Blieb lange unhinterfragt, dass Kritik Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit und nach den Grundlagen für die Gestaltung und Veränderung von Wirklichkeit stellt und damit eine intellektuelle Distanzierungstechnik ist, so schlägt beispielsweise Bruno Latour einen anderen Kritikbegriff vor. „ Der Kritiker [sic! ] ist nicht derjenige, der entlarvt, sondern der, der versammelt. “ 3 In den Arenen der Versammlung können und sollen sich dann alle Betroffenen mit Dingen von Belang ( „ matters of concern “ ) auseinandersetzen. In der Queer Theory wiederum wird kritisches Denken mehr und mehr als ein „ fabulierendes Neuerfinden “ 4 oder Erschaffen konträrer Epistemologien 5 verstanden, wobei mit der Kategorie Gender ein vielfältiges Ensemble an lebendigen, hybriden und minoritären Subjektivitäten bezeichnet wird. Kritik als imaginative Kraft ist hier nicht mehr allein theoretische Analyse, sondern ist als wirksame Praxis längst auch in den Bereich der Affekte und Emotionen vorgedrungen, der im Sinne der „ Public Feelings “ 6 durchaus als öffentlicher Raum verstanden wird. 7 Für das Theater sind all diese Dimensionen - die rationale Distanznahme, die Versammlung der Betroffenen, das minori- Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 29 - 30. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0004 täre Fabulieren sowie die kritische Kraft des Affektiven - konstitutiv, weshalb der theatrale Raum (und nicht erst die Performance) geradezu prädestiniert scheint für verschiedene Formen der Kritik. Das Theater selbst lässt sich aber auch als ambivalenter Ort zwischen dem Streben nach ästhetischer Freiheit und sozialen Begrenzungen bzw. Zwängen verstehen: Auf der einen Seite werden auf der Bühne gesellschaftliche Verhältnisse einer Kritik unterzogen, auf der anderen Seite werden auf institutioneller oder produktionsästhetischer Ebene nicht selten geschlechtsspezifische Ungleichheiten, Diskriminierungen oder Privilegierungen reproduziert. Vor diesem Hintergrund situiert sich das Themenheft Gender und Kritik, welches im Kontext von Diskussionen der Arbeitsgruppe Gender der Gesellschaft für Theaterwissenschaft e. V. entstanden ist und ausgewählte Aufsätze aus dieser AG versammelt. 8 Anlass der Auseinandersetzung war der Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft e. V. „ Theater als Kritik “ in Frankfurt a. M./ Gießen (03. - 06. 11. 2016), 9 bei der die AG ein Panel zu „ Gender als kritische Kategorie in der Theaterwissenschaft “ gestaltete. Die Beiträge argumentieren entsprechend vor allem aus theaterwissenschaftlicher, tanz- und kulturwissenschaftlicher sowie gender- und queertheoretischer Perspektive. Im Fokus stehen verschiedene Schwerpunkte: ein Verständnis von künstlerischtheatraler Kritik als Praxis der „ Entunterwerfung “ (Gerald Siegmund); das Verhältnis von Subversion und Affirmation bei Genderinszenierungen im zeitgenössischen (Stadt- )Theater (Miriam Dreysse) sowie in sozialkünstlerischen Theaterprojekten (Melanie Hinz); die Verbindung von Kritik und Utopie in der Queer Theory (Annette Bühler-Dietrich) sowie in der aktuellen feministischen Performancekunst bei Henrike Iglesias (Neslihan Arol); das Widerstandspotential von Schönheit in Choreographien der Gegenwart (Julia Ostwald). Darüber hinaus wird ausgelotet, inwiefern durch ästhetische Erfahrungen in Performance und Tanz ein „ postsouveräner Körper “ erlebt und so Kritik an Konzepten des „ souveränen Subjekts “ geübt werden kann (Bettina Wuttig). Schlussendlich ist uns ein kritischer Blick auf eindimensionale Vorstellungen von Kritik ebenso wichtig wie das Erheben eines kritischen Anspruchs von Theater sowie von (Theater-)Wissenschaft. In Zeiten, in denen kritische Wissenschaft im Allgemeinen, ‚ Genderthemen ‘ im Besonderen (rechts-)populistischen Anfeindungen ausgesetzt sind, ist es besonders wichtig, sich reflektiert und nuanciert mit Fragen von Kritik ebenso wie mit Fragen von Gender auseinanderzusetzen. Anmerkungen 1 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991, S. 204. 2 Rahel Jaeggi, Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? , Frankfurt a. M. 2009, S. 9. 3 Bruno Latour, Elend der Kritik: Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Berlin 2007, S. 55. 4 Vgl. Donna Haraway: „ SF: Science Fiction, Speculative Fabulation, String Figures, So Far. ” https: / / people.ucsc.edu/ ~haraway/ Files/ PilgrimAcceptanceHaraway.pdf [Zugriff am 08. 06. 2020]. 5 Vgl. Jack Halberstam, The Queer Art of Failure, Durham 2011. 6 Vgl. Ann Cvetkovich, Depression: A Public Feelings Project, Durham 2012. 7 Vgl. Sarah Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, Edinburgh 2014; Lauren Berlant, Cruel Optimism, Durham 2011. 8 https: / / www.theater-wissenschaft.de/ forschung/ arbeitsgruppen/ [Zugriff am 08. 06. 2020]. 9 https: / / www.theater-wissenschaft.de/ kongresse/ kongress-2016/ [Zugriff am 08. 06. 2020]. 30 Rosemarie Brucher/ Jenny Schrödl Gender-Spielräume: Entunterwerfung als kritische Praxis Gerald Siegmund (Gießen) Der Text entwirft unter Rekurs auf Michel Foucault und Judith Butler ein Verständnis von Kritik als einer Praxis der ‚ Entunterwerfung ‘ und damit der Desubjektivierung, was andere Formen von Subjektivität erprobt, die sich ihrerseits als ästhetische Praktiken selbst wieder aufs Spiel setzen. Sofern sich Kritik in ihrem Widerstand gegen bestimmte Regierungsformen des Subjekts wendet, sind derartige Einsprüche und Verschiebungen auch zu verstehen als kritische Wendungen gegen hegemoniale Ordnungen und damit also auch gegen heteronormative und patriarchale Gender-Ordnungen. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht die Frage, wie sich Kunst, Kritik und Gender zusammendenken lassen. Dabei spielt die Figur der ‚ Entunterwerfung ‘ des Subjekts, wie sie Judith Butler im Anschluss an Michel Foucaults Auseinandersetzung mit Immanuel Kants Philosophie der Aufklärung herausgearbeitet hat, eine wichtige Rolle. Kritik erscheint zunächst als eng verbunden mit der Aufklärung. In Anlehnung an Kant definiert Michel Foucault Kritik als „ die Kunst, nicht regiert zu werden “ 1 . Unter Verwendung seines eigenen Verstandes sich die Frage zu stellen, wie man nicht regiert werden möchte oder genauer: „ nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert “ 2 werden möchte, heißt, seinen Verstand im Sinne einer Kritik der Verhältnisse zu gebrauchen. Damit versteht Foucault Kritik als Einspruch gegen kirchliche, staatliche und elterliche Gesetze, mithin als ein Ausloten der Grenzen der Regierbarkeit. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung. 3 Die Frage, die Judith Butler anknüpfend an Foucaults Definition von Kritik stellt, ist die Frage nach der Möglichkeit der ‚ Entunterwerfung ‘ und damit der Transformation der Verhältnisse. Wie kann durch Kritik eine ‚ Entunterwerfung ‘ und damit eine ‚ Entsubjektivierung ‘ , insofern Subjektivität ohne Unterwerfung nicht möglich ist, in Gang gesetzt werden? 4 Foucaults Überlegungen zur Kritik stehen in seinem Werk an der Schnittstelle von machtheoretischen Fragen auf der einen und seinen späteren Überlegungen zu einer Ästhetik der Existenz auf der anderen Seite. Er versteht Macht als unpersönliche ‚ Kraft ‘ , die bestimmte Dinge möglich, andere unmöglich macht und die zugleich einhergeht mit der Möglichkeit von Freiheit und Widerstand, welche wiederum den Subjekten eine Haltung abverlangen und ihnen eine Eigenmächtigkeit zur Veränderung zusprechen. Sofern sich Kritik in ihrem Widerstand gegen „ jedwede Regierung “ und deren Arten und Weisen des Regierens auf „ universale und unverjährbare Rechte “ 5 stützen zu können glaubt, sind derartige Einsprüche und Verschiebungen auch zu verstehen als kritische Wendungen gegen hegemoniale Ordnungen und damit also auch gegen heteronormative und patriarchale Gender- Ordnungen. Obwohl Butlers Lektüre mit Foucault anknüpft an Kants Philosophie der Aufklärung, mithin also viel grundsätzlicher argumentiert, als es partikulare Frei- Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 31 - 34. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0005 heitsansprüche erlauben, trägt sie dennoch unmissverständlich Spuren ihrer in Gender Trouble (1990) und Bodies That Matter (1993) erarbeiteten Gender-Theorie. Aus den Spannungsfeldern der Kritik zwischen Norm, die sich performativ verkörpert, und deren Entsetzung durch Differenzen, zwischen Allgemeinem und Besonderem, Utopie und Gegebenem, lassen sich sowohl im Hinblick auf künstlerische Praktiken als auch im Hinblick auf die Gender-Problematik zentrale Beobachtungen ableiten. Letztere erscheint vor diesem Hintergrund als künstlerische Praxis, die Einspruch erhebt gegen hegemoniale Vorstellungen von Gender. Butlers Gender-Projekt erweist sich aus dieser Perspektive auch als Projekt der Aufklärung, weil es ein kritisches Projekt sein möchte, das die Freiheit des Subjekts, selbst zu denken und das Unaussprechliche aussprechen zu wollen, ins Spiel bringt. Für Butler ist der Grund entunterwerfender Praktiken der zunehmende Rationalisierungszwang innerhalb einer von biopolitischen Strategien durchdrungenen gesellschaftlichen Ordnung, die trotz umfassender Durchdringung von Macht und Leben das Leben der Einzelnen nicht mehr fassen kann. Die Rationalisierungskapazität erreicht ihren ‚ Furor ‘ und ihre Grenzen, wo sie das Subjekt, das sie unterwirft, erfasst und durchdringt. Die Macht umgrenzt, was ein ‚ Subjekt ‘ sein kann, sie zieht die Grenzen, jenseits derer es nicht länger ‚ ist ‘ oder jenseits welcher es in einen Bereich suspendierter Ontologie gerät. 6 Entunterwerfung als kritische Praxis zeige dann „ die Zerbrechlichkeit und Transformationsfähigkeit der Episteme der Macht “ 7 . Das Subjekt stößt innerhalb seines Lebensbereichs, innerhalb seines ‚ epistemologischen Feldes ‘ des Seins, des Wissens und des Handelns, an die Grenzen ebendieses Feldes. „ Die Kategorien “ , so Butler, „ mit denen das soziale Leben geregelt ist, bringen eine gewisse Inkohärenz oder ganze Bereiche des Unaussprechlichen hervor. “ 8 Die Praxis der Kritik als Entunterwerfung resultiert daher „ vom Riss im Gewebe “ 9 der Ordnung. Foucault setzt an die Stelle dieses rätselhaften Agens, das sich im Riss hegemonialer Ordnungen plötzlich auftut, die „ ursprüngliche Freiheit “ des Menschen. Diese Freiheit kann er nicht begründen, sie dient ihm aber, so Butler, als Denknotwendigkeit, um im Inneren des Diskurses ein „ Nichtwissen “ 10 platzieren zu können, das die Verhältnisse und das Subjekt selbst in Bewegung versetzt. Die Freiheit ist eine rein strategische oder gar, wie Foucault sagt, fiktionale Annahme, die dem Subjekt aber reale Freiräume erspielt. Foucaults Bezeichnung von Kritik als ‚ Kunst ‘ ist vor dem Hintergrund dieses Gedankengangs mehr als nur eine rhetorische Floskel. Sie zielt vielmehr auf den Kern der Sache: Kritik, die die „ Selbstformierung des Subjekts aufs Spiel “ setzt, 11 ist eine ästhetische Praxis. Als ästhetische Praxis bringt sie hervor, was sie aufs Spiel setzt und setzt aufs Spiel, was sie hervorbringt. Die „ natürliche Freiheit “ des Menschen ist, wie es Christoph Menke formuliert, „ die Intervention ästhetischer Freiheit “ als „ spielerische Selbstüberschreitung “ . 12 Die Überlegungen Foucaults und Butlers führen zu einer Vorstellung von Existenz als Lebensform, der eine gewisse ästhetische Qualität eigen ist. Darunter [den Künsten der Existenz] sind gewusste und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht. 13 Foucault beschreibt damit auch subkulturelle Praxen sexueller (schwuler) Minderhei- 32 Gerald Siegmund ten, wie er sie seit den späten 1970er Jahren während seiner Aufenthalte in Kalifornien kennengelernt hatte. Insofern lässt sich Foucaults Ansatz, Kritik zu denken, von Anfang an als eng verwoben mit Gender- und Sexualiäts-Politiken verstehen. Dass Lebensformen gewisse „ ästhetische Werte “ tragen, macht sie jedoch noch nicht zu Kunst. Vielmehr markieren diese Praktiken eine Schnittstelle zwischen Kunst und Leben, die aber nicht nur der Lebenspraxis, sondern auch der Kunst eine andere Funktion im Spiel zwischen Setzung und Entsetzung zuschreibt. Ästhetische Praktiken bringen Subjekte performativ hervor, sie setzen, wie Butler vermerkt, eine „ Poiesis “ 14 des Subjekts in Gang. Im Gegensatz zur normstabilisierenden Performativität erscheint die „ gewusste “ Performance aber als Freiheit, weil sie aus freien Stücken entworfen wird und dabei frei ist, eine „ Irrealitätsthese “ 15 zu setzen - nicht so, aber so - , wie es Jean-Paul Sartre im Hinblick auf die menschliche Fähigkeit der Imagination beschreibt: als Freiheit, sich und die Welt zu imaginieren und in der künstlerischen Praxis zu befragen und anders hervorzubringen. Zwischen unbewusst sich vollziehenden performativen Akten, die soziale Praktiken normieren, und bewusster Performance, die freisetzt, liegen Akte der Entunterwerfung und der Desubjektivierung, die andere Formen von Subjektivität erproben und diese im Bereich des Möglichen halten. Nicht so, aber vielleicht so. Theater hat nicht nur die Möglichkeit, die Dinge zu zeigen, sondern auch das Zeigen des Zeigens zu kommunizieren. Dadurch vermag es Geschlechterrollen nicht nur zu exponieren, sondern sie auch in ihrer Konstruktion einsehbar und beobachtbar zu machen. Basiert Theater immer auf Wiederholungen, vermag es in der Wiederholung von Geschlechternormen Differenzen zu erzeugen und Verschiebungen vorzunehmen und diese öffentlich zur Diskussion zu stellen. Die Freiheit der Performance bedeutet demnach nicht, dass performativ gefestigte Normen einfach außer Kraft gesetzt werden könnten. Ruft doch jede Verschiebung unweigerlich die Norm erneut auf. Es kann im Theater also nur darum gehen, im bewussten Umgang mit Geschlechternormen Abstände und Entgegensetzungen zu erspielen, um dadurch Haltungen zu gewinnen, diese miteinander zu konfrontieren und zu reflektieren. Dies kann auf vielfältige Arten und Weisen geschehen. Wie etwa geht das Theater mit Fragen der Repräsentation von Geschlechterrollen um: Wer wird wie repräsentiert und zu welchem Zweck? Wie sind die Darstellungen der Geschlechterverhältnisse in den Aufführungen gerahmt und welche Auswirkungen haben Rahmenverschiebungen und -überlagerungen oder Perspektivwechsel für die Wahrnehmung von Gender und dessen Bedeutung? Will Theater seinen ästhetischen Anspruch nicht verlieren, kann es dabei jedoch nicht allein um identitätspolitisch korrekte oder wünschenswerte Darstellungen von Geschlechterverhältnissen gehen. Da das Subjekt ohnehin nie genau wissen kann, was durch seine realisierte Darstellung „ opak, unbewußt, nicht ausführbar bleibt “ 16 , käme dies einer Setzung von Identität gleich, die es doch im Horizont der Kritik gerade zu ent-setzen gilt. Foucaults und Butlers Vorstellung der Entsetzung normierter Identitäten zielen dagegen auf zu erprobende Subjektivitätsentwürfe, von denen das Subjekt selbst noch nicht wissen kann, ob diese gelingen. Die durch Freiheit gewonnenen Entwürfe anderer Formen von Subjektivität führen ins Offene. Sie müssen daher notgedrungen prekär und unabgeschlossen bleiben und sich im ästhetischen Vollzug stets erneut aufs Spiel setzen. Butler spricht daher von einer „ Praxis der Kritik “ 17 , die sich durch ständiges Üben und Überschreiten erproben muss. Neben Fragen der Repräsentation sind im Wechselspiel von Performativität und Performance zu- 33 Gender-Spielräume: Entunterwerfung als kritische Praxis dem produktionsästhetische Fragen angesprochen. Wie üben Theaterkünstler*innen auf den Proben Haltungen ein und auf welche Weise kommunizieren sie diese ihrem Publikum? In der ästhetischen Praxis verschränken sich Kunst und Leben, die sich gegenseitig in ihrer jeweiligen Form der Existenz - normierend/ entsetzend - aufs Spiel setzen. Anmerkungen 1 Michel Foucault, Was ist Kritik? , Berlin 1992, S. 12. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 15. 4 Judith Butler, „ Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend “ , in: Rahel Jaeggi und Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik? , Frankfurt a. M. 2009, S. 221 - 246. 5 Ebd., S. 233. 6 Ebd., S. 238. 7 Ebd., S. 239. 8 Ebd., S. 226. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 243. 11 Ebd., S. 244. 12 Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 157. 13 Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a. M. 1986, S. 18. 14 Butler, „ Was ist Kritik? “ , S. 224. 15 Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 284. 16 Judith Butler, Körper von Gewicht, Frankfurt a. M. 1997, S. 321. 17 Butler, „ Was ist Kritik? “ , S. 222. 34 Gerald Siegmund Kritische Identitäten. Subversive Strategien der Inszenierung von Gender in Theater und Performance Miriam Dreysse (Berlin) Der Aufsatz befragt zeitgenössischesTheater und Performance auf das kritische Potential der Inszenierung von Geschlechtsidentitäten. Mit Judith Butler wird von der Performativität der Geschlechtsidentität und der Möglichkeit ausgegangen, die zwingende Wiederholung der performativen Akte zu verfehlen. Verschiedene theatrale Strategien der Subversion normativer Geschlechterbilder und des binären Geschlechtermodells wie z. B. Verfremdung, Parodie, Cross-Dressing und Maskerade werden auf ihr kritisches Potential hin untersucht. Dabei zeigt sich, dass Praktiken wie Cross-Dressing in der theoretischen Literatur unterschiedlich eingeschätzt werden, und es notwendig ist, den Einzelfall zu betrachten. Gerade das Cross-Dressing erweist sich als zwiespältig, da es Gefahr läuft, die Normen, die es kritisieren will, zu bestätigen. Das kritische Potential liegt in einer Hinterfragung des „ Begriffs des Originals als solchem “ (Butler) sowie in der Eröffnung von Räumen, die Ambivalenzen zulassen, Identitäten suspendieren und so das binäre Geschlechtermodell subvertieren. Dies wird möglich durch eine Verhandlung, Aneignung und Umdeutung der Konventionen ‚ mit und gegen ‘ die herrschende Norm. Im deutschsprachigen Sprechtheater ist recht häufig zu beobachten, dass Inszenierungen von Dramentexten, die auf inhaltlicher Ebene Geschlechterrollen in Frage stellen, durch die Ausstattung und einen realistischen Schauspielstil auf ästhetischer Ebene Geschlechternormen reproduzieren. So werden beispielsweise in Dea Lohers Am Schwarzen See bürgerliche Normen hinterfragt, in der Uraufführung 2012 am Deutschen Theater Berlin diese Normen aber auf ästhetischer Ebene durch Kostüm, Körperhaltungen und -bewegungen, Sprechweise etc. naturalisiert. Eine solche Naturalisierung von Konventionen geschieht meist durch eine abbildende Darstellung, die auf Distanz zum Dargestellten weitgehend verzichtet. Im Fall von Andreas Kriegenburgs Loher-Inszenierung beispielsweise tragen beide Ehemänner Anzug oder Jeans und Hemd, die beiden Ehefrauen ein dünnes Kleidchen oder Rock und Bluse, die Männer sitzen breitbeinig und versuchen, ihre Gefühle im Zaum zu halten, während die Frauen die Knie zusammenpressen und weinen und schreien dürfen. All dies geschieht auf ungebrochene, realistische Weise. So werden bürgerliche Normen zwar auf der Ebene des Textes hinterfragt, nicht aber auf der Ebene der Darstellung; diese führt letztlich zu einer affirmativen Reproduktion der Konventionen. Welches aber sind die theatralen Mittel, solche konventionalisierten Zeichen zu markieren und ihre normative Macht offenzulegen? Und welche subversiven Strategien können in den darstellenden Künsten zur Auflösung des binären Geschlechtermodells beitragen? Diesen Fragen soll im Folgenden auf der Grundlage von Judith Butlers konstruktivistischer Identitätstheorie nachgegangen werden. Es kann dabei nicht darum gehen, eindeutige Antworten im Sinne klar voneinander geschiedener Kategorien zu erzielen, dafür ist das Feld der darstellenden Künste zu vielfältig und die Pluralität und Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 35 - 52. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0006 Simultaneität der Mittel lässt ihre kategoriale Trennung widersinnig erscheinen. Dennoch wird versucht, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, auf diese Weise verschiedene Strategien zu benennen und, soweit möglich, voneinander zu differenzieren. Laut Butler sind die Möglichkeiten der Subversion gerade in der Performativität der Geschlechtsidentität begründet, sie liegen der Wiederholungsstruktur der performativen Akte, die die Geschlechtsidentität konstituieren, immer schon inne, denn die Wiederholung könne auch verfehlt werden: Die Möglichkeiten zur Veränderung der Geschlechtsidentität sind gerade in dieser arbiträren Beziehung zwischen den Akten zu sehen, d. h. in der Möglichkeit, die Wiederholung zu verfehlen bzw. in einer De- Formation oder parodistischen Wiederholung, die den phantasmatischen Identitätseffekt als eine politisch schwache Konstruktion entlarvt. 1 Während der Begriff der Performativität von Geschlecht sich bei Butler auf die Erzeugung von Geschlechtsidentitäten durch die zwingende Wiederholung performativer Akte bezieht, ist die Hervorbringung von Identitäten, Körperbildern und Bedeutungen auf dem Theater eine willkürliche, bewusste. Dies ermöglicht es dem Theater, die Wiederholung willentlich zu verfehlen, Identitäten zu dekonstruieren und nichtnormative Geschlechterbilder hervorzubringen. In Gender Trouble verweist Butler darauf, dass die „ subversiven Möglichkeiten von Sexualität und Identität im Rahmen der Macht selbst “ zu verorten seien, da es „ keine radikale Zurückweisung einer kulturell konstruierten Sexualität geben “ könne und wir unweigerlich in der „ Konstruktion “ gefangen seien. 2 Die kritische Aufgabe bestehe folglich darin, „ das Gesetz zu wiederholen und es dabei nicht zu festigen, sondern zu verschieben. “ 3 Auch im zeitgenössischen Theater und der Performance positioniert Kritik sich meist nicht außerhalb des zu Kritisierenden, sondern versucht, von innen oder von den Rändern her durch ‚ Verschiebungen ‘ zu wirken. Ich möchte im Folgenden einige Möglichkeiten solch verschiebender Formen der Wiederholung nachzeichnen und auf ihr subversives Potential hin untersuchen. Verfremdung Judith Butler zufolge ist die Naturalisierung der Geschlechtsidentitäten, die „ Produktion des Geschlechts als vordiskursive Gegebenheit “ , wesentlich für die Glaubhaftigkeit und Stabilität des binären Geschlechtermodells. 4 Für eine Kritik dieses Modells ist es mithin notwendig, seine „ grundlegende Unnatürlichkeit “ zu enthüllen und die Naturalisierungsprozesse als solche kenntlich zu machen. 5 Übertragen auf das Theater, entspricht diese „ Entnaturalisierung als einer kritischen Strategie “ 6 einer Verfremdung der Darstellung. Für Brecht ist „ eine verfremdende Abbildung [. . .] eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn aber doch zugleich fremd erscheinen lässt. “ 7 In dieser Formulierung ist bereits die Problematik der Verfremdung, die auch grundsätzlich die Möglichkeiten der Kritik betrifft, ersichtlich, nämlich die Nähe zum Kritisierten. Die Verfremdung als kritische Praxis bewahrt die Norm auch immer, indem sie sie kritisiert. Sie zeigt aber auch die Veränderbarkeit der Norm: „ Verfremden heißt also Historisieren, heißt, Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen. “ 8 Die Verfremdung der Darstellung eröffnet eine Distanz zwischen Betrachter*in und Betrachtetem, lässt das Dargestellte als Konstruktion kenntlich werden und ermöglicht so Kritik: 36 Miriam Dreysse Es handelt sich hierbei, kurz gesagt, um eine Technik, mit der darzustellenden Vorgängen zwischen Menschen der Stempel des Auffallenden, des der Erklärung Bedürftigen, nicht Selbstverständlichen, nicht einfach Natürlichen verliehen werden kann. Der Zweck des Effekts ist, dem Zuschauer eine fruchtbare Kritik vom gesellschaftlichen Standpunkt zu ermöglichen. 9 Auch Brecht spricht von einer Wiederholungsstruktur: „ Die Vorführung des Straßendemonstranten hat den Charakter der Wiederholung [. . .]. Folgt die Theaterszene hierin der Straßenszene, dann verbirgt das Theater nicht mehr, daß es Theater ist. “ 10 Die Verfremdung macht also deutlich, dass es sich bei der Darstellung um eine Wiederholung handelt, anstatt die Illusion eines Originals zu erzeugen. Dies tut sie, indem sie die Wiederholung ‚ unterbricht ‘ , wie Brecht sagt: Der Straßendemonstrant unterbricht, so oft es ihm möglich erscheint, seine Imitation mit Erklärungen. Die Chöre und projizierten Dokumente des epischen Theaters, das Sich-direkt-an-die-Zuschauer-Wenden seiner Schauspieler sind grundsätzlich nichts anderes. 11 Die Unterbrechung der Handlung, aber auch der Einheit von Schauspieler*in und Rolle und letztlich auch der Identität der Rolle selbst hat eine distanzierende Wirkung und vermag, die Geschlossenheit der Repräsentation aufzubrechen und damit auch einen Möglichkeitsraum für Anderes zu eröffnen. Ähnlich wie Butler geht es Brecht dabei letztlich um eine Infragestellung des Originals als solchem; Darstellung wie Dargestelltes werden als historische Konstruktion und damit als veränderbar ausgewiesen. Verfremdende Mittel spielen im zeitgenössischen Theater eine wichtige Rolle. Auch für eine kritische Reflexion normativer Geschlechterrollen werden sie häufig eingesetzt. 12 Stereotype werden beispielsweise durch Übertreibung oder Isolation ausgestellt und auf diese Weise entnaturalisiert. So verwirrt z. B. Frank Castorf geschlechtliche Zuschreibungen durch Übertreibung und Montage. Schauspielerinnen tragen hohe Pumps und enge Röcke, verwenden aber gleichzeitig klischierte Zeichen für Männlichkeit wie breitbeinige Posen, energische Körperbewegungen oder eine laute, tiefe Stimme. Umgekehrt wirkt etwa Hermann Beyer in Das Duell (Volksbühne Berlin 2013) als einziger Mann neben acht Schauspielerinnen äußerst mütterlich. Auf diese Weise wird die Verbindung von Anatomie und Geschlechtsidentität unterbrochen und Mütterlichkeit als biologische Eigenschaft der Frau denaturalisiert. Die Übertreibung als Form der Verfremdung kann aber auch affirmativ wirken, da die Normen, die kritisiert werden sollen, zugleich reproduziert werden. So schreibt Butler, es gebe „ Grenzen der Entnaturalisierung als kritischer Strategie “ 13 und „ keinerlei Garantie, dass ein Bloßstellen des naturalisierten Status der Heterosexualität zu deren Umsturz führen wird. “ 14 Im Gegenteil könnten entnaturalisierende Parodien heterosexuelle Normen erneut idealisieren, ohne sie in Frage zu stellen. Ähnlich wie die Ironie, brauchen auch die Übertreibung und andere verfremdende Mittel ein ‚ cutting edge ‘ , um politisch subversiv zu wirken. Doris Leibetseder bezieht sich mit diesem Begriff auf Linda Hutcheon, der zufolge Ironie, im Unterschied z. B. zu Metapher oder Metonymie, ein ebensolches „ edge “ habe und auch Menschen „ on edge “ bringen könne. 15 Hutcheon zufolge ist diese Kante oder Schärfe der Ironie bewertend, hat aber auch eine grundlegende Ambiguität zur Folge, da die Ironie zwei verschiedene Bedeutungen zum Oszillieren bringe. Leibetseder betont, dass „ für eine subversive Ironie die eindeutige Erkennbarkeit des ‚ cutting 37 Kritische Identitäten. Subversive Strategien der Inszenierung von Gender in Theater und Performance edge ‘ mit einer politischen Schärfe vorhanden sein “ müsse, und dass es sich bei dieser Schärfe um eine „ politische Nachricht “ mit Bewertung handle. 16 Ambiguität reicht Leibetseder zufolge nicht aus, um politisch subversiv zu wirken. 17 Die Möglichkeit einer solchen politischen Schärfe liegt beispielsweise in der Reflexion auf inhaltlicher Ebene. Dies geschieht etwa, wenn in Tod eines Praktikanten von René Pollesch (Volksbühne Berlin 2008) drei Darstellerinnen in weißen, rauschenden Brautkleidern auftreten, auf denen ihre Abendgagen in Euro-Beträgen aufgedruckt sind, und sie über ihren Status als Frau und Schauspielerin sowie über Fragen der Repräsentation diskutieren. Die Brautkleider werden hier durch ihre Isolation aus einem möglichen narrativen Kontext (es geht im Text an keiner Stelle um Heirat) als Zeichen exponiert. Die aufgedruckten Eurobeträge brechen romantisierende Assoziationen zum Thema Braut und können als Verweis auf die Objekthaftigkeit der Frau im Kontext bürgerlicher Vorstellungen von Weiblichkeit und heterosexueller Ehe gesehen werden. Als Abendgagen der Schauspielerinnen sind sie zugleich Zeichen kapitalistischer Werteökonomie und der Arbeitsbedingungen am Theater. Die Diskussionen der Darstellerinnen über Identität, Repräsentation und heterosexuelle Normativität brechen das im Kostüm zitierte bürgerliche Frauenbild zusätzlich. Pollesch markiert sowohl inhaltlich als auch durch die entpsychologisierende Spielweise normalisierende Annahmen über Identität und Sexualität. 18 Durch sprunghafte Textmontagen, stimmliche Brüche und figurenunabhängige Textverteilung erzeugt er eine verfremdende Diskontinuität. In Die Welt zu Gast bei reichen Eltern (Thalia Theater Hamburg 2007) wird beispielsweise der Text der „ Mutter “ von unterschiedlichen Schauspieler*innen gesprochen, so dass die Bindung des Mütterlichen an den anatomisch weiblichen Körper unterbrochen wird. Darstellerische Zeichen für Geschlechtsidentität wechseln teilweise von einem Satz zum anderen und werden durch verfremdende Brüche ausgestellt. So variiert etwa Sophie Rois in einer Szene von Diktatorengattinnen (Volksbühne Berlin 2008) beständig zwischen einer männlichen Rolle mit markant tiefer Stimme und einer weiblichen Rolle mit mädchenhaft hoher Stimme. 19 Beide Rollen werden dabei nicht verkörpert, sondern distanziert und ironisch gebrochen. Das ‚ cutting edge ‘ liegt hier sowohl in einem parodistischen Ausstellen stereotyper Geschlechterbilder als auch in der Erzeugung eines ambivalenten Körpers, der binäre Zuschreibungen hinterfragt und, im Zusammenspiel mit den beiden anderen Schauspielerinnen, die Kohärenz von anatomischem Geschlecht, Geschlechtsidentität und Begehren suspendiert. Geschlechterparodie Die Schauspieler*innen in den Inszenierungen von René Pollesch bedienen sich oft parodistischer Mittel, um Geschlechterstereotype auszustellen und die Norm der Heterosexualität zu hinterfragen. Butler sieht die Geschlechterparodie (gender parody) als eine wesentliche Strategie, die Performativität der Geschlechtsidentität offenzulegen. Sie offenbare, so Butler, dass die „ ursprüngliche Identität, der die Geschlechtsidentität nachgebildet ist, selbst nur eine Imitation ohne Original ist “ . 20 Während Parodie in Folge der Renaissance-Poetik lange Zeit als eine verspottende Nachahmung verstanden wurde, wird sie im 20. Jahrhundert - vor allem seit den Schriften Bachtins - in den Kontext der Intertextualität eingeordnet. Als eine Form der Intertextualität steht sie dem Originaltext nicht unbedingt diametral oder verspottend gegenüber, sondern wird vielmehr als ein 38 Miriam Dreysse ‚ Nebengesang ‘ begriffen, der das Original durch eine Debzw. Neukontextualisierung verändert. 21 Linda Hutcheon greift in ihrer Theory of Parody auf poststrukturalistische Begrifflichkeiten zurück und nennt die Parodie eine „ repetition with a difference “ oder auch „ imitation with critical ironic distance “ . 22 Ähnlich wie Butler sieht sie in einer solchen „ Wiederholung mit einer Differenz “ , also mit einer gewissen Verschiebung, Möglichkeit für Kritik. 23 Unabhängig davon, ob eine Parodie ein abwertender Gegen- oder ein nicht wertender Nebengesang ist, bestätigt sie, ähnlich wie die Verfremdung, immer auch das Original, indem sie es wiederholt. Butler zufolge wirkt die Parodie nur dann subversiv, wenn sie den „ Begriff des Originals als solchem “ in Frage stellt. 24 Wie ist das im Theater möglich? Eine Geschlechterparodie kann durch überzogene oder auf andere Art verfremdende Darstellungsweisen erfolgen. Insofern ist es nicht möglich, eine eindeutige Trennlinie zwischen parodistischen und verfremdenden Mitteln zu ziehen. Gruppen wie She She Pop, Fräulein Wunder AG oder Swoosh Lieu legen die Konstruktion von Geschlechtsidentitäten offen, indem sie Zeichen für Rollenklischees isolieren, dekontextualisieren, inhaltlich reflektieren, sie widersprüchlich montieren und mit ihnen spielen. So tragen Swoosh Lieu in Who Cares (Mousonturm Frankfurt 2016), einer Aufführung, die sich mit Sorgearbeit beschäftigt, Kleidungsstücke wie Smoking, Abendkleid, Diadem und Zylinder sowie Prothesen wie künstliche Brüste oder einen Dildo und stellen stereotype Posen nach. Die Versatzstücke werden widersprüchlich montiert, indem sie von einer Performerin an die nächste weitergegeben werden. Die Schwangere im Arbeitsoverall trägt mit einem Mal Diadem und wechselt von einer Pose der Mütterlichkeit zu einer der aggressiven Männlichkeit. Die Dame im Reifrock trägt plötzlich Kopftuch und ballt die Faust, diejenige im Smoking erhält den Heiligenschein der Madonna und eine Hiphop-Geste. In der nächsten Szene sind von den Kleidungsstücken nur noch Fragmente übrig: Unter dem Kleid der Madonna sind die Brüste abgebunden, aus dem Smoking schaut ein Dildo, das Dekolleté des Abendkleides erweist sich als Brustprothese, der schwangere Bauch als künstlich. Gerade die Montage der Prothesen, zumal der Phallusprothese, parodiert die Vorstellung einer originären Geschlechtsidentität und damit auch den Begriff des Originals als solchem. 25 Eine besonders häufige Methode der Geschlechterparodie im Theater sind Formen des Cross-Castings und Cross-Dressings. Cross-Dressing „ Cross-Dressing is about gender confusion “ , schreibt Marjorie Garber in ihrer breit angelegten Studie zu Transvestismus, 26 und seit Judith Butlers Gender Trouble gilt Drag als exemplarische Strategie, die Konstruiertheit der Geschlechtsidentität sichtbar zu machen. Auf dem Theater hat Cross-Dressing und Cross-Casting eine Tradition, die bis in die Antike zurückgeht, nicht zuletzt aufgrund des Darstellungsverbots für Frauen in vielen Epochen. Dennoch stellt es auch eine Möglichkeit dar, Identitätskonstruktionen selbstreflexiv zu thematisieren und mit kulturell festgeschriebenen Geschlechterrollen zu spielen. Auf seine denaturalisierenden Effekte hat Alisa Solomon in ihrer Analyse des Cross-Dressings bei Shakespeare hingewiesen. Ihr zufolge ist das Mittel des Cross- Dressings wesentlich für die anti-illusionistische Theaterpraxis und stellt die Vorstellung eines natürlichen Selbst im Inneren des Körpers in Frage: The non-illusory stage, then, provides a heightened space for examining what post- 39 Kritische Identitäten. Subversive Strategien der Inszenierung von Gender in Theater und Performance modern theorists call the ‘ discursiveness ’ of identity formation [. . .] In addition, the modern idea that there is an ultimate ‘ authentic ’ or ‘ natural ’ self that is bound to or contained within the body is called into question by a self-consciously transvestic stage practice. 27 Für Judith Butler ist der „ Transvestit “ die zentrale Figur der Geschlechterparodie, die Praxis der Travestie führe die Performativität von Geschlecht vor Augen: „ Indem die Travestie die Geschlechtsidentität imitiert, offenbart sie implizit die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität als solcher - wie auch ihre Kontingenz. “ 28 Der „ Transvestit “ stehe für die imitative Struktur von Geschlecht überhaupt, für „ Geschlecht-als- Drag “ . 29 Bereits in Gender Trouble stellt Butler fest, dass Parodie oder Travestie nicht an sich subversiv sei. 30 In Bodies that matter führt sie aus, dass „ es keine zwangsläufige Verbindung zwischen drag und Subversion gibt und dass drag so gut im Dienst der Entnaturalisierung wie der Reidealisierung übertriebener heterosexueller Geschlechtsnormen stehen kann “ 31 . Wesentlich für eine subversive Wirkung sei, dass die Imitationsstruktur von Geschlecht sichtbar gemacht, der Begriff des Originals an sich in Frage gestellt und der „ Anspruch der Heterosexualität auf Natürlichkeit und Ursprünglichkeit “ bestritten werde. 32 In der Folge von Butler wird Transvestismus in den Kulturwissenschaften immer wieder diskutiert und auf seine subversiven Potentiale hin befragt. Einen kritischen Blick gerade auf die Praxis der Mann-zu-Frau- Travestie als Bestätigung patriarchalisch geprägter Geschlechterbilder wirft die amerikanische Performance-Theoretikerin Peggy Phelan anhand Jennie Livingstons Film Paris is Burning, den auch Butler untersucht. Phelan sieht hier das Bild der Weiblichkeit eher bestätigt denn subvertiert, da die Cross- Dresser der Logik der Zeichen nicht entkommen könnten und das Bild der Weiblichkeit in der Imitation zwar als Konstruktion ausstellten, es aber zugleich auch reproduzierten und seine Macht bestätigten: „ Unavoidably complicitous with the thing they try to denounce, the walkers [. . .] find themselves caught in the tight logic of the commodified sign “ . 33 Und auch bell hooks sieht in der Travestie des Films eine „ idealisierte, fetischisierte Vision von Weiblichkeit “ , und zwar von weißer Weiblichkeit. Der Film stelle Weißsein in keiner Weise in Frage und reproduziere den „ starren phallischen Blick “ heterosexueller Männer. 34 Auf den grundlegenden Unterschied von weiblicher und männlicher Maskerade hat Judith Halberstam in ihrer Untersuchung weiblicher Maskulinitäten hingewiesen. Während Weiblichkeit in der westlichen Kultur immer schon mit Künstlichkeit assoziiert werde und deshalb Mann-zu-Frau- Drag auch in der Mehrheitskultur vorkomme, werde Männlichkeit als grundsätzlich „ nonperformativ “ , als natürliche Eigenschaft des biologischen Mannes angesehen. 35 Aus diesem Grund komme die männliche Maskerade in der Mainstream-, aber auch der Subkultur verhältnismäßig selten vor, die Angst vor einem Sichtbarmachen der Theatralität von weißer Männlichkeit sei zu groß. 36 Die ambivalente Wirkung von Travestie als sowohl Evokation als auch Eindämmung und Verschleierung kultureller Angst untersucht Marjory Garber in Vested Interests. Auch für Garber stellt der Transvestismus die Idee des Originals in Frage und weist Identität als Zeichen aus: „ Das aber ist das subversive Geheimnis des Transvestismus, dass eben nicht der Körper der Urgrund ist, sondern das Symbol “ . 37 Neben dieser subversiven hat der Transvestit aber laut Garber auch eine normative, die Kultur stabilisierende Funktion, indem er die kulturelle Angst vor der Artefakthaftigkeit des männ- 40 Miriam Dreysse lichen Körpers verdrängt und zugleich „ den Eintritt in die Symbolwelt markiert “ . 38 Für Marjorie Garber stellt der Transvestit als „ das Dritte “ die Kategorien von Männlichkeit und Weiblichkeit ebenso wie das binäre Denken an sich in Frage: „ Für mich ist deshalb einer der wichtigsten Aspekte des Transvestismus die Weise, in der er die allzu leichtgewichtigen Vorstellungen von Binarität in Zweifel zieht und die Kategorien von ‚ weiblich ‘ und ‚ männlich ‘ in Frage stellt “ . 39 Ihr zufolge ist das „ Dritte “ eine „ Artikulationsweise, eine Art, einen Möglichkeitsraum zu beschreiben. Drei stellt die Idee vom einen in Frage: von Identität, von Selbst-Genügsamkeit, von Selbst-Kenntnis. “ 40 Angesichts dieser unterschiedlichen Einschätzungen des Cross-Dressings scheint es notwendig, bezogen auf Theater und Performance konkrete Beispiele zu betrachten, da es auch hier, wie Jenny Schrödl feststellt, „ keine notwendigerweise politische Strategie “ ist, sondern durchaus widersprüchlich eingesetzt wird. 41 Ein Regisseur, der häufig mit Mitteln des Cross-Dressings arbeitet, ist Nicolas Stemann. Vor allem in seinen Inszenierungen von Texten Elfriede Jelineks verwendet er Cross-Dressing, um die Darstellung zu verfremden und Normen zu parodieren. Charakteristisch für seine Jelinek-Inszenierungen ist ein fragmentarischer, selbstreflexiver Stil, der die Diskontinuität des Textes bezüglich Narration und Identität mit theatralen Mitteln weiterführt und beispielsweise die Einheit von Rolle und Schauspieler*in aufbricht. Identitäten werden als Effekte theatraler Mittel ausgestellt. In seiner Uraufführung von Jelineks Ulrike Maria Stuart (Thalia Theater Hamburg 2006) treten als „ Prinzen im Tower “ zu Beginn der Aufführung männliche Schauspieler in Frauenkleidern auf. Die Kostüme sind offensichtlich unpassend und unfertig: Das weiße Kleid von Felix Knopp ist zu lang und zu weit, das giftgrüne Kleid von Sebastian Rudolph sitzt schief und zu eng, mit den hohen Absätzen kann er nicht laufen. Die Langhaarperücke hat er noch unter den Arm geklemmt, als er durch den Vorhang hindurch auf die Vorbühne geschubst wird. In der Hand hält er Textblätter, von denen er im Folgenden den Text abliest. Er spricht dabei abwechselnd als „ Prinzen im Tower “ und als „ Ulrike “ . Für die Rolle der Ulrike setzt er sich hastig die Perücke auf, zieht sich einen Trenchcoat über und spricht mit verstellter, sehr hoher, teils schriller Stimme. Als Prinz zieht er Perücke und Trenchcoat schnell aus, wendet sich zur anderen Seite und spricht mit tiefer oder kindlich verzerrter Stimme. Im weiteren Verlauf der Szene streiten sich die drei Schauspieler, wer die Rolle der „ Mutter “ spielen darf, für die alle Perücke und Trenchcoat dabeihaben. Dieser Prolog der Inszenierung verhandelt die Frage des Verhältnisses von Text und Aufführung, die Unmöglichkeit, Jelineks Text, der aus bis zu vierzehnseitigen Monologen besteht, auf die Bühne zu bringen. Dabei wird der Akt der Repräsentation durch das offensichtliche Rollenspiel hinterfragt. Das Cross-Dressing ist Teil dieser antiillusionistischen Strategie; es soll nicht die Illusion von Weiblichkeit erzeugen, sondern es werden männliche Schauspieler gezeigt, die männliche Schauspieler spielen, die mit stereotypen Zeichen Weiblichkeit darzustellen versuchen. Die Verfremdung erfolgt mittels mangelnder Perfektion einerseits, durch Übertreibung der Stereotype, wie z. B. die schrille Stimme, andererseits. Wir haben es hier also mit einer Entnaturalisierung von Geschlechteridentität zu tun. Weiblichkeit wird als Konstruktion entlarvt und man könnte argumentieren, dass im weiteren Verlauf der Aufführung sämtliche Identitäten dekonstruiert und auf diese Weise die Imitationsstruktur von Geschlecht offengelegt wird. Gleichzeitig bleiben Zweifel: Reproduzieren diese stereo- 41 Kritische Identitäten. Subversive Strategien der Inszenierung von Gender in Theater und Performance typen Darstellungen nicht, trotz aller Verfremdungseffekte, ebenjene Weiblichkeitsnormen, die sie kritisieren wollen? Denn auch wenn hier keine Normen idealisiert werden, so bleibt doch das biologische Geschlecht der Schauspieler letztlich gesetzt, der männliche Körper mit Bartstoppeln und Beinbehaarung bleibt gleichsam das Original, von dem aus die Parodie erfolgt, und zwar als „ unkritische Aneignung einer stereotypen Geschlechterrolle [. . .], die aus dem Repertoire der Heterosexualität stammt “ , wie Butler die feministische Kritik an der Travestie erläutert. 42 Ähnliches lässt sich auch in anderen Inszenierungen beobachten, in denen Frauenrollen auf parodistische Weise von Männern gespielt werden, wie zum Beispiel Michael Thalheimers Was ihr wollt von Shakespeare (Deutsches Theater Berlin 2008). Auch hier werden Weiblichkeitsbilder nicht idealisiert, sondern fragmentarische Zeichen für Weiblichkeit wie lange Röcke, Blusen und Perücken oder einzelne, weiblich wirkende Gesten verwendet. Gleichzeitig wird die Männlichkeit des Schauspielerkörpers nicht in Zweifel gezogen, sodass letztlich von einem unhinterfragten Original ausgegangen, die „ nonperformative nature of masculinity “ also bestätigt wird. 43 Interessant werden in dieser Aufführung Momente, in denen durch die Vermischung verschiedener Zeichen geschlechtlich uneindeutige Wirkungen entstehen. Dies geschieht etwa, wenn Stefan Konarske, als Viola visuell mit eher zurückhaltenden Zeichen für Weiblichkeit wie einem kleinen Ohrring, einem Damenhandschuh ausgestattet, in der Spielweise zwischen männlich und weiblich konnotierten Zeichen so oszilliert, dass eine geschlechtliche Festlegung unmöglich ist und auf diese Weise auch die Existenz eines geschlechtlich eindeutigen Schauspieler*innenkörpers in Zweifel gezogen wird. 44 Mit Antke Engel kann ein solches Verfahren als „ Strategie der VerUneindeutigung “ verstanden werden, die „ dominante Ordnungen [unterbricht], ohne selbst normative Schließungen vorzunehmen “ und so „ das Identitätsprinzip und die Binarität “ unterläuft. 45 Eine solche Uneindeutigkeit lässt sich im Fall der Mann-zu-Frau-Travestie wesentlich seltener beobachten als bei weiblichen Schauspielerinnen, die männliche Rollen spielen, wie etwa Jana Schulz als Macbeth in Karin Henkels Inszenierung von 2011 (Münchner Kammerspiele) oder Susanne Wolff als Othello in Jette Steckels Inszenierung von 2009 (Deutsches Theater Berlin). Beide entziehen sich durch ihre Spielweise eindeutiger geschlechtlicher Zuschreibungen und subvertieren so die Norm. Es scheint, als würde auch im 21. Jahrhundert noch die Feststellung von Mary Ann Doane von 1982 gelten: „ Männlicher Transvestismus ist Anlaß zum Lachen, weiblicher Transvestismus lediglich ein weiterer Anlaß zum Begehren. “ 46 Wobei aus heutiger Sicht die von Doane vorgenommene Wertung umzukehren wäre, denn die Ambivalenz, die im weiblichen Transvestismus erzeugt wird, richtet sich, anders als die Filme, auf die sie sich bezieht, nicht nur an den männlichen Zuschauer, sondern löst das Begehren gerade aus der binären Geschlechterlogik und schafft Raum für vielfältige Formen des Begehrens jenseits der Heteronormativität. Mit einer anderen Form des Cross-Dressings haben wir es in einer Choreographie von Eszter Salamon zu tun, Reproduction aus dem Jahr 2004. Sie arbeitet weniger mit offensichtlich parodistischen Mitteln, wie Stemann und Thalheimer das tun, als mit ambivalenten Zeichen, die zu einer Verunsicherung der Zuschauer*innen führen, da sie nicht in das binäre Schema herkömmlicher Geschlechterkategorien passen. Kleidung, Frisuren, Gesichtsbehaarung, Bewegungen und Posen der Tänzer*innen werden in dieser Aufführung widersprüchlich mon- 42 Miriam Dreysse tiert und brechen sich immer wieder gegenseitig, sodass eindeutige Zuschreibungen unmöglich sind und die eigenen Wahrnehmungsautomatismen hinterfragt werden. Im zweiten Teil der Aufführung wird dabei unter anderem mit Schamkapseln gearbeitet, wodurch beispielsweise weiblich wirkende Frisuren, Kostüme und Accessoires mit einer auffallend deutlichen Wölbung im Schritt kombiniert werden. Auf diese Weise wird die Kohärenz von anatomischem Körper, Sexualität und Geschlechtsidentität unterbrochen, Sexualität losgelöst von Geschlechtsidentität lesbar und darüber hinaus die Frage nach dem Status der Zeichen selbst aufgeworfen. Wer imitiert wen? Was ist echt, was nicht? Was ist unter den Schamkapseln? Nach Marjorie Garber ist die Schamkapsel theatrales Zeichen für die „ Sorge über die Künstlichkeit und Abnehmbarkeit der Männlichkeit “ 47 . Während der Transvestismus traditionellerweise - und auch im Fall von Stemanns Ulrike Maria Stuart oder Thalheimers Was ihr wollt - die Künstlichkeit des Frauenkörpers zur Schau trägt und damit laut Garber die kulturelle Sorge über die Künstlichkeit der Männlichkeit maskiert, wird in Reproduction die Künstlichkeit beider Geschlechter vorgeführt. Es ist eine Travestie, die die Existenz eines Originals radikal in Frage stellt, die Imitationsstruktur von Geschlecht offenlegt und auch den „ Anspruch der Heterosexualität auf Natürlichkeit und Ursprünglichkeit “ bestreitet, wie Butler dies für subversive Formen des Drag fordert. 48 Unter dem Codpiece verbirgt sich nichts, es ist ein Schein, der Bedeutung nicht ausdrückt, sondern als Effekt erzeugt. Eine solche Hinterfragung der Vorstellung eines Originals ist, wie Garber von einem transvestischen Theater sagt, auch als eine „ Kritik an der Möglichkeit von Repräsentation überhaupt “ zu verstehen. 49 Reproduction erzeugt ambivalente, widersprüchliche Körperbilder und entsubstantialisiert jede Geschlechtsidentität. Es wird im Sinne Garbers ein „ Möglichkeitsraum “ erzeugt, der „ Binarität in Zweifel zieht “ und Raum für ein „ Drittes “ schafft. 50 Es sind die Ambivalenzen oder „ VerUneindeutigungen “ (Engel), welche - gerade ohne eine ‚ eindeutige Erkennbarkeit ‘ oder ‚ politische Nachricht ‘ , wie Leibetseder sie fordert 51 - die binäre Geschlechterlogik zu subvertieren vermögen. Maskerade Cross-Dressing lässt sich auch als eine Form der Maskerade begreifen. 52 Die Maskerade in Reproduction lässt sich nicht aufdecken, hier gibt es nur die Masken, aber sie maskieren keine eigentliche Identität. Hinter der Maske ist nur eine weitere Maske; und so wird auch beim Applaus die Maske nicht gelüftet. Die Assoziation von Weiblichkeit mit Maskerade, Verstellung und Täuschung ist ein wiederkehrender Topos der bürgerlichen Moderne seit Rousseau. 1926 verwendet die Psychoanalytikerin Joan Rivière den Begriff der Maskerade bezogen auf die Inszenierung von Weiblichkeit in einem Aufsatz, der unter dem Titel „ Womanliness as a Masquerade “ erscheint. 53 Sie beschreibt in ihrer Fallstudie eine Patientin, die eine männliche Rolle einnimmt, um mit ihrem Vater konkurrieren zu können, und eine weibliche, um keine Bedrohung für den Vater darzustellen. Auf Interesse ist der Aufsatz im Kontext der konstruktivistischen Identitätstheorie Ende des 20. Jahrhunderts aufgrund eines kurzen Abschnitts gestoßen. Rivière schreibt: Der Leser mag sich nun fragen, wie ich Weiblichkeit definiere und wo ich die Grenzen zwischen echter Weiblichkeit und ‚ Maskerade ‘ ziehe. Ich behaupte gar nicht, dass es diesen Unterschied gibt; ob natürlich oder aufgesetzt, eigentlich handelt es sich um ein und dasselbe. 54 43 Kritische Identitäten. Subversive Strategien der Inszenierung von Gender in Theater und Performance Joan Rivière bezeichnet mit dem Begriff der Maskerade mithin die Inszenierung von Geschlechtsidentität unabhängig von einem ‚ natürlichen ‘ Geschlecht und löst ihn damit aus dem essentialistischen Zuschreibungssystem. Judith Butler wendet sich in ihrer ersten Studie zur Performativität der Geschlechtsidentität Gender Trouble dem Begriff der Maskerade unter Hinzuziehung von Rivières Aufsatz zu. Sie fragt nach den beiden Möglichkeiten, diesen Begriff im Kontext der Identitätskonstitution zu verstehen: Einerseits kann die Maskerade als performative Hervorbringung einer sexuellen Ontologie verstanden werden, d. h. als reine Erscheinung, die sich selbst überzeugend als Sein darstellt. Andererseits kann die Maskerade als Verleugnung eines weiblichen Begehrens gelesen werden, die eine vorgängige ontologische Weiblichkeit voraussetzt, die durch die phallische Ökonomie regelmäßig nicht repräsentiert wird. 55 Gehe man von letzterem aus, so müsse eine kritische Auseinandersetzung auf die Enthüllung des unterdrückten weiblichen Begehrens zielen, während in ersterem Fall „ eine kritische Reflexion auf die Geschlechter-Ontologie als parodistische (De)Konstruktion “ folgen müsse, die die Unterscheidung zwischen Sein und Schein in Frage stelle. 56 In einem Fall haben wir es mit der gängigen Vorstellung einer Maske zu tun, die ein Maskiertes verdeckt, das enthüllt werden kann, und das gemeinhin als das Eigentliche angesehen wird. Im anderen Fall haben wir es mit der Vorstellung zu tun, dass die Maskerade eine Identität erst hervorbringt. Bekanntlich folgt Butlers Argumentation dieser letzteren These. Die Maskerade verhüllt ihr zufolge nicht ein wahres Selbst, sondern bringt Identität ebenso wie die Illusion eines solchen Selbst erst performativ hervor. Im illusionistischen Theater, das mit abbildenden Mitteln arbeitet, dienen Maskeraden dazu, eine Rollenidentität zu stiften, ohne dabei die Existenz einer ‚ echten ‘ Identität hinter der Maske in Frage zu stellen. Die Schauspielmethode der Verkörperung fußt zudem auf dem Ausdrucksmodell, das äußere Zeichen als Ausdruck einer inneren Wahrheit begreift. In Aufführungen, die mit verfremdenden Mitteln arbeiten, werden Maskeraden hingegen in ihrer Zeichenhaftigkeit ausgestellt, Bedeutung wird als Effekt der Zeichen ausgewiesen und Identitäten als vorgängig präsente in Frage gestellt. Solche Maskeraden ermöglichen es, „ eine Distanz zum Bild herzustellen “ , eine Funktion der Maskerade, wie Doane sie für den Film konstatiert. 57 Auch hier aber bleibt häufig, wie wir am Beispiel von Stemann und Thalheimer gesehen haben, der männliche Schauspielerkörper als originaler unangetastet. In der zeitgenössischen Performance hingegen wird oft mit der Ununterscheidbarkeit von Maskerade, Rolle und Performer*in gearbeitet und damit das Verhältnis von Maske und Kern, Äußerem und Inneren grundlegend hinterfragt. Dabei werden, so Jenny Schrödl, durch Verkleidung, Verwandlung, Vermischung und Verzerrung „ Zonen der Veruneindeutigung von Geschlechtlichkeit “ geschaffen, die sich eindeutigen geschlechtlichen Positionen widersetzen und eine maßgebliche Strategie queerer Kritik in zeitgenössischer Performance darstellen. 58 Ein Beispiel hierfür sind die Performances von Antonia Baehr. Für Abecedarium Bestiarium. Portrait of Affinities in Animal Metaphors (2013) hat Antonia Baehr Freundinnen und Freunde gebeten, ein kurzes Stück über ein ausgestorbenes Tier, mit dem sie sich in irgendeiner Weise verbunden fühlen, für sie zu entwickeln. Dabei steht jedes Tier für einen Buchstaben des Alphabets: D wie Dodo, S wie Stellersche Seekuh oder T wie Tasma- 44 Miriam Dreysse nischer Tiger. Die Aufführung findet in einem offenen und weitgehend leeren Raum statt, in dem die Zuschauer*innen sich frei bewegen können. Antonia Baehr tritt mit Kurzhaarschnitt, in Dreiteiler und Herrenschuhen auf. Sie führt die Zuschauer*innen im Laufe der Aufführung an verschiedene Stationen, an denen sie, nach einer kurzen Einführung, die einzelnen Stücke präsentiert. Immer wieder verschwimmen dabei sowohl die Grenzen zwischen Mensch und Tier als auch zwischen männlich und weiblich. Antonia Baehr gurrt und prustet, fiept und singt, spricht und jammert, sie schlägt mit den Flügeln, stakst wie ein Storch, wälzt sich genüsslich am Boden. Kostüm und Frisur sind deutlich männlich konnotiert, während ihr Name und ihre Stimme, mit der sie die Einführungen zu den einzelnen Tieren spricht, weiblich sind. Auch ihre rot lackierten Fingernägel sind Zeichen für Weiblichkeit. An den Stationen vermischen sich die Zeichen bis zur Unkenntlichkeit. So holt sie unter Y für Yangtsee River Dolphin ihren Bauch hervor, lässt ihn über den Hosenbund fallen, zieht eine Lederjacke über und stellt sich breitbeinig an ein Mikrophon, in das sie dann hohe, sphärisch klingende Töne singt. Für T wie Tasmanischer Tiger zieht Baehr sich einen Tierkopf über, sodass das Bild konservativer Männlichkeit gebrochen und mit dem ihm Anderen kontrastiert wird. Dies wird verstärkt, wenn Baehr auf alle viere geht und sich dann masturbierend auf dem Boden wälzt. Von Band erzählt eine Frauenstimme die Geschichte des letzten Tasmanischen Tigers, der 1936 in einem australischen Zoo starb und bis zu seinem Tod fälschlicherweise für ein männliches Tier gehalten wurde. Erst nach ihrem Tod stellte sich heraus, dass sie ein Weibchen war. Das Thema der Geschlechtsidentität als System der Kategorisierung wird so auch inhaltlich verhandelt. Die Frauenstimme spricht von dem Tier/ Mann/ Baehr als „ sie “ , zugleich verschwimmen auf der Darstellungsebene die Grenzen zwischen tierischen, menschlichen, geschlechtlichen Identitäten. Wenn der letzte Tasmanische Tiger dann als Stoffkadaver von einem Haken hängt, werden auch die Ausschlussmechanismen, die mit Identitätssetzungen einher gehen, sichtbar. Der Tasmanische Tiger, aus menschlicher Perspektive ohnehin ein Zwischenwesen, da er sowohl Tiger als auch Beuteltier ist, kann in dem Bestreben nach Normierung und Kategorisierung nur verkannt und schließlich getötet werden. Fixierbare Identitäten werden auch durch den Wechsel zwischen den Performerpersönlichkeiten Antonia Baehr und Werner Hirsch hinterfragt. So zieht Baehr sich unter C wie Culebra Island Amazon of Puerto Rico Plateauschuhe mit hohen Nietenabsätzen und einen Bart aus Federn an und stellt sich mit tiefer Stimme als Werner Hirsch vor. Zu Auszügen aus Patriarchal Poetry von Gertrude Stein tanzt Baehr/ Hirsch mit einem gebastelten Papagei an der Leine durch das Publikum: „ Patriarchal she said what is it I know what it is it is I know I know [. . .] “ . 59 Während Hirschs Stimme weiterhin tief ist, wirken die Tanzbewegungen teilweise männlich, teilweise weiblich, sodass binäre Kategorien verschwimmen und keine eindeutige geschlechtliche Position ausgemacht werden kann. Eine solche Form des ‚ mixed Drag ‘ unterminiert die Vorstellung biologisch verankerter Geschlechtsidentitäten grundlegend und kann darüber hinaus auch als „ produktive[r] Alternativentwurf anderer Geschlechtlichkeit und Sexualität “ verstanden werden. 60 Werner Hirsch ist Antonia Baehrs zweite Performerpersönlichkeit. Antonia Baehr und Werner Hirsch treten als unterschiedliche Performer*innen auf, beide, sowohl Baehr als auch Hirsch, werden auf Baehrs Homepage als eigenständige Personen aufgeführt. Der Wechsel zwischen den beiden 45 Kritische Identitäten. Subversive Strategien der Inszenierung von Gender in Theater und Performance Figuren erfolgt in Abecedarium unvermittelt, aber sichtbar. Eine solche „ Ausstellung des Prozesses der Verwandlung “ ist Jenny Schrödl zufolge wesentlich für Offenlegung der Imitationsstruktur geschlechtlicher Identität. 61 Beide Figuren sind Maskeraden, die keinen wahren Kern verbergen, sondern momenthafte Identitäten performativ hervorbringen, und beide sind nicht eindeutig in das binäre Mann-Frau-Schema einzuordnen. Baehr stellt auf diese Weise zum einen die Performativität und Kontingenz von Geschlechtsidentität aus, zum anderen öffnet sie ihre Darstellung auf andere Möglichkeiten von Identität und Begehren, auf „ Spielräume des Entkommens “ aus Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität. 62 Werner Hirsch hat bei „ C “ aufgrund der verstellten Stimme und der nietenbesetzten Schuhe parodistische Züge, die die Figur jedoch keinesfalls ins Lächerliche ziehen. Vielmehr wird sie als ein Drag-King inszeniert, der mit widersprüchlichen Zeichen ausgestattet ist und die Künstlichkeit von Männlichkeit vorführt. Es handelt sich um eine Form des Cross-Dressing, die dieses in der Schwebe lässt und dadurch versucht, die Wiederholung zu verschieben, ohne binäre Kategorien zu reproduzieren. Da Baehr nicht eindeutig als biologische Frau, die einen Mann spielt, auftritt, sondern sowohl als Antonia Baehr als auch als Werner Hirsch die Zeichen und ihren Körper ambivalent werden lässt, löst sie in Butlers Sinne tatsächlich „ Geschlechter-Unordnung “ 63 aus und hinterfragt das Original als solches. Die Hinterfragung des Originals erfolgt auch durch die Vervielfältigung der Autorschaft. Baehr spricht nicht nur mit multiplen Stimmen und Körpern, sondern löst auch die Idee des originalen Texts ebenso wie der individuellen, souveränen Autorschaft auf. Das Konzept des individuellen Autors, wie es sich seit der Renaissance in enger Verbindung mit dem neuzeitlichen Werkbegriff entwickelte, begreift den Autor als Schöpfer eines originalen Kunstwerks, und er ist dem Konzept nach männlich. Indem sie unterschiedlichste Menschen Texte schreiben lässt, unterminiert Baehr sowohl dieses Konzept männlicher Autorschaft als auch die Idee eines originalen Kunstwerks. Diese Strategie wendet sie auch in Lachen an (Aubervilliers 2008). Für Lachen hat Antonia Baehr Freundinnen und Freunde gebeten, ihr Partituren des Lachens zu schicken, die sie in der Performance von einem Notenständer vorträgt. Diese Konzertsituation betont einerseits die musikalischen Qualitäten des Lachens als Klang, verfremdet das Lachen aber auch, indem sie es aus jedwedem semantischen Kontext isoliert. Sie lacht ohne Grund, ohne inhaltliche oder psychologische Motivation. Die Lacher beginnen und enden unvermittelt, Pausen zwischen ihnen sind klar gesetzt, Baehrs Mimik ist bis auf das Lachen völlig ausdruckslos. Das Lachen selbst rückt in das Zentrum der Aufmerksamkeit, als stimmlicher und körperlicher Akt, als Material, als Klang. Und dabei fällt auf, dass das Lachen ansteckend ist, auch wenn man nichts über den Grund des Lachens weiß. Das Lachen selbst steckt an, bald lacht der ganze Saal. Das Lachen erscheint als performativer Akt schlechthin: Nicht als Ausdruck eines Inneren, sondern als ein körperlicher Akt, der im Vollzug den Affekt, für den es gemeinhin als Ausdruck gilt, erst erzeugt. Die gängige Vorstellung des Verhältnisses von innen und außen, von Gefühl und seinem Ausdruck, wird zunichte gemacht. Es ist gleichsam eine Maskerade, die keine Substanz verbirgt oder enthüllt, sondern sie erst als Effekt hervorbringt. Und dies gilt gleichermaßen für die Geschlechtsidentität: Baehr tritt in einem schwarzen Dreiteiler, Herrenschuhen und Kurzhaarschnitt auf. Ihr Erscheinungsbild entspricht konventioneller Männlichkeit, ihr Name und die Stimme, in der sie die Einführung gibt, klingen weiblich. Im Laufe der Performance changieren die Stimmen, Klänge und 46 Miriam Dreysse Töne, die sie erzeugt, zwischen den Geschlechtern, oft gibt es plötzliche Brüche, die die Zuschreibungen suspendieren. Und so gibt die Stimme in dieser Performance keinem biologischen Geschlecht Ausdruck, sondern erzeugt multiple Körper und einen Raum zwischen den Geschlechtern. 64 Blickregime Maskeraden sind an die Wahrnehmung geknüpft, sie bringen Identitäten in einem Wechselspiel von Produktion und Rezeption hervor. Die feministische Theoriebildung setzt sich seit den 1970er Jahren mit den Wahrnehmungsverhältnissen auseinander, die in der patriarchalischen Gesellschaft Geschlechterbilder erzeugen und konnte zeigen, dass der Blick des Betrachters in der abendländischen Kunst strukturell gesehen ein männlicher ist. Mit der Autonomisierung des weiblichen Aktbilds und dem Verschwinden des männlichen Betrachters aus dem Bild in der frühen Neuzeit entwickelte sich ein voyeuristischer Blick auf den weiblichen Körper, der diesen zum Objekt macht. 65 Kennzeichen des voyeuristischen Blicks sind - Freud zufolge - die räumliche Distanz und die Tatsache, dass er selber nicht gesehen werden will. Laura Mulvey analysiert 1975 diese Blickverhältnisse bezogen auf den Film und untersucht die filmischen Mittel, die die Frau als Objekt eines männlichen Blicks inszenieren. 66 In der Folge beschäftigen sich Mary Ann Doane und andere Filmtheoretikerinnen mit der Frage, welche Rolle die weibliche Zuschauerin in dem patriarchalen Blickdispositiv einnimmt und untersuchen Möglichkeiten, die binäre Aufteilung der Blickpositionen, an denen auch Mulvey letztlich festhält, aufzulösen. 67 bell hooks problematisiert in den frühen 1990ern den Blick der schwarzen Zuschauerin als Opposition zu hegemonialen Repräsentations- und Blickstrukturen. 68 Auch wenn man inzwischen weitgehend davon abgekommen ist, die Blickstrukturen gerade in Theater und Performance nach einem binären, dem biologischen Geschlecht folgenden Schema zu betrachten, so ist die Analyse der Blickverhältnisse bezogen auf Macht und Lust des Schauens und Angeschautwerdens doch weiterhin aktuell, und zwar sowohl in der theaterwissenschaftlichen Auseinandersetzung als auch in der darstellerischen Praxis. 69 Bereits in der frühen feministischen Performancekunst der 1960er Jahre setzen sich Künstlerinnen explizit mit den Blickverhältnissen auseinander, die die Kunst und die Darstellung des weiblichen Körpers in ihr prägen. Sie arbeiten dabei in erster Linie mit der Inszenierung des eigenen Körpers und reflektieren so das Verhältnis von Subjekt und Objekt des Blicks, von Künstlersubjekt und Material, Körper und Bild. Als eine der ersten hinterfragt Yoko Ono in ihrer Performance Cut Piece von 1964 den (männlichen) Blick auf das Kunstobjekt Frau. Ono sitzt schweigend auf der Bühne, eine große Schere vor sich, die Zuschauer*innen dürfen sich ein Stück ihrer Kleidung herausschneiden und mit nach Hause nehmen. Am Ende hält sie nurmehr die Reste ihres BHs mit ihren Händen fest, einige Kleidungsfetzen liegen noch neben ihr. Diese gewalttätige Entblößung ihres Körpers macht den strukturellen Gewaltzusammenhang von weiblichem Körper und männlichem Blick, von Kunstobjekt und Betrachter deutlich. Auch andere Künstlerinnen, wie z. B. Carolee Schneemann, Adrian Piper oder VALIE EXPORT, benutzen in den 1960ern und 70ern ihren eigenen Körper als Material, um zugleich Subjekt und Objekt des künstlerischen Prozesses zu sein. Sie hinterfragen die Zurichtungen des weiblichen Körpers durch das Konzept der männlichen Autorschaft und durch einen männlich konfigurierten Zuschauerblick. Piper reflektiert in 47 Kritische Identitäten. Subversive Strategien der Inszenierung von Gender in Theater und Performance ihren Performances zudem das Verhältnis von Geschlecht und ‚ Rasse ‘ , so etwa in Mythic Being von 1973, in der sie als schwarzer Mann durch New York läuft und Sätze wie „ I embody everything you most hate and fear “ vor sich hinmurmelt. Dem konventionellen Dualismus ‚ männlicher Künstler - weibliches Objekt ‘ setzen alle Künstlerinnen dieser Zeit die selbstbestimmte Inszenierung ihres eigenen Körpers entgegen und reflektieren ihn als Effekt eines performativen Prozesses von Produktion und Rezeption. Auf diese Weise gelingt es ihnen, die binäre Geschlechterlogik zu unterlaufen und auf andere Blickkonfigurationen zu öffnen. Auch in den bildenden und darstellenden Künsten der Gegenwart setzen sich Künstler*innen mit dem Verhältnis des eigenen Körpers und seiner Wahrnehmung auseinander und machen den Wahrnehmungsrahmen sichtbar, der die Konstruktion des Körpers bestimmt. Dabei werden Körpernormen und Rollenbilder reflektiert. So inszeniert sich beispielsweise Julischka Stengele in ihren Installationen und Performances häufig nackt und hinterfragt dabei normative Vorstellungen von Körper, Schönheit, Identität und Geschlecht. In Musenaufstand 1 (2017) steht sie nackt auf einer Drehscheibe in der Mitte des Publikums und spricht über das Anschauen und Angeschautwerden sowie die Kategorisierungen, die dabei vorgenommen werden: „ Maybe it ’ s time to speak about your gaze instead of my weight? “ In installativen Arbeiten präsentiert sie sich in der Art abendländischer Aktmalerei und befragt auf diese Weise Normen der Weiblichkeit und Darstellungskonventionen. In Not for Oscar, einer Performance von 2017, sitzt Stengele nackt auf einem Podest in der Mitte des Raums und küsst ihren eigenen Körper. Nach jedem Kuss trägt sie neuen Lippenstift auf, sodass die Küsse sichtbare Abdrücke auf ihrer Haut hinterlassen. Sie betont auf diese Weise die skulpturalen Qualitäten ihres Körpers, hinterfragt den Status des weiblichen Körpers als Kunstobjekt und übernimmt zugleich selbst die Autorschaft. Im zweiten Teil der Performance lädt sie das Publikum ein, einzeln zu ihr zu kommen und ihr einen Kuss zu geben. Die Zuschauer*innen sollen sie um Erlaubnis bitten und können wählen, welches Körperteil sie küssen wollen. Auf diese Weise entspinnen sich kleine Dialoge, die aus dem eindeutigen Blickregime des ersten Teils Begegnungen werden lassen. Normierungen, Kategorisierungen und Diskriminierungen werden durch diese konkreten Begegnungen suspendiert. Da ihr Körper aufgrund seiner Fülle den normativen Vorstellungen offensichtlich widerspricht, verfehlt diese Form der Selbstdarstellung in Butlers Sinne die Wiederholung und subvertiert herrschende Normen. Indem Stengele einen ‚ anderen ‘ Körper inszeniert, ermöglicht sie auch einen anderen Blick auf ihn, legt gleichzeitig diskriminierende Blickregime offen und damit auch gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse. Die dialogische Blickstruktur des zweiten Teils bricht mit diesen Regimen und ermöglicht die Konstitution anderer, nicht der binären Logik von Subjekt und Objekt gehorchender Körper- und Subjektbilder. Resignifikationen Viele der angeführten Beispiele arbeiten mit dem Mittel der Resignifikation. Judith Butler entwickelt diesen Begriff in Körper von Gewicht anhand einer Diskussion des Films Paris is burning von Jennie Livingston (1991). Sie bezieht sich dabei auf eine „ neue Ausarbeitung von Verwandtschaft “ durch die Verwendung von Begriffen wie „ Mütter “ , „ Kinder “ , „ bemuttern “ etc. durch die porträtierten schwulen Männer. 70 Eine solche Aneignung und „ Resignifikation der glei- 48 Miriam Dreysse chen Begriffe, die unseren Ausschluß und unsere Verwerflichkeit herbeiführen “ vermöge es, deren normative Macht zu brechen und schaffe den „ diskursiven und sozialen Raum für Gemeinschaft “ für diejenigen, die von der herrschenden Kultur ausgeschlossen sind. 71 Später nennt Butler den Begriff „ queer “ als Beispiel für die widerständige Kraft einer solchen „ sozialen und politischen Resignifikation “ . 72 Es handele sich um ein Zitieren in Form von Nachahmung, Übertreibung und Umkehrung, die aus der homosexuellenfeindlichen Anrufung die „ diskursive Basis für eine Opposition “ mache. Dafür sei Theatralität oder Übertreibung notwendig: „ Die übertriebene Geste ist entscheidend für die Bloßstellung des homosexuellenfeindlichen ‚ Gesetzes ‘ , das die Begriffe seiner eigenen verwerflich machenden Strategien nicht mehr kontrollieren kann. “ 73 Auch wenn Butler sich auf sprachliche Äußerungen bezieht, so kann man die Strategie der Resignifikation doch auf andere Zeichensysteme übertragen. So findet etwa bei Pollesch eine Resignifikation nicht nur auf verbaler Ebene durch die Bezeichnung „ Mutter “ für männliche Schauspieler statt, sondern ebenso durch das Kostüm, das sich Konventionen aneignet, um sie durch Verfremdung zu brechen und umzukehren. Auch Stengeles Theatralisierungen der konventionellen Blickanordnung kehren diese gleichsam um und gestalten sie neu als Begegnungen auf Augenhöhe. Antke Engel betont, unter Resignifikation sei „ ein permanenter Prozess zu verstehen, der nicht am Ergebnis (angeeignet), sondern an der fortdauernden Praxis (aneignen) orientiert ist “ 74 . Diese Prozessualität ist für alle erwähnten Aufführungen von Bedeutung, da sie die Arbeit mit und gegen normierte Zeichen, Bilder, Körper im Prozess vorbzw. durchführen. Besonders deutlich wird dies etwa in Baehrs Abecedarium mit ihrem ständigen Oszillieren zwischen Identitäten, Zuschreibungen, Deutungen und Umdeutungen. 75 Eine prozessuale Auseinandersetzung ‚ mit und gegen ‘ herrschende Normen kann mit José Esteban Munoz auch als „ Disidentification “ begriffen werden: „ Disidentification is the third mode of dealing with dominant ideology, one that neither opts to assimilate within such a structure nor strictly opposes it; rather, disidentification is a strategy that works on and against dominant ideology. “ 76 Als ein „ third term “ neben Identifikation und „ Counteridentification “ könne die Disidentifikation der Binarität entgehen. 77 Munoz bezieht sich sowohl auf soziale Realitäten als auch auf die Performancekunst. „ Disidentification “ sei ein „ performative mode of tactical recognition “ des dominanten Diskurses durch Minderheitensubjekte, namentlich Queers of Color, um diesem und der eigenen Subordination zu widerstehen. Munoz ‘ Überlegungen sind nicht zuletzt angesichts der engen Verflechtungen von ‚ Rasse ‘ und Geschlechtsidentität auch im zeitgenössischen Theater aufschlussreich. 78 Anhand der Performances von Vaginal Davis zeigt er, wie sie sich rassistische und sexistische Stereotype aneignet, sie mit parodistischen Mitteln reflektiert, und dabei gerade die intersektionalen Verflechtungen der Diskurse offenlegt und Bedeutungen von ‚ Rasse ‘ , Geschlecht und Identität verschiebt. Der Widerstand gegen die Norm funktioniert - ähnlich wie im Fall von Butlers Resignifikation - durch Aneignung und Umdeutung: „ Disidentification is about recycling and rethinking encoded meaning. “ 79 Die Möglichkeiten solcher Arbeit ‚ mit und gegen ‘ die herrschende Ideologie, mit den Mitteln der Aneignung und Umdeutung, sind, wie wir gesehen haben, vielfältig. Sie laufen immer Gefahr, die Normen, die sie kritisieren wollen, zu bestätigen. Sie vermögen es aber auch, wie an Eszter Salamon oder Antonia Baehr deutlich wurde, Räume 49 Kritische Identitäten. Subversive Strategien der Inszenierung von Gender in Theater und Performance zu eröffnen, die im Sinne einer Disidentifikation Identitäten suspendieren und Entwürfe von Geschlechtlichkeit, Begehren und Sexualität jenseits von Binarität anbieten. Abschließende Überlegungen Theater und Performance zeichnen sich durch die Vielfalt und Gleichzeitigkeit der verwendeten Mittel und Formen aus. Für eine kritische Wirkung greifen unterschiedliche, auch und gerade widersprüchliche Elemente ineinander. Insofern verwundert es nicht, dass das Vorhaben, verschiedene subversive Strategien zu benennen, nur mit Einschränkungen umgesetzt werden kann. Grundlegende kritische Verfahren wie die Verfremdung finden sich auch in anderen Formen der Kritik wie etwa der Parodie. Die Maskerade wiederum kann, ebenso wie das Cross-Dressing, als eine Form der Geschlechterparodie gesehen werden. Zudem erscheint es fast widersinnig, Kategorisierungen vornehmen zu wollen für Möglichkeiten, Kategorien zu hinterfragen und uneindeutig werden zu lassen. Dies wird auch bei der Zuordnung der Beispiele zu den verschiedenen Begriffen deutlich. Andererseits vermögen Differenzierungen und auch ein Perspektivwechsel, wie er mit der Verwendung unterschiedlicher Begrifflichkeiten einhergeht, die Komplexität widerständiger Strategien vor Augen zu führen, und Differenzierungen öffnen stets Lücken für Anderes. Die verschiedenen Facetten der Uneindeutigkeit entziehen sich eindeutiger Benennung, der Versuch ihrer Beschreibung vervielfältigt aber vielleicht auch das Denken über sie und mit ihnen. Anmerkungen 1 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991, S. 207. 2 Ebd., S. 57. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 24. 5 Ebd., S. 218. 6 Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a. M. 1997, S. 137. 7 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke 16, Schriften zum Theater 2, Frankfurt a. M. 1967, S. 680. 8 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke 15, Schriften zum Theater 1, Frankfurt a. M. 1967, S. 302. 9 Brecht, Gesammelte Werke 16, S. 553. 10 Ebd., S. 548. Kursiv im Original. 11 Ebd., S. 554. 12 Zur Verfremdung als genderkritische Strategie in Theatertexten s. Franziska Bergmann, Die Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte. Geschlechterverfremdung in zeitgenössischen Theatertexten, Würzburg 2015. 13 Butler, Körper von Gewicht, S. 137. 14 Ebd., S. 317. 15 Linda Hutcheon, Irony ’ s Edge. The Theory and Politics of Irony, London/ New York 1994, S. 35. 16 Doris Leibetseder, Queere Tracks. Subversive Strategien in der Rock- und Popmusik, Bielefeld 2010, S. 32. 17 Ebd., S. 40 f. 18 Vgl. Miriam Dreysse, „ Heterosexualität und Repräsentation. Markierungen der Geschlechterverhältnisse bei René Pollesch “ , in: Gaby Pailer und Franziska Schößler (Hg.), Geschlechter Spiel Räume, Amsterdam 2011, S. 357 - 370. 19 Zur Inszenierung der Stimme bei Pollesch vgl. Jenny Schrödl, „ Schreiarien und Flüsterorgien. Stimmen als Oberflächenphänomene im Theater René Polleschs “ , in: Gruppe Oberflächenphänomene (Hg.), Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater, Zürich/ Berlin 2008, S. 117 - 129. 20 Butler, Unbehagen der Geschlechter, S. 203. 21 Traditionell wurde die Parodie aufgrund des griechischen ‚ para ‘ als Gegengesang verstanden. Vgl. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning, Stuttgart 2004, S. 512. 50 Miriam Dreysse 22 Linda Hutcheon, A Theory of Parody. The Teachings of 20 th Century Art Forms, London 1985, S. 37. 23 Hutcheons Konzept der Parodie verdeutlicht auch die Nähe von Parodie und Verfremdung, da die Parodie nicht länger als eine Form der Verhöhnung gedacht wird. Das Verhältnis des Brechtschen Konzepts der Verfremdung zur Parodie wird auch in der Literaturwissenschaft diskutiert, vgl. Norbert Oellers, „ Das Ernste Spiel der Kunst. Brechts ‚ Die heilige Johanna der Schlachthöfe ‘“ , in: Michael Klein et. al. (Hg.), Literatur der Weimarer Republik. Kontinuität - Brüche, Innsbruck 2002, S. 109 - 125. 24 Butler, Unbehagen der Geschlechter, S. 203. 25 Zum Dildo als subversivem Element vgl. Leibetseder, Queere Tracks, S. 297 - 306. 26 Marjorie Garber, Vested Interests. Cross- Dressing and Cultural Anxiety, London 1993, S. 390. 27 Alisa Solomon, Re-Dressing the Canon, Essays on Theatre and Gender, London 1997, S. 40. 28 Butler, Unbehagen der Geschlechter, S. 202. 29 Butler, Körper von Gewicht, S. 316. 30 Butler, Unbehagen der Geschlechter S. 204. 31 Butler, Körper von Gewicht, S. 178. 32 Ebd. 33 Peggy Phelan, Unmarked. The Politics of Performance, London/ New York 1996, S. 107. 34 bell hooks, „ Brennt Paris? “ , in: bell hooks, Black Looks. Popkultur, Medien, Rassismus, Berlin 1994, S. 179 - 193, hier S. 182. 35 Judith Halberstam, Female Masculinity, Durham/ London 1998, S. 234. 36 Ebd., S. 236. 37 Marjorie Garber, Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst, Frankfurt a. M. 1993, S. 524. 38 Ebd., S. 496. 39 Ebd., S. 23. 40 Ebd. 41 Jenny Schrödl, „ Gender Performances. Theaterwissenschaftliche Perspektiven und Problematiken “ , in: etum 1: 1 (2014), S. 33 - 52, hier S. 41. 42 Butler, Unbehagen der Geschlechter, S. 202. 43 Halberstam, Female Masculinity, S. 235. 44 Katharina Rost sieht in der von Konarske erzeugten Körperlichkeit Effekte von Queerness; Katharina Rost, „ Cross-Dressing und Queerness auf der Bühne. Konvention versus Irritation “ , in: Friedemann Kreuder, Ellen Koban und Hanna Voss (Hg.), Re/ produktionsmaschine Kunst. Kategorisierungen des Körpers in den darstellenden Künsten, Bielefeld 2017, S. 193 - 203. 45 Antke Engel, Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation, Frankfurt a. M. 2002, S. 163. 46 Mary Ann Doane, „ Film und Maskerade, Zur Theorie des weiblichen Zuschauers “ , in: Liliane Weissberg (Hg.), Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a. M. 1994, S. 66 - 89, hier S. 77. 47 Garber, Verhüllte Interessen, S. 181. 48 Butler, Körper von Gewicht, S. 178. 49 Garber, Verhüllte Interessen, S. 496. 50 Ebd., S. 23. 51 Leibetseder, Queere Tracks, S. 32. 52 Zur Differenzierung von Transvestismus, Mixed Drag und Maskerade vgl. Schrödl, „ Gender Performances “ , S. 39 - 46. 53 Joan Rivière, „ Womanliness as a Masquerade “ , in: International Journal of Psychoanalysis X (1929), S. 303 - 313. 54 Joan Rivière, „ Weiblichkeit als Maskerade “ , in: Weissberg (Hg.), Weiblichkeit als Maskerade, S. 34 - 47, hier S. 39. 55 Butler, Unbehagen der Geschlechter, S. 79 f. 56 Ebd., S. 80. 57 Doane, „ Film und Maskerade “ , S. 86. 58 Jenny Schrödl, „ Wider eindeutige Geschlechtlichkeit. Formen und Spielräume des Entkommens in Gender & Queer Performances “ , in: Nicole Kandioler, Ulrich Meurer und Vrääth Öhner (Hg.), escape. Strategien des Entkommens. Onlinepublikation 2015, http: / / escape.univie.ac.at/ widereindeutige-geschlechtlichkeit/ , S. 5. [Zugriff am 18. 05. 2020] 59 Gertrude Stein, „ Patriarchal Poetry “ , in: The Yale Gertrude Stein, New Haven 1980, S. 106 - 146, hier S. 124. 60 Schrödl, „ Gender Performances “ , S. 44. 61 Ebd., S. 41. 51 Kritische Identitäten. Subversive Strategien der Inszenierung von Gender in Theater und Performance 62 Schrödl, „ Wider eindeutige Geschlechtlichkeit “ , S. 2. 63 Butler, Unbehagen der Geschlechter, S. 39. 64 Zur Subversion von Gender durch die Stimme vgl. Jenny Schrödl, „ Vokale Travestien, Zu stimmlichen Geschlechterperformances auf der Bühne “ , in: Doerte Bischoff und Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Mitsprache, Rederecht, Stimmgewalt. Genderkritische Strategien und Transformationen der Rhetorik, Heidelberg 2006, S. 377 - 396 und Miriam Dreysse, „ Die stimmliche Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlechteridentitäten auf der Bühne, “ in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Stimmen, Klänge, Töne. Synergien im szenischen Spiel, Tübingen 2002, S. 81 - 92. 65 Daniela Hammer-Tugendhat, „ Jan van Eyck. Autonomisierung des Aktbildes und Geschlechterdifferenz “ , in: Kritische Berichte 3 (1989), S. 78 - 99, hier S. 90. 66 Laura Mulvey, „ Visuelle Lust und narratives Kino “ , in: Weissberg, Weiblichkeit als Maskerade, S. 48 - 65. 67 Doane, „ Film und Maskerade “ . 68 bell hooks, „ Der oppostionelle Blick. Schwarze Frauen als Zuschauerinnen “ , in: bell hooks, Black Looks, S. 145 - 165. 69 Zu der theaterwissenschaftlichen Perspektive siehe Adam Czirak, Partizipation der Blicke. Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance, Bielefeld 2012. 70 Butler, Körper von Gewicht, S. 192. 71 Ebd., S. 193. 72 Ebd., S. 318. 73 Ebd., S. 319. 74 Antke Engel, „ Aneignung/ Umarbeitung/ VerUneindeutigung “ , in: Bildpunkt, Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Aneignen", Sommer 2007. 75 Einschränkend ist zu erwähnen, dass Engel den Begriff auf eine soziale Praxis über einen längeren Zeitraum bezieht. Betrachtet man eine einzelne Theateraufführung als Teil sozialer Praxis, so wie auch Butler dies im Fall des Films Paris is burning tut, kann man den Begriff dennoch übertragen. 76 José Esteban Muñoz, Disidentifications. Queers of Color and the Performance of Politics, Minneapolis 1999, S. 11. 77 Ebd., S. 97. 78 Vgl. Miriam Dreysse, „ Weiße Haut und schwarze Schminke, Verflechtungen von Geschlecht und ‚ Rasse ‘ im deutschsprachigen Theater “ , in: Olivia Evert et al. (Hg.), Theater als Kritik, Bielefeld 2018, S. 347 - 355. 79 Muñoz, Disidentifications, S. 31. 52 Miriam Dreysse Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse Melanie Hinz (Berlin) Ausgehend von Judith Butlers Kritik-Begriff im Rekurs auf Michel Foucaults Vortrag Was ist Kritik? wird Kritik als eine widerständige Praktik der Ent-Unterwerfung verstanden, in der das Subjekt sich in einem Akt der Selbstbildung und reflektierter Unfügsamkeit Gender-Normen und Zwängen widersetzt. Im Beitrag wird hierbei die Frage gestellt, inwiefern Alltagsexpert*innen im Theater eine solche Kritikposition einnehmen können? Diese stellen eine paradoxale Figuration der Kritik dar: Durch die Differenz zu professionellen Schauspieler*innen sind sie einerseits häufiger der Kritik ausgesetzt und können anderseits durch ihren Habitus, ihre Biografie und ein Gender-Sonderwissen normative Körperbilder und Genderdiskurse kritisieren. Wie letzteres möglich wird, wird anhand der Theaterproduktionen Dicke Frauen von heißes medium: polylux und Adam, Eva und ich. Biografien intersexueller Menschen von der Frl. Wunder AG untersucht. Nicht-professionelle Darsteller*innen auf deutschsprachigen Bühnen, egal ob im Kontext des professionellen Theaters, an den Bürgerbühnen, der Theaterpädagogik oder des Amateurtheaters, sind historisch seit den Anfängen der Institutionalisierung des bürgerlichen Theaters und der Schauspielkunst im 18. Jahrhundert mit der Position des/ der ‚ Anderen ‘ bzw. der Differenz verbunden. Historisch bezieht sich diese Differenz darauf, dass sie keine Schauspielausbildung haben bzw. Theaterarbeit nicht ihre Erwerbsarbeit darstellt - was durch Begriffe wie Laie*Laiin, Amateur*in oder Nicht-Profi markiert wird. 1 Aktuell bezieht sich Differenz vor allem auf die Repräsentation der Diversität von Körperbildern und Identitäten durch Nicht-Profis auf der Bühne, die die Schauspielensembles, auch die der Freien Szene, nur beschränkt selbst vertreten. Diese Positionierung als nicht-normativer Schauspieler*innenstatus und -körper birgt ein Potenzial der Kritik: an der Institution und Kunstform des Theaters als auch an der Frage geschlechtlicher Repräsentation. Im Fokus meiner Betrachtung steht die professionelle Arbeit von Theatermacher*innen mit Alltagsexpert*innen im Kontext des Dokumentartheaters oder Bürger*innenprojekte in der Freien Szene und an Staatstheatern. Der Begriff der Alltagsexpert*in, den Rimini Protokoll für ihre Arbeit mit nicht-professionellen Darsteller*innen entwickelt haben, 2 verschiebt die Perspektive einer Schauspiel-Professionalität hin zu einer spezifischen Berufs-, Alltags- oder Biografie-Expertise, die die Darsteller*innen auf der Bühne zu Protokoll geben und mit dem Publikum teilen. Wissen und Erfahrungen werden versprachlicht und sichtbar gemacht, die häufig weder in wissenschaftlichen Diskursen noch in Theatertexten eine Rolle spielen. Die Reflexion von Geschlechterthemen mit Alltagsexpert*innen hat dabei Tradition, wenn beispielsweise Gudrun Herrbold in La Grande Vie (1998) inhaftierte Frauen zu weiblicher Aggressivität befragt, Sexarbeiterinnen in Volker Löschs Lulu. Die Nuttenrepublik (2010) als Chor auftreten, Miriam Tscholl die Midlifecrisis der Faust-Figur anhand Dresdner Männerbiografien in Ich armer Tor (2015) Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 53 - 68. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0007 vergegenwärtigt, Lola Arias in Atlas des Kommunismus (2016) Ostfrauen nach ihrer Perspektive auf den Kommunismus befragt oder das Theaterkollektiv Chicks* in Chicks* United (2017) mit Mädchen und Frauen die weibliche Scham untersucht. Dennoch ist eine Typologie von Genderinszenierungen mit Alltagexpert*innen in der Theaterwissenschaft bisher nicht aufgearbeitet. Hinsichtlich des Verhältnisses von Theater, Kritik und Gender spielen Alltagsexpert*innen eine paradoxe Rolle: Insbesondere ihre Körperlichkeit gibt einerseits Anlass zur Kritik und kann anderseits selbst wiederum Kritik an normierten Körperbildern leisten. Dies macht sie zu einer interessanten Figuration von Kritik, um die es in diesem Aufsatz, bezogen auf die Kategorie Geschlechtskörper und Geschlechtswissen, gehen soll. Beispielsweise in der Bürger*innenbühnen-Inszenierung FKK. Eine Frauenkörperkomödie am Staatsschauspiel Dresden bitten Sinje Kuhn und ich als Regieteam 2010 ein diverses Frauenensemble auf die Bühne. Die 17 ausgewählten Dresdner Frauen unterscheiden sich in ihren Körperbildern, in ihrem Alter, ihrer Sozialisationserfahrung in Ost- und Westdeutschland, in ihren sexuellen Orientierungen und ihren Erfahrungen von Mutterschaft. In der Theaterkritik der Sächsischen Zeitung werden die „ Runzeln und Altersflecken “ , „ schlaffen Brüste, Speck und Cellulite “ der Darstellerinnen beschrieben. 3 Und an anderer Stelle heißt es: „ Eine junge Transsexuelle wirkt angespannt und weckt Verwirrung, vielleicht auch Abscheu. “ 4 Dabei hat die Darstellerin niemals von sich als Transsexuelle gesprochen, sondern sich in einer Drag-Performance als Elvis Presley inszeniert. Was als eine Hinterfragung des normativen Blickdispositivs weiblicher Körper inszeniert war, sorgte im Blick der Kritikerin für „ Gender Trouble “ . Die untrainierten, schauspielerisch unausgebildeten, dicken, dünnen, androgynen Frauenkörper wurden mit einem kritischen Blick beäugt. So führte auch die Thematisierung des Dickseins der Darstellerin Nora Graupner immer wieder zu Diskussionen mit Zuschauenden, die ich als positive Diskriminierung bezeichnen würde. Wie eine dicke Frau den Mut haben könnte, auf eine Bühne zu gehen und zugleich aber die psychische Gesundheit und Zurechnungsfähigkeit der Darstellerin in Frage gestellt wurde. 5 In der Kritik steht damit aber nicht die Theateraufführung, die vielleicht sogar voyeuristisch von Theaterkritiker*innen und Zuschauer*innen genossen wurde, sondern die Darstellerin als Subjekt. Im Rekurs auf eine biografische Geschichte und der Sichtbarkeit eines Habitus 6 ist das dokumentarische oder biographische Theater eine Theaterform, die Vulnerabilität in den Mittelpunkt stellt und damit Subjektivation prägt und reflektiert. Judith Butler versteht unter Subjektivation „ den Prozess des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozess der Subjektwerdung “ . 7 Durch einen Sprechakt erhält ein Individuum eine spezifische Identität und eine sozial anerkannte Subjektposition, die wiederum mit einem spezifischen Normierungsprozess einhergeht. 8 Der Begriff der Kritik bei Butler zielt wiederum auf das Verhältnis von Wissen und Macht, was mit der Kategorisierung von Subjektwerdung einhergeht und den Möglichkeiten des Ungehorsams des Subjekts gegen den Normierungsprozess. 9 Inwiefern kann durch die Praxis und im Raum des Theaters eine solche Kritik in performativer Weise geleistet werden? Hierbei bewegen sich Alltagsexpert*innen als Objekt und Subjekt von Kritik in einem Spannungsverhältnis: zwischen ihrer Exotisierung als ‚ Andere ‘ und ihrer eigenen Kritik, gesellschaftlich zu diesen ‚ Anderen ‘ gemacht zu werden. Mich interessiert hierbei Kritik als Selbstermächtigung: Inwiefern können Alltags- 54 Melanie Hinz expert*innen auf der Bühne als Geschlechterexpert*innen erscheinen, die selbst souverän das Problem ihrer Objektivierung reflektieren und Kritik üben können? Beispielhaft möchte ich diesen Fragen an den beiden Produktionen Dicke Frauen von heißes medium: polylux und Adam, Eva und ich. Biografien intersexueller Menschen von der Frl. Wunder AG analysieren, in denen Diskriminierungserfahrungen geschlechtlicher Identität Gegenstand einer partizipativen Stückentwicklung waren. An beiden Projekten war ich als dramaturgische Beratung bzw. befreundete Zuschauerin beteiligt. Wie Matthias Warstat, Julius Heinicke, Joy Kristin Kalu, Janina Möbius und Natascha Siouzouli formulieren, lassen sich sozialkünstlerische Projekte nicht allein als ‚ Kunstprodukt ‘ betrachten, sondern erst im Zusammenspiel mit der Reflexion sozialer Kontexte und Probenprozesse 10 wird erkennbar, was auch politisch und persönlich für die Darsteller*innen auf dem Spiel steht. Damit kann der Kritik-Begriff nicht allein auf den Kunstdiskurs zielen, sondern auf den Macht- und Subjektdiskurs. Zum Begriff der Kritik in der Theaterwissenschaft Einführend möchte ich einen kritischen Blick auf den Kritik-Begriff in der aktuellen Theaterwissenschaft werfen und ausgehend von einer Geschichte der ‚ Anderen ‘ der Frage nachgehen, ob Alltagsexpert*innen überhaupt das Theater als Raum der Kritik zugesprochen wird? Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung 11 - der Titel dieses aktuellen theaterwissenschaftlichen Sammelbands, der auf einen Kongress der theaterwissenschaftlichen Gesellschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Goethe-Universität Frankfurt 2016 zurückgeht, macht bereits die Perspektive deutlich, wie der Kritik-Begriff derzeit diskursiv akzentuiert wird. Theater als Kritik meint hierbei, dass Kritik in Bezug zum Theater nicht von den zu kritisierenden Inhalten oder Gegenständen abhänge, „ sondern sie liegt in den Existenzweisen des Theaters selbst “ . 12 Olivia Ebert, Eva Holling, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Schulte, Bernhard Siebert und Gerald Siegmund formulieren so ihre Zweifel an einer „ idealisierten Theatervorstellung “ 13 wie auch eines „ allzu einfachen Begriffs von Kritik “ 14 . Theater werde häufig per se als kritische Praktik gesetzt, ohne dabei die ökonomischen oder individuellen Zwecke von Unterhaltung oder persönlicher narzisstischer Befriedigung mitzubedenken. Zudem hinterfragen sie, ob Theater im Sinne eines politischen Theaters überhaupt kritisch wirken könne, wenn es doch häufig Normen reproduziert oder die Kritik eher einem „ preaching to the converted “ gleicht. 15 Geforscht wird also nach den Formen und Praktiken der Kritik, die das Theater aufgrund seiner spezifischen Medialität hervorbringen kann. Dies erinnert an Hans-Thies Lehmanns Definition vom politischen Theater, der es als „ Unterbrechung des Politischen “ 16 definiert. Es gehe nicht darum, politische Regeln, Diskurse und moralische Botschaften zu wiederholen, sondern eine „ Praxis der Ausnahme “ 17 zu initiieren, die durch das Aufsuchen von Leer- und Bruchstellen eine Reflexion politischer Verfasstheiten für die Zuschauenden ermöglicht. In dieser Weise geht es Ebert, Holling, Müller-Schöll, Schulte, Siebert und Siegmund eben auch um die kritische Verfasstheit des Theaters selbst. In Anschluss an Michel Foucaults Vortrag Was ist Kritik? und Butlers Kritik-Aufsatz beziehen sie den Begriff der Ent-Unterwerfung nicht auf soziale Subjektivierungsprozesse, sondern auch auf das Theater als eine ästhetische Praxis der Ent-Unterwerfung. Ein so formulierter Kritik-Begriff, der sich auf der Autonomie der Kunst gründet, 55 Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse schließt das Kritik-Potenzial aus, was möglicherweise nicht-professionelle Darsteller*innen als Geschlechter-Expert*innen mitbringen können. Bezieht sich dieses doch in erster Linie auf die Repräsentation von Körper und Wissen, also auf Inhalte und nicht auf die Form. Ich werde im Fortlauf des Textes noch darauf zu sprechen kommen, warum ein autonomer Umgang mit künstlerischen Darstellungsmitteln nicht in gleicher Weise ‚ frei ‘ ist, wenn eine soziale Gruppe mit aktivistischen Interessen daran beteiligt ist. Denn die Bezugnahme der Kritik ist nicht allein auf das Theater als Medium fokussiert, sondern vielmehr auf Praxen und Normen, die ein persönliches und gesellschaftliches Leben betreffen. Das Soziale ist für die Kunst ein produktiver Störfaktor, selbst ein Agens der Kritik, präsentiert aber nicht unbedingt „ Kunst als eine kritische, weil entsetzende Praxis “ . 18 So ist wenig erstaunlich, dass eben jene Theaterformen, die an der Schnittstelle zu Aktivismus, Pädagogik oder Politik stehen, in dem Sammelband kaum besprochen werden. Müller-Schöll formuliert dies auch ganz direkt: Selten ist deshalb heute jenes Theater kritisch, das in der Tagespolitik oder das Soziale einwirken möchte, das sich als Fortsetzung politischer Interventionen geriert, sich Empowerment und Emanzipation auf die Fahnen schreibt, Minderheiten integrieren und Randgruppen zur Anerkennung verhelfen möchte. Mögen seine Absichten integer und sein Anliegen legitim und wichtig sein, so endet es in aller Regel über schnell Begriffenem, Wohlbekanntem nicht nur in schlechter Kunst, sondern auch in schlechter Politik. 19 Alltagsexpert*innen gehen in der Regel auf die Bühne, um das Theater als öffentliches Forum aufzusuchen - und erleben diese Form des Sich-Zeigens als eine Form des Empowerment oder der Emanzipation. Hier wird aber nun das direkte Benennen politischer Anliegen als „ schlechtes Theater “ kritisiert - und damit im Kontext der Theaterkunst eben jene Stimme marginalisierter Gruppen unhörbar gemacht. „ Kann die Alltagsexpert*in im Theater sprechen? Kann ihre Kritik gehört werden? “ 20 In dieser dargelegten Diskurstradition wäre die Antwort: nein. Der Aufsatz wäre hier also bereits an ein Ende gekommen: ‚ Kein Ort nirgends ‘ im Theater für das Kritikpotenzial von Alltagsexpert*innen. Es wirft uns darauf zurück, dass jede Kritik bereits abhängig ist von dem Werturteil der Kritiker*innen. So fragen Rahel Jaggi und Tilo Wesche in ihrer Einführung „ Was ist Kritik? “ : Wie sind die Maßstäbe auszuweisen, die es dem Kritiker erlauben, eine gegebene Situation als falsch, schlecht, unangemessen oder defizitär zu kritisieren - und gibt es solche Maßstäbe in einem Sinn, der über das Partikulare, partiell oder lokal Gültige hinausgeht? Infrage steht damit, ob Kritik sich auf universal gültige (den bestehenden Praktiken und Institutionen gegenüber ‚ externe ‘ ) Wertmaßstäbe beziehen kann oder ob sie angewiesen bleibt auf die schon existierenden Normen einer Gemeinschaft, die dann vom Kritiker gewissermaßen ‚ beim Wort ‘ genommen werden. 21 Dass hier in männlicher Form vom Kritiker gesprochen wird, scheint mir nicht nur einer geschlechterunsensiblen Sprache geschuldet zu sein, sondern ist als eine historische Figuration männlich konnotiert - ebenso der Glaube daran, eine objektiv allgemeingültige Kritik äußern zu können. Wie Jaeggi und Wesche deutlich machen, steht Kritik immer in einem Verhältnis zu normativen Vorstellungen einer Gesellschaft, nach denen kritisiert wird oder die gerade hin zu neuen Regeln transformiert werden sollen. Gleiches gilt für (die Gesellschaft) des Theaters. Der Theaterhistoriker Stefan Hulfeld hat herausgestellt, dass die Theatergeschichts- 56 Melanie Hinz schreibung als eine Fortschrittserzählung sich stets am innovativen Kunsttheater orientiert habe, aber all jene Formen des Theaters, die als das „ Gestrige “ gelten, was sich auf das Laientheater und Volkstheater übertragen lässt, nicht in diese Erzählung integriert werden, oft gar nicht erzählt werden. 22 Was gesagt oder kritisiert wird, wer überhaupt kritisieren darf, ist somit immer selbst schon Teil eines Machtdispositivs. In besonderer Weise werden somit Alltagsexpert*innen und ihre Themen nach normativen Wertmaßstäben (scheinbar) innovativer Theaterkunst beurteilt. Damit Kritik überhaupt gehört werden kann, ist sie auf die Teilhabe beispielsweise der Zuschauenden angewiesen. In letzter Konsequenz ist das nie kontrollierbar, aber etwas an der Existenzweise des Theaters rückt damit in den Fokus: als eine Kunstform der Begegnung und als ein Wahrnehmungsdispositiv ermöglicht das Theater einen Prozess der Ent-Unterwerfung des Subjekts und die gegenseitige Anerkennung im Blick der Anderen. Kritik als Ent-Unterwerfung des Subjekts Während also in Theater als Kritik von Ebert, Holling, Müller-Schöll, Schulte, Siebert und Siegmund der Begriff der Ent- Unterwerfung auf die Existenzweise des Theaters übertragen wird, scheint es mir für die Akzentuierung von Gender und Kritik lohnenswert, Foucaults 23 und Butlers Kritik-Begriffe 24 im Hinblick auf die Repräsentation des Subjekts zu betrachten, wie es auch Andrea Maria Zimmermann in ihrem Buch Kritik der Geschlechterordnung (2017) 25 vorschlägt, das den aktuellsten Forschungsbeitrag zum Thema Gender und Kritik im Theater darstellt. Butler nimmt in ihrem bereits vieldiskutierten Aufsatz „ Was ist Kritik? “ eine Re- Lektüre von Foucaults Was ist Kritik? 26 von 1978 vor. Sie macht deutlich, dass Foucault Kritik nicht als Beurteilung gesellschaftlicher Gegenstände - wie Praktiken, Wissensformen und Diskurse - versteht, sondern „ vielmehr soll die Kritik das System der Bewertung selbst herausarbeiten “ . 27 Zu hinterfragen ist damit laut Butler, wie Wissen und Macht geordnet werden und „ warum alternative Möglichkeiten des Ordnens verworfen werden “ . 28 Diese Ordnungssysteme von Wissen und Macht führen zu jener Kategorisierung und Normierung, die aus Individuen intelligible Subjekte macht. Dabei zielt der Kritik-Begriff bei Foucault und Butler auf eine Transformation der Ordnung. Zimmermann fasst hierbei zusammen, dass es bei den beiden aber immer um „ ein von Machtverhältnissen durchdrungenes Subjekt “ 29 geht, was Kritik als Spielraum sich nur innerhalb der Machtverhältnisse zu erschließen vermag. 30 Ziel von Kritik ist somit nicht das Zerbrechen aller Machtmechanismen, da die Flucht an einen machtfreien Ort in dieser theoretischen Rahmung nicht möglich ist, sondern die Infragestellung, Verschiebung und Umgestaltung dieser Kräfte, um die Möglichkeiten des Existierens zu verändern und zu vervielfachen. Ihre Funktion ist die Entunterwerfung. 31 Jener Begriff der Entunterwerfung markiert damit eine widerständige, kritische Praxis, die das Individuum auf sich selbst beziehen muss. Butler stellt heraus, dass Foucaults Kritik als eine Praxis der Tugend und damit als eine ethische Praxis definiert und damit das Individuum vor folgende Aufgabe stelle: „ Wie ist es möglich, dass man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird - dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen regiert wird? “ 32 . Und an anderer Stelle definiert Foucault: „ Als erste Definition von Kritik schlage ich also 57 Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse die allgemeine Charakterisierung vor: die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden. “ 33 Butler deutet diese Signatursätze des Foucaultschen Vortrags als eine Aufforderung an das Individuum, stets tugendhaft den Gehorsam gegenüber Autoritäten zu prüfen, was als wahr befunden werden kann. 34 Und mit Foucault gesprochen bedeutet dies, im Zustand „ reflektierte(r) Unfügsamkeit “ 35 zu handeln. Butler verknüpft ihre Lesart mit einem weiteren Text von Foucault, Der Gebrauch der Lüste, 36 und stellt heraus, dass eben jenes widerständige Potenzial im Akt der Selbstbildung des Subjektes liegt. Das Subjekt ist zwar immer schon in seiner Subjektwerdung auf das engste mit Unterwerfung und einer Politik der Normen verknüpft, aber es kann sein Leben stets als „ Spieleinsatz der Freiheit “ 37 verstehen. Butlers Ausführungen über Kritik als eine zu übende widerständige Praxis, die die Selbstbildungsprozesse des Subjekts prägen kann, ist für die Theaterarbeit mit Nicht- Profis eine interessante Bildungs-Perspektive. Theater als körperliche Kunstform im Hier und Jetzt kann seinen Spieler*innen einen Raum bieten, normative Repräsentationen gerade auch bezogen auf Identitätspolitik zu hinterfragen und zu durchbrechen. Denn die Besonderheit der darstellenden Kunst ist, dass sich die Umsetzung sprechend und handelnd am eigenen Leib ereignet. Zugleich besitzt dieses Handeln erstmal nur Vorläufigkeit, ist ein Test, ein Spiel, während im Alltag alles als Ernst ausgelegt werden kann. Zugleich bedarf es aber auch genügend Zeit zur Reflexion, deren Fragen Butler wie folgt formuliert: Vollzieht sich diese Selbstbildung jedoch im Ungehorsam gegenüber den Prinzipien, von denen man geformt ist, wird Tugend jene Praxis, durch welche das Selbst sich in der Entunterwerfung bildet, was bedeutet, dass es seine Deformation als Subjekt riskiert und jene ontologisch unsichere Position einnimmt, die von Neuem die Frage aufwirft: Wer wird hier Subjekt sein? Und welches Leben wird zählen? Ein Moment des ethischen Fragens, welcher erfordert, dass wir mit den Gewohnheiten des Urteilens zugunsten einer riskanteren Praxis brechen, die versucht den Zwängen eine künstlerische Leistung abzuringen? 38 Letzteres erlaubt auch das Theater als jenen Ort der Selbstbildung zu begreifen, in denen die Normen und Zwänge künstlerisch umgedeutet werden können und riskiert wird, die Deformationen des Subjekts auszustellen in der Hoffnung, dass auch außerhalb des Theaterraums neue Subjektentwürfe möglich werden können. Hierfür braucht es, so Butler, „ die Kunst des langsamen Wiederkäuens zu erlernen “ 39 - denn nur die Wiederholung der Kritik ermöglicht langfristig eine Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse. Zugleich darf aber für die Theaterarbeit nicht vergessen werden, dass diese ebenso Teil von Machtverhältnissen und Normierungsprozessen ist. Wenn sich insbesondere durch die Probenarbeit das spielende Subjekt eine kritische Praxis selbst erschließen kann, deren Handeln sich in der Aufführungssituation abbildet, so stellt sich damit die Frage, wie Proben gestaltet sein müssen, damit sich Prozesse der Entunterwerfung für die beteiligten Spieler*innen entfalten können. Dicke Frauen - Kritik am Blickdispositiv von Körpernormen „ Was bedeutet es für ein Individuum, in einer körperfettfeindlich eingestellten Gesellschaft dick zu sein? Wie verändert sich dies im Lebenslauf? “ 40 Und was bedeutet dies insbesondere für Frauen, welche geschlechtsspezifischen Erfahrungen haben sie aufgrund ihres (hohen) Körpergewichts gemacht? 58 Melanie Hinz Ausgehend von den Reaktionen, die Nora Graupner als Performerin bei FKK. Eine Frauenkörperkomödie 41 an der Bürgerbühne Dresden bezogen auf ihr Körpergewicht bekommen hat, entwickelten wir die Idee, eine Stückentwicklung zu den genannten Fragen mit einer Gruppe nichtprofessioneller Darstellerinnen zu machen, die sich alle als dick bezeichnen oder Erfahrungen mit Dicksein in ihrem Leben gemacht haben. Nora Graupner erarbeitete 2014 die Produktion als Regisseurin unter ihrem Label heißes medium: polylux 42 mit acht Hildesheimer Frauen, ich war als Dramaturgin mitbeteiligt. Mit der Stückentwicklung Dicke Frauen wollten wir in den Fokus rücken, dass die Reflexion über das eigene Körpergewicht, Diäten, die Vorurteile und Konflikte mit Ärzt*innen, Arbeitgeber*innen, Familie und Partner*innen kollektiv von vielen Frauen geteilt werden - und damit gerade die intersektionale Verknüpfung von Weiblichkeit und (hohen) Körpergewicht spezifische Diskriminierungserfahrungen hervorbringt. Die Anerkennung bzw. Abwertung von Weiblichkeit ist kulturgeschichtlich bis heute an Aussehen und Körperlichkeit gebunden. So weisen Lotte Rose und Friedrich Schorb darauf hin, dass dicke Frauen stärker von Diskriminierungen, beispielweise auf dem Arbeitsmarkt, betroffen sind, weil Frauen häufiger in Serviceberufen wie Bürokraft oder Kellnerin tätig sind, die vom Aussehen abhängig gemacht werden. 43 Frauen stehen in Partnerschaften mit Männern unter stärkerem Druck, heterosexuelle Schönheitsnormen erfüllen zu müssen. 44 Ebenso sind heterosexuelle Frauen stärker von Abwertungen ihrer Partner betroffen. Zwar appelliert der Slogan ‚ Body Positivity ‘ - wie er nun auch zunehmend in den populären Medien, wie zum Beispiel Frauenzeitschriften verhandelt wird - daran, dass jeder Körper schön sei, wie er ist; soziologisch betrachtet, stellt dies aber eine Chimäre dar. Mögen sich Frauen mit Konfektionsgröße 40 von ‚ Body Positivity ‘ angesprochen fühlen und ein stärkeres ‚ Normalitätsempfinden ‘ gegenüber ihrem Körper verspüren, fühlen sich Frauen mit Konfektionsgrößen 52 eher nicht gemeint. Denn in Deutschland stellt hohes Körpergewicht ein Tabu-Thema 45 dar oder „ ein drängendes Thema, gegen das etwas getan werden muss “ . 46 Rose und Schorb weisen in ihrer Einführung in die Fat Studies daraufhin, dass „ hohes Körpergewicht mit Nachdruck als problematische Abweichung “ 47 diskutiert wird. Es wird konzeptualisiert als mangelnde Selbstdisziplin und Triebkontrolle im Essen, daraus werde Sucht und damit eine psychische Krankheit konstruiert, die Essensimpulse nicht steuern könne. Seit zwei Jahrzehnten kursiere das Wort der ‚ Adipositas-Epidemie ‘ , die wie eine um sich greifende Ansteckungsgefahr für der Menschheit gefährlicher gewertet werde als der Welthunger oder der Klimawandel. 48 Die hier beschriebenen soziologischen Diskurse stellen für die davon betroffenen Individuen eine Belastung dar, da sie „ persönlich verantwortlich für ihr Körpergewicht gemacht und fortwährend bedrängt [werden], an ihrem Körper zu arbeiten und ihn den idealisierten Gewichtsnormen anzupassen. “ 49 Rose und Schorb führen auch eine Statistik der Krankenkasse DAK an, durchgeführt von Forsa 2016, die bezeugt, dass 71 % der Befragten dicke Menschen unästhetisch finden würden. 50 Vielleicht ist dies auch ein Grund dafür, warum bisher dicke Menschen, insbesondere dicke Frauen, auch als professionelle Schauspieler*innen, kaum auf deutschen Bühnen vertreten sind. So argumentiert Nora Graupner in einem Aufsatz: Denn bei der Frage von Schönheitsbild und Vorbildfiguren erlauben sich die Bühnen nur selten einen Ausflug in unkonventionelle 59 Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse Gefilde: Dicke Schauspielerinnen (so es sie denn an einem Haus/ in einem Ensemble überhaupt gibt) sind zumeist die lustigen Tanten, fürsorglichen Ammen oder Hausmädchen; nicht aber eine Shakespeare`sche Julia, eine Emilia Galotti oder ein Käthchen von Heilbronn - diese werden klassischerweise von jungen, schlanken bis dünnen Frauen besetzt. Eine wesentliche Ausnahme in den darstellenden Künsten stellt nur die Oper dar. Insgesamt knüpfen die Bühnen an die gesamtgesellschaftlichen Schönheitsvorstellungen und Menschenbilder an und stellen diese wenig bis gar nicht infrage. 51 Ausgehend von der Frage, welche Körper im Theater überhaupt zu sehen sind und repräsentiert werden und von wem, stellt der Akt der Besetzung mit dicken Frauen bereits eine Kritik an normierten Körperbildern dar. Im Zusammenspiel mit einem derart negativen gesellschaftlichen Diskurs über hohes Körpergewicht, wie ihn Rose und Schorb verifizieren, war es nicht verwunderlich, dass auch eine Förderung des Theaterprojekts im ersten Anlauf scheiterte, angeblich mit der Begründung, „ man wolle diesem Thema kein positives und empowerndes Forum bieten “ . 52 Das in Erscheinung treten dicker Frauen verstört somit bereits die Sehgewohnheiten der Zuschauenden und reflektiert, dass das Theater nicht per se ein politischer Raum ist, sondern selbst normative Schönheitsbilder produziert. 53 So geht bereits die Anfangsszene von Dicke Frauen offensiv mit diesem Blickdispositiv um. Zu dem Song Ich bin froh, kein Dicker zu sein von Marius Müller- Westernhagen werfen die Darstellerinnen ihren Blick frontal ins Publikum und zeigen ihren Körper dann von allen Seiten. Bereits das Intro reflektiert damit offensiv den Blick, mit dem das Publikum möglicherweise dicke Darstellerinnen betrachtet. Das Lied von Müller-Westernhagen versammelt dabei Klischeebilder von Dicksein, „ Dicke schwitzen wie die Schweine/ stopfen, fressen in sich rein “ , die sogleich alle zu Beginn ausgesprochen werden und damit zeigen, mit welcher Anrufung von Körpernormen die Subjektwerdung der Spielerinnen konfrontiert ist. Zu Beginn werden auf sprachlich-musikalischer Ebene mit dem Westernhagen-Song die Abwertungen hohen Körpergewichts als nicht normgerecht zum Ausdruck gebracht. Die Spielerinnen machen aber auf der performativen Ebene ihren Körper zum ‚ Spieleinsatz ‘ . Mit dem offensiv zurückgeworfenen Blick ins Publikum wird damit das Interaktionsgefüge thematisiert, dass eben Zuschauende mit daran beteiligt sind, mit welchen Projektionen und Werturteilen die gezeigten Körper betrachtet werden. Im Foucaultschen Sinne geht es den Spielerinnen auch darum, so nicht weiter, nicht dermaßen regiert werden zu wollen. Als der Song endet, sprechen sie das Publikum direkt an: Corina: Na, was hast Du Dir gedacht, als ich eben auf die Bühne gekommen bin? Heike: Dachtest du: Die sind ganz schön dick, Mann? Marina: Und, denkst Du, dass ich langsam bin? Kristin: Na, schätzt du gerade wie schwer ich bin? Stefanie: Glaubst du, dass ich keinen Sex habe? Gertrud: Hast du etwa Angst vor so viel Körpermasse? Tanja: Glaubst Du wirklich, ich schwitze wie ein Schwein? Steffi: Findest Du, dass ich scheiß Klamotten anhabe? Damit stellen die Spielerinnen ihr Wissen aus, dass sie möglicherweise mit ihrer spezifischen Körperlichkeit im Raum des Theaters als ‚ Andere ‘ exotisiert werden könnten und machen mögliche Projektionen explizit. Diese Art der Publikumsbeschimpfung verschiebt ästhetisch das Blickdispositiv, sodass vermeintliche Vorurteile eben nicht heimlich im Dunkel des Zuschauerraums gedacht werden können, sondern sich die Zuschauenden möglicherweise ertappt fühlen. Denn die Bewertung von hohem Körpergewicht ist eine kulturelle und sich historisch durch- 60 Melanie Hinz aus wandelnde Konstruktion, die sozial eingeübt wird. Das Aussprechen von Sätzen, deren künstlerische Qualität häufig von Kritiker*innen angezweifelt wird mit einem schnellen „ wissen wir doch längst “ , hat sozial einen Effekt: die Wiederholung und das laute Aussprechen von Vorurteilen macht die Konstruktion und Absurdität von normativen Werturteilen sichtbar. Zwar mag man verleitet sein, zu glauben, dass es eben diese wirklichkeitskonstituierend nur ein weiteres Mal hervorbringt, doch je nach Sprechhaltung und Inszenierung liegt hierin auch ein kritisches Potenzial, das Gesagte zu überdenken und sich davon zu distanzieren. Es stellt die Bewertungsmuster aus, nach deren Kategorien Identität geordnet wird. Es ist vielleicht der erste Schritt der Tugend der Kritik, sie zur Überprüfung freizugeben. Einige der von den Darstellerinnen ausgesprochenen Fragen verweisen dabei explizit auf Geschlechterdiskurse, wie die Frage nach Sexualität. Im Verlauf des Stücks geht es immer wieder darum, wie gerade im Kontext von Heteronormativität Frauen entweder das Gefühl bekommen, einem männlichen Blick nicht zu genügen, oder die Erfahrung machen, aufgrund des Körpergewichts als unattraktiv und damit als Objekt männlichen Begehrens ausgeschlossen zu werden. Esther D. Rothblum hat untersucht, dass von gewichtsbedingten Sorgen und Diskriminierungen vor allem Menschen betroffen sind, die sexuelle Beziehungen zu Männern haben, da diese erzogen werden, auf das äußere Erscheinungsbild ihrer Sexualpartner*innen zu achten. 54 Aufgrund der normativen Anforderungen an Frauen, ihren Körper und ihre Schönheit zu pflegen und sich darüber zu definieren, sind Frauen stärker aufgefordert, Rechenschaft über ihren Körper abzulegen. 55 Während Männer ihr Dicksein durchaus als positive und „ eigenständige Lebensform-Entscheidung konstruieren “ , 56 betrachten Frauen in biografischen Erzählungen ihren Körper als negativ und stigmatisierend, 57 wie Eva Tolasch anhand einer empirischen Studie nachweist. Wie Dicksein die eigene weibliche Betrachtungsweise des Körpers beeinflusst, wie sich dies auch je nach Alter und Lebensphase verändert, und wie unterschiedlich dies als negativ oder stigmatisierend erlebt wird/ wurde, davon erzählen die biografischen Solos der Darstellerinnen in Dicke Frauen. Was Butler als Möglichkeit der Deformation normierter Subjektzuschreibung als kritische Praxis der Entunterwerfung benennt, liegt in der Produktion Dicke Frauen meiner Meinung nicht allein auf inhaltlich-sprachlicher Ebene, dass die Frauen bestimmte Diskriminierungserfahrungen, sei es beim Bewerbungsgespräch, in der Kur oder in heterosexuellen Beziehungen dem Publikum mitteilen. Sondern die Entunterwerfung zeigt sich auch auf der Darstellungsebene der Repräsentation: Die Heterogenität der Erfahrungen und Haltungen der Spielerinnen, mit Körpernormen umzugehen, hinterfragt die Identität einer Zielgruppe „ Dicke Frauen “ , die der Titel eigentlich manifestiert. Beispielsweise können und wollen sich gar nicht alle Darstellerinnen von den Weiblichkeitsbildern und Schönheitsnormen freimachen. Für Nora Graupner liegt genau hierin der politische Aspekt der Produktion: Es geht darum ein Forum zu stellen, in dem Frauen sich trauen zu sagen, dass sie diese Spannung aushalten (müssen), indem sie einfordern, als Individuen akzeptiert zu werden, auch wenn sie nicht nur nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen, sondern auch den eigenen nicht entsprechen. 58 Die unsichere Position, die sie zeigen, ist eben jene, dass Frauen bezogen auf ihr Körpergewicht immer wieder in Legitimierungszwänge geraten, vor anderen, aber auch vor sich selbst. Vor ein Publikum zu 61 Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse treten, geht damit mit der Unsicherheit vor dem Blick der Anderen einher - dieser kann nicht kontrolliert werden, wohl kann um Anerkennung geworben werden. Zu einer permanenten Störung dieses Blicks führt dabei auch, dass die Kategorie ‚ dick ‘ eine Zuschreibung ist, die die beteiligten Darstellerinnen selbst auf sich beziehen, obwohl unter medizinischen Kriterien nicht alle Spielerinnen als übergewichtig eingestuft worden wären. Hierbei findet ebenfalls eine positive Aneignung des Wortes ‚ dick ‘ statt. Besonders für diese Produktion ist, dass die Regisseurin mit den Spielerinnen Diskriminierungserfahrungen teilt und selbst ein Bewusstsein für das visuelle Dispositiv hat, mit dem dicke Frauenkörper bewertet werden. Und dies führt u. a. zu einer aktiveren, mutigeren Teilnahme der Darstellerinnen. Damit liegt das kritische Potenzial dieser Produktion nicht nur in der offensiven Darstellung dicker Frauenkörper auf der Bühne, sondern auch in den Produktionsgemeinschaften, die gegründet werden. Eine solche Besetzung des Produktionsteams greift damit nicht das Wissen einer marginalisierten Gruppe ab, sondern hat selbst ein Sonderwissen über die ästhetischen Diskurse dicker Frauenkörper im Theater. Adam, Eva und ich - Expert*innen des Geschlechts und ihr Sonderwissen als Akt der Kritik „ Wenn mein Körper mit mir reden könnte, würde er mir von Sachen erzählen, von denen ich heute absolut keine Ahnung mehr habe “ , sagt eine der Darsteller*innen in der ersten Szene der Produktion Adam, Eva und ich. Biografien intersexueller Menschen (2015) der Frl. Wunder AG. 59 Die Produktion entstand aus der Initiative eines Mitglieds der Frl. Wunder AG, das die eigenen Erfahrungen von Intersexualität mit anderen intersexuellen Menschen des Vereins für Intersexuelle Menschen e. V. zum Ausgangspunkt einer Stückentwicklung machen wollte. Anhand des Zitats wird bereits die Perspektive der Inszenierung deutlich, von der eine Kritik an den machtvollen sozialen und medizinischen Umgangsweisen geübt wird, die intersexuelle Menschen in ihrer Biografie erleben. Anja Gregor bezeichnet den intersexuellen Körper als einen durch medizinische Eingriffe „ enteigneten Körper “ . 60 Über viele operative Eingriffe und Medikamente, die dem eigenen Körper vor allem in der Kindheit verordnet wurden, wissen viele intersexuelle Menschen gar nichts, da Eltern und Ärzt*innen sie nicht darüber informiert haben. Im Kontext einer vor allem in Deutschland noch tabuisierten Medizingeschichte der Intersexualität stellt das biografische Erzählen der im Laufe der eigenen Biografie erlebten Versehrtheiten eine Kritik an der Tabuisierung von Intersexualität sowie an der sozialen und medizinischen Normangleichung an die binäre Geschlechterdifferenz dar. Insofern kann die Theaterarbeit, der Austausch mit anderen intersexuellen Personen im kollektiven Prozess des Theatermachens, und den eigenen Körper in der Sichtbarkeit der theatralen Rahmung zu zeigen, eine Wiederaneignung des eigenen Körpers leisten. Insbesondere das biografische Erzählen kann hierbei auch eine Selbstermächtigung sein. Trotz Wiederaneignung - sei es im Akt des Erzählens, in der Souveränität im Umgang mit der eigenen Einschätzung der Gesunderhaltung oder auch der identitären Einordnung jenseits von zwei Geschlechtern - bleibt der Körper aber insofern enteignet, als dass die irreversiblen Eingriffe ihn zu einem versehrten intergeschlechtlichen Körper machen. Eine Rückkehr zum ‚ ursprünglichen ‘ Körper ist nicht möglich - der einmal enteignete Kör- 62 Melanie Hinz per kann nie wieder ganz angeeignet werden. 61 Mit Butlers Forderung, dass das Individuum jene unsichere Position aufsuchen soll, von wo aus es die Normen seiner Subjektwerdung kritisieren kann, lässt sich für intersexuelle Personen festhalten, dass sie sich aufgrund ihrer Intersexualität bereits per se in einer Kritik-Position an einer biologistischen Idee von zwei Geschlechtern befinden. Dass der intersexuelle Körper bereits als widerständiger Körper signifiziert wird, führt auch zu einer spezifischen Geschlechterarbeit, die Intersexuelle in ihrem Alltag leisten müssen und dadurch in eine Position der Anderen gesetzt werden. Die Produktion Adam, Eva und ich kann diese Alterität nicht auflösen. Wie der Titel schon deutlich macht, geht es um die Besetzung einer dritten Position: für eine Anerkennung des intersexuellen Geschlechts. Dafür treten auf der Bühne sechs Performer*innen ein, von denen nicht alle eine medizinische Diagnose als intersexuell haben. Während der Probenzeit gab es noch kein Gesetz, das die Bezeichnung ‚ divers ‘ im Pass möglich machen würde, wie es mittlerweile auf juristischem Weg ist. Verhüllen und Enthüllen des (intersexuellen) Körpers, das Wissen über Intersexualität als Konzeption der Andersheit in einer binären Geschlechterordnung und der Wunsch nach Normalisierung stellen das Spannungsgefüge der Inszenierung dar. Bereits in der ersten Szene sind alle Darsteller*innen hinter einer Umkleidekabine und ziehen sich um. Die Zuschauenden sehen nur Füße und Klamottenteile und hören verschiedene Stimmen, die über ihre Geschlechtsidentität berichten. In einer anderen Szene sieht man alle Darsteller*innen auf der Bühne, wie sie vermeintlich einen Blick in ihre Hose auf ihr Genital werfen und dieses beschreiben. Am Ende wird aus der Hose ein Apfel hervorgezogen und gegessen. Das Publikum kann nicht mehr rekonstruieren, ob wirklich das eigene Genital beschrieben wurde oder eigentlich der Apfel. Damit wird mit der Schaulust des Publikums gespielt. So wird fürsorglich und reflektiert mit dem Blickdispositiv umgegangen, mit dem intersexuelle Menschen im Theater, aber auch im Alltag konfrontiert sind. Die Inszenierung setzt immer wieder solche ästhetischen Strategien der Veruneindeutigung des Körpers ein. Die besondere Kritik bei Adam, Eva und ich liegt im Akt des biografischen Erzählens selbst und in dem Sonderwissen, das Expert*innen des Geschlechts mit auf die Bühne bringen. Letztlich sind wir alle Expert*innen geschlechtlicher Erfahrungen. In einer Vielzahl von Projekten werden Darsteller*innen aufgefordert, diese auf einer Bühne zu reflektieren. Den Anstoß zur Reflexion bietet häufig erst das Theaterprojekt, d. h. die geschlechtlichen Erfahrungen sind eher der eigenen Identitätserzählung implizit und werden erst durch biografische Theaterarbeit künstlerisch explizit gemacht. 62 Es gibt aber auch jene Alltagsexpert*innen wie bei Adam, Eva und ich, bei denen eine Auseinandersetzung mit geschlechtlichen (Diskriminierungs-)Erfahrungen und deren Reflexion zum alltäglichen Leben gehört und die sich so ein Sonderwissen angeeignet haben. Kim Scheunemann bezieht sich in ihrer empirischen Untersuchung Expert*innen des Geschlechts (2017) auf jene Expert*innen von Inter- und Trans-Themen, denen eine professionelle Deutungsmacht zugeschrieben wird, weil sie Veranstaltungen organisieren, Gutachten schreiben oder publizieren, die also öffentlich darüber sprechen und gehört werden. 63 Ich plädiere in diesem Aufsatz für eine Erweiterung von Scheunemanns Expert*innen-Begriff auf ebenjene, die im Kontext des Theaters ihr Geschlechterwissen öffentlich machen. Im Sinne von Sibylle Peters Forschen aller 64 kann durch den kollektiven Prozess 63 Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse des Theatermachens gemeinsam Wissen erforscht und geteilt werden, eben auch solches, was als implizites Wissen 65 gar nicht oder nur schwer Eingang in die Scientific Community findet. Das Theater stellt dafür ein öffentliches Forum dar, wie in der Antike eine Polis, ein Versammlungsraum für „ eine demokratische Idee von Öffentlichkeit “ 66 und eben jenes Wissen, was sonst nur in den eigenen Communities, Körpern und Biografien kursiert und eben nicht interdisziplinär mit unterschiedlichen Menschen und ihren Erfahrungen geteilt wird. Damit Alltagsexpert*innen im Theater eine Kritik- Position einnehmen können, müssen sie sich selbst im Sinne Foucaults und Butlers über die Normierung ihrer Subjektwerdung bewusst sein und ihr Wissen nutzen, um eine Entunterwerfung zu thematisieren. Dieses Wissen kann beispielsweise in den Bereichen von Medizin, Lebensführung, Kulturgeschichte der eigenen geschlechtlichen Identität, Vorbilder und Identifikationsfiguren aus Medien und Künsten, Netzwerke, Möglichkeiten zum Aktivismus, eigene biografische Erlebnisse etc. liegen. In diesem Sinne handelt es sich bei den Beteiligten von Adam, Eva und ich um Expert*innen des Geschlechts. Für die Teilnahme am Projekt war ihr politisches Interesse ausschlaggebend, den eigenen Erfahrungen mit Intersexualität eine individuelle Stimme zu geben, welche z. B. darin bestehen, binär wahrgenommen zu werden, sei es von Ärzt*innen durch Operationen oder durch soziale Zuschreibungen. In diesem Sinne ist Adam, Eva und ich im besten Sinne Aufklärungstheater über die Stigmatisierungen und konkreten psychischen und physischen Schmerzen, die intersexuellen Menschen, die sich mittlerweile in ihren 20er- und 30er-Jahren befinden, angetan wurden. Der Spieleinsatz, den die Darsteller*innen von Adam, Eva und ich leisten, ist, das Schweigen zu brechen und ihre biografischen Geschichten dem Publikum mitzuteilen. Besonders ist für diese Generation von intersexuellen Menschen, dass sie häufig erst im Alter von 18 Jahren überhaupt von ihrer Intersexualität erfahren haben. Die Performer*innen erzählen auf der Bühne, dass sie lange Zeit die Operationen und das Unwohlsein mit ihrer im Pass dargelegten Gendereinordnung gar nicht einzuordnen wussten, weil die Eltern ihnen ihre Intersexualität verheimlichten. Insofern betreiben die Darsteller*innen eine Erinnerungsarbeit, wie aus ihnen wurde, was sie sind. Dabei sind sehr individuelle Geschlechtsidentitäten entstanden - vom Wunsch, ein ‚ drittes Geschlecht ‘ auch rechtlich leben zu können, bis hin zu einer positiven Annahme der ver-eindeutigten Geschlechtsidentität. Von der Norm einer Geschlechterdifferenz, wie sie in den Körper geschrieben wird, obwohl der biologische Körper sich dieser Eindeutigkeit verweigert, erzählen auch die direkt ausgesprochenen Sätze, die in den Arztpraxen zu hören waren: „ Warum wurde ich zu einer Frau operiert? Es ist leichter ein Loch zu graben, als einen Pfahl zu bauen. “ 67 In einer Szene wird anhand einer Melone eine erlebte Operation nachgestellt. Die Inszenierung stellt ein spezifisches Geschlechterwissen aus, was von eben jenen artikuliert wird, die davon ‚ betroffen ‘ sind. Die Kritik liegt hier eindeutig im Eingriff in den Diskurs, die Geschichte intersexueller Menschen nicht mehr als eine pathologische Geschichte erzählen zu wollen, sondern als Geschichte von Menschen, die ein Recht darauf haben, ihr Geschlecht bzw. ihre Geschlechtsidentität selbst zu wählen. Zugleich ist ein entscheidendes Merkmal der Inszenierung, dass unklar bleibt, zu wem genau welche biografische Geschichte gehört - damit die Körper gerade nicht vereindeutigt werden können. Es geht darum, einer dritten Position Raum zu geben, in dem in einem identitätspolitischen Sinne keine Rückführungen auf das biologische und soziale Ge- 64 Melanie Hinz schlecht der Beteiligten gemacht werden können. In einem so stark biologistisch aufgeladenen Diskurs wie dem der Intersexualität muss umso stärker die Performativität von Geschlecht aufgezeigt werden. Zugleich wird in produktiver Weise der Angst der Beteiligten vor einer kompletten Entblößung ihrer Identität begegnet, der sie selbst erst auf die Spur kommen. Der Tausch von biografischen Erzählungen und das Herausarbeiten kollektiver Erfahrungen stellt im theaterpädagogischen Kontext laut Norma Köhler eine Form des Biografierens dar, die besonders für politische Themen eingesetzt wird. Naheliegend ist, dass sich der Akteur in der Aufführung der Inszenierungen, die mit kollektiver Spurensuche ihr Stück entwickeln, verstärkt als politischer Akteur erlebt. Durch die Verständigungs- und Vermittlungsprozesse innerhalb der biografischen Gruppenarbeit appelliert er gemeinsam mit anderen Darstellern bei der Premiere mehr oder weniger implizit an die Verantwortung der Zuschauer für Aufgaben und Problemfelder. 68 Von der Dramaturgie entspricht die Inszenierung einer klassischen Form biografischen Theaters: einer Montage solistischer Szenen folgen Gruppenszenen und Lecture Performances. Eine stärkere Theatralisierung und Fiktionalisierung der erarbeiteten Szenen war, so stellte sich in den dramaturgischen Gesprächen heraus, für die beteiligten nicht-professionellen Darsteller*innen nicht möglich. Immer wieder gab es die Sorge, dass sonst die politische Botschaft vom künstlerischen Zugriff überdeckt werden könnte. Meine These ist, wenn Gruppen sich noch im Modus einer politischen Anerkennung befinden und überhaupt ihre eigene Geschichte, als eine biografische und kulturelle Geschichte der Unterdrückung aufarbeiten müssen, fungiert Theaterarbeit im Modus des Empowerments und der Aufklärung. Das heißt: Gegenüber dem Kunstprodukt rückt der Austausch und Vermittlungsprozess über Diskriminierungserfahrungen innerhalb der Gruppe in den Vordergrund. In der ästhetischen Suchbewegung geht es dann darum, in angemessener Weise dafür eine Form zu finden. Das Visionäre und Imaginative von Theater kann erst dann stärker in den Vordergrund treten, wenn ein sozialer Status erreicht ist, in dem das Wiedererzählen zu einer Transformation der Verhältnisse geführt hat, von dem aus eine neue Zukunft visioniert werden könnte. Mit der Änderung des Personenstandgesetzes, in dem künftig auch ein drittes Geschlecht wählbar ist, ist dies vielleicht in greifbarere Nähe gerückt, die eigene Geschichte stärker dem Spiel freigeben zu können. Fazit Gerade im Kontext professioneller Inszenierungen mit Alltagsexpert*innen erzeugen nicht-normative Körper Schauwert, nicht immer sind Theatermacher*innen mit den jeweils spezifischen Körperdiskursen vertraut und stellen Nicht-Profis als Andere zur Schau oder bezahlen diese nicht für ihren Expert*innenstatus. Die beiden hier besprochenen Produktionen zeigen, dass bereits in der Gründung von Produktionsgemeinschaften ein Raum der Fürsorge liegt, die Teilhabe und das Sonderwissen von Geschlechtsexpert*innen nicht einfach im Kontext der Kunst zu verwerten. Die Theatermacher*innen bringen sich mit ihrer eigenen biografischen Erfahrung ein und entwickeln ein gemeinsames genderpolitisches Anliegen für die Teilnahme von Alltagsexpert*innen am Projekt. Die Theatermacher*innen bewahren so auch einen Fremdblick auf die Expert*innen als andere, weil sie sich selbst im Feld identitär verorten. Ein zweites wichtiges Kriterium, um einer 65 Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse Exotisierung von nichtprofessionellen Darsteller*innen als andere zu entgehen, ist, auf das sie jeweils betreffende Blickdispositiv des Theaters bezogen, Körperbilder und Geschlechterdiskurse auch innerhalb der Theateraufführung zu reflektieren. Nichtprofessionelle Darsteller*innen fungieren in den besprochenen professionellen Theaterinszenierungen aufgrund ihrer Biografie, ihres Sonderwissens und ihrer Körper als Expert*innen des Geschlechts und als Kritiker*innen von normativen Körperbildern und Geschlechterdiskursen. Damit Kritik von Expert*innen des Geschlechts gehört werden kann, braucht es zudem für die Zuschauenden eine Sensibilisierung für die jeweiligen sozialen Kontexte und Diskurse, die diese nicht-professionellen Darsteller*innen mit in die Theaterarbeit und mit auf die Bühne bringen. Insofern gilt es, eine professionelle Arbeit mit Expert*innen des Geschlechts stärker als eine kontext- und diskurs-spezifische Arbeit von Zuschauenden zu rezipieren. Damit den innovativen Theater-Kritik-Begriffen in der Bewertung nicht einfach anheimgefallen wird, ist es wichtig, dass die Normen befragt werden, nach denen bestimmten Theaterinszenierungen Kritik- und Innovationspotenzial zugesprochen wird, und anderen nicht. Das Theater hat auch die Funktion einer Polis, widerständige Körperbilder und Geschlechterwissen jenseits von Geschlechtsbinarität, normativen Schönheitshandeln und Heteronormativität in einem Raum geteilter Aufmerksamkeit zu vermitteln, der sich durch die Kritik von nicht-professionellen Darsteller*innen im besten Fall zu einem Raum geteilter Anerkennung verwandeln kann - wenn noch nicht für die Zukunft der Gesellschaft, so doch für den kurzen Moment des Zusammenseins im Theater. Anmerkungen 1 Vgl. einen Kurzabriss zur Geschichte der Begrifflichkeiten: Melanie Hinz, „ Nicht nach den Profis schielen! Ein Essay über zeitgenössisches Amateurtheater “ , in: die bühne - das Theater der TUD/ Matthias Spaniel (Hg.), 60 Jahre Die Bühne, Dresden 2016, S. 22 - 35. 2 Vgl. Florian Malzacher, „ Dramaturgien der Fürsorge und Verunsicherung. Die Geschichte von Rimini Protokoll “ , in: Ders. und Miriam Dreysse (Hg.), Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 14 - 43, hier S. 23. 3 Ines Eifler, „ Schauspieler nehmen Schaumbad “ , in: Sächsische Zeitung, 23. 04. 2010, S. 23. 4 Ebd. 5 Vgl. Nora Graupner, „‚ Dicke Frauen ‘ - eine Theaterproduktion über Körperbilder “ , in: Lotte Rose und Friedrich Schorb (Hg.), Fat Studies in Deutschland. Hohes Körpergewicht zwischen Diskriminierung und Anerkennung, Weinheim 2017, S. 160 - 169, hier S. 161. 6 Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982, S. 277 ff. 7 Judith Butler, Psyche der Macht, Frankfurt a. M. 2001, S. 8. 8 Vgl. hierzu auch: Andrea Maria Zimmermann, Kritik der Geschlechterordnung. Selbst-, Liebes- und Familienverhältnisse im Theater der Gegenwart, Bielefeld 2017, S. 116 f. 9 Judith Butler, „ Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend “ , in: Rahel Jaeggi und Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik, Frankfurt a. M. 2009, S. 221 - 246, hier S. 225. 10 Vgl. Matthias Warstat et. al., „ Interventionen “ , in: Dies. (Hg.), Theater als Intervention. Politiken ästhetischer Praxis, Berlin 2015, S. 28 - 50, hier S. 45. 11 Vgl. Olivia Ebert et al. (Hg.), Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung, Bielefeld 2018. 12 Olivia Ebert et. al., „ Vorwort “ , in: Dies. (Hg.), Theater als Kritik, S. 11 - 17, hier S. 14. 66 Melanie Hinz 13 Ebd., S. 11. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 12, Hervorhebung im Original. 16 Hans-Thies Lehmann, „ Wie politisch ist das Postdramatische Theater? Warum das Politische im Theater nur die Unterbrechung des Politischen sein kann “ , in: Theater der Zeit 10 (2001), S. 10 - 14, hier S. 13. 17 Ebd., S. 13. 18 Ebert et. al., „ Vorwort “ , S. 14. 19 Nikolaus Müller-Schöll, „ Die Fiktion der Kritik. Foucault, Butler und das Theater der Ent-Unterwerfung “ , in: Ebert et. al. (Hg.), Theater als Kritik, S. 49 - 56, hier S. 55. 20 Im Rekurs auf Spivak. 21 Rahel Jaeggi und Tilo Wesche, „ Einführung: Was ist Kritik? “ , in: Dies. (Hg.), Was ist Kritik, S. 7 - 20, hier S. 8 f. 22 Stefan Hulfeld, Theatergeschichtsschreibung als kulturelle Praxis. Wie Wissen über Theater entsteht, Zürich 2007, S. 342. 23 Michel Foucault, Was ist Kritik? , Berlin 1992. 24 Butler, „ Was ist Kritik? “ , S. 225. 25 Zimmermann, Kritik der Geschlechterordnung. 26 Foucault, Was ist Kritik? . 27 Butler, „ Was ist Kritik? “ , S. 225. 28 Ebd., S. 225. 29 Zimmermann, Kritik der Geschlechterordnung, S. 40. 30 Vgl. ebd., S. 41. 31 Ebd., S. 42. 32 Foucault, Was ist Kritik. S. 11 f. 33 Ebd., S. 12. 34 Vgl. Butler, „ Was ist Kritik? “ , S. 234. 35 Foucault, Was ist Kritik, S. 15. 36 Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit II, Frankfurt a. M. 1989. 37 Butler, „ Was ist Kritik? “ , S. 237. 38 Ebd., S. 246. 39 Ebd., S. 226. 40 Lotte Rose und Friedrich Schorb, „ Fat Studies in Deutschland. Eine Einführung “ , in: Dies. (Hg.), Fat Studies in Deutschland, S. 7 - 15, hier S. 9. 41 FKK. Eine Frauenkörperkomödie entstand in der Regie von Melanie Hinz und Sinje Kuhn in der Spielzeit 2009/ 2010 an der Bürgerbühne Dresden des Staatsschauspieles Dresden. Ausstattung/ Kostüm: Tatjana Kautsch. Video: Philip Steimel. Dramaturgie: Miriam Tscholl. 42 Vgl. https: / / heissesmediumpolylux.wordpress .com [Zugriff am 23. 02. 2019]. An der Produktion waren beteiligt: Von und mit: Tanja Charman, Kristin Dickhoff, Corina Kumm, Marina Musema, Stefanie Rohr, Heike Sager, Gertrud Schlote-Henschke. Künstlerische Leitung: Nora Graupner; Dramaturgie: Melanie Hinz; Musikalische Betreuung: Stephanie Krah; Assistenz & Technik: Maria Gebhardt; Produktionsleitung: Maike Tödter. 43 Vgl. Rose, Schorb, „ Fat Studies in Deutschland “ , S. 12. 44 Vgl. ebd., S. 14. 45 Vgl. Graupner, „‚ Dicke Frauen ‘“ , S. 169. 46 Rose, Schorb, „ Fat Studies in Deutschland “ , S. 7. 47 Ebd. 48 Vgl. ebd. 49 Ebd., S. 7 f. 50 Vgl. ebd., S. 8. 51 Graupner, „‚ Dicke Frauen ’“ , S. 161. 52 Ebd., S. 162. 53 Es ist zugleich nicht verwunderlich, dass hierzu bisher keine soziologischen Statistiken vorliegen, nach welchen ästhetischen Kriterien bezogen auf die Körperlichkeit beispielsweise Schauspielerschüler*innen an Schauspielschulen aufgenommen werden. Allein Schößler und Haunschild können in einer Studie über geschlechtsspezifische Arbeitsbedingungen für Schauspielerinnen am Theater nachweisen, dass Schauspielerinnen bereits ab Mitte 30 Probleme haben, attraktive Rollenangebote zu bekommen. Vgl. Axel Haunschild und Franziska Schößler, „ Genderspezifische Arbeitsbedingungen am deutschen Repertoiretheater - eine empirische Studie “ , in: Gaby Pailer und Franziska Schößler (Hg.), Geschlechter Spiel Räume: Dramatik, Theater, Performance und Gender, Amsterdam/ New York 2011, S. 255 - 269. 54 Esther D. Rothblum, „ Fat Studies “ , in: Rose und Schorb (Hg.), Fat Studies in Deutschland, S. 16 - 30, hier S. 23. 55 Eva Tolasch, „‚ What ’ s wrong with being fat? ’ - Erzählungen zum Dicksein von Menschen 67 Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse mit hohen Körpergewicht “ , in: Rose und Schorb (Hg.), Fat Studies in Deutschland, S. 97 - 122, hier S. 121. 56 Ebd., S. 112. 57 Ebd. 58 Graupner, „‚ Dicke Frauen ’“ , S. 168. 59 Vgl. http: / / fraeuleinwunderag.net/ [Zugriff am 23. 02. 2019]. An der Produktion waren beteiligt: von und mit: Frl. Wunder AG. Julia Gerasch, Vanja Kadow, Verena Lobert, Vanessa Lutz, Sandrao Mendig, Jessika-Katharina Möller-Langmaack, Malte Pfeiffer, Carmen Grünwald-Waack, Kostüm & Bühne: Swana Gutke, Produktionsleitung: Zwei Eulen (Maike Tödter), Produktionsassistenz: Karu Grunwald. 60 Anja Gregor, „ Das ist mein Körper. Intergeschlechtliche Körper zwischen Krise und Emanzipation “ , vgl. https: / / www.academia. edu/ 20404233/ Das_ist_mein_Körper_Intergeschlechtliche_Körper_zwischen_Krise_ und_Emanzipation [Zugriff am 26. 02. 2019], S. 9. 61 Ebd. 62 So war es beispielsweise in dem eingangs beschriebenen Projekt FKK. Eine Frauenkörperkomödie. Die beteiligten Frauen hatten vor allem Interesse, Theater zu spielen und die Auseinandersetzung mit der Weiblichkeits- und Gender-Thematik stellte für viele ein Tabu dar. Vgl. zum Probenprozess von FKK und den Herausforderung von Scham, Tabu und heterogenen Genderverständnissen: Melanie Hinz, „ Situative Regie. Am Beispiel von FKK. Eine Frauenkörperkomödie und Cash. Das Geldstück “ , in: Hajo Kurzenberger, Miriam Tscholl (Hg.), Die Bürgerbühne. Das Dresdner Modell, Berlin 2014, S. 99 - 111. 63 Kim Scheunemann, Expert_innen des Geschlechts. Zum Wissen über Inter*- und Trans*-Themen, Bielefeld 2017, S. 18. 64 Vgl. Sibylle Peters (Hg.), Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld 2013. 65 Vgl. zum Begriff des schweigenden Wissens: Anja Kraus et al. (Hg.), Handbuch Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen, Weinheim 2017; Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt a. M. 1985; Melanie Hinz, „ Forschendes Theater als Transfer impliziten Wissens. Von der Recherche zur Performance “ , in: Dies. et al (Hg.), Forschendes Theater in Sozialen Feldern. Theater als Soziale Kunst III, München 2018, S. 81 - 102. 66 Benjamin Wihstutz, Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheater, Zürich 2012, S. 16. 67 Der in der Aufführung verwendete Ausspruch ist tradiert im medizinischen Diskurs zu Intersexualität, vgl. Verena Averkamp, Jenseits der zwei Geschlechter. Was nicht sein kann, was nicht sein darf. Vom Umgang mit Intersexualität, Hamburg 2012, S. 44. 68 Norma Köhler, Biografische Theaterarbeit zwischen kollektiver und individueller Darstellung. Ein theaterpädagogisches Modell, München 2009, S. 110. 68 Melanie Hinz Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones Annette Bühler-Dietrich (Stuttgart) Ausgehend von Ernst Bloch entwickelt der queere Theaterwissenschaftler José Esteban Muñoz in Cruising Utopia den Gedanken, dass sich das Potential des Zukünftigen aus dem Nicht-Mehr-Bewussten von Vergangenem entwickeln ließe, und wendet seinen Blick dem vergessenen Archiv queerer Kunst vor den 1980er Jahren zu. Der vorliegende Artikel geht auf Blochs Texte zurück und entwickelt aus ihnen die Formel von „ Hoffnung als Kritik “ . Nach einem Aufzeigen der Parallelen und Differenzen von Bloch und Muñoz wird das Verständnis von Hoffnung als Kritik anhand der Lecture Performance The Process of Becoming Infinite von Bill T. Jones überprüft. Jones ’ Reenactment seiner Choreografie 21 als Ausgangspunkt verbindet formal und inhaltlich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und deren Konzeptionen von Gender-Binarität mit der Untersuchung von deren utopischem Gehalt. Sein kritisches „ erzählendes Denken “ (Adorno) stellt ihn auch stilistisch in eine produktive Reihe mit Bloch und Muñoz. In seiner 2009 erschienenen Studie Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity befasst sich der Theaterwissenschaftler José Esteban Muñoz (1967 - 2013) mit der queeren Subkultur seit den 1950er Jahren. Tanz, Fotografie, Autobiografie und Theater sind die Kunstformen, auf die er seinen Blick richtet. Orte geraten ebenso in den Fokus wie bestimmte Künstler*innen; persönliche Erfahrungen mit Orten, Personen und Musikstilen verbinden den Wissenschaftler mit seinem Forschungsgegenstand. Geschult hat er, nach eigenen Angaben, seinen Blick an Ernst Bloch. 1 Der Philosoph Ernst Bloch (1885 - 1977) gehört zum weiteren Kreis der Frankfurter Schule; wie Muñoz bemerkt, ist seine Rezeption innerhalb der Queer Theory deutlich geringer als die von Walter Benjamin oder Theodor W. Adorno. Muñoz wendet sich dem Philosophen zu, weil sich Bloch zentral mit der Frage der Utopie befasst. Sein dreibändiges Werk Das Prinzip Hoffnung entfaltet die Wirkung dieses Prinzips systematisch, ästhetisch, gesellschaftspolitisch und wissenschaftsgeschichtlich. Doch Bloch zeichnet sich daneben auch durch seinen Stil aus, der Reflexion, breite Kenntnis der deutschsprachigen Literatur und explizite Meinungsäußerungen verknüpft. Als Wissens- und Wissenschaftssubjekt nimmt er sich gerade nicht zurück. Blochs Hermeneutik wird Muñoz zum Leitfaden seiner Archivforschung, die das utopische Potential des Vergangenen auslotet. Hoffnung als Kritik ist eine Formel, die ich im Folgenden anhand der Schriften von Ernst Bloch entwickle. Hoffnung enthält eine Kritik der Wirklichkeit und verbindet sich darin mit dem Blick auf eine andere Zukunft, die José Muñoz im Blick hat. Bloch, wie in Anlehnung an ihn Muñoz, wende sich zunächst der Vergangenheit zu, um daraus das Potential für die Zukunft zu entwickeln. Diese Wendung zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prägt auch die künstlerische Form des Reenactment. In das queere Archiv, das Muñoz erstellt, könnte auch der afrikamerikanische Tänzer und Choreograph Bill T. Jones eingetragen werden. In seine Lecture-Performance von 2016 Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 69 - 84. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0008 The Process of Becoming Infinite integriert Jones seine Choreografie 21 von 1983. Die Lecture Performance wird zum Anlass, über das Reenactment die Zeitstufen Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden und in das im Titel mehrfach kodierte Werden zu überführen. Die Auseinandersetzung mit Konstruktionen von Queerness bei Muñoz wird bei Jones aufgenommen und angesichts seiner heutigen Position als anerkannter Künstler und HIV-positiver homosexueller Tänzer in seiner Performance wie auch in Schriften und Gesprächen von ihm reflektiert. Hoffnung als Kritik ist für ihn vor allem die Hoffnung, die in der Kunst vermittelt wird und auf eine andere Gesellschaft hinarbeitet. Darin begegnet Jones dem Anliegen Ernst Blochs. Die folgenden Ausführungen wenden sich in chronologischer Reihenfolge zuerst Bloch und Muñoz zu, um im dritten Teil zu schauen, wie die Kunst, die beide als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen nehmen, selbst Hoffnung als Kritik realisiert. Hoffnung als Kritik Also Hoffnung ist kritisch, Hoffnung ist enttäuschbar, Hoffnung nagelt aber doch immerhin eine Flagge an den Mast, auch im Untergang, indem er nicht akzeptiert wird, auch wenn er noch so mächtig ist. 2 Das Prinzip Hoffnung, veröffentlicht 1959 und geschrieben 1938 bis 1947 im US-amerikanischen Exil, ist Blochs Opus magnum innerhalb eines umfangreichen, in einem langen Leben verfassten Werks. Andere Texte greifen seine Thematik auf oder greifen vorweg, so die erstmals schon 1930 erschienene Sammlung von Denkbildern Spuren. Wichtig sind für die folgende Diskussion vor allem die Texte, die auch Muñoz liest, um zu zeigen, woher die Grundgedanken, die er aufgreift, kommen und in welchen Diskussionskontext Bloch selbst eingebunden ist - etwas, das bei Muñoz nicht zur Sprache kommt. Wie sich aus Blochs Aussagen die Formel der Hoffnung als Kritik ableiten lässt, werde ich schließlich besonders mit Blick auf Blochs Vorlesung Kann Hoffnung enttäuscht werden? (1961) und sein Gespräch mit Theodor W. Adorno Etwas fehlt (1964) zeigen. In seinem dichten Vorwort zu Das Prinzip Hoffnung schreibt Bloch: „ Sehnsucht, Erwartung, Hoffnung also brauchen ihre Hermeneutik, die Dämmerung des Voruns verlangt ihren spezifischen Begriff, das Novum verlangt seinen Frontbegriff. “ 3 Das Ziel der Erkenntnis des ‚ Noch-Nicht ‘ (Bloch) führt Bloch zu einer Auseinandersetzung mit den psychoanalytischen Theoremen Sigmund Freuds und Carl Gustav Jungs und zu einer Neubestimmung des Unbewussten. An Freud kritisiert Bloch, dass bei ihm das Unbewusste als Verdrängtes nur auf die Vergangenheit bezogen sei und gleichzeitig Freud seine Theorie an der bürgerlichen Schicht entwickelt habe, für die sie in besonderem Maße gelte. Dagegen verdammt er Jungs Archetypenlehre frei heraus, für ihn bleibt er „ der psychoanalytische Faschist “ . 4 Sowohl in Freuds Unbewusstem als auch in Jungs Archetypen richtet Bloch den Blick stattdessen auf das Noch-Nicht. Im Unterschied zur Libidotheorie Freuds, der er die Nicht-Beachtung „ ökonomisch-gesellschaftlicher Bedingungen “ 5 vorwirft, geht Bloch zuerst vom Hunger als originärem Trieb aus und differenziert die Affekte aus diesem Grundtrieb. Er kristallisiert darunter die Gruppe der Erwartungsaffekte heraus: Erwartungsaffekte (wie Angst, Furcht, Hoffnung, Glaube) dagegen sind solche, deren Triebintention weitsinnig ist, deren Triebgegenstand nicht bloß in der jeweiligen individuellen Erreichbarkeit, sondern auch in der bereits zurhandenen Welt noch nicht bereit liegt [. . .]. 6 70 Annette Bühler-Dietrich Blochs Interesse geht über das Individuum und dessen Lebensplanung hinaus und wendet sich stattdessen an die Hoffnung, die sich auf die Veränderung der Welt richtet. Deren Artikulation arbeitet er in Träumen, Wunschbildern und Kunstwerken heraus. Die Kategorie der Möglichkeit wird für ihn zentral, sie benennt das „ objektiv-real- Mögliche “ . 7 Blochs Verständnis der Welt als offene führt dazu, dass er statt der gefügten Form den Prozess betrachtet: „ Das Wirkliche ist Prozeß; dieser ist die weitverzweigte Vermittlung zwischen Gegenwart, unerledigter Vergangenheit und vor allem: möglicher Zukunft. “ 8 Ihn interessiert dabei das Real-Mögliche, nicht das, was allein denkbar wäre. Dem Menschen räumt er grundsätzlich eine liminale Position ein: „ Der Mensch dieser Zeit versteht sich durchaus auf Grenzexistenz außerhalb des bisherigen Erwartungszusammenhangs von Gewordenheit. “ 9 Damit ist der Mensch nicht auf die vorgegebenen gesellschaftlichen Bahnen und Glücksvorstellungen verpflichtet, die Erwartung einer anderen Zukunft, die Hoffnung auf eine andere Gesellschaft ist ihm möglich. Weil Bloch die Wirklichkeit als Prozess sieht und den Menschen als Grenzwesen an der Schwelle zu einer möglichen anderen gesellschaftlichen Wirklichkeit, wird Hoffnung gerade zum Element der Kritik dieser Wirklichkeit. In seiner Antrittsvorlesung Kann Hoffnung enttäuscht werden? , gehalten im Jahr des Mauerbaus 1961, als Bloch, Professor in Leipzig, vom Mauerbau überrascht, die Professur in Tübingen annahm, greift er den Gedanken der Offenheit der Geschichte auf: Geschichtlich, prozeßhaft ist dieser Gang aber ebendeshalb, weil noch nichts als unwiderrufliches Faktum, das heißt Gewordensein, ausgemacht ist. Daher steht nicht nur der Affekt Hoffnung (mit dem Pendant Furcht), sondern erst recht das Methodikum Hoffnung (mit dem Pendant Erinnerung) im Gebiet eines Noch-Nicht, einer noch währenden Unentschiedenheit des Eintritts wie vor allem auch des letzten Inhalts. 10 Hoffnung ist für Bloch Affekt und Methodikum zugleich, der Unterschied wird in den Oppositionen Furcht und Erinnerung deutlich. Während die affektive Hoffnung sich auf eine Veränderung des Gefühls richtet, zu den Erwartungsaffekten gehört, richtet das Methodikum Hoffnung sich auf einen Zustand, dessen Eintritt weder bekannt ist noch exakt mit Inhalt gefüllt werden kann, der aber über das Gegenwärtige hinausgeht. Bloch insistiert dabei auf der Unterscheidung zwischen Hoffnung und Zuversicht mit Vehemenz. Während Hoffnung „ nach vornhin offen ist “ , 11 die Enttäuschung konstitutiv in sich trägt, ist Zuversicht geschlossen, lässt keinen Raum für kritisch wirkende Enttäuschung. Im Gespräch mit Theodor W. Adorno grenzt er Hoffnung überdies deutlich von einem „ naiven Optimismus “ ab. 12 In seiner Lektüre von Kunstwerken und Kunstformen arbeitet Bloch das Antizipatorische dieser Kunstwerke heraus. Dabei steht das Ziel für ihn fest: Es ist der „ reale[. . .] Humanismus “ , 13 den er als Maßstab an die Gesellschaft legt. Hoffnung als Kritik bedeutet dann zweierlei: Zum einen das Aufspüren des Utopischen im Gegenwärtigen und Vergangenen, was Bloch das „ Methodikum Hoffnung (mit dem Pendant Erinnerung) “ nennt. Hier spürt die Hoffnung das Potential des „ Noch-Nicht “ auf, die auf einen anderen Zustand verweisende Qualität, die ohne diese Befragung aus der Sicht der Hoffnung nicht zu Tage träte. Zum anderen ist die Enttäuschung von Hoffnung Zeichen eines gegenwärtigen Zustands, der falsch ist. 14 Adorno, der mit Bloch befreundet war und zu seinen Schriften Stellung nahm, schließt seinen Essay Kritik (1969) eben mit dem Verweis auf ein variiertes Spino- 71 Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones za-Zitat, das auch von Bloch häufig zitiert wird, und schreibt, „ daß das Falsche, einmal bestimmt erkannt und präzisiert, bereits Index des Richtigen, Besseren ist. “ 15 Für Bloch ist die Richtschnur für diese Erkenntnis des Falschen die Utopie. Er beklagt, dass „ die Fähigkeit [. . .], ganz einfach das Ganze sich vorzustellen als etwas, das völlig anders sein könnte [, dem Menschen abhanden gekommen ist] “ . 16 Der Begriff des Humanismus ist heute umstritten, seine Entwicklung im 18. Jahrhundert wird ebenso kritisch betrachtet, wie die Möglichkeiten eines neuen Humanismus beleuchtet werden. 17 Adorno und Bloch präzisieren jedoch im Dialog, dass ein Utopisches eine grundsätzliche Veränderung meine, „ daß alle Kategorien sich ihrer eigenen Zusammensetzung nach verändern können “ , 18 dass sich also in einem veränderten Zusammenleben von allem nicht nur mehr Freiheit oder mehr Glück ergeben würden. Gerade das ist an die Destabilisierung von Hierarchien und Kategorien wie Geschlecht, Sexualität, Mensch, Tier, Natur heute anschließbar. Blochs Betonung der Grenzexistenz des Menschen und seine Auffassung von Geschichte als Prozess, der offen ist, der korrigiert werden kann und in dem Hoffnung als Leitlinie des Ungeformten dienen kann, macht Muñoz ’ Auseinandersetzung mit Bloch plausibel, weil er das utopische Potential in Queerness eintragen will. Dass Bloch vom Affekt der Hoffnung ausgeht, überhaupt seine Überlegungen in Das Prinzip Hoffnung mit den Affekten beginnt und dabei Kritik an Freud übt, stellt gleichzeitig einen Bezug zu den Affect Studies her, in die sich auch Muñoz einordnet. Wenn Adorno und Bloch im Gespräch auch eine Neubestimmung von Glück einfordern, 19 dann ist diese Kritik gerade an jüngere Schriften der Queer Studies anschließbar. Queer Utopia? Queerness is not yet here. 20 In ihrem 2017 erschienenen Buch The Ethics of Opting Out: Queer Theory ’ s Defiant Subjects befasst sich Mari Ruti kritisch mit der in den letzten Jahren sichtbaren Tendenz der Queer Theory, sich von Normalisierungsbemühungen innerhalb der LGBT-Community abzugrenzen. Nicht die Integration in den Mainstream, sondern das ‚ Opting Out ‘ aus dem Mainstream wird plakatiert. Dies könnte als ein Verdikt gegenüber Zukunft und Hoffnung allgemein verstanden werden. Dazu sieht Ruti sowohl in der von Jacques Lacan ausgehenden anti-relational queer theory, die besonders mit Lee Edelmans No Future (2004) verbunden ist, als auch in den relationsorientierten Affect Studies Tendenzen. 21 Muñoz setzt sich in Cruising Utopia explizit mit dieser antirelationalen queeren Theorie im Anschluss an Edelman auseinander. Ihr setzt er nicht nur die Utopie, sondern auch Formen nichthegemonialer, nicht-weißer Relationalität entgegen. In den Folgejahren haben Sara Ahmed in The Promise of Happiness (2010) und Lauren Berlant in Cruel Optimism (2011) im Bereich der Affect Studies untersucht, wie Hoffnung als Affekt Subjekte gerade in restriktiven heteronormativen Ordnungen festhalten kann, die für sie zur Quelle des Leidens werden. An die Stelle der Hoffnung auf Glück treten deswegen Affekte wie Wut und Eigensinn. Ahmed entwirft die queere Figur der Feminist Killjoy und wendet sich in ihrem folgenden Buchprojekt eigensinnigen Subjekten, Willful Subjects (2014), zu, die ihren eigenen Weg gehen, ohne den gesellschaftlichen Leitlinien zu folgen. 22 Sie führen also gerade eine solche ‚ Grenzexistenz ‘ , wie Bloch sie als Potential dem Menschen einräumt. Indem sie die Problematik normativer Glücksvorstellungen aufzeigen, postulieren sie einen 72 Annette Bühler-Dietrich anderen Weg als möglich. Darin begegnen sie dem von ihnen zitierten Muñoz. In der Einleitung zu Cruising Utopia wird seine Anstrengung, einen neuen Weg innerhalb queerer Theorie mittels anderer theoretischer Diskurse zu eröffnen, deutlich: „ I am using the occasion and example of Bloch ’ s thought, along with that of Adorno, Marcuse, and other philosophers, as a portal to another mode of queer critique that deviates from dominant practices of thought existing within queer critique today. “ 23 Analog zu Ernst Blochs eigener Infragestellung psychoanalytischer Positionen seiner Zeit richtet sich Muñoz gegen Edelmans von Lacans Psychoanalyse beeinflusste Schrift und wendet sich, auch darin Bloch verwandt, dem künstlerischen Archiv zu, denn: Turning to the aesthetic in the case of queerness is nothing like an escape from the social realm, insofar as queer aesthetics map future social relations. Queerness is also a performative because it is not simply a being but a doing for and toward the future. 24 Mit Hilfe von Blochs kritischer Hermeneutik der Hoffnung analysiert Muñoz im Folgenden autobiographische Schriften, Orte queerer Performance, Werke aktueller und verstorbener Künstler*innen. 25 Er übernimmt dabei von Bloch dessen doppelte Zuordnung von Hoffnung als Affekt und als Methodikum. 26 Blochs Position zusammenfassend, entwirft er einen Leitsatz seiner Untersuchung, den er im Laufe des Buches mehrfach wiederholt: „ A turn to the nolonger-conscious enabled a critical hermeneutics attuned to comprehending the notyet-here. “ 27 Blochs Umdefinition des psychoanalytischen Unbewussten als Verdrängtem hin zu einem Unbewussten, das auf das Noch-Nicht vorausweist, erlaubt es Muñoz, den Blick in das Archiv queerer Geschichte und gleichzeitig nach vorn zu werfen. Wenn Hoffnung, laut Bloch, enttäuscht werden kann, darin aber kritisch wirkt, dann entwickelt Muñoz Lektüren von Momenten des Widerstands und der Hoffnung, die trotz ihrer Enttäuschung weiterhin kritisch wirken. 28 Seine zahlreichen Beispiele queerer Gegenkultur sind, auch wo sie scheitern oder durch die Verbreitung von Aids beeinträchtigt oder gestoppt werden, für ihn Wegmarken in ein künftiges Noch-Nicht. So spürt er Orten queerer Kultur der 1960er und 1970er Jahre nach, wenn er sich mit Clubs und öffentlichen Toiletten befasst, erinnert an queere Beziehungsnetze und gedenkt queerer Künstler*innen wie des Tänzers Fred Herko. Seine Analysen unterstützen sein Argument einer zukunftsweisenden queeren Lebensform, deren Ansatz er in dieser vergessenen Kultur sieht, und argumentieren für eine eigenständige queere Bezüglichkeit. Als Gegenmodelle von Lebensformen wirken sie kritisch, obwohl sie am Rand bleiben, und ihr Scheitern als Zeichen enttäuschter Hoffnung desavouiert nicht ihr Projekt, sondern verweist auf den Mangel der Gegenwart. Muñoz ’ Valorisierung von Momenten von „ queer failure “ , die für ihn zum „ kernel of potentiality “ 29 werden, schreibt sich so in diese Logik des Verweises auf Zukünftiges ein. Seine Beschäftigung mit Bloch etabliert eine Verwandtschaftsbeziehung. Ziel ist nicht die kritische Bloch-Lektüre, sondern er greift Blochs zentralen Gedanken der Hoffnung als Affekt und Methodikum auf und macht ihn für seine eigene emphatische Lektüre queerer Vergangenheit fruchtbar. In seiner eigenen Mischung aus autobiographischem Bericht und wissenschaftlicher, performancehistorischer Analyse erweitert Muñoz das Feld der Kritik auf eine Art, die in Schriften von Affekttheoretiker*innen seit den 2010er Jahren etwas häufiger ist, wenn persönliche Erfahrungen, Affekte, Schreibblockaden und Krankheit zum kritischen Impetus selbst werden, wie in Ann Cvetkovichs Depression: A Public 73 Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones Feeling (2012) oder Elspeth Probyns Writing Shame (2010). 30 Dennoch unterscheidet sich Muñoz von ihnen, da er nicht nur die eigenen Affekte mitdenkt, sondern auch - ausgehend von seiner Forschung zur Kunst der Performance - das Verhältnis zwischen Gegenstand und Forscher*in neu bestimmt: Writing about living artists helps one further debunk the false principle of the critic ’ s objectivity. [. . .] Attempting to imagine a convergence between artistic production and critical praxis is, in and of itself, a utopian act in relation to the alienation that often separates theory from practice, a sort of cultural division of labor. 31 Durchgängig arbeitet Muñoz heraus, wie der Dialog mit den von ihm behandelten noch lebenden Künstler*innen seinen Blick strukturiert oder wie Netzwerke, in denen er sich durch Freundschaften befindet, ihm Zugang zu vergessenen queeren Archiven verschaffen. 32 Der Zugang zum Noch-Nicht-Bewussten, Zukünftigen, im Nicht-Mehr-Bewussten ist somit auch ein vielfach vermittelter und geöffneter Zugang, eine Spurenlese und ein Spurenlesen des Nicht-Mehr-Sichtbaren. Dass Muñoz zu seiner Lektüre Blochs Spuren zählt, verwundert somit nicht. Denn für Spuren gilt, in Adornos Rezension: Der Fluß erzählenden Denkens strömt mit allem, das er hinführt, menschenfängerisch übers Argument hinweg, ein Philosophieren, in dem in gewissem Sinn gar nicht gedacht wird; eminent gescheit, gar nicht scharfsinnig nach Schulbrauch. 33 Adorno schreibt Bloch ein „ erzählendes Denken “ zu, was das Ineinander von Reflexionen und Erzählungen in Spuren genau trifft. 34 In Bloch findet Muñoz, betrachtet man Adorno, auch einen Vorläufer der Kritik an der Trennung von Subjekt und Objekt: Mit der Dialektik, die die Entfremdung von Subjekt und Objekt zu überwinden lehrt, hat er [Bloch] es so ernst genommen, daß er den sachlichen, gelassenen Ton des Akademikers verschmähte, der die kalte Beziehungslosigkeit zum Objekt verewigt. 35 An anderer Stelle verteidigt Adorno Bloch erneut, indem er seine Art des Denkens beschreibt: Unter den Denunziationen, die man gegen Bloch gerichtet hat, als er noch in Leipzig lehrte, hat eine ganz besondere Rolle das Argument gespielt, er schreibe einen feuilletonistischen Stil. Damit war nichts anderes gemeint, als daß sein Denken die Dynamik des Gedankens in seiner Darstellung auszudrücken sucht, anstatt in jener Mischung von festgelegten Termini und sprachlicher Undifferenziertheit sich zu bewegen, die für das verdinglichte Bewußtsein überhaupt charakteristisch ist. 36 Muñoz ’ Aussage, es handele sich bei seinem eigenen Schreiben um einen utopischen Akt, ließe sich folglich auch auf Bloch beziehen, der in seinem Schreiben selbst ein Aufblitzen des Noch-Nicht provoziert. Muñoz ’ Blick ins Archiv queerer Kultur widmet sich dem Zukünftigen im Vergangenen und Vergessenen und greift darin Blochs Idee der antizipatorischen Funktion von Kunst auf. Bloch, im Unterschied zu Muñoz, erkennt sie an den ‚ großen Werken ‘ . Nicht diese Werke, sondern ihr utopischer Gehalt muss neu gesehen werden. Der von Muñoz so häufig verwendete Begriff des ‚ nolonger-conscious ‘ spielt so für Bloch keine Rolle, ja, er unterscheidet das Nicht-Mehr- Bewusste als Zuständigkeit einer bürgerlichen Psychoanalyse gerade vom Potential des Noch-Nicht-Bewussten, das als Zukünftiges und nicht als Verdrängtes erkannt werden muss: „ Das Noch-Nicht-Bewusste insgesamt ist die psychische Repräsentierung des Noch-Nicht-Gewordenen in einer Zeit und ihrer Welt, an der Front der Welt. “ 37 Dafür braucht es eine Hermeneutik der 74 Annette Bühler-Dietrich Hoffnung, die erkennt, was in der Zeit über sie hinausgeht und darin Kritik an den gewordenen Zuständen entfaltet. Daran orientiert sich auch Muñoz. Muñoz ’ Bloch- Lektüre nimmt darin Blochs Gedanken auf und überführt sie in ein Themengebiet, die Queer Studies, die nicht zu Blochs Horizont gehörten, für die (und nicht nur für sie) seine Gedanken wie auch seine Denk- und Schreibweise aber durchaus Vorläufer-Funktion hätten haben können. Die weite Verbreitung des plötzlich und zu früh verstorbenen Muñoz in den Queer Studies heute hält gerade auch das kritische Potential der Hoffnung weiterhin wach, wie es der Theaterwissenschaftler von Bloch übernommen hatte. Bill T. Jones, The Process of Becoming Infinite Reenactment would at first seem only to have regard for the past, but move a bit closer and it becomes apparent that these returns draw us toward the future. 38 Bill T. Jones lässt sich, wie Bloch und Muñoz, als Vertreter eines „ erzählenden Denkens “ (Adorno) betrachten. Zu seinen Projekten seit 2010 gehören Mischformen von Vortrag, gesprochener Rede und Tanz, in denen er seine Position als Tänzer und Choreograph, als Schwarzer, homosexueller und HIV-positiver Mann zum Thema macht und darin Vergangenheit und Zukunft beleuchtet. Zu diesen Projekten gehören die in Princeton unter dem Titel Story/ Time (2012) gehaltenen Toni Morrison Lectures, die Solotanzperformance The Process of Becoming Infinite (2016) sowie die jüngste Produktion A Letter to my Nephew (2017). Die inhaltliche Ausrichtung dieser Projekte wie auch Jones ’ Befragung der eigenen Vergangenheit mit Blick auf eigenes wie gesellschaftliches Zukünftiges in Form eines erzählenden und tanzenden Denkens erlaubt es, ihn in eine Reihe mit den Reflexionen von Bloch und Muñoz zu stellen, um zu sehen, wie die Reflexion eines Zukünftigen im Raum der Kunst selbst stattfindet. Muñoz ’ These, „ [t]urning to the aesthetic in the case of queerness is nothing like an escape from the social realm, insofar as queer aesthetics map future social relations ” , 39 ist an Jones ’ Arbeit überprüfbar. Inwiefern Hoffnung als Kritik fungiert, lässt sich anhand des in The Process of Becoming Infinite integrierten Reenactments zeigen. Reenactments sind derzeit ein wichtiger Bestandteil der Auseinandersetzung von Tänzer*innen und Choreograph*innen mit fremder und eigener zeitlich zurückliegender Arbeit. Sie sind Teil der Tanzgeschichte, die nicht nur diskursiv, sondern auch verkörpert vermittelt wird, wohl wissend um damit einhergehende Verschiebungen. Beiträge im Oxford Handbook of Dance and Reenactment (2017) zeigen das breite Spektrum des Themas. 40 Randy Martin beginnt seinen Beitrag mit dem oben genannten Zitat und führt dann weiter aus: „ What might appear as repetition, then, is in practice a parsing of certain attributes of what we have found and what we are looking for. ” 41 Reenactment basiert also auf einer analytischen und motivierten Bestandsaufnahme und der Blick zurück führt in die Zukunft - „ these returns draw us toward the future “ . Nicht die museale historische Rekonstruktion, sondern die Eruierung dessen, was über den Moment in die Zukunft weist, stützt das Reenactment. Martins Verwendung des linguistischen Fachbegriffs ‚ parsing ‘ für die Analyse schreibt in den analytischen Blick zurück die Öffnung zur Zukunft ein. Damit kann das Reenactment zur Artikulation von zukunftsweisender Hoffnung als Kritik werden. Munoz ’ „ turn to the no-longer-conscious enabled a critical hermeneutics attuned to comprehending the not-yet-here “ , 42 kehrt hier in anderer Formulierung wieder. 75 Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones Bill T. Jones (*1952) gehört zur amerikanischen Tanzavantgarde. 1982 gründete er mit seinem Partner Arnie Zane (1948 - 1988) die renommierte Bill T. Jones/ Arnie Zane Company. Als Tänzer und Choreograph hat er sowohl Soloperformances getanzt als auch die Choreografie und Regie für große Produktionen übernommen, darunter Still/ Here (1994), Fondly do we hope . . . fervently do we pray zum 200. Geburtstag Abraham Lincolns (2009), aber auch das Broadway Musical Fela! (2009). 2012 hielt er die Toni Morrison Lectures an der Princeton University, eine Kombination aus zwei Vorlesungen und einer Lecture Performance, in der Jones 100 von ihm gelesene 60sekündige Erinnerungen und Aperçus vortrug, während seine Tänzer*innen tanzend auf diese Texte reagierten. 2016 fand seine Solotanzperformance The Process of Becoming Infinite im Rahmen der TED Lectures in Vancouver statt. 43 TED ist eine gemeinnützige Organisation, die sich der Verbreitung neuer Ideen verschrieben hat und dazu Wissenschaftler*innen, Denker*innen, Künstler*innen aus allen Bereichen zu Vorträgen einlädt, die aufgezeichnet und dann über das Internet verbreitet werden. 44 The Process of Becoming Infinite ist somit frei im Internet zugänglich und im Bewusstsein der Mischung aus Lecture und Performance für das Publikum, aber auch für die Kamera entworfen. Mit dieser Soloperformance werde ich mich im Folgenden befassen. Da die Lecture Performance in ihrer Grundstruktur auf der Produktion 21 von 1983 basiert und Jones somit ein Reenactment seiner eigenen Choreografie vorführt, eignet sich die Performance besonders, um das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft zu diskutieren, und zwar in einem Kontext von Black Queer Studies, den Jones und Muñoz teilen. Jones ’ Autorität als Tänzer und Choreograph führt dazu, dass er zum Kommentator seiner Arbeit und der Veränderungen des gesellschaftlichen Umgangs mit Schwarzer Homosexualität wird. 45 Die Differenz zwischen ihm und den jüngeren Kollegen wird in den Dialogen sichtbar, eine überdeutliche Bewusstheit seiner Position wird in seinen Interviews artikuliert. 46 Seine autobiografische Bestandsaufnahme im Rahmen der TED-Lecture wird durch diese diskursive Verortung gerahmt. Im Unterschied zu Story/ Time tanzt und spricht Bill T. Jones in The Process of Becoming Infinite selbst. Das 24-minütige Stück, das Jones am Tag seines 64. Geburtstags zur Aufführung bringt, besteht aus einer Einleitung und 21 Positionen. In der Einleitung beginnt Jones mit dem Rückblick auf das Jahr 1983, in dem er Artist-in-Residence an einer Schule in Connecticut war, wo er für seine athletische und, darin konnotiert, nicht schwule Art zu tanzen, eingeladen wurde, wie Jones in seinen Gesten deutlich macht. Damals, 1983, hat er das Stück 21 erstmals aufgeführt, das er nun im Rahmen der Lecture Performance wieder aufnimmt. 47 Sein Reenactment von 21 im Rahmen von The Process of Becoming Infinite bildet das Gerüst der über den Verweis auf seinen Geburtstag eindeutig 2016 situierten Performance. Jones setzt so seine drei Jahrzehnte alte Choreografie in Bezug zum aktuellen Moment, den er aber angesichts des Titels und der Wiederaufnahme des Titels in der Performance ins Unendliche verlängert. Die Auseinandersetzung mit den 21 Positionen von Männlichkeit und deren Verknüpfung mit den Schlaglichtern auf das eigene Leben überprüft gerade kritisch, unterscheidend, ‚ parsing ‘ , wo die Samenkörner der Hoffnung sind, die auf ein Künftiges weisen. 48 Da ihn die Veranstalter gebeten haben, dem Publikum Kontext zu vermitteln - ein Wort, das er mit fließenden Bewegungen der Oberarme kommentiert - , erwähnt Jones sowohl den Kontext der folgenden Bewegungsreihe im Verweis auf 1983 und kontextualisiert gleichzeitig sein folgendes Tun 76 Annette Bühler-Dietrich in der Gattungszuweisung: Es handle sich um „ what we call in my world a task-based choreography “ und um einen offenen Prozess, um „ process as performance “ , einen Prozess als Weg, zu dem er das Publikum mit wellenartigen Armbewegungen einlädt. Nach einem kurzen Moment des Innehaltens tanzt er die 21 Positionen: Er lässt sie zunächst einmal konsekutiv aufeinander folgen, bis er beim zweiten Mal jeder einzelnen Position eine Nummer und beim dritten Mal einen Namen gibt. Dies entspricht der Choreografie von 1983. Die Namen verweisen auf bekannte Personen - Arnold Schwarzenegger, Muhammad Ali, Ingmar Bergmann - , Kunstgeschichte, Sport, Haltungen wie „ Erwartung “ (im Original Deutsch) und „ God, too, can go to hell “ , und Sexualität. Das sind die Elemente des Abends, die er von 1983 übernimmt. Diese Positionen sind als Posen von Männlichkeit dechiffrierbar und prägen sich über die Wiederholung im Laufe des Abends als wiedererkennbare ein. Ihre Datiertheit zeigt sich an den Namen, die zwar Teil des kulturellen Gedächtnisses sind, jedoch 1983 anders präsent und dominant waren als heute. Dieses Bewegungsrepertoire kombiniert er im Darauffolgenden mit vier Episoden, einer Art historischem Rückblick, der über seine eigene Geschichte hinausgeht und 1908 mit Isadora Duncan beginnt. Dabei wählt er bestimmte Positionen aus, die er zwischen seine Erzählung schaltet, ohne nochmals den ganzen Zyklus zu tanzen. Die zweite Episode betrifft seine Rückkehr zu den Eltern 1971, als ihn seine Mutter direkt und missbilligend auf seine Homosexualität anspricht und sein Vater ihn mit den Worten verteidigt: „ Leave that boy alone. He is a man. “ Jones ’ Überlegung, was dieses Wort ‚ man ‘ bedeute, hat 21 Posen der Männlichkeit 1983 veranlasst: „ At that time, what did that word mean, before we became aware that we didn ’ t have to be so goddam binary. “ 49 Jones schließt die folgende Episode unmittelbar an. In ihr treffen Leben und Tod aufeinander: Der 64. Geburtstag des Künstlers folgt auf den Tag, an dem eine Freundin und Mentorin zweiundneunzigjährig stirbt, wie er von deren Tochter erfährt. In einer Art Zwischenstory geht er danach kurz darauf ein, dass er nie weiß, als was ihn andere wahrnehmen - ob als Schwarzen Mann, als Sexobjekt oder als „ social goal “ . In seiner abschließenden Geschichte geht er dann auf das Jahr 1954 zurück. Er leitet sie damit ein, dass seine Lockerungsbewegungen des Oberkörpers krampfhaft und die Musik schrill werden, kulminierend in dem Satz „ that ’ s why I ’ m crazy like I am because I didn ’ t know who the fuck I was. “ Dann berichtet er, wie er als kleiner Knabe, der eine tote Katze über eine Mauer in einen Abgrund warf, gesagt haben soll, „ that poor cat went spinning into infinity. “ Jones greift diesen Satz auf und verbindet ihn mit der Nennung verstorbener und lebender Freunde und schließlich mit seinem eigenen stiller werdenden Körper. Die Performance endet mit den Worten: „ I am the ocean. [. . .] Good-bye binary. Hello future. I am dreaming, Chris. “ 50 Binarität, die Jones auch schon am Anfang benennt, wird als Einschränkung, „ stricture “ evoziert, deren Macht er aufruft und bricht. TED ist eine Organisation, die Veranstaltungen und Vorträge organisiert, die sich mit zukunftsweisenden Ideen beschäftigen - kurz vor Ende seiner Performance nennt Jones Schlagworte wie „ genome, computer, science “ und spielt darin auf diese Vorträge an. Als Tänzer ist sein Auftritt bei TED ungewöhnlich und Jones ist sich seiner Randposition bewusst. Zwar hat er mit anderen Vortragenden die kleine runde Bühne gemeinsam, doch steht er nicht wie sie am Rednerpult, um rhetorisch gekonnt aufgebaute, diskursive Vorträge zu halten, sondern nutzt den Kreis als Tanzfläche. In seiner Performance verbindet er geschickt verschiedene Ebenen: die genannten Episoden 77 Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones aus seinem Leben mit einem kleinen Exkurs in die Tanzgeschichte, das Bewegungsrepertoire der 1983-Choreografie 21, tänzerische Bewegungen der Arme und Beine, die sich dem zeitgenössischen Tanz, aber auch dem klassischen Ballett zuordnen lassen, Einleitung und Schluss, die auf den Akt der Performance beziehungsweise den physischen Prozess selbst verweisen. Zusätzlich agiert die Musik der elektrischen Gitarre von Sam Crawford als weiteres Zeichensystem, Stille und Musik wechseln, die Musik erzeugt und verstärkt verschiedene Stimmungen. Der Veranstalter möchte Kontext, und Jones liefert dafür verschiedene Kontexte, die einander kommentieren und darin, wie seine fließenden Armbewegungen proleptisch andeuten, eine Verflüssigung bewirken. Das Bewegungsgerüst der 21-Choreografie begleitet und unterbricht die Geschichten. Es sichert den Tänzer über den beherrschten Bewegungsablauf gegenüber den schlecht beherrschbaren Affekten der Scham, des Schmerzes, der Furcht ab. Jones ’ „ process as performance “ wird zum „ process of becoming infinite “ , eine Paraphrase des in der Performance genannten „ spinning into infinity “ . Wie lässt sich Unendlichkeit um den Preis der Endlichkeit erreichen? In den Geschichten, die der Tänzer erzählt, kommen Kernthemen zum Ausdruck: Kreativität, Widerstand gegen gesellschaftliche Normen, Männlichkeit und Homosexualität, Alter, Vergänglichkeit und Verlust, Tod und Unendlichkeit. Diese kontrastiert und kommentiert er durch Bewegungsabläufe, die zwischen den verbalen Geschichten ihre eigene Geschichte über die Imaginationen von Männlichkeit vor der Aids-Epidemie erzählen und zwar in einem über Jahrzehnte dem Körper eintrainierten Repertoire an Bewegungen. Indem Jones auch diesen Körper als Tänzer ausstellt, die Anstrengung, den Schweiß und verschiedene Körperzonen benennt, kontrastiert er Vergänglichkeit und Präsenz. Jones ’ vielschichtige Lecture performance stellt die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft her. Sie ordnet sich im Werkkorpus einer Auseinandersetzung mit Subjektivität, Kunst und Zeit zu, die er auch in den genannten Princeton-Vorlesungen zum Ausgangspunkt macht unter den Titeln Past Time, Story/ Time und With Time. 51 Jones ’ schonungslos ehrliche Art, über sein Verhältnis zur Kunst zu reden - eine Ehrlichkeit, bei der man seine Position des hochanerkannten und ausgezeichneten Künstlers mitberücksichtigen muss - , bringt er auch in die TED-Lecture ein. Wenn er sich in Story/ Time mit dem Einfluss der Kunst und Haltung John Cages auf ihn befasst, kommt er, in Abgrenzung zu Cage, zur fragenden Aussage: „ Isn ’ t art - the experience of art making, the execution or performance of art - about feelings? “ 52 Dass Affekte und Gefühle ein wesentliches Element seiner Kunst sind, wird in The Process of Becoming Infinite deutlich. Hinsichtlich der Hermeneutik des Noch- Nicht-Bewussten in vergangenen Ereignissen lässt sich in dieser Performance Folgendes beobachten: Jones greift mit 21 eine Choreografie auf, die 33 Jahre zurückliegt. 1983 setzt sich diese Choreografie mit Bildern der Männlichkeit auseinander, die zur kulturellen Gegenwart oder zum kulturellen Gedächtnis gehören und die Konzeption von Männlichkeit im 20. Jahrhundert mitbestimmt haben, einer Zeit, in der die Gesellschaft „ so goddam binary “ war. Die Auseinandersetzung mit diesen Bildern geschieht augenzwinkernd, wenn er Posen wie „ Adam before - and after “ einbaut, oder für die Vancouver-TED-Lecture die Pose der „ pregnant Vancouver housewife “ einschmuggelt, die vermutlich nicht Teil der ursprünglichen Reihe war. Die Reihe der 21 Positionen selbst entwickelte er, wie erwähnt, in Reaktion auf die unerwartete Aussage des Vaters „ Leave that boy alone. He is a man. “ In ihr wird aus bloch ‘ scher 78 Annette Bühler-Dietrich Warte ein Moment des Noch-Nicht-Bewussten als ein Potential gesellschaftlicher Veränderung eröffnet, insofern die väterliche Vorstellung von Männlichkeit auch Homosexualität miteinschließt. Trotz Stonewall 1969 ist, und das macht Jones deutlich, dieser Satz seines Vaters, eines armen Wanderarbeiters, außergewöhnlich. Die Belastbarkeit dieser übernommenen Reihe erprobt er nun, indem er sie mit den Geschichten, die er am 15. Februar 2016 erzählt, kombiniert. Wenn er beginnt, diese Geschichten zu erzählen, wählt er einzelne Positionen aus, die er auch mit anderen Bewegungsabläufen verbindet. Auch in seiner verbalen Erzählung blickt Jones zurück: auf Isadora Duncans Widerstand gegen Tanznormen - „ artists always fighting the strictures of their society “ ; 53 auf die erwähnte unerwartete Verteidigung seiner Homosexualität durch seinen Vater; auf die Geste des Willkommenheißens, die er als junger Tänzer - „ this African-American showy young choreographer “ - durch Betty Winsloe/ Winslow 54 und andere Mentor*innen erfahren hat. In allen drei Fällen fokussiert Jones ein Verhalten, das in die Zukunft weist, eine Zukunft jenseits von Rassismus und Heteronormativität. Sein Hinweis auf seinen Geburtstag, den er über den Beatles-Song When I ’ m Sixty-Four einführt, dessen Zeilen er singt, unterbricht auf vorgesehene Weise die Performance, weil das Publikum vorhersehbar applaudiert. Die Anspielung auf seinen Geburtstag geht jedoch nahtlos in den Bericht von Bettys Tod über. „ Will you still need me, will you still feed me, when I ’ m sixty-four “ , singt Jones. Darin ist das Spiel mit dem Publikum enthalten, das den weitverbreiteten Song wiedererkennt, aber auch die dringenden, existentiellen Fragen, die sich um Brauchen und Ernähren gruppieren. Wird dieses angesprochene ‚ you ‘ - das im Song auf eine*n Partner*in verweist, in der Situation der Aussage aber das Publikum ansprechen könnte - ihn, Jones, noch sehen wollen, wenn er älter ist? Wie ist es mit der Verantwortung gegenüber dem alternden Menschen und Künstler? Was bringt die Vergänglichkeit mit sich, die er unterstreicht, indem er vom Tod seiner Mentorin erzählt? 55 Auf den Bericht von seinem eigenen Geburtstag und dem Tod seiner Mentorin folgen verschiedene Posen und Schrittfolgen. Während sein Körper auch während seiner Erzählungen nur selten still steht, schafft er durch die festgelegten Positionen aus 21 Zäsuren nach dem Gespräch mit den Eltern 1971 und nach dem Bericht vom Tod Bettys. Das Bewegungsvokabular zeigt sich hier als Gerüst, auf das sich Jones nach diesen affektiven Momenten stützt. Jones ’ Abschluss, der, wie eingangs erwähnt, physisch als Krisenerfahrung eingeleitet wird, indem der Tänzer den ganzen Körper in eine vibrierende Bewegung überführt, wendet sich einer Kindheitsepisode zu. Der markante Satz des kleinen Knaben, „ that poor cat went spinning into infinity “ hat sich als Redewendung im Familienvokabular erhalten. Nun greift Jones darauf zurück und stellt so eine Beziehung zwischen Bewegung, Unendlichkeit und Vergänglichkeit her, die seine Arbeit als Tänzer, der sich gerade mit Bewegung, Vergänglichkeit und Verwandlung auseinandersetzt, prägt. 56 Der vom Kind geäußerte Satz wird prognostisch für das Programm des Künstlers in der Überwindung des Todes durch Unendlichkeit. 57 In seiner Vorlesung With Time gibt er dieser Auseinandersetzung mit Verwandlung und Transzendenz mehr Raum und untersucht deren verschiedene Facetten. 58 2016 fasst er Verwandlung und Transzendenz im Bild des ‚ Spinning into infinity ‘ zusammen. Darin ist nicht nur die Transzendenz statt der Vergänglichkeit gemeint, die Jones durch die Nennung der verstorbenen Freunde konnotiert. Auch die lebenden Freunde sowie sein eigenes Ich gehören zu diesem Prozess, der auf die Vergänglich- 79 Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones keit vorausweist, aber auch auf eine andere Transformation: „ a vision of a self that could in an instant transform from human being to the idea of human being. “ 59 Gerade die Überschreitung des Existierenden auf das Noch-Nicht ist hier konnotiert. ‚ Spinning into infinity ‘ meint so nicht nur einen jenseitigen Zustand der Unendlichkeit, sondern auch einen diesseitigen künftiger Veränderung und Veränderbarkeit und ersetzt hier den Begriff der Utopie. 60 Dass dies bei Jones nicht nur persönliche, sondern auch konkrete gesellschaftspolitische Implikationen hat, es also um konkrete Utopien geht, wie sie Bloch fordert, wird zum einen in seinen Gedanken zur Verwandlung deutlich: Which category of the world did I want to transform? The part that joined my voice to the voices of people across the country and the globe crying out “ We shall overcome ” in the age-old communal cry for social justice? Or the part of transformation that turns one into a free person, a powerful person, a desirable person - who says: “ I am not what the world tells me I am. I can adopt a lifestyle, choose friends, in a way that transforms me into a vision of myself more in keeping with an imagined world in which I am in control ” ? 61 Nicht nur die Veränderung des Subjekts, sondern auch die Veränderung der Gesellschaft ist Teil seiner Transformation. „ [A]n imagined world “ ist eine, die er über seine Choreografien und die Zusammensetzung seines Ensembles herstellen möchte. Dass er seit 2011 New York Live Arts leitet, mit dem Ziel „ to revisit the mission of a venerable research center and safe haven for the untried and unexposed in contemporary live arts, embodied research, and contemporary dance performance “ , 62 ist Teil dieser Anstrengung, eine andere Welt zu ermöglichen. Im Unterschied zu Bloch und Muñoz verbindet Bill T. Jones den Künstler und den erzählenden Denker in einer Person. In seinem Rückblick akzentuiert er die Momente seiner Vergangenheit, die in ihrer Utopie über den Zustand der genderbinären, rassistischen Gesellschaft hinauswiesen. Die Zeitverzögerung, mit der diese Momente bewusst wurden, zeigt sich schon in der Verzögerung zwischen der väterlichen Stellungnahme 1971 und der Choreografie 1983. Obwohl Jones zu Anfang betont, dass die (Gender)Binarität als Konzept hinterfragt sei, macht er sie doch implizit wiederholt als Problem zum Thema und setzt ihr diese Momente der Vergangenheit gegenüber. 63 Bill T. Jones beginnt seinen verbalen Auftritt mit den Worten „ I dreamed “ , nur um diese gleich wieder zurückzunehmen, und endet ihn mit dem Satz „ I ’ m dreaming “ . Statt einen Traum an den Anfang zu stellen, ersetzt er diesen durch einen verbalen und tänzerischen Rückblick, der sich emphatisch im Heute vollzieht - Jones ’ Geburtstag - und auf die Zukunft weist. Erst nach diesem Durchgang steht am Ende wieder die Möglichkeit des Traums. Dessen Inhalt jedoch verschweigt er. Schluss: Durchquerungen Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones gehören verschiedenen Generationen und Disziplinen an. Gemeinsam ist ihnen eine geschärfte Aufmerksamkeit für den Zustand der Gesellschaft und ihre Position in derselben sowie ihre mit unterschiedlichen Ausdrucksmitteln geübte Kritik an dieser Gesellschaft. Blochs Herkunft aus dem assimilierten jüdischen Arbeitermilieu Ludwigshafens situiert ihn ebenso außerhalb des Zentrums bürgerlicher Macht wie Bill T. Jones ’ Herkunft aus einer Schwarzen, armen und kinderreichen Arbeiterfamilie. Dies gilt auch für José Esteban Muñoz, der mit den Eltern aus Kuba einwandert und 80 Annette Bühler-Dietrich als schwuler kubanisch-stämmiger Jugendlicher wie Jones am Rand der Herkunftsfamilie und der weißen Mehrheitsgesellschaft stand. Jones und Muñoz gehen mit ihrer Herkunft und Sexualität offensiv um. Alle drei Denker üben Kritik an der scheinbar festgefügten weißen, bürgerlichen, hegemonialen Gesellschaft, indem sie die versteckten Samenkörner von Utopie in der Vergangenheit suchen und mit ihnen über die Gegenwart hinausweisen: „ Die wesentliche Funktion, die dann Utopie hat, ist eine Kritik am Vorhandenen. Wenn wir die Schranken nicht schon überschritten hätten, könnten wir sie als Schranken nicht einmal wahrnehmen “ , 64 schreibt Bloch. Muñoz ’ emphatische Betonung der Zukünftigkeit von Queerness sieht diese als Möglichkeit, die Schranken einer hetero- und homonormativen, hegemonial weißen Gesellschaft zu überschreiten. Jones ’ Insistenz auf Transformation und Transzendenz nimmt diese Bewegung der Überschreitung auf und bindet sie wiederum an seine Erfahrung als Schwarzer homosexueller Tänzer zurück. An die Stelle der direkten Kritik des Bestehenden tritt die Suche danach, wie sich aus der Sicht einer nicht konkret bestimmten Utopie dieses Bestehende als Veränderbares begreifen ließe. Blochs Fokus auf den Affekt und das Methodikum der Hoffnung macht ihn dabei in besonderer Weise anschlussfähig an die Queer Studies, zumal sein Begriff der Hoffnung eben nichts mit Optimismus gemein hat, dem ‚ cruel optimism ‘ , der uns laut Berlant an falschen, gesellschaftlich propagierten Idealen festhalten lässt. Bloch untersucht das Zukunftspotential der Vergangenheit, indem er in seiner breit angelegten Studie herausarbeitet, was über die Vergangenheit hinausweist, wo Möglichkeiten angelegt sind, die in den Trümmern der Geschichte verdeckt wurden. 65 Dabei vergisst er die Gegenwart nicht, die ein Gewordenes ist, das sich ändern lässt, „ antizipatorische Elemente sind ein Bestandteil der Wirklichkeit selbst “ , 66 und darin eben auch der Gegenwart. 67 Auch Jones betont diesen gegenwärtigen Moment sowie die Verzahnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in seinen Schriften und Aussagen wie in seiner emphatisch in der Gegenwart stattfindenden Tanzkunst. 68 Doch es ist eben keine teleologische Abfolge, sondern ein Schnittpunkt verschiedener Zeitstufen. Am Ende von Cruising Utopia schreibt Muñoz: This text is meant to serve as something of a flight plan for a collective political becoming. These pages have described aesthetic and political practices that need to be seen as necessary modes of stepping out of this place and time to something fuller, vaster, more sensual, and brighter. From shared critical dissatisfaction we arrive at collective potentiality. 69 Muñoz verweist emphatisch auf die Zukunft, indem er Leser*innen im Hier und Jetzt anspricht. Seine Rhetorik beschwört herauf, was er realisiert sehen möchte, sie stellt die Brücke her zwischen „ no longer conscious “ und „ not yet here “ . Die enttäuschte Hoffnung - „ critical dissatisfaction “ - wird zur vorwärtsweisenden Kritik am Ungenügen der Wirklichkeit. Im Unterschied zu Muñoz wendet sich Jones gerade dem Hier und Jetzt als Ort der Potentialität zu. Kunst wird zum Ort, wo soziale Beziehungen schon im Jetzt verändert werden können, wie Jones ’ künstlerische Arbeiten zeigen. Darin wird die Hoffnung, dass gesellschaftlich Gewordenes veränderbar ist, zur Kritik des Bestehenden, ohne dass eine konkrete Vision am Ende stehen muss. In seiner Metapher des „ flight plan “ knüpft Muñoz an ein Bewegungsbild an, das Bloch anhand eines anderen Mediums, des Schiffs, bereitstellt. Denn Bloch verlegt die Utopie von der Zeit in den Raum: 81 Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones Aber sie ist nicht etwa Nonsens oder schlechthin Schwärmerei, sondern sie ist noch nicht im Sinne einer Möglichkeit, daß es sie geben könnte, wenn wir etwas dafür tun. Nicht nur wenn wir hinfahren, sondern indem wir hinfahren, erhebt sich die Insel Utopia aus dem Meer des Möglichen [. . .]. 70 Nur indem der Weg selbst beschritten, das Wasser befahren wird, ist eine Ankunft möglich. Muñoz ’ „ flight plan “ ist so Teil dieses Betreten des Weges. Jones ’ Wellenbewegung seiner Arme und sein Körper in fließenden Bewegungen lassen sich mit diesem Hinfahren assoziieren. Hoffnung als Kritik setzt so Bewegung in Gang. Dieser Hoffnung nachzuspüren, deren Spuren zu lesen und zu deuten, führt zu einer kritischen und darin nach vorne offenen (Re) Lektüre des vergangenen und gegenwärtigen Archivs. Anmerkungen 1 José Esteban Muñoz, Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity, New York 2009, S. 2 - 4. 2 Ernst Bloch, „‘ Etwas fehlt . . . Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. ‘ Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno. Gesprächsleiter Horst Krüger “ , in: Rainer Traub und Harald Wieser (Hg.), Gespräche mit Ernst Bloch, Frankfurt a. M. 2 1977, S. 58 - 77, hier S. 75. 3 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt a. M. 4 1977, S. 5. 4 Ebd., S. 61. 5 Ebd., S. 71, i. O. kursiv. 6 Ebd., S. 82 - 83. 7 Ernst Bloch, „ Kann Hoffnung enttäuscht werden? “ , Eröffnungs-Vorlesung, Tübingen 1961, in: Ernst Bloch, Literarische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1965, S. 385 - 392, hier S. 387. 8 Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 225. 9 Ebd., S. 226. 10 Bloch, „ Kann Hoffnung enttäuscht werden? “ , S. 387. 11 Ebd. 12 Ebd. Im Gespräch mit Adorno betont Bloch diese Unterscheidung innerhalb weniger Zeilen drei Mal. Bloch, „ Etwas fehlt “ , S. 75; alle Verweise auf Zuversicht sind auf dieser Seite. Bachs Choral „ Jesus, meine Zuversicht “ und die häufige Apostrophierung Jesu als Zuversicht war Bloch sicherlich vertraut. 13 Bloch, „ Kann Hoffnung enttäuscht werden? “ , S. 389. 14 Vgl. ebd., S. 389 - 390. 15 Theodor W. Adorno, „ Kritik “ , in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. Rolf Tiedemann, Darmstadt 1998, Bd. 10.2, S. 785 - 793, hier S. 793. 16 Bloch, „ Etwas fehlt “ , S. 61. 17 Die Kritik am Begriff des Humanismus der europäischen Aufklärung findet sich z. B. bei Achille Mbembe, Politiques de l ’ Inimitié, Paris 2016. 18 Bloch, „ Etwas fehlt “ , S. 65. 19 Vgl. Adorno in ebd., S. 65. 20 Muñoz, Cruising Utopia, S. 1. 21 Mari Ruti, The Ethics of Opting Out: Queer Theory ’ s Defiant Subjects, New York 2017. 22 Lee Edelman, No Future: Queer Theory and the Death Drive, New York 2004; Sara Ahmed, The Promise of Happiness, Durham NC 2010; Lauren Berlant, Cruel Optimism, Durham NC 2011; Sara Ahmed, Willful Subjects, Durham NC 2014. 23 Muñoz, Cruising Utopia, S. 2. 24 Ebd., S. 1. 25 „ Bloch offers us hope as a hermeneutic, and from the point of view of political struggles today, such a critical optic is nothing short of necessary in order to combat the force of political pessimism. “ Ebd., S. 4. 26 Er zitiert die oben erwähnte Textstelle Blochs aus „ Kann Hoffnung enttäuscht werden? “ , Muñoz, Cruising Utopia, S. 3., vgl. ebd. S. 4. 27 Ebd., S. 12. 28 Vgl. Blochs Ausführungen zur konstitutiven Enttäuschbarkeit von Hoffnung in Bloch, „ Kann Hoffnung enttäuscht werden? “ , S. 386 - 387. 29 Muñoz, Cruising Utopia, S. 173. 30 Ann Cvetkovich, Depression: A Public Feeling, Durham NC 2012; Elspeth Probyn, 82 Annette Bühler-Dietrich „ Writing Shame “ , in: Melissa Gregg und Gregory J. Seigworth (Hg.), The Affect Theory Reader, Durham NC 2010, S. 71 - 90. Wichtige Vorläufer*innen dieser Verbindung von Affekt und Kritik sind afrikamerikanische Kritiker*innen wie Audre Lorde oder James Baldwin, die Muñoz beide in Disidentification, nicht jedoch in Cruising Utopia zitiert. Vgl. José Esteban Muñoz, Disidentification: Queers of Color and the Performance of Politics, Minneapolis 1999. 31 Muñoz, Cruising Utopia, S. 101. 32 Siehe z. B. Muñoz, ebd., Kapitel 4 und 7. 33 Theodor W. Adorno, „ Blochs Spuren. Zur neuen erweiterten Ausgabe 1959 “ , in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 233 - 250, hier S. 236. 34 Ernst Bloch, Spuren. Neue erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1959. 35 Theodor W. Adorno, „ Für Ernst Bloch “ , in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 20.1., S. 190 - 192, hier S. 191. 36 Theodor W. Adorno, „ Zum Charakter von Blochs Terminologie “ , 1973, in: Burghart Schmidt (Hg.), Materialien zu Ernst Blochs ‚ Prinzip Hoffnung ‘ , Frankfurt a. M., S. 71. 37 Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 143. Im Original kursiv. 38 Randy Martin, „ Scenes of Reenactment / Logics of Derivation in Dance “ , in: Mark Franko (Hg.), The Oxford Handbook of Dance and Reenactment, New York 2017, S. 549 - 569, hier S. 549. 39 Muñoz, Cruising Utopia, S. 1. 40 Mark Franko (Hg.), The Oxford Handbook of Dance and Reenactment, New York 2017. 41 Martin, „ Scenes of Renactment “ , S. 549. 42 Muñoz, Cruising Utopia, S. 12. 43 Bill T. Jones, The Process of Becoming Infinite, https: / / www.youtube.com/ watch? v=QB Weo5FKoOA [Zugriff am 24. 03. 2019]. Das Video wurde am 17. 07. 2017 von TED veröffentlicht, also erst mehr als ein Jahr nach der Performance. 44 TED: Ideas Worth Spreading. https: / / www. ted.com [ Zugriff am 24. 03. 2019] 45 Zur Veränderung von Black Queer Studies siehe E. Patrick Johnson (Hg.), No Tea, No Shade, Durham, NC 2016 und dessen expliziten Bezug auf die von ihm herausgegebene Anthologie Black Queer Studies (2005). 46 Vgl. Bill T. Jones und Will Rawls, „ A duet, an argument, an inheritance. Bill T. Jones and Will Rawls in Conversation “ , in: Ishmael Houston-Jones, Will Rawls und Jaime Shearn Coam (Hg.), Lost and Found: Dance, New York, HIV/ Aids, Then and Now, New York 2016, S. 207 - 232. 47 Vgl. Bill T. Jones „ 21 “ , T-Magazine 2016. https: / / vimeo.com/ 203748396 [Zugriff am 24. 03. 2019]. 48 Die Etymologie des Worts Kritik führt zum Griechischen ‚ krínein ‘ , unterscheiden, trennen. 49 Jones, The Process of Becoming Infinite, 13: 10 - 13: 20. 50 Ebd., 23: 00. 51 Bill T. Jones, Story/ Time: The Life of an Idea, Princeton 2014, S. [v]. 52 Ebd. 102. 53 Jones, The Process of Becoming Infinite, 8: 50. 54 Trotz verschiedener Recherchen ist es mir nicht gelungen, Informationen über die Person und die richtige Schreibweise des Nachnamens zu finden. 55 Darin kontrastiert Jones ’ Verwendung des Beatles-Songs mit dessen Projektion der heterosexuellen Idylle nach langjähriger Partnerschaft. 56 Im Gespräch mit Will Rawls spricht Jones von seiner „ super awareness of mortality “ , Rawls und Jones, „ A duet “ , S. 209. 57 Im Gespräch von Adorno und Bloch wird die Frage der Abschaffung des Todes zur Kernfrage, an der sich „ [u]topisches Bewußtsein “ misst. Bloch, „ Etwas fehlt ” , S. 66. 58 Vgl. Jones, Story/ Time S. 100 - 101. 59 Ebd., S. 101. 60 „ Wo dies nicht drin ist, wo die Schwelle des Todes nicht zugleich mitgedacht wird, da gibt es eigentlich auch keine Utopie. “ Adorno in Bloch, „ Etwas fehlt ” , S. 68. 61 Jones, Story/ Time, S. 101. 62 Ebd., S. 12 - 13. 63 In den Gesprächen, die Jones mit deutlich jüngeren Gesprächspartnern wie Rawls führt, wird dieser Generationenunterschied und der verschiedene Erfahrungshorizont immer wieder deutlich. Auch Johnson be- 83 Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones nennt in seiner Einleitung zu No Tea, No Shade die Veränderung der Aussagesituation und des Aussagbaren innerhalb der Black Queer Studies. Vgl. Johnson, „ Introduction “ , S. 1 - 2. 64 Bloch, „ Etwas fehlt “ , S. 70. 65 Während Benjamin in seinen Thesen die Trümmer hervorhebt, die der geschichtliche Fortschritt hervorbringt, untersucht Bloch die Trümmer auf ihr Potential für eine andere Zukunft. Vgl. Walter Benjamin, „ Über den Begriff der Geschichte “ , in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, Bd. I.2., S. 691 - 704. 66 Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 227. 67 Bloch erkennt die Mitte des 20. Jahrhunderts als Schwellenzeit, einen „ Übergang zu einem Anderswerden, einem Heraufkommenden “ , welchen das Bürgertum verweigert; „ die kapitalistische Gesellschaft spürt sich von der Zukunft verneint. “ Ebd., S. 155. 68 Jones ist seit 1985 HIV-positiv, das verheimlicht er nicht. Anzunehmen ist, dass dieses Leben auf Abruf seine Beziehung zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mitprägt. Hinweise darauf lassen sich auch in Story/ Time finden, vgl. ebd. S. 33 und S. 73. 69 Muñoz, Cruising Utopia, S. 189. 70 Bloch, „ Etwas fehlt “ , S. 60. 84 Annette Bühler-Dietrich Henrike Iglesias ’ s GRRRRRL as Femmage on Stage: A Killjoy Utopia? Neslihan Arol (Berlin) This article analyses the performance GRRRRRL (2016) by the theatre collective Henrike Iglesias based in Berlin and Basel. The production is a relevant example of contemporary feminist performance in the current theatre climate in Germany and is an especially interesting subject for detailed analysis since it tries not only to critique the dominant culture for its injustices against women, but also to offer a better alternative, a utopian place called FORT GRRRRRL. In addition to examining how critique and utopia coexist in this performance, the article investigates the aesthetic strategies used to achieve these aims. Drawing on feminist performance theory and criticism, the analysis also traces the influences of feminist theatre tradition on GRRRRRL. A Collective of Feminist Killjoys Henrike Iglesias was founded in 2012 in Hildesheim by Anna Fries, Laura Naumann, Marielle Schavan and Sophia Schroth and defines “ herself ” 1 as a queer feminist theatre collective. Malu Peeters and Eva G. Alonso have also been members of the collective since 2018. Claiming any kind of feminist label is often still a contentious act throughout the world, including in Germany. 2 The necessity of feminism has been questioned in recent years in Germany, mostly based on claims that the goals of feminism have already been reached. 3 Moreover, the term is loaded with negative connotations despite its increasing visibility in popular culture globally. Regarding the properties of the negative image associated with feminists, the feminist scholar Barbara Tomlinson writes: “ [. . .] a recurring set of formulaic claims that feminist scholars (and feminists in general) are angry, unreasoning, shrill, humorless, ugly, man-hating, perverse, and peculiar ” . 4 Although Tomlinson ’ s argument is situated in contemporary U. S. political and academic discourse, it taps into an international stereotype about feminists. Confronting this stereotype head-on, the members of the feminist collective like to perform as “ feminist killjoys ” . 5 “ Feminist killjoy ” is a term coined by feminist writer and independent scholar Sara Ahmed, whose research blog is linked on the website of Henrike Iglesias. 6 Ahmed calls herself a feminist killjoy and writes: “ Indeed the very act of recognizing injustice in the present is read as a theft of optimism, a killing of joy [. . .] ” . 7 Accordingly, feminist killjoys may also kill joy simply by not taking pleasure in happy objects like marriage and happiness scripts of heterosexual love. As a theatre collective of feminist killjoys, Henrike Iglesias follows the tradition of earlier feminist artists in the field by fighting against the stereotypical representations of women on stage. Anna Fries talks about the topic as follows: I think we are all constantly driven to [. . .] build down stereotypes or deconstruct stereotypes and since we would probably all [. . .] talk about ourselves as feminists because we have the feeling that women are still not represented the way they should be in our society like we try to open a wider range of representation or to also search for different images and to overcome images that we don ’ t like or that we find like imprisoning in a way. 8 Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 85 - 98. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0009 In accordance with this statement, Henrike Iglesias deals with the stereotypical images of ‘ evil ’ ascribed to women in her third production GRRRRRL. I have chosen this production for detailed analysis because it strives to combine critique and utopia. On the one hand, it tries to deconstruct, subvert and critique the existing stereotypes about ‘ bad women ’ . On the other hand, it seeks to offer “ a view from ‘ elsewhere ’” , 9 a utopian place called FORT GRRRRRL. The notion of utopia is closely linked with the ideal of happiness in the dominant imaginary, as the philosopher Seyla Benhabib writes: “ Utopias portray modes of friendship, solidarity and human happiness ” . 10 As the term also implies, the feminist killjoy “‘ spoils ’ the happiness of others; she is a spoilsport because she refuses to convene, to assemble, or to meet up over happiness ” . 11 How does Henrike Iglesias, a collective of self-proclaimed feminist killjoys, share a utopia with the audience? The feminist historian Susan Magarey states: “ The impulse to create a utopian vision is integrally optimistic [. . .]. ” 12 How do feminist killjoys, who are likely to be seen as thieves of optimism in their recognition and criticism of injustices, embody a utopian vision? How far do critique and utopia go hand in hand in a performance, which employs the figure of the ‘ unruly woman ’ and claims to “ discover the productive power of destruction ” ? 13 This article asks such questions in its evaluation of the performance GRRRRRL, which premiered in April 2016 in ROXY Theatre in Birsfelden, Switzerland and toured in Germany until March 2018. 14 GRRRRRL The title of the performance can be read as a tribute to Riot grrrl, the underground feminist punk movement that emerged in the early 1990 s. Feminist researcher Maria Katharina Wiedlack refers to punk as a form of political anger and states: “ queerfeminist punks [. . .] argue for the usage of aggression, outspoken anti-social behavior, and a liberating verbal (or non-verbal) violation of rules ” . 15 By increasing the number of ‘ r ’ s in the title of her performance, Henrike Iglesias reinforces the aggression and the anger inherent in the term ‘ grrrl ’ , which comes from its reference to the sound of a growling animal. To further support the central role of anger in the performance, its promotional text begins with a quotation from the contemporary feminist activist, author and journalist Laurie Penny: “ If anything can save us in this fraught and dazzling future, it is the rage of women and girls, of queers and freaks and sinners. ” 16 As cited earlier, anger is an essential part of the negative stereotype of feminists. It is also antithetical to the notion of ideal womanhood, which ‘ good girls ’ live by. Therefore, it is no surprise that there is a lineage of feminist artists utilizing aggression and characteristics attributed to ‘ bad girls ’ in their work. 17 Following this tradition and looking for ways to be bad, Henrike Iglesias affirms and claims anger as well as the other criteria for ‘ the unruly woman ’ . The unruly woman is an oft-cited figure of female outrageousness in feminist scholarship and was defined by feminist media scholar Kathleen Rowe Karlyn as “ typically associated with excess of all kinds, but especially those that concern her body, voice, and actions. She is often fat, loud, rebellious, sometimes angry, and often funny ” . 18 Not afraid to be seen as a feminist killjoy, Henrike Iglesias embodies the unruly woman for her feminist critique and utopia throughout the performance. This echoes the work of literature professor Mary Russo, who writes: “ The figure of the female transgressor as public spectacle is still powerfully resonant, and the possibilities of redeploying this representation as a demys- 86 Neslihan Arol tifying or utopian model have not been exhausted. ” 19 Unruly Woman as Public Spectacle: A Feminist Killjoy Aesthetic? At the beginning of GRRRRRL, the audience sits in the dark listening to nearly half a minute of text from Malleus Maleficarum (The Hammer of Witches) read by a recorded voice, which sounds like a group of overlapping female voices. The Hammer of Witches was first published in 15 th century and is one of the most influential books that endorsed the brutal prosecution of women on suspicion of witchcraft. The text cited from this well-known book is a short compilation, highlighting its hostility towards women. It compares women to men and comes to the conclusion that women are like defective animals, more carnal and less intelligent. Women have inherently little faith in God. They cannot be disciplined. They are liars by nature and deceive men with their voices. As the text progresses, the female voices become gradually deeper until they gain a somewhat monstrous quality. The sound becomes as evil as the content of the text at the end: “ Klein ist jede Bosheit gegen die Bosheit des Weibes. Sinnt das Weib allein, dann sinnt es Böses. ” 20 As the promotional text and the interviews 21 with Henrike Iglesias reveal, GRRRRRL is about exactly those women that The Hammer of Witches condemns. It is about unruly women, who are evil in the eyes of a patriarchal society. By citing this text with a twist, Henrike Iglesias uses subversive quotation - a common strategy among feminist comedians - in order to remind the audience of the long history of demonization of women in patriarchal societies. The seriousness of the voice-over, combined with the absurdity of the text from a contemporary perspective, is probably the reason why it occasionally evokes laughter from the audience. 22 Rowe Karlyn writes: “ Unruly women use laughter to transform passive suffering into an active response to circumstances they find unjust, painful, or simply ridiculous. ” 23 In her performance, Henrike Iglesias adopts this strategy and makes the audience laugh on many occasions. During the subversive quotation, a light starts to fade in and out like a slow heartbeat from upstage right. Three adjacent arched windows become visible due to the light source behind them. The complete construction, a 4 m x 4 m black folding gazebo tent with the above-mentioned windows, becomes recognizable as the performers slowly enter the stage and the rows of lighting elements on the floor, positioned against the upstage wall, illuminate everything from behind. The tent is diagonally positioned upstage right, facing the audience. Apart from this tent, the stage is nearly completely empty throughout the performance. The performers bring most of the props with them as they enter the stage after the quotation has ended. During the performance, they make use of a couple of folding stools, a bucket, an outdoor cool box and plastic canisters. Except for the canisters, all these props are on stage throughout the performance. The cool box and the canisters are embedded with light sources. When their lights are on, they create a great contrast with the black and often dimly lit surroundings. During the setting of the stage, one of the performers stretches a clothesline between the tent and a point downstage right. Afterwards, she hangs several used tampons on the clothesline with help of another performer. The minimal stage design allows these red tampons to attract more attention. Menstrual blood is a taboo image that has long been represented in sanitary pad commercials by a light blue 87 Henrike Iglesias ’ s GRRRRRL as Femmage on Stage: A Killjoy Utopia? liquid. Henrike Iglesias breaks this taboo by sharing the stage with ‘ bloody ’ tampons for the entire duration of the performance. 24 As mentioned earlier, Henrike Iglesias fits the definition of the unruly woman well, so taboo-breaking is naturally a central theme of GRRRRRL. 25 The stage set is filled with elements that suggest a campsite atmosphere. The stage holds almost everything that a long-duration camper needs, but there is no sign of the nature that normally surrounds a campsite. There is even no colour other than black on stage besides the red on the tampons and a light blue cool box. This design and use of dim lighting create a dark atmosphere, further supported by various pieces of mostly instrumental music and sound effects that can be associated with negative adjectives such as uncanny, sombre, disturbing and creepy. Therefore, the stage design does not try to convey an ideal happy image, which is often falsely expected of utopias. Sara Ahmed rejects this expectation by writing: “ [. . .] utopias cannot be reduced to happy futures. ” 26 I argue that Henrike Iglesias applies a feminist killjoy aesthetic in GRRRRRL, which is consistent with a killjoy utopianism that Ahmed describes as “ a willingness to inhabit what seems negative as an insistence that worlds can be otherwise ” . 27 The implications of the feminist killjoy aesthetic on the staging of a utopian place, in this case “ a queer-matriarchal camp ” , 28 are discussed further in the last section of this article. This negative aesthetic complements Henrike Iglesias ’ s search for the bad and her embodiment of the unruly woman with her so-called negative qualities such as anger and excess. The costumes also fit the notion of excess: black, bulky jackets and hoodies, which increase the perceived body sizes of the performers; under the hoodies, they wear very long black wigs, which cover their faces completely and emphasize the rest of their body. They add to the performer ’ s bodily excess and imply an undisciplined femininity, which was scorned in the previously quoted text from The Hammer of Witches. When two of the performers later stuff their faces with potato chips through their wigs, they mock the text ’ s accusations of women being defective animals by assuming animalistic manners. Another element that contributes to the performers ’ bodily excess are the high platform shoes, which not only increase the performers ’ height, but also help them to be louder. At four instances in the performance, all the performers jump up and down at the same time, making noise and marking the transitions between the scenes. In a short scene, they maximize the use of their shoes for excess, marching in them while screaming. The costumes change throughout the performance, with the exception of the shoes. In a solo scene close to the end of the performance, Sophia Schroth wears a creamcolored jacket made of some kind of foam with toothpicks on it. In this design, Schroth looks much bigger than normal. Her size is the main topic of discussion in the scene. She addresses the audience and talks about her parents, who find her fat. As she says that she takes up too much space and tries to compensate this with her character, her anger reaches its apex. She yells with rage: “ Ich bin immer nett. Ich bin nie sauer oder böse auf jemanden. In unangenehmen Situationen fange ich lieber an zu lachen. ” 29 At the end of her monologue, Schroth starts to laugh. As her laughter intensifies, the other performers join in and laugh with her. The scene ends with their loud laughter. This is arguably the scene in which the figure of the unruly woman is most evident in its representation of excessive body size, excessive voice, excessive anger and excessive laughter. Through her unruly presence, anger and laughter, Sophia Schroth stands up against 88 Neslihan Arol the societal norm, which would prefer her to be a thin, nice girl. Her performance reflects the killjoy aesthetic and resonates with Rowe Karlyn ’ s statement: “ Like Medusa, the unruly woman laughs [. . .] she is not a nice girl. She is willing to offend and be offensive ” . 30 GRRRRRL as a Femmage on Stage In the programme of the performance, it is stated that “ GRRRRRL ist eine Femmage an das Unangepasste, das Hässliche, das Laute. Eine Femmage an die böse Frau ” . 31 Henrike Iglesias uses the word ‘ Femmage ’ instead of ‘ Hommage ’ most probably because the root of the French word ‘ Homme ’ means ‘ man ’ . However, the word ‘ femmage ’ already exists and was coined by Miriam Schapiro and Melissa Meyer in 1978. A combination of the words ‘ feminist ’ and ‘ collage ’ , 32 ‘ femmage ’ is an activity “ practiced by women using traditional women ’ s techniques to achieve their art [. . .] ” . 33 Although Schapiro and Meyer ’ s definition does not refer to theatre and focuses more on art forms that collage various materials such as printed matter, paint and fabric, GRRRRRL lends itself to be read as a different type of femmage, in other words a feminist collage on stage. The performance is collage-like, consisting of a series of episodic scenes. Although there is some broad thematic unity between some consecutive scenes, as in the three scenes about motherhood, there is certainly no linear narrative. This fractured narrative structure draws attention to the constructed nature of representation and does not allow its audience to lose itself in the illusion of the narrative by assuming a passive role, which can be the case with realist plays. It is an aesthetic strategy of materialist feminist theatre tradition, which was identified as a branch of second wave feminist practices. 34 The episodic structure is one of the strategies influenced by Brechtian epic theatre, which aimed to keep audiences engaged in order to get political messages across. Another Brechtian-influenced aesthetic strategy of the materialist feminist project to keep the audience engaged is the “ lookingat-being-looked-at-ness ” employed by the performers. Elin Diamond identifies this term in her much-cited article on the intertextual reading of feminist theory and Brechtian theory. 35 As the term implies, the performer looks back at the audience looking at her. Inheriting this strategy from feminist pioneer artists, 36 Henrike Iglesias resists fetishization by directly addressing her audience and returning the gaze in nearly every scene of GRRRRRL. One of the scenes especially stands out with its open negotiation of the gaze. In this solo scene, Laura Naumann comes close to the front row of the audience and looks at its members without saying anything. Sometimes, she looks as if she is looking in a mirror and at other times, it is as if she is flirting with the audience. As an audience member in the front row, I remember feeling uneasy at that moment of uncertainty. I was asking myself: How can I return the gaze of the performer in the most productive way? Should I smile, stare, look away or flirt back? Probably not all spectators go through this questioning. As a performer myself, I might be oversensitive about audience-performer interaction, but it is quite certain that this scene asks the members of the audience to take responsibility for their gazes. Theatre audiences all too often enjoy the powerful position of sitting in the dark and being unseen onlookers. The materialist feminist critic and scholar Jill Dolan writes: “ Brecht ’ s formulation of the alienation effect ’ s application to acting technique is perhaps most pertinent to materialist feminist practice. The Brechtian actor resides in a state of showingness. ” 37 The performers Anna Fries, Laura Naumann, Marielle Schavan and Sophia Schroth 89 Henrike Iglesias ’ s GRRRRRL as Femmage on Stage: A Killjoy Utopia? act mostly as if they are themselves on stage. In an interview, Marielle Schavan confirms this by saying: “ Wir sind als wir selbst auf der Bühne. ” 38 So the performers mainly adopt their own stage personas and call each other by their real names. Their performance is consistent with second wave feminism ’ s motto “ The personal is political ” , 39 since most of the scenes seem to be based on their personal experiences. The state of showingness can be observed both in their performance of themselves and in their representation of other characters, such as Lady Gaga, Britney Spears and Nicki Minaj. For instance, in a solo scene, as Marielle Schavan explains her relationship with sex and masturbation through a chronological story, starting with her discovery of masturbation at the age of three, she seems to be quoting her own story. During the whole scene, she repeats a set of movements, which looks like a choreography from a ballet class for small children. The dissonance between the movements and the content creates a distance between the performer and her own story, supporting its quality of showingness. The fact that the enacted characters are all real-life superstars already ensures their state of showingness. Characters like Britney Spears cannot be performed realistically unless a degree of impersonation is involved. Anna Fries uses only jewelled glasses for her enactment of Lady Gaga, whereas Marielle Schavan and Laura Naumann do not even use any props to perform Britney Spears and Nicki Minaj, respectively. Apart from these aesthetic strategies, such as showingness and a collage-like structure, GRRRRRL also follows in the footsteps of the feminist theatre and performance tradition in its choice of content with its emphasis on themes such as female masturbation, sexuality and motherhood. In order to provide alternative female images and criticize the unjust social control over women and their sexuality, Henrike Iglesias makes use of the figure of the unruly woman as a spectacle, as mentioned earlier. Women being unruly by subverting dominant cultural rules on female bodies, breaking sexual taboos and embracing the abject is at the heart of feminist performance tradition. Henrike Iglesias builds on this tradition and manages to create empowering moments for audience members who may identify with them. GRRRRRL deals with sexual taboo topics mostly through the personal stories of the performers. Openly talking about sexual experiences remains a taboo for women around the world. When, in a short scene, the performers discuss female masturbation casually, as if they were in a private space, they controversially introduce a subject matter that may be considered taboo by theatregoers. This scene foretells the utopian camp Henrike Iglesias aims to establish in the course of the performance. Without any emphasis or exaggeration, the performers state in which public places they masturbate. Henrike Iglesias breaks another taboo by addressing the flaws of intimate body parts. In a short scene, the performers talk to each other about their nipples in a very casual way, just like in the previously discussed scene about masturbation. Each performer mentions a particular aspect of her nipples, such as nipple hair, which does not fit the ideal female body. They gather in a close circle and look at their own and each other ’ s nipples in such a way that the audience members cannot see what they are looking at. The video of the premiere shows that the scene triggers laughter. The laughing audience members presumably laugh in recognition and are perhaps reminded of their own flaws, which are causes of shame and therefore kept secret. Such instances of recognition in theatre might empower some audience members. An online article on GRRRRRL quotes one such audience member, who identifies her experience as 90 Neslihan Arol „ Verschwesterung “ ( “ sisternization ” ) during the after-show talk in May 2017 in Düsseldorf: “ So ungefähr alle elf Minuten, sagt sie, habe sie sich in dem Stück wiedererkannt und ihre Nachbarinnen sicherlich auch, nur eben vielleicht in anderen Momenten “ . 40 “ Verschwesterung ” is represented in this scene of intimacy, which can also be viewed as foretelling of utopia. The performers end the scene by leaving the stage together as a group, two of them putting their arms around each other in solidarity. For the discussion of taboo-breaking content in GRRRRRL, one instance stands out the most. Whether or not it really happened, is one of the first questions that audience members ask during aftershow talks. 41 Towards the last quarter of the performance, Marielle Schavan comes onto the stage and urinates while standing into a bucket that has been upstage left since the beginning of the performance. As an audience member, I remember that I could see the stream of urine pouring into the bucket, but the backlight and the fog managed to hide the performer ’ s privacy to a certain extent. Urinating in public while standing is a common activity of men, as long as they can partially conceal themselves. Schavan borrows this activity and, by claiming the abject, adopts the figure of the unruly woman who “ is unable or unwilling to confine herself to her proper place ” . 42 The activity also seems to mark an important change in the scenery towards utopia, as if Schavan is indicating that women can urinate there however they want. After Schavan has finished urinating, she places some flowers around the stage and reveals the FORT GRRRRRL sign, which is the first clear indication marking the stage as somewhere else. As explained in the beginning of this section, Henrike Iglesias subverts the term ‘ hommage ’ and calls GRRRRRL a ‘ femmage ’ . The word femmage has a meaning of its own and deals with a particular artistic tradition. Based on its scope, femmage refers to criteria, which do not correlate with theatre. Nevertheless, GRRRRRL, with its collagelike structure and its adherence to feminist theatre tradition ’ s techniques, content, taboo-breaking unruliness and materialist feminist aesthetic strategies, fits the main idea of femmage. It can therefore be regarded as a femmage on stage. The analysis in this section focuses mainly on GRRRRRL ’ s connection to second wave feminist predecessors. There are two other main aspects of the performance that are based on contemporary feminist politics, namely the emphasis on popular culture and the performance ’ s attempt at inclusion. The Popular is Political? As briefly mentioned above, GRRRRRL hosts international celebrities of popular culture. Pop culture has been an important terrain of interest for feminist discourse since the emergence of third wave feminism in the 1990s. As sociologist Jane Pilcher and feminist literary scholar Imelda Whelehan write: “ The Riot Grrrl movement which began around 1991, has close links with the emergence of third wave feminism and illustrates their claim that popular culture can be the site of activism, and that media such as music can be used to communicate political messages. ” 43 In line with this statement, GRRRRRL brings popular figures from the music industry on stage to serve political ends. A Lady Gaga interview is performed in the first scene after the performers set the stage. The much-viewed video of this interview is available on YouTube. 44 A male interviewer asks Lady Gaga if she is worried that the sexual references in her videos might undermine her music. Lady Gaga criticizes the interviewer for his question 91 Henrike Iglesias ’ s GRRRRRL as Femmage on Stage: A Killjoy Utopia? and tells him that if she were a male star, she would not be asked about sexual content and would instead be referred to as a rock star. This scene is enacted by Anna Fries, who sits on a stool under a spotlight in a similar position to Lady Gaga in the video. Although Lady Gaga ’ s name is not mentioned, the shiny jewelled glasses and the references in the text give her away. The interviewer ’ s voice is played as a voice-over and is probably recorded by one of the performers since it sounds like an altered voice and the original female voice can also be heard faintly in the background. The scene serves as a representation of a sexual, strong woman, who stands up for herself and is aware of social inequality when it comes to the treatment of female artists in comparison to male artists. Henrike Iglesias does not use the portion of the interview, where Lady Gaga is asked, “ Are you also a feminist? ” 45 Lady Gaga replies: “ I am not a feminist. I hail men, I love men. I celebrate American male culture. Beer, bars and muscle cars. ” From this answer, it seems that Lady Gaga equates feminism with not liking men. This is consistent with the stereotype about feminists being man-haters, which was already mentioned above. Although Lady Gaga ’ s stance against feminism at the time does not change the value of her act for feminism, it still creates a conflict from a feminist perspective. Probably for this reason, the shorter version of the video without the last question has often been circulated online in the discussion of how Lady Gaga shuts down sexism. In terms of content, the scene with Nicki Minaj is very similar to the one with Lady Gaga. The video of Minaj ’ s statements also went viral and is available on YouTube. 46 Nicki Minaj complains about being called a bitch just because she stands up for herself. Comparing herself to a male artist, she says that when a male artist has demands, he is called a boss instead, which does not have the negative connotations that the bitch label has. In the video, Nicki Minaj is accompanied by someone who is most likely a friend or a colleague of hers. He confirms her statements with short encouraging words. As with the Lady Gaga video, this clip is also enacted on stage in a state of showingness, this time by Laura Naumann and Sophia Schroth. Through the example of Nicki Minaj, the scene criticizes ‘ bitch ’ as a label readily assigned to women who demand respect and stand their own ground. The label often works to silence women and motivates them towards passivity in the face of injustices. 47 Just like the scene about Lady Gaga, this scene celebrates Nicki Minaj as a strong woman, who fights for herself. The increasing attention paid to popular culture by contemporary feminist performances and academic works is a pleasing development. Bringing the contents of viral videos of strong international female stars onto the stage, Henrike Iglesias can potentially speak to a wider audience including internet users. But the question that feminist theatre scholar Kim Solga articulates in her evaluation of a performance with pop icon references also applies to GRRRRRL: “ Does this freedom of ‘ the hot and famous ’ represent any kind of real power for girls and women not similarly privileged? ” 48 The answer to this question is not readily available. Nevertheless, Henrike Iglesias provides a counter figure with Britney Spears, whose privilege does not help her. In this way, the magnitude of social pressure on mothers is emphasized. A shortened version of the interview with Britney Spears by former television news anchor Matt Lauer is enacted in a scene by Marielle Schavan and Sophia Schroth, respectively. 49 The scene shows the pop icon as a vulnerable figure trying to answer questions about motherhood with dignity. She is accused of being a bad mother due to some instances with her baby such as trip- 92 Neslihan Arol ping over while her baby was in her arms. Schavan adds a layer to her performance of Britney Spears by incorporating a couple of screams into the text. These screams can be read as a representation of Spears ’ s genuine feelings about the accusations, which she could express if she did not have to wear a social mask. Through the popular figure of Britney Spears, Henrike Iglesias questions the relentless public gaze on mothers and society ’ s demands of perfection for this idealized role. Although Britney Spears is a privileged pop icon, she cannot disrupt the voyeuristic gaze and has to endure public interrogation. Henrike Iglesias adds a dimension to the above question especially by offering an alternative image of the privileged with Britney Spears. However, another question about privilege remains unanswered. What is Henrike Iglesias ’ s approach to her own privilege? GRRRRRL invites this question upon itself with a certain scene that needs further discussion in terms of the concept of inclusion. As an important concept of contemporary feminist politics, it suggests a transcendence of the white feminist exclusion associated with second wave feminism, which was heavily criticised especially by black feminism and postcolonial feminism. Intersectionality On Henrike Iglesias ’ website, under the title Promise, one of the statements is: “ I promise to say the word INTERSECTIONALITY every morning for a month and to stay aware of what it means. ” 50 This sentence is on the list of promises that Henrike Iglesias prepared to be randomly selected during their contribution to 1968 - Eine Besetzung der Kammerspiele (2018). After the random selection of a promise by the collective, anyone from the audience could come forward to read it aloud in front of a live camera. In this way, the collective intended to provide productive impulses regarding how each person can contribute to feminism in their daily life. 51 Written in capital letters, intersectionality appears to be an important concept for the collective in terms of feminist awareness. After the critique of second wave feminist exclusion, contemporary feminist politics mainly embraces intersectionality, a term first coined by Kimberlé Crenshaw in 1989. 52 This theory suggests the creation of identities and political needs through the intersection of various social, biological and cultural categories such as gender, age, race, sex and class. Yet, starting with a particular scene of her performance GRRRRRL, Henrike Iglesias seems to address all women without considering different experiences and categories of oppression to which the women addressed might be subject. Towards the very end of the performance, the performers are all illuminated on the centre stage. They all stand a step apart from each other in a semicircle facing the audience. The scene starts in silence and each performer takes a turn saying a sentence starting with “ Du kommst auf die Welt [. . .] ” . 53 After some time, sombre music begins to play and slowly gets louder as the scene progresses. The sentences are about injustices and violence against women around the world. The performers mention a wide range of atrocities, such as female genital mutilation and stoning. In contrast to most of the other scenes, the performers articulate several issues of which they have no personal experience. They talk about the problems of other women in various parts of the world. As white European women, they have the privilege and resources to address these issues on stage. Most of the women personally facing these problems do not have this level of privilege. What does this mean for the performers? What does Henrike Iglesias 93 Henrike Iglesias ’ s GRRRRRL as Femmage on Stage: A Killjoy Utopia? say about the lack of those women on stage? As mentioned above, Henrike Iglesias seems to speak to a universal female subject as she repeatedly begins her sentences with: “ Du kommst auf die Welt [. . .]. ” Is Henrike Iglesias attempting a form of “ strategic essentialism ” 54 to create solidarity? Or is it simply white feminism? Unfortunately, Henrike Iglesias does not reflect on these questions on stage. Without any self-reflection, the collective ’ s efforts to address a wide range of problems fall short and this attempt taints the utopian ideal of an inclusive camp. 55 FORT GRRRRRL for a Utopian Spectator? FORT GRRRRRL is a queer-matriarchal camp, as Henrike Iglesias calls it. The name of this utopian place is first revealed by an illuminated sign, around 50 minutes into the performance. The performers first talk about FORT GRRRRRL in the last five minutes. Although the clear identification of this utopia happens quite late in the performance, there are several traces during the performance, as clarified above. Most importantly, there are powerful, unruly women on stage, who are not afraid of killing joy. They refuse to be ashamed of their sexuality, their menstrual blood or their urine. Yet, the above-explained feminist killjoy aesthetic, coupled with the dominant understanding about utopias loaded with ideals of happiness and optimism, require a ‘ utopian ’ spectator with special attention to realize the build up towards utopia. Accordingly, José Esteban Muñoz, a scholar in the field of performance studies and queer politics, suggests: “ Sometimes the utopian spectator needs to squint to see the anticipatory illumination promised by utopia, yet at other times, its visuality and (non)presence cannot be denied. ” 56 As elucidated earlier, Henrike Iglesias makes use of the subversive quotation technique for their critique. This technique is seen throughout the performance, even after the introduction of the utopian camp ’ s sign. For instance, in the scene directly after the sign is revealed, the performers sit around on stage and talk to each other in a casual way. They speak the language of sexism and they tell each other things like: “ Lächle doch mal Laura ” 57 or “ Du kannst dich überhaupt nicht wundern, dass du keinen Mann findest so viel wie du arbeitest [. . .]. “ 58 Some audience members laugh at this, probably due to the incongruity of hearing such sexist statements from the mouths of feminist performers. An online article about the performance refers to this scene as a representation of internalized misogyny. 59 The fact that sexist language can still exist, even after the FORT GRRRRRL sign is revealed, renders the sign more or less redundant. Thus, the sign does not constitute a turning point that marks the stage as a utopian place with no sexism. This causes a tension between critique and utopia, when the utopia is considered together with its dictionary meaning, which is also how it is generally defined in the dominant imaginary: “ imagined perfect place or state of things ” . 60 Created by a collective of feminist killjoys as a queer utopia, FORT GRRRRRL should be viewed in terms of Muñoz ’ s understanding of utopia as “ an idealist mode of critique ” 61 and Sara Ahmed ’ s recognition of the utopian form as a testimony to the possibility of an alternative, which “ involves hope in the very mode of its negative critique ” . 62 With this reading of killjoy utopia, where there is always a place for the negative and consequently its critique, the tension of critique and utopia dissolves. However, the tension between the unquestioned essentialist tendencies of the performance and its vision of an inclusive utopia unfortunately remains intact. 94 Neslihan Arol Notes 1 In the English version of the promotional text of the performance GRRRRRL, the third person feminine singular pronoun is used to refer to Henrike Iglesias. Since Henrike Iglesias sounds like a real female name, this article also uses the third person feminine singular pronoun. For the promotional text in English, see Münchner Kammerspiele: “ GRRRRRL. ” https: / / www.muenchner-kammerspiele.de/ en/ staging/ grrrrrl [accessed on 5. 02. 2019]. 2 “ To be recognized as a feminist is to be assigned to a difficult category and a category of difficulty ” . Sara Ahmed, The Promise of Happiness, Durham 2010, p.66. 3 For instance, a German national daily newspaper Die Welt, which mainly addresses middle-class conservative readers, published a series of essays about feminism in 2015. This series claimed to offer radical positions to make the discussion of feminism less “ boring. ” An essay in this series questioned feminism ’ s ongoing necessity and attracted considerable attention with its angry tone. The writer of the essay, Ronja Larissa von Rönne, who is also a blogger and a journalist, later distanced herself from this work and rejected the main silver Axel Springer Prize awarded for the essay. The gold, silver and bronze Axel Springer Prizes are awarded annually to young journalists. For the article by Ronja Larissa von Rönne, see: “ Warum mich der Feminismus anekelt. ” https: / / www.welt.de/ kultur/ article13926979 7/ Warum-mich-der-Feminismus-anekelt. html [accessed on 05. 02. 2019]. 4 Barbara Tomlinson, Feminism and Affect at the Scene of Argument: Beyond the Trope of the Angry Feminist, Philadelphia 2010, p. 1. 5 “ Sie treten gern als Feminist Killjoys, DJ Henrike Iglesias und als Internetuserinnen auf ” . English translation: “ They like to perform as feminist killjoys, DJ Henrike Iglesias and internet users ” . Henrike Iglesias: “ About Henrike. ” https: / / henrikeiglesias.com/ abouthenrike/ [accessed on 05. 02. 2019]. 6 Henrike Iglesias: “ Friends. ” https: / / henrikeiglesias.com/ friends/ [accessed on 10. 02. 2019]. 7 Ahmed, The Promise of Happiness, p.162. 8 At 0: 04: 49 of the video by Goethe-Institut Montreal: “ MixOFF Berlin/ Montreal. ” https: / / www.youtube.com/ watch? v=KZSGH EV_iEU [accessed on 05. 02. 2019]. 9 Teresa de Lauretis, Technologies of Gender: Essays on Theory, Film, and Fiction, Bloomington 1987, p. 25. 10 Seyla Benhabib, Critique, Norm, and Utopia: A Study of the Foundations of Critical Theory, New York 1986, p. 13. 11 Ahmed, The Promise of Happiness, p. 65. 12 Susan Magarey, Dangerous Ideas, South Australia 2014, p. 123. 13 Münchner Kammerspiele: GRRRRRL, https: / / www.muenchner-kammerspiele.de/ en/ staging/ grrrrrl [accessed on 05. 02. 2019]. 14 The author of this article watched the performance on 16th September 2016 in Sophiensæle, Berlin and bases her discussion on this experience as well as on the video of the premiere. Both performances took place in similar black box type theatres. Sincere thanks to Henrike Iglesias for generously sharing the video. 15 Maria Katharina Wiedlack, “‘ I don ’ t give a shit where I spit my phlegm ’ (Tribe8). Rejection and Anger in Queer-Feminist Punk Rock ” , in: Transposition 3 (2013), pp. 1 - 19, quoted here: p.4. 16 Laurie Penny, Unspeakable Things: Sex, Lies and Revolution, New York 2014, p.4. 17 For more information on the history, see Lucy R. Lippard, “ In the Flesh: Looking Back and Talking Back: From the 1970 s to the 1990 s, the bad girls are still coming forward. Lucy R Lippard looks at two decades of feminist art ” , in: Women ’ s Art Magazine 54 (1993), pp. 4 - 9. 18 Kathleen Rowe Karlyn, “ Unruly Women ” , in: Bettina Papenburg (Ed.), Gender: Laughter, Farmington Hills 2017, p. 33. 19 Mary Russo, The Female Grotesque: Risk, Excess and Modernity, New York 1994, p. 61. 20 English translation: “ All wickedness is but little to the wickedness of a woman. When a woman thinks alone, she thinks evil ” . For 95 Henrike Iglesias ’ s GRRRRRL as Femmage on Stage: A Killjoy Utopia? the translation, see Heinrich Kramer and James Sprenger, The Malleus Maleficarum, Montague Summers (Tr.), New York 2007, p. 43. 21 „ Es geht in GRRRRRL um böse Frauen. Es ist eine Hommage an das Unangepasste, an das Hässliche, das Laute, an all das, was auf irgendeine Art die Regeln sprengt, die unsere patriarchale Gesellschaft sich für Frauen ausgedacht hat “ . English Translation: “ GRRRRRL is about bad women. It is a tribute to the unadapted, to the ugly, the loud, to all that in some way breaks the rules that our patriarchal society has come up with for women ” . Ann-Kathrin Canjé: „ Im Gespräch mit Henrike Iglesias. “ http: / / www. litaffin.de/ im-gespraech-mit-henrike-iglesias/ [accessed on 10. 02. 2019]. 22 One such part of the text is: “ Ein schönes und zuchtloses Weib ist wie ein goldener Reif in der Nase der Sau ” . English translation: “ As a jewel of gold in a swine ’ s snout, so is a fair woman which is without discretion ” . The translation is taken from Kramer and Sprenger, The Malleus, p. 44. 23 Rowe Karlyn, “ Unruly Women ” , p. 20. 24 The taboo of menstruation has been addressed by several feminist artists. For some pioneer works on the subject, see Judy Chicago ’ s Red Flag (1971) and Menstruation Bathroom (1972) as well as Menstruation (1973) by VALIE EXPORT. Psychoanalyst and feminist Julia Kristeva ’ s abject theory has been a guideline in feminist scholarship examining such works of art. Especially the radical/ cultural feminist theatre tradition dealt with the topic of menstruation. Sue-Ellen Case gives some early examples of this tradition, such as Lydia E. Pinkham ’ s Menstrual Show (1979) by Actors ’ Sorority Theatre and The Period Piece (1980) by Mischief Mime Company. See Sue-Ellen Case, Feminism and Theatre, New York 2014, p.71. Casey Jenkins ’ Casting Off My Womb (2013) is a more recent performance art piece on menstruation, which attracted considerable attention. 25 The context is certainly important to determine to what extent something can be regarded as subversion of a taboo. All the factors that play into such a contextual analysis are beyond the scope of this article. But it is worth mentioning that Sophiensæle, where I watched this performance, often collaborates with feminist artists. Therefore, the audience of this performance venue might potentially be more familiar with the content that GRRRRRL offers and may perceive it accordingly as less subversive. 26 Ahmed, The Promise of Happiness, p. 163. 27 Sara Ahmed: “ No! Refusal, Resignation and Complaint, Lecture presented by Sara Ahmed at Colonial Repercussions conference, Berlin, June 23 2018. ” https: / / feministkilljoys.com/ [accessed on 29. 09. 2019]. 28 Kultur Stadtleben: “ Henrike Iglesias: Die Eintreibung des Bösen. ” https: / / berlin030. de/ die-eintreibung-des-boesen-henrike-iglesias/ [accessed on 08. 02. 2019]. 29 English Translation: “ I am always nice. I ’ m never angry or mean to anyone. In unpleasant situations, I prefer to start laughing ” . 30 Kathleen Rowe, The Unruly Woman: Gender and the Genres of Laughter, Austin 1995, p. 10. 31 Henrike Iglesias: GRRRRRL, https: / / henrikeiglesias.com/ projekte/ [accessed on 14. 02. 2019]. English translation: “ GRRRRRL is a femmage to the unadapted, to the ugly, the loud. A femmage to the evil woman ” . The English translation of this description is a bit different on the abovecited website of Münchner Kammerspiele. The word “ femmage ” is not used and left as “ homage ” in that translation. This is possibly due to the spelling of the word in English with one “ m ” , which does not directly lend itself to a feminist wordplay as in German. 32 Temma Balducci, “ Femmage ” , in: Joan Marter (Ed.), The Grove Encyclopedia of American Art, Vol. 1, New York 2011, p. 210. 33 Miriam Schapiro and Melissa Meyer, “ Waste Not Want Not: An Inquiry into what Women Saved and Assembled - FEMMAGE. ” in: Heresies I, 4 (1977 - 78): p. 66 - 69, quoted here: p. 67. 34 Jill Dolan ’ s inspiring book with the title Feminist Spectator as Critic is taken as a point of reference for this section, which investigates the relationship of GRRRRRL 96 Neslihan Arol with the legacy of feminist theatre practitioners in history. Dolan writes: “ commentators categorized the concerns and practices of this second wave as ‘ liberal ’ , ‘ cultural ’ , and ‘ materialist ’ , which helped to demystify the notion of a unitary feminism with a coercive, authoritative interpretive perspective ” . See Jill Dolan, The Feminist Spectator as Critic, 2 nd Edition, Ann Arbor 2012, p. xv. 35 Elin Diamond, “ Brechtian Theory/ Feminist Theory ” , in: Carol Martin (Ed.) A Sourcebook of Feminist Theatre and Performance: On and Beyond the Stage, London 1996, pp. 120 - 135, quoted here: p. 129. 36 Split Britches from New York ’ s legendary lesbian theatre space WOW Café is a pioneering example of utilizing this strategy. 37 Dolan, Feminist Spectator as Critic, p. 114. 38 English translation: “ We are as ourselves on stage ” . Kultur Stadtleben: “ Henrike Iglesias: Die Eintreibung des Bösen. ” https: / / berlin030.de/ die-eintreibung-des-boesen-henrike-iglesias/ [accessed on 08. 02. 2019]. 39 This well-known motto first appeared as the title of an essay published in 1970. Carol Hanisch: “ Notes from the Second Year: Women ’ s Liberation. ” http: / / www.carolhanisch. org/ CHwritings/ PIP.html [accessed on 14. 02. 2019]. 40 English translation: “ About every eleven minutes, she says, she recognized herself in the play and her neighbours, surely too, but perhaps in other moments ” . Eva Busch, “ Theaterrezension zur Performance ‘ GRRRRRL ’ . ” http: / / feminismus-im-pott.de/ 2017/ 06/ grrrrrl-theaterrezension-zur-performance-von-henrike-iglesias/ [accessed on 14. 02. 2019]. 41 Eva Busch, “ Theaterrezension zur Performance ‘ GRRRRRL ’ . ” http: / / feminismus-impott.de/ 2017/ 06/ grrrrrl-theaterrezensionzur-performance-von-henrike-iglesias/ [accessed on 14. 02. 2019]. 42 Rowe Karlyn, Unruly Women, p. 28. 43 Jane Pilcher and Imelda Whelehan, 50 Key Concepts in Gender Studies, London 2004, p. 170. 44 Lady Gaga: Lady Gaga loves the gays, but not this reporter. https: / / www.youtube.com/ watch? v=VE4L7SI-SwA [accessed on 14. 02. 2019]. 45 This portion starts at 2: 22 minutes into the video. 46 Nicki Minaj: “ Nicki Minaj - Bossing Up. ” https: / / www.youtube.com/ watch? v=PzGZa mtlRP0 [accessed on 15. 02. 2019]. 47 In certain contexts, this label has also been reclaimed by women for empowerment. For instance, Omotayo O. Banjo and her colleagues write: “ Hip hop feminism seeks to empower and liberate young Black women from constraints on their sexual expressiveness by participating in the creation process, appropriating a traditional masculine space and reclaiming traditionally derogatory labels for women (i. e., bitch). ” See Omotayo O. Banjo, G. Whembolua, S. Howard-Baptiste, N. Frederick II, and J. D. Lindsey, “ As Seen on TV? : Hip Hop Images and Health Consequences in the Black Community ” , in: Earl Wright II and Edward V. Wallace (Eds.),The Ashgate Research Companion to Black Sociology, London 2016, pp. 223 - 238, quoted here: p. 226. 48 Kim Solga, Theatre & Feminism, London 2016, p. 70. 49 The following video is enacted from the beginning until 0: 05: 33 with some cuts. Britney Spears: Dateline Special Interview with Britney Spears|Part 04. https: / / www.youtube. com/ watch? v=3ObsLRMlSWY [accessed on 15. 02. 2019]. 50 Henrike Iglesias: “ Versprechen. ” https: / / henrikeiglesias.com/ versprechen/ [accessed on 29. 09. 2019]. 51 Many thanks to the collective for providing me with the context and their aim concerning this list of promises in email correspondence (12. 06. 2020). 52 Kimberlé Crenshaw, “ Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics ” , in: The University of Chicago Legal Forum8 (1989), pp. 139 - 167, quoted here: p. 140. 53 English translation: “ You come into this world . . . ” 97 Henrike Iglesias ’ s GRRRRRL as Femmage on Stage: A Killjoy Utopia? 54 The concept of strategic essentialism was introduced by the postcolonial feminist philosopher Gayatri Chakravorty Spivak. For more information, see Gayatri Chakravorty Spivak, Post-colonial Critic: Interviews, Strategies, Dialogues, New York 1990, pp. 1 - 16. 55 Henrike Iglesias replied to my critique with an e-mail (12. 06. 2020). I cite their answer here without making any changes: „ Wir können den Punkt absolut nachvollziehen und haben darüber auch schon viel gesprochen. Da wir GRRRRRL aktuell nicht mehr zeigen, haben wir bisher keine Änderungen in der entsprechenden Szene, aber auch in anderen Szenen aus der Performance, vorgenommen, was wir definitiv tun würden, sollte es jemals zu einer Wiederaufnahme der Performance kommen. Du hast absolut Recht mit deiner Analyse, dass wir, vor allem in der Endszene von GRRRRRL, es versäumt haben, unsere eigenen privilegierten Positionen als weiße, europäische Cis- Frauen zu reflektieren und produktiv zu thematisieren. Seit wir GRRRRRL 2016 erarbeitet haben, haben wir uns und somit auch unser feministisches Verständnis stark verändert und weiterentwickelt. Wir haben für GRRRRRL neben vielen positiven Reaktionen auch viel Kritik, vor allem aus feministischen Kreisen bekommen, die uns dazu bewegt hat unsere eigene Position zu hinterfragen und zu reflektieren, worüber wir sehr dankbar sind. English translation: “ We can absolutely understand the point and have already spoken a lot about it. Since we are currently no longer showing GRRRRRL, we have not yet made any changes in the related scene, but we would definitely make changes in that scene and also in other scenes from the performance, if it were ever restaged. You are absolutely right in your analysis that, especially in the final scene of GRRRRRL, we have failed to reflect on and productively address our own privileged positions as white, European cis women. Since we developed GRRRRRL in 2016, we and our feminist understanding have changed a lot and developed further. In addition to many positive reactions, we have received a lot of criticism for GRRRRRL, especially from feminist circles, which has prompted us to question and reflect on our own position, which we are very grateful for. ” 56 José Esteban Muñoz, Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity, New York 2009, p. 109. 57 English translation: Smile Laura! 58 English translation: You can ’ t be surprised that you can ’ t find a man since you work so much. 59 Sophie Alibnaini: Hex hex im Matriarchat - „ Grrrrrl “ in den Sophiensälen. https: / / unruheimoberrang.wordpress.com/ 2016/ 09/ 26/ hex-hex-im-matriarchat-grrrrrl-in-den-sophiensaelen/ [accessed on 15. 06. 2020]. 60 Utopia. The Oxford Dictionary of Current English, Oxford 1993, Della Thompson (Ed.), p. 1014. 61 Muñoz, Cruising Utopia, p. 100. 62 Ahmed, The Promise of Happiness, p. 163. 98 Neslihan Arol Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen: Trajal Harrells Antigone Sr./ Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church (L) Julia Ostwald (Salzburg) In Trajal Harrells Produktion Antigone Sr. (2012) verbindet der afroamerikanische Choreograph performative Strategien von Voguing und postmodernem Tanz zu einer höchstgradig affektiven Choreophonie von Posen, Gesten und zu Popsongs singenden Stimmen. In dieser stilisierten Ästhetik rückt das Schöne in vielfältigen Brechungen in den Mittelpunkt. Der Artikel verfolgt die Frage, inwiefern Schönheit hier als ein Mittel der Kritik an geschlechtlichen, sexuellen und kulturellen Normierungen fungiert? Als Modell für eine solche kritische Schönheit dient die Figur der Sirenen, deren gleichermaßen schöner wie tödlicher Gesang die heteronormative Ordnung bedroht durch in Begehren, Imagination und queerer Zeitlichkeit wurzelnden Spannungen. Dieses Modell einer sirenenhaft kritischen Schönheit dient als Ausgangpunkt der Analyse der konkreten Modellierungen von Singstimmen und Posen in Antigone Sr., die - wie abschließend argumentiert wird - die temporäre Utopie einer nichtheteronormativen Gemeinschaft entwerfen. „ Do you know what realness is? Realness is when you try to be something that you are not, but you try anyway and how close you get is your degree of realness. “ (Trajal Harrell, Antigone Sr.) „ jenen Abstand zwischen dem Wirklichen und dem Imaginären [. . .], den zu durchmessen [. . .] der Gesang der Sirenen gerade verlocken will. “ (Maurice Blanchot, Der Gesang der Sirenen, 1962) Die Produktion Antigone Sr./ Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church (L) ist Teil der groß angelegten Serie Paris is Burning at the Judson Church (2009 - 2012), durch die der afroamerikanische Choreograph Trajal Harrell internationale Bekanntheit erlangte. Neben Harrell selbst als Antigone agieren hier vier weitere, ausschließlich männliche Tänzer. Das von ihnen erzeugte vielschichtige und vielstimmige Gewebe teils zitierter, teils imaginierter Posen, Gesten und Figuren sowie singender, skandierender und kommentierender Stimmen (wobei eingespielte Pop-Songs und vokale Liveperformance einander durchdringen) entwirft - so meine These - die Utopie einer Gemeinschaft, in der Femininitäten und Maskulinitäten nicht an bestimmte Körper gebunden sind, sondern das Spektrum eines variablen Kontinuums bilden, das mit verschiedensten Richtungen des Begehrens korrespondiert. Zugleich ist in inszenatorischer und performativer Hinsicht der Aspekt der Schönheit wesentlich für Harrell. Er bezeichnet sie als „ the tension in the works. “ 1 Die zentrale Frage meiner Überlegungen ist daher, wie genau Harrell Stimmen und Bewegungen in Antigone Sr. modelliert und inszeniert, so dass mit dem Begriff des Schönen ein aus der (Tanz-) Ästhetik nahezu verschwundener Begriff wieder relevant wird, der zudem in scheinbarem Gegensatz zum Kritischen steht. Wie ist diese Schönheit zu verstehen? Und inwiefern produziert sie Spannungen, die binäre, heteronormative Geschlechterver- Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 99 - 113. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0010 hältnisse und ihre intersektionalen Verflechtungen mit Fragen von ‚ race ‘ betreffen? Diesen Fragen nachgehend, werde ich (1) den referenzreichen Kontext der Produktion skizzieren, (2) unter Bezugnahme auf den Sirenenmythos als einem Modell krisenhafter Schönheit die strukturelle Verflechtung von Stimmen und Bewegungen sowie deren jeweils spezifische Materialität analysieren, um abschließend (3) das kritisch-utopische Potential dieser spannungsgeladenen, von Begehren, Imagination und queerer Zeitlichkeit geprägten Schönheit zu umreißen, die feministische, postkoloniale und queere Belange zugleich kollidieren lässt und produktiv zu machen versteht. 2 Voguing Antigone: Kontextuelle Verflechtungen Der gesamten Serie Paris is Burning at the Judson Church liegt die Frage zu Grunde: „ What would have happened in 1963 if someone from the voguing ball scene in Harlem had come to downtown New York to perform alongside the early post-moderns at the Judson Church? ” 3 In kritischer Auseinandersetzung mit performativen Strategien von Voguing und postmodernem Tanz entwickelt Harrell mit den einzelnen Versionen der Serie Vorschläge eines imaginierten Dritten. 4 In den beiden Versionen Antigone Jr. und Antigone Sr. greift der Choreograph thematisch Sophokles ‘ Tragödie auf. Antigones emanzipatorisches Hinwegsetzen über das Verbot ihres Onkels König Kreon, ihren toten Bruder Polyneikes zu beerdigen, und das Ergreifen der ihr als Frau verbotenen öffentlichen Rede, bringen die Ordnung der Geschlechter durcheinander: Die Figuren Antigone und Kreon nähern einander an und überlagern sich in queeren Verschiebungen ihrer verwandtschaftlichen und gesellschaftlichen Positionierungen. 5 Das Queering heteronormativer Strukturen ist ebenso grundlegend für Harrells Antigone Sr., jedoch basiert seine Strategie nicht auf dem Ergreifen der Sprache der Mächtigen (wie Antigone es tut) 6 - also einer explizit formulierten Kritik - , sondern auf der ästhetischen Struktur selbst. Das heißt, die Tragödie Antigone wird bei Harrell weder als (lineare) Handlung dargestellt, noch primär über das gesprochene Wort vermittelt, vielmehr wird die dramatische Vorlage in eine Choreographie von Stimmen und Bewegungen überführt, die man Choreophonie nennen könnte. Die Figuren dienen als Grundlage eines Spiels mit Identitäten und Affekten, welches sich ästhetisch neben Bewegungen, Gesten und Posen maßgeblich über singende Stimmen entfaltet. Entscheidende performative Strategien, die Harrell aus Voguing einerseits und Postmodern Dance andererseits entlehnt, sind ‚ Realness ‘ und ‚ Authentizität ‘ . 7 Beide Konzepte stellen ästhetische Verfahren dar, die konträre Identitätspolitiken und damit verbundene Positionen gegenüber Schönheit verfolgen. Das in den 1950er Jahren im Umfeld der queeren Afro-amerikaner*innen und Latinos im New Yorker Harlem entstandene Voguing basiert auf der performativen Verkörperung von zumeist weißen, privilegierten und ‚ straighten ‘ Identitäten wie sie in Modemagazinen wie der Vogue dargestellt werden. Im Rahmen von Voguing-Bällen wird Identität als temporäre Inszenierung des Körpers und seiner sozialen wie geschlechtlichen Konstitution sowie sexuellen Orientierung gedacht. Während der laufstegartig inszenierten Auftritte steht durch die präzise Aneignung der Kleidung und Posen der Vorbilder ‚ Realness ‘ als „ Effekt von Echtheit “ 8 im Vordergrund. Oder wie Harrell es im Stück erklärt: „ Realness is when you try to be something that you are not, but you try anyway and how close you get is your degree of realness. ” Dieser Effekt wird durch eine Darstellung erzeugt, die ihre eigene Künstlichkeit im Idealfall verschlei- 100 Julia Ostwald ert, „ der darstellende Körper und das dargestellte Ideal erscheinen ununterscheidbar. “ 9 Gelingt dies nicht, und können Schwachstellen in der Darstellung der Verkörperung von Geschlecht und sexueller Orientierung entlarvt werden, so ist im Voguing von ‚ Reading ‘ die Rede. Mit ‚ Lesbarkeit ‘ sind dementsprechend die Brüche im Echtheitseffekt der ‚ Realness ‘ gemeint. In diesem Spannungsfeld affirmiert Voguing heteronormative Körperideale einerseits, wie Judith Butler betont, während es zugleich, wie sie ebenso anmerkt, die Performativität und Zitathaftigkeit jeglicher sozialer Rollen- und Geschlechterverhältnisse bloßlegt und diese ihrerseits als ‚ drag ‘ markiert. 10 Der postmoderne Tanz stellt demgegenüber nicht den Effekt, sondern die Suche nach einer ‚ echten ‘ Authentizität ins Zentrum. 11 Authentizität in diesem Verständnis geht mit dem Streben nach einer Demokratisierung der Körper einher, die sich unter anderem im Nicht-Virtuosen und Alltäglichen des Materials, in neutraler Geschlechtlichkeit sowie der Ablehnung von Spektakel und Illusion zeigt. Auffällig ist hier die Nähe zur zeitgleich in den 1960/ 70er Jahren laut werdenden, feministischen Kritik an konformisierenden, vornehmlich Frauen betreffenden Schönheitsidealen. Die Inszeniertheit und Kommodifizierung des weiblichen Körpers - gerade in Modezeitschriften wie der Vogue - wurde zugunsten eines ‚ wahren ‘ und handlungsmächtigen Selbst größtenteils abgelehnt. 12 In der Kollision von ‚ Realness ‘ - und ‚ Authentizitätskonzept ‘ kritisiert Harrell den Glauben der Judson- Protagonist*innen an eine Authentizität und Neutralität von Körpern jenseits ihrer kulturellen ‚ Hervorgebrachtheit ‘ als Illusion, die intersektionale Ausgrenzungskategorien wie Klasse, ‚ race ‘ und Geschlecht ignoriere. 13 ‚ Voguing Antigone ‘ bedeutet in diesem Sinn - so viel sei hier vorweg genommen - , dass das ‚ Schöne ‘ als ästhetisches Mittel der Verführung und Affizierung aufgegriffen, zugleich aber in seiner normierenden, ausgrenzenden Funktion gebrochen wird. Sirenen und das prekäre Verhältnis von Singstimme und Körper Den Prolog der Tragödie, der die Auseinandersetzung der Schwestern Antigone und Ismene verhandelt, inszeniert Harrell als eine Folge von Szenen, die Reminiszenzen an Sirenen und ihre späteren Verwandten, die Meerjungfrauen, aufrufen. Mittels Gesangs einerseits und Bewegungen andererseits stehen diese Figuren auf paradigmatische Weise für eine die heteronormative Ordnung bedrohende Schönheit, die mit ambivalenten Richtungen des Begehrens verknüpft ist. Grundlegend ist dabei die sirenenhafte, strukturelle Aufteilung von Sehen und Hören, die ich hier als Modell einer Schönheit aufgreifen möchte, die das Subjekt in ihrer Wirkung in eine Krise versetzt. Im ‚ cross-dressing ‘ mit hellgrauem und schwarzem Kleid in weiblich konnotierter Meerjungfrauen-Pose - das heißt seitlich, mit angewinkelten Knien auf einem Podest sitzend - vollführen Trajal Harrell (Antigone) und der Tänzer Thibault Lac (Ismene) einen eindringlichen, sensuellen Tanz mit ihren Händen: 14 Bis in die Fingerspitzen artikulierend, bewegen sie sie in Wellen umeinander kreisend, öffnend und schließend, auf und ab. Bei Harrell langsamer, mit mehr Kraft ausgeführt, während Lac vielfach den Rhythmus des von einer hohen weiblichen Kopfstimme gesungenen, eingespielten Songs 15 in strudelartigen kleinen Wellen aufgreift. Diese lockenden und verinnerlicht erscheinenden Bewegungen generieren eine dezidiert feminin markierte Körperlichkeit affektiver Intensität. Eine ähnliche Intensität erzeugen Lac und Harrell wenig später auf vokaler Ebene, wenn sie in derselben Meer- 101 Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen jungfrauen-Pose als Ismene/ Antigone, verstärkt durch zwei vor ihnen stehende Mikrophone, in den Song The Darkest Side der Band The Middle East einstimmen. Dieser thematisiert in bezeichnender Weise die aus Liebe erbrachten Opfer und damit verbundene Fragen der Identität, wie sie im Refrain - „ Oh when I die I ’ m alive and when I lose I find my identity “ - anklingen. Live gesungene und aufgezeichnete Stimmen treten hier ununterscheidbar miteinander verflochten als affektgeladenes polyphones Objekt in den Vordergrund, das die geschlechtlichen Zuordnungen der Stimmen dynamisiert. In diesen Szenen sind Hören und Sehen zwar nicht grundsätzlich getrennt, werden aber mit alternierenden Gewichtungen adressiert. Diese Struktur ist bestimmend für Antigone Sr., indem sich tendenziell statische Szenen besonderer vokaler Intensität, 16 in denen die Singstimmen in den Vordergrund treten, mit solchen ablösen, die mittels bewegter Körper eine Art visuelle Intensität erzeugen. Inwiefern steht diese Struktur mit der den Sirenen und Meerjungfrauen zugeschriebenen tödlichen Schönheit in Bezug? Im Gegensatz zur dominierenden Verbindung von Eros mit visueller Schönheit in Homers Zeit, 17 treten die Sirenen in der Odyssee nicht sichtbar, sondern nur durch ihre „ bezaubern[de] “ , „ honigtönende “ , „ schöne Stimme “ 18 in Erscheinung. Ihr Gesang repräsentiert in stereotyper Lesart das Geschlechterverhältnis von irrationaler, weiblicher Verführungskraft und deren fataler Wirkung auf das mutmaßlich rationale Männliche. Die Nähe der Sirenen zum Flüssigen (sie singen an der Meeresküste) dient als Bild, in dem Hörsinn, Femininität und die Liquidierung von Sinn miteinander verknüpft werden. Diese Argumentationslinie kann von Platon bis zur Gegenwart in der ambivalenten Haltung der westlichen Musiktheorie gegenüber dem Lyrischen des Gesangs nachverfolgt werden. 19 Indem das Lyrische die Semantik der Worte tendenziell zu übersteigen und aufzulösen vermag, wurde es wiederholt nicht nur als potenzielle Gefahr für die soziale Ordnung, sondern, je größer der Verlust der Sinnhaftigkeit, als weiblich bestimmt. In der Schönheit der singenden Sirenen verbinden sich in dieser Rezeption Verführung und Verderben. 20 Mladen Dolar bezeichnet die Singstimme dementsprechend als „ zugleich die feinsinnigste und die perfideste Form des Fleisches “ . 21 Als Urszene einer fatalen ersten Form aufklärerischer Beherrschung des Begehrens und unter Fortsetzung der erwähnten geschlechtlichen Differenzen beschreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer den Sirenenmythos in der Dialektik der Aufklärung. In ihrer Auffassung ist es der „ identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen “ 22 , der angesichts der „ archaischen Übermacht “ 23 des Sirenengesangs mit der „ Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten “ 24 ringt. Den ‚ Zauber ‘ der Sirenenstimmen situieren sie jedoch weniger im Klang als im Inhalt der Lieder. Denn während bei Homer kaum genauere Beschreibungen dessen zu finden sind, was die ‚ Schönheit ‘ ausmacht, erfahren wir, dass die Sirenen Odysseus Teilhabe an ihrem allumfassenden Wissen versprechen. Ihr Gesang ist demnach alles andere als wortlose Stimme, vielmehr kündigen sie an, Odysseus von seinen eigenen Heldentaten zu berichten. 25 Die Sirenen verlassen dabei die teleologische Zeitordnung einer heteronormativen Fortschrittserzählung, wie Adorno/ Horkheimer betonen: Ihre Lockung ist die des sich Verlierens im Vergangenen. [. . .] Indem sie jüngst Vergangenes unmittelbar beschwören, bedrohen sie mit dem unwiderstehlichen Versprechen von Lust, als welches ihr Gesang vernommen wird, die patriarchale Ordnung [. . .]. 26 102 Julia Ostwald Das derartig singend vermittelte Wissen der Sirenen ist im wahrsten Sinne des Wortes undomestiziert, verführt ihr Gesang doch, die bestehenden familiären und damit auch gesellschaftlichen Bande hin zum Imaginären zu verlassen. 27 Ihre lyrische Verlockung ist der Ruf in ein noch nicht nach Zeitstrukturen geordnetes Reich des Imaginären, welches von ihrerseits wiederum irreführenden Gedanken, Bildern und Gefühlen als Kräften des unerledigten Vergangenen bevölkert ist. 28 Trotz der erwähnten vielfach stereotypen Geschlechterverhältnisse der Sirenenszene, finden sich nicht nur im Entwurf einer nicht linearen, queeren Zeitlichkeit andere, ambivalentere Richtungen des Begehrens. Auch die Wirkungsweise der Hörsituation kehrt codierte Geschlechterverhältnisse fundamental um, wenn die Stimmen der Sirenen über das Ohr in den gefesselten und dadurch zur Passivität gezwungenen Odysseus eindringen. 29 Nicht zuletzt ist seinem Hören ein auto-erotischer Aspekt eigen, wie Judith Peraino argumentiert, indem sein Begehren von Stimmen erzeugt wird, die über ihn selbst singen. 30 In ihren späteren Transformationen 31 , etwa zu den Meerjungfrauen des 19. Jahrhunderts, verstummen die Sirenen. Dabei ‚ substituieren ‘ sie „ ihren Stimmverlust wiederholt mit einer Virtuosität im Tanz “ 32 . Die akustische Transgression ihrer Stimmen zeigt sich, übertragen in die visuelle Ordnung, in fließenden Konturen, geschwungenen Linien, Kreisen und Schwüngen. 33 Auch die Meerjungfrauen entziehen sich eindeutigen Geschlechterverhältnissen. Andreas Kraß bezeichnet ihre wässrige Gesellschaft vielmehr als „ Prinzip der Verschwisterung, ein utopischer Gegenentwurf zum Patriarchat “ 34 . Beide, singende Sirenen und bewegte Meerjungfrauen, sind Figuren der Transgression, die ein prekäres strukturelles Verhältnis von Stimme und Körper kennzeichnet. Als Modell ist ihre Schönheit nicht an bestimmte Eigenschaften gebunden, sondern in ihrer Wirkung zu situieren. Diese ist maßgeblich durch Spannungen charakterisiert. Spannungen, die sich zwischen Sinnlichkeit und Semantik, Begehren und Bedrohung, Vergangenheit und Gegenwart und nicht zuletzt zwischen heteronormativen und queeren Geschlechterentwürfen entfalten. Anders ausgedrückt: Sie ist in den aufgeladenen Beziehungen zwischen Mündern und Ohren, Gesten und Augen zu suchen, die einen affektiven Zwischenraum des Begehrens und der Imagination erzeugen und so die einzelne Zuschauerin, den einzelnen Zuschauer in eine Krise zu versetzen vermögen. Im etymologischen - auch medizinisch auf den Krankheitsverlauf bezogenen - Sinn von „ Scheidung, Entscheidung “ 35 verweist die Krise auf einen unentschiedenen, potenziell transformativen Moment zwischen zwei Möglichkeiten. Die Sirenen führen die Zuhörenden in eine solche Krise, deren ‚ tödliche ‘ Wirkung letztlich in der Verflüssigung der Identitätskonstruktion des Subjekts liegt. Die Attribuierung der Sirenen als ‚ schön ‘ bei Homer verweist zudem darauf, dass sie nicht völlig außerhalb des Gesellschaftlichen, nicht als gänzlich Andere erscheinen, gleichwohl aber in ihrer zerstörerischen Wirkung die Normen aufbrechen. So versetzt ihre Schönheit die heteronormative Ordnung im Allgemeinen in eine Krise, indem sie ausgehend vom Bekannten, Erkennbaren ein Geflecht neuer Beziehungen und Genealogien voller Ambivalenzen, Brüchen und Zwischenräumen entwirft. Die Sirenenszene Harrells, in der die Schwestern Antigone und Ismene Stimmen und Bewegungen - sowie tatsächliche Fäden, die von Harrells Hand aus durch den gesamten Saal gespannt werden - zu einem solchen Netz krisenhafter Schönheit verknüpfen, kann als Schlüssel des Stücks 103 Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen gesehen werden. Die folgenden beiden Abschnitte fragen, wie Singen und Posieren in den Szenen visueller und vokaler Intensitäten konkret modelliert werden, um die genannten spezifischen Spannungen zu erzeugen. Das heißt genauer: Was zeichnet die Materialität von Bewegungen einerseits und Stimmen andererseits aus und wodurch versetzen sie die Wahrnehmung in einen affizierten Modus der Krise? Choreophonie 1: Posen verque(e)rter Schönheit Der Hauptteil von Antigone Sr. setzt sich aus drei Szenen zusammen, die mit den von Harrell ausgerufenen Kategorien (The King ’ s Speech, Prince on the Runway, Mother of the House) und in ihrer Dramaturgie explizit an Voguing und Laufstegkultur angelehnt sind. Innerhalb der drei dezidiert geschlechtlich differenzierten Kategorien lassen die Performer im Zusammenspiel mit ihren jeweils improvisierten, aus Tüchern, Stoffen, Accessoires drapierten Kostümen Kreon, Haimon und Eurydike in einer Vielzahl potenzieller Verkörperungen erscheinen. Diese werden von Harrell im spezifischen Modus der für die Voguing- Bälle essenziellen Kommentatoren (der ‚ MCs ‘ ) beschrieben, die zwischen Publikum und Tänzer*innen moderieren. Das heißt verschiedenste zuschreibende Namensgebungen und Assoziationen ‚ definieren ‘ die Verkörperungen erst als bestimmte Stile. Die einzelnen Auftritte sind mit leichten Variationen in typischer Laufstegdramaturgie strukturiert in Auftrittspose, Gang nach vorne, weitere Pose, Gang zurück, Abgangspose. Dabei werden die je spezifische Art des Schrittesetzens, die posierenden Momente des Innehaltens sowie vereinzelte Gesten zu den primären Ausdrucksmitteln. Bewegungsanalytisch dominieren hier die folgenden vier Aspekte: 1) Das Element der Aufrichtung und Vertikalität des Körpers. 2) Das Prinzip der Opposition in der Anordnung der Körperteile zueinander als einer dynamischen Spannung. 3) Die Isolation der Körperbereiche (Kopf, Oberkörper, Arme/ Hände, Hüfte, Beine/ Füße) und ihre vielfach sequenziellen Bewegungen. Das heißt Schritte, Gesten der Arme, Drehungen der Hüfte oder des Kopfes werden als sukzessiver, zusammengesetzter Bewegungsfluss komponiert, wobei mit der Setzung vereinzelter, detaillierter Gesten oder Blicke das Ornamentale akzentuiert wird. 4) Eine als ‚ leicht ‘ zu bezeichnende Modulierung der Energie im Wechsel von Bewegung und Innehalten, die den Effekt von Natürlichkeit erzeugt. In dieser das Androgyne betonenden Körpermodellierung schimmern klassizistische Schönheitsideale durch, wie sie in je unterschiedlichen Rezeptionen in Tanz und Theater vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert sowie der um 1900 aufkommenden Laufstegkultur zu finden sind. 36 Wie Whitney Davis in ihrer Studie Queer Beauty über das Verhältnis von Sexualität und Ästhetik darlegt, liegen diesem kanonisierten idealistischen Körpermodell selbst inhärent queere Bedeutungsschichten zu Grunde. Sie zeigt auf, dass das maßgeblich auf Winckelmanns Studien antiker Skulpturen basierende Körperideal einen weißen männlichen Körper favorisiert. Dieser findet jedoch mit dem Modell des ephebenhaften Jünglings seinen Ausdruck in einem androgyn-femininen Körperbild, das durch eine dreidimensionale, aufgerichtet stehende Haltung und fließende, noch nicht ausmodellierte Konturen markiert wird. Nicht zuletzt ist dieser als idealisierte Schönheit verstandene Körper in seinem antiken Entstehungskontext von einem inhärent homoerotischen Begehren geprägt. 37 Diese ambivalente erotische Aufladung der Skulpturen wird jedoch nach Davis mit der Überhöhung des Winckelmann ‘ schen Schönheitsideals zur ästheti- 104 Julia Ostwald schen Norm durch Kant und folgende Generationen verdrängt. 38 Davis verweist diesbezüglich nicht nur auf die diesem ästhetischen Idealkörper inhärente Queerness, sondern auch auf die in ihm in historischem Wandel sedimentierten Bedeutungen. Unter ‚ queer beauty ‘ versteht sie dementsprechend die reflexive Offenlegung der ambivalenten, zirkulären Wechselwirkungen zwischen vermeintlich universeller Normierung als Ideal und individuellem (queerem) Begehren. Ein Körpermodell, das immer neue historische Bedeutungsschichten, Aneignungen, Umdeutungen und Verschiebungen erfahren hat: „ Kantian beauty - queered: queer beauty is reified or perfected canonical beauty relocated in its corporeal and communal contexts of affective, cognitive, and social significance “ 39 . In Antigone Sr. überlagern und durchkreuzen die Tänzer in ihren Körpermodellierungen dieses idealistische Körpermodell mit davon abweichenden nicht-westlichen und imaginierten Elementen. Der ‚ uninteressierte ‘ , Natürlichkeit suggerierende performative Modus des kanonisierten Schönheitsideals dient dabei als Folie für vielfältig vom Ideal abweichende Körper und wird so von innen heraus, auf teils ironische Weise, zersetzt. Etwa durch die Akzentuierung einzelner Körperteile wie einem als „ the ass “ der „ mythic black people “ kommentierten Auftritt oder aber durch phantastische Verkörperungen wie des von Harrell im Stück ausgerufenen Stils des ‚ elefatism ‘ , einer Mischung von „ elegance and fabulosity “ . In den Posen und Bewegungen werden so kanonisiert als elegant und schön attribuierte Formen überblendet mit fabulierten Identitäten. Dieses Verfahren des Fabulierens in Bewegungen und Benennungen erzeugt ein unendliches, an Referenzen überschießendes Geflecht undomestizierter Verwandtschaften. Hier scheinen Bezüge auf zu dem von Donna Haraway im Kontext ihrer feministischen Methode des ‚ spekulativen Fabulierens ‘ entworfenen Bildes der Fadenspiele (string figures): Playing games of string figures is about giving and receiving patterns, dropping threads and failing but sometimes finding something that works, something consequential and maybe even beautiful, that wasn ’ t there before, of relaying connections that matter, of telling stories [. . .]. String figures require holding still in order to receive and pass on. [. . .] [P]assing on in twists and skeins that require passion and action, holding still and moving, anchoring and launching. 40 In ähnlicher Weise können Harrells fabulierende Posen im Bild der Fadenspiele als permanent umverknotete, provisorische Figuren gedacht werden, die Verknüpfungen zu ständig neuen Genealogien herstellen. Während Haraway Verwandtschaften zwischen Menschen und anderen Spezies ins Zentrum stellt, sind es bei Harrell normierte geschlechtliche und kulturelle Grenzen, die gewissermaßen aufgetrennt und neu versponnen werden. Als Grundlage dieses Flechtwerks dient die Benennung der jeweiligen Stile der Figuren. Die Namen binden die Posen ein in ein fabuliertes kulturelles Wissen. Stil ist ein grenzverlagernder Charakter eigen, indem er zwischen bestehenden Normen und deren transformierender Überhöhung agiert. So versteht Stuart Hall die Stilisierung körperlicher und musikalischer Ausdrucksformen im Kontext der ‚ black popular culture ‘ als Mittel der Umwertung kultureller Hegemonie. 41 In geschlechtertheoretischer Hinsicht bezeichnet Judith Butler Stil als eine Kunst der Kritik, die zu einer „ Stilisierung des Selbst an der Grenze des etablierten Seins “ 42 führe. In diesem Sinn machen die fabulierten Posen und die ihnen zugerufenen Stile die dem idealistischen Körpermodell inhärenten Widersprüche - das heißt seine geschlechtlichen, sexuellen und auch kolonialistischen 105 Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen Ein- und Ausschlüsse - in stetigen komplexen Bedeutungsverschiebungen produktiv. Im queeren Nacheinander entwerfen diese Szenen visueller Intensität die Verkörperung von Geschlecht nicht als an spezifische Körper gebundene Differenz, sondern als das Spektrum eines Kontinuums von Maskulinitäten und Femininitäten. Choreophonie 2: Vokale Mannigfaltigkeit Die geschlechtliche Fluidität, wie sie auf der visuellen Ebene beschrieben wurde, setzt sich in den singenden Stimmen fort. Mit dem scheinbar alltäglichen Akt des Singens zu Popsongs entwickelt Harrell dabei ein komplexes Verfahren der Pluralisierung der Stimmen. Entscheidend sind dabei zwei miteinander verknüpfte Aspekte: 1) die das Verhältnis von Hören und Sehen betreffende strukturelle Verflechtung von Livegesang und vom Band gespielter Popsongs sowie 2) die spezifische Materialität der Stimmen. Übergreifendes dramaturgisches Mittel der Produktion ist ihr ‚ Soundtrack ‘ : eine eklektische Aneinanderreihung und Schichtung vom Band gespielter - vor allem populärer - Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. 43 In einem bewusst improvisatorischen Gestus erstellt Harrell dieses musikalische Arrangement selbst und versteht es als integralen Teil der Choreographie. 44 Er begründet seine Präferenz für aufgenommene statt live gespielter Musik einerseits mit der größeren Alltäglichkeit und Intimität ersterer sowie andererseits dem gemeinschaftsbildenden Effekt des Wiedererkennens populärer Musik. 45 Steht die Stimme generell im Zentrum von Popmusik, 46 so entwirft die Playlist von Antigone Sr. ein intertextuelles Gewebe, das vielfältig codierte Stimmen in Beziehung zueinander treten lässt. Populäre Musik wird hier als gemeinsames und geteiltes kulturelles Imaginäres verwendet, das die individuelle, intime Erfahrung mit der gemeinschaftlichen verbindet, das - ähnlich den wissenden Sirenen - eine Brücke schlägt zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. In diesem Sinn dient das Arrangement der akusmatischen Popstimmen Harrell und seinen vier Performern als Archiv konservierter Gefühle. Zugleich werden diese Stimmen und ihre Expressivität inszenatorisch in die Gegenwart transportiert, wenn sie zu Gesangspartner*innen der Performer werden. Diese Zweiteilung der Quellen des Hörbaren wird über die explizit sichtbaren Mikrophone betont. Sie verweisen auf eine ontologische Trennung zwischen den aufgezeichneten Stimmen des ‚ Soundtracks ‘ und den sich im Hier und Jetzt ereignenden ‚ authentischen ‘ Stimmen der Performer. 47 Gleichwohl verbinden sich beide zu polyphonen Formen (etwa als Heterophonie 48 , heterogene Polyphonie 49 oder Wechselgesang), die im Hören jegliche Hierarchisierung zwischen ‚ live ‘ und ‚ aufgezeichnet ‘ auflösen, zugunsten einer „ Zeitgenossenschaft “ 50 des Pluralen. Diese strukturelle Vervielfältigung der Subjektpositionen - die Multiplizierung der Persona der Songs - zu vokalen Gemeinschaften steht geschlechtertheoretisch perspektiviert dem männlich codierten, solipsistischen Sologesang gegenüber. 51 Wesentlicher Aspekt dieser polyphonen Pluralisierung der Stimmen ist ihre spezifische Materialität oder genauer: ihre Körper- und Klanglichkeit. 52 Analog zur visuellen Ebene werden hier über die Stimmen Vorstellungen normierter Männlichkeit unterlaufen und - allgemeiner gesprochen - die eindeutige Zuordnung geschlechtlicher und sexueller Identitäten dynamisiert. Als stereotype Kategorie der Identifizierung männlicher oder weiblicher Stimmen gilt die Tonhöhe. 53 Diesem Identifikationsmechanismus entziehen sich sowohl die 106 Julia Ostwald Stimmen der Popsongs als auch jene der Performer, indem sie gerade nicht ‚ straight ‘ erscheinende Klangmodellierungen präferieren. 54 So verleiht etwa Harrell Eurydike eine durch starken Druck erhöhte und damit bewusst weiblich erscheinende lamentierende Bruststimme oder nimmt ‚ Kreon ‘ in Minikleid und Highheels im Wechsel von hoher Kopf- und sonorer Bruststimme eine prekäre Position zwischen normierter und femininer Männlichkeit ein. Während die männliche Bruststimme geschlechtliche Eindeutigkeit vermittelt, verfügt die männliche Kopfstimme über eine ambivalente Androgynität. Damit ist sie in westlicher Rezeption mit Falschheit, Maskerade und Effeminiertheit, zugleich aber auch einer entkörperlicht geschlechtslosen Engelhaftigkeit konnotiert. 55 Im Kontext der für Harrell einflussreichen Bluestradition ist die hohe Männerstimme zugleich mit der Abkehr von hegemonialen Männlichkeitsnormen sowie dem Anprangern prekärer gesellschaftlicher Verhältnisse verknüpft. 56 Judith/ Jack Halberstam spricht von dem Blues inhärenten „ queer politics of sexuality “ , die sich mittels tiefer Frauenbzw. hoher Männerstimmen als „ queer articulations of desire and affiliation “ 57 äußern. Durch ihre androgyne Klanglichkeit vermag die Falsettstimme nicht nur ein geschlechterübergreifendes Begehren zu erzeugen, 58 sondern auch andere - utopische - Welten und Geschlechterverhältnisse hörbar zu machen, so Halberstam: the falsetto partakes less in the unnatural and becomes supranatural, the sound of ‘ reaching ’ , [. . .] the falsetto surpasses the word and takes the listener into a new world, a new world we might add, of gender. 59 Das schnelle Kippen zwischen Kopf- und Brustregister - im Blues als ‚ Crying ‘ bezeichnet 60 - wie es vor allem Harrell wiederholt aufgreift, verlagert den Fokus demgegenüber auf die Körperlichkeit des Sängers. Die mit der expressiv physischen Bewegtheit der Stimme einhergehende klangliche Rauheit, ihr ‚ Korn ‘ im Sinne Roland Barthes ‘ , 61 erzeugt den Effekt von Authentizität und Unmittelbarkeit. Konträr zur zuvor erwähnten Öffnung utopischer Räume durch die Artifizialität der entkörperlichten männlichen Kopfstimme wird vielmehr das Hier und Jetzt betont. Gleichwohl rekurriert diese Ausdrucksform in ihrer intensiven Emotionalität ebensowenig auf eine normierte Männlichkeit, sondern affirmiert eher feminin konnotierte Qualitäten. Auf diese Weise auf vokaler Ebene Authentizität und Realness verknüpfend, ließe sich das eingangs erwähnte imaginierte Dritte in einer grundsätzlichen Fluidität der Stimmen bestimmen: Sie vermitteln zwischen Gewesenem und Gegenwärtigem, changieren klanglich zwischen utopischer Ent-körperung und Authentizität vermittelnder Ver-körperung, sind weder männlich noch weiblich codiert und werden so zu Objekten unterschiedlichster Richtungen des Begehrens. Sich-selbst-anders-Imaginieren: Zur utopischen Wirksamkeit der Choreophonie Schönheit ist aus Perspektive feministischer und politisch motivierter Kunst im 20. und 21. Jahrhundert zumeist als Gegenteil von Kritik verstanden worden. Ein Argument, das diese Sicht maßgeblich bestimmt, ist die auf Kant zurückreichende Bestimmung von Schönheit als ‚ Zweckfreiheit ‘ . 62 Die Vorwürfe gegen die Schönheit sind vielfältig: Verstanden als ‚ nur schön ‘ wird ihr in ihrer vermeintlichen Oberflächlichkeit jegliche weitere Funktion abgesprochen; 63 als ‚ zu schön ‘ verdecke ihre sinnliche Übermacht kritische Aspekte; in ihrer Verbindung mit dem Weiblichen, lässt sie die Frau zum 107 Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen Bildobjekt des männlichen Blicks werden; 64 als bedeutendes Element neoliberaler Selbstoptimierung ist vom „ Terrorregime des Schönen “ 65 die Rede. Diese Kritik an der Schönheit, wendet Harrell zu einer Kritik durch Schönheit, 66 die im Sinne des skizzierten Modells der Schönheit der Sirenen durch innere Spannungen charakterisiert ist. Schönheit steht immer in einem engen Verhältnis zur Imagination, weshalb ihr, wie Fred Moten in Anlehnung an Winfried Menninghaus betont, immer eine kontingente Prekarität eigen ist. Gerade durch die unhintergehbare Bindung von Schönheit an Materialität (also eine singuläre Verkörperung) einerseits und die Unberechenbarkeit der Imagination andererseits lauert im Schönen, so Moten, stets die Gefahr der Umdeutung, des Transformierens: The irreducible materiality of the beautiful and the irreducible irregularity of the imagination define an enclosure that will have always been invaded, as it were, from the inside. This troubled interiority is domesticated by way of a cycle of projection and importation or exoticized as an object of attraction, incorporation and exilic hope. 67 Es sind gerade jene inneren Spannungen und Widersprüche der Schönheit, die Antigone Sr. in der spezifischen geschlechtlich fluiden Materialität von Stimmen und Körpern sowie ihrer choreographischen - oder besser: choreophonen - Verflechtung produktiv macht. Dieses Verfahren bewirkt eine grundlegende Destabilisierung der Lesbarkeit sicht- und hörbarer Identitäten und verweist auf die potenziell transformative Kraft des Schönen als Form der Kritik. Damit ist eine Schönheit gemeint, die ihre eigenen Herstellungsweisen und referentiellen Kontexte reflektiert oder auch ironisch unterläuft, um kulturelle Codierungen gleichzeitig aufzuzeigen und zu überwinden, dabei aber gerade über ihre affektive Sinnlichkeit wirksam ist. 68 In ihrer Wirkung rückt die hochgradige Stilisiertheit von Antigone Sr. - die sich in ihrem fabulierenden Übermaß zugleich jeglicher stilistischer Festlegung entzieht - mit der affektgeladenen Beziehung zwischen Posen und Augen, Stimmen und Ohren die Sphäre der undomestizierten Imagination in den Mittelpunkt. Hier sei an die Sirenen und das besondere Vermögen des Liedes in der etymologischen Bedeutung von ‚ cantare ‘ als Verzauberung 69 erinnert, imaginäre Räume zu öffnen, in denen mit den Worten Maurice Blanchots „ die unterschiedlichen Ekstasen der Zeit koinzidieren “ 70 . Diese queere, das heißt nicht-lineare Zeitlichkeit, 71 die den singenden Stimmen ebenso wie den überblendeten Posen von Antigone Sr. eigen ist, navigiert zwischen historischem Raum, Gegenwart und zukünftigen Möglichkeiten, und verweist damit auf die Bedeutung der Utopie als (künstlerischem) Mittel der Kritik bestehender heteronormativer und hegemonialer Machtverhältnisse. José Esteban Muñoz plädiert im Anschluss an Ernst Bloch für die Bedeutung einer sinnlichen Schönheit, die sich nicht in der gegenwärtigen Vervollkommnung genügt, sondern durch das Unfertige, Fragmentierte auf etwas immer noch Zukünftiges verweist. 72 Im Kontext queerer people of colour beschreibt er die Notwendigkeit eines Imaginierens, das sich vom Gegenwärtigen löst, um andere Möglichkeiten zu eröffnen: The here and now is a prison house. We must strive, in the face of the here and now ’ s totalizing rendering of reality, to think and feel a then and there. [. . .] Queerness is essentially about the rejection of a here and now and an insistence on potentiality or concrete possibility for another world. 73 Dieses Imaginieren anderer möglicher Welten ist nicht auf die Ebene der Herstellung, 108 Julia Ostwald also die performativ hervorgebrachte Pluralität der Tänzer zu beschränken, sondern umfasst in Harrells ethisch-politischem Anspruch maßgeblich das Publikum: „ I am trying to get people to be together on an imaginative plane. Because this is what I think is empowering for us as a group of people. ” 74 Mit Imaginieren ist dabei in keinerlei Weise ein vernunftbestimmtes Vorstellen gemeint. Es handelt sich vielmehr um ein sinnliches In-Beschlag-Genommen- oder Überfallen- Werden von Affekten, in dem das Begehren an zentraler Stelle steht im Sinne von Maurice Blanchot, der dies als prozesshafte Bewegung auf die Sirenen zu beschreibt: Dieser Gesang [. . .]; er war eine Strecke zwischen einem Hier und einem Dort, und was er offenbarte, war die Möglichkeit, diese Strecke zu durchmessen, aus dem Gesang eine Bewegung zum Gesang hin zu machen und aus dieser Bewegung den Ausdruck innigsten Verlangens. 75 Die Abkehr von einer heteronormativen und teleologisch-linear gedachten ‚ straightness ‘ überträgt sich damit als Tendenz zur Auflösung des Selbst auf die Zuschauenden, Zuhörenden. In der Verführung des Schönen liegt hier nicht nur eine öffnende Bewegung hin zur Anerkennung des Anderen, Diversen, sondern auch ein Sich-Selbst-Anders-Imaginieren oder - mit Butler gesprochen - eine Stilisierung des Selbst an seinen Grenzen. Hier trifft zu, was Judith Ann Peraino als ‚ verqueerende ‘ Wirkung des Sirenengesangs resümiert: „ The Siren episode [. . .] is about the desire to become ‘ otherwise ’ , to question and to be questionable, to risk self-obliteration in music in order to become queer to oneself. ” 76 In diesem selbst ‚ Queer-Werden ‘ , das heißt dem Infragestellen der eigenen Wahrnehmungsmechanismen von Geschlecht sowie dem Verflechten von vielfältigen Richtungen des Begehrens, liegt die hohe kritische und ethische Wirksamkeit der von Harrell inszenierten Schönheit. Anmerkungen 1 Trajal Harrell in unveröffentlichtem Interview mit Julia Ostwald am 31. 07. 2018. 2 Zu einer anders perspektivierten Auseinandersetzung mit derselben Produktion siehe Nicole Haitzinger und Julia Ostwald, „ Das kreolisierte Tragische “ , in: Silke Felber und Gabriele Pfeiffer (Hg.), Spuren des Tragischen, Themenheft in Forum Modernes Theater, Tübingen 2020. Ich danke Nicole Haitzinger für erkenntnisgenerierende Gespräche. 3 Trajal Harrell, https: / / betatrajal.org/ artwork/ 567890-Twenty-Looks-or-Paris-is- Burning-at-The-Judson-Church-S.html, [Zugriff am 17. 2. 2019]. 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. Judith Butler, Antigone ’ s Claim. Kinship between Life and Death, New York 2000, S. 5 - 6: „ Opposing Antigone and Creon as the encounter between the forces of kinship and those of state power fails to take into account the ways in which Antigone has already departed from kinship, herself daughter of an incestuous bond, herself devoted to an impossible and death-bend incestuous love with her brother, how her actions compel others to regard her as ‚ manly ‘ and thus cast doubt on the way that kinship might underwrite gender, how her language, paradoxically, most closely approximates Creon ’ s, the language of sovereign authority and action, and how Creon himself assumes his sovereignty only by virtue of the kinship line that enables that succession, how he becomes, as it were, unmanned by Antigone ’ s defiance, and finally by his own actions, at once abrogating the norms that secure his place in kinship and in sovereignty. [. . .] [T]here is, in fact no simple opposition between the two. “ 6 Vgl. ebd. 7 Vgl. Trajal Harrell im Interview mit Ariel Osterweis, „ Trajal Harrells (email) Journey from Judson to Harlem ” , in: Trajal Harrell 109 Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen (Hg.), Vogue. Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church (XL) 2017, S. 119 - 121, hier S. 119. 8 Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a. M. 1997, S. 183. 9 Ebd. 10 Vgl. ebd., S. 185. 11 Dies zeigt sich auf paradigmatische Weise in Yvonne Rainers No-Manifesto (1965), siehe: Yvonne Rainer, „ No Manifesto ” , in: Dies., Work 1961 - 73, Halifax/ New York 1974, S. 45. 12 Vgl. Uta Poiger, „ Auf der Suche nach dem wahren Selbst. Feminismus, Schönheit und Kosmetikindustrie in der Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren “ , in: Zeithistorische Forschungen 2 (2017), https: / / zeithistorische-forschungen.de/ 2 - 2017/ id%3D5490, [Zugriff am 18. 2. 2019]. Hier wäre auch auf den historisch tief verankerten Topos der vermeintlich ‚ natürlichen ‘ Nähe von Frauen zu Maskerade, Verkleidung und Falschheit zu verweisen. Siehe dazu u. a. Liliane Weissberg (Hg.), Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a. M. 1994. 13 Vgl. Trajal Harrell im Interview mit Philip Bither, 11. 3. 2016, https: / / www.youtube. com/ watch? v=r5kWMide7lw, [Zugriff am 17. 2. 2019]. 14 Grundlage der Analyse ist eine Videoaufnahme einer Aufführung der Produktion aus dem Jahr 2014, https: / / vimeo.com/ 70719459, [Zugriff am 18. 2. 2019]. 15 Dabei handelt es sich um Prayer Dance von Rachelle Ferell. 16 Vgl. Jenny Schrödl, Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld 2012, bes. S. 289 - 292. Jenny Schrödl verortet Situationen vokaler Intensität in der prozesshaften, veränderlichen Beziehung zwischen einer auffällig werdenden Materialität von Stimmen einerseits und einem Aufmerksam- und Affiziert-Werden andererseits. Dies kann ebenso für die Materialität und Wahrnehmung von Bewegungen geltend gemacht werden. Darüber hinaus sei hier auf die enge Beziehung des Begriffs Intensität mit engl. ‚ tension ‘ (Spannung) verwiesen, die etymologisch beide auf das lat. tendere als „ spannen, sich anstrengen für, bestrebt sein “ zurückgehen (vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/ New York 1989, S. 334). 17 Vgl. Judith Ann Peraino, „ Listening to the Sirens: Music As Queer Ethical Practice ” , in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 4 (2003), S. 433 - 470, hier S. 440. 18 Homer, Die Odyssee (Deutsch von Wolfgang Schadewaldt), Hamburg 1958, S. 159. 19 Für einen musikhistorischen Überblick über die Rezeption des Singens als bedrohlich weiblich codierte Schönheit siehe Elizabeth Eva Leach, „ The Sound of Beauty “ , in: Lauren Arrington, Zoe Leinhardt und Philip Dawid (Hg.), Beatuy, Cambridge 2013, S. 72 - 98. Siehe dazu auch Michel Poizat, „ Teuflisch oder göttlich? Der lyrische Genuß “ , in: Friedrich Kittler, Thomas Macho und Sigrid Weigel (Hg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2008, S. 215 - 232. 20 Odysseus wird von Kirke gewarnt, dass, wer sich den Stimmen hingibt, auf der Wiese der Sirenen verfaulen werde (Vgl. Homer, Die Odyssee, S. 156). 21 Mladen Dolar, His Master ‘ s Voice. Eine Theorie der Stimme, Frankfurt a. M. 2007, S. 67. 22 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Die Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1969, S. 40. 23 Ebd., S. 66. 24 Ebd., S. 40. 25 Vgl. Homer, Die Odyssee, S. 159. 26 Adorno und Horkheimer, Die Dialektik der Aufklärung, S. 39. 27 Vgl. Homer, Die Odyssee, S. 156. 28 Leon Gabriel, „ Die Täuschung der Parabel: Das Schweigen der Sirenen am Abgrund der Moderne “ , in: Matthias Dreyer et. al. (Hg.), THEWIS. Online-Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, Kafka und Theater (2017), http: / / www.theater-wissenschaft.de/ artikel-die-taeuschung-der-parabel-dasschweigen-der-sirenen-am-abgrund-der-erzaehlungen/ , [Zugriff am 22. 11. 2018]. 110 Julia Ostwald 29 Vgl. Andreas Kraß, Meerjungfrauen: Geschichten einer unmöglichen Liebe, Frankfurt a. M. 2010, S. 56 - 57. 30 Vgl. Peraino, Listening to the Sirens, S. 440. 31 Ovid beschreibt sie als singende Vogelfrauen mit Mädchengesicht, die Vorbild weiblicher Liebeskunst seien. Bei Dante fungieren die Sirenen mit ihren gefiederten Flügeln und betörenden Stimmen als säkularisierte, fleischlich-lasterhafte Pendants der Engel (vgl. Kraß, Meerjungfrauen, S. 60 - 62 und S. 69 - 72.) 32 Nicole Haitzinger, „ Meerjungfrau der Wiener Moderne “ , in: Silke Felber und Gabriele Pfeiffer (Hg.), Das Meer im Blick. Betrachtungen der performativen Künste und der Literatur (Reihe Galatea), Rom 2018, S. 73 - 84, hier S. 75. 33 Vgl. ebd., S. 82. 34 Andreas Kraß, „ Camouflage und Queer Reading. Methodologische Überlegungen am Beispiel von Hans Christian Andersens Märchen Die kleine Meerjungfrau “ , in: Anna Babka und Susanne Hochreiter (Hg.), Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen, Göttingen 2008, S. 29 - 42, hier S. 38. 35 Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, https: / / www-1degruyter-1co m1q3uoiwdr00c5.han.onb.ac.at/ view/ Kluge/ kluge.6248? rskey= NqmaK4&result=2&dbq _0=krise&dbf_0=kluge-fulltext&dbt_0=full text&o_0=AND, [Zugriff am 18. 9. 2019]. 36 Zur Modellierung des Körpers in Tanz und Theater des 18. Jh. siehe Dene Barnett, The Art of Gesture: The practices and principles of 18th century acting, Heidelberg 1987 sowie Nicole Haitzinger, „ Der rhetorische Körper: Zur Inszenierung von tragischen Figuren in den szenischen Künsten im frühen 18. Jahrhundert “ , in: Rheton - Online Zeitschrift für Rhetorik 2017, http: / / www.rheton.sbg.ac.at/ rheton/ 2017/ 01/ der-rhetorische-koerper/ , [Zugriff am 18. 2. 2019]. Die Geschichte der Modellierung von Körpern auf dem Laufsteg ist ein Forschungsdesiderat. Es können jedoch zahlreiche Transfers zwischen bewegten, gestischen Körpern in Tanz und Theater und denen der Modepräsentation nachverfolgt werden, etwa in theatralisierten Modeschauen. Siehe dazu u. a. Caroline Evans, „ The Ontology of the Fashion Model ” , in: AA Files 63 (2011), S. 56 - 69 sowie Caroline Evans, „ The Enchanted Spectacle ” , in: Fashion Theory. The Journal of Dress, Body and Culture 3 (2001), S. 271 - 310. Als einflussreich für die Gestaltung von Posen in Tanz, Theater und Bewegungskultur sind zudem die um 1900 virulenten Lehren François Delsartes und seine transatlantische Rezeption als Delsartismus zu nennen. Letzterer erfährt als Lehre harmonischer Bewegung eine enorme Popularität in den USA, wobei trotz unterschiedlicher Ausprägungen Gehen und das Posieren nach klassizistischen Skulpturen stets entscheidende Elemente sind. Dabei werden etwa in Geneviève Stebbins Adaption als Delsarte System of Expression ohne zu differenzieren Haltungen weiblicher wie männlicher Statuen eingenommen (vgl. Nancy Lee Chalfa Ruyter, The Cultivation of Body and Mind in Nineteenth-Century American Delsartism, Westport / London 1999, S. 119 - 120). 37 Vgl. Whitney Davis, Queer Beauty, New York 2010, S. 23 - 50; siehe zu fluiden Konturen idealisierter klassizistischer Schönheit auch Mechthild Fend, „ Jungfräuliche Knaben. Androgynie und männliche Adoleszenz in der Bildkultur um 1800 “ , in: Dies. und Marianne Koos (Hg.), Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 196 - 197. 38 Vgl. Davis, Queer Beauty, S. 27 und S. 37 - 39. 39 Ebd., S. 44. 40 Donna Haraway, Staying with the Trouble Making Kin in the Chthulucene, Durham/ London 2016, S. 10. 41 Stuart Hall, „ What Is This ‘ Black ’ in Black Popular Culture? ” , in: Social Justice, Rethinking Race 1/ 2 (1993), S. 104 - 114, hier S. 109. 42 Judith Butler, „ Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend “ , (2001), http: / / eipcp.net/ transversal/ 0806/ butler/ de, [Zugriff am 18. 2. 2019]. 43 Das Verfahren der dramaturgischen Gliederung durch Popsongs, die eine Zeitlichkeit und expressive Färbung generieren sowie in ihrer Referenzialität als kulturelle Zeichen 111 Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen verwendet werden, erinnert an Jerôme Bel. Allerdings steht bei Letzterem die Semantik der Songs stärker im Vordergrund, während Harrell deren affektive Qualität akzentuiert. 44 Vgl. Trajal Harrell im Interview mit Moriah Evens, in: MR Performance Journal #49: Trajal Harrel, Herbst (2016), S. 2 - 5, hier S. 4. 45 Vgl. Trajal Harrell im Interview mit J. O.: „ The recorded music actually has an intimacy for people because they have an experience of it, you know of what that is like to hear this thing from speakers which is very different than hearing someone to play an instrument or singing in front of us. [. . .] And sometimes of course [. . .] it can be something I know that a lot of people familiar with are recognizing this voice, or they may know the voice, but they haven ’ t heard the song. And all those various manoeuvres become important in terms of this kind of togetherness that I want. “ 46 Vgl. Martin Pfleiderer, „ Zur Einführung “ , in: Ders. et al. (Hg.), Stimme, Kultur, Identität. Vokaler Ausdruck in der populären Musik der USA, 1900 - 1960, Bielefeldt 2015, S. 9 - 22, hier S. 9. 47 Zu einer ausführlichen Analyse des Mikrophons als Zeichen der Präsenz im zeitgenössischen Tanz siehe Katja Schneider, Tanz und Text. Zu Figurationen von Bewegung und Sprache, München 2016, S. 119 - 140. 48 Heterophonie bezeichnet Stimmen, die zeitgleich dasselbe Thema singen, jedoch durch unterschiedliche Verzierungen, andere Klanglichkeit oder versetzte Einsätze ihre Verschiedenheit hervorheben (vgl. David Roesner, Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen 2003, S. 244). 49 Heterogene Polyphonie meint Stimmen, die gleichwertig und unabhängig voneinander agieren (vgl. Roesner, Theater als Musik, S. 244). 50 Nancy setzt der Simultanität des Visuellen das Zeitgenössische des Hörens entgegen (vgl. Jean-Luc Nancy, Zum Gehör, Zürich/ Berlin 2014, S. 30). 51 Der Gegensatz zwischen „ self sufficient solo masculinity ” und „ anonymous collective feminitiy ” war und ist trotz vielfältiger Brechungen und alternativer Geschlechtercodierungen eine starke Linie populärer Musik (vgl. Ian Biddle und Freya Jarman- Ivens, „ Introduction: Oh Boy! Making Masculinity in Popular Music “ , in: Dies. (Hg.), Oh Boy! Masculinities and Popular Music, NewYork/ London 2007, S. 1 - 20, hier S. 2). 52 Vgl. Schrödl, Vokale Intensitäten, S. 36 - 42. 53 Siehe dazu u. a. Katharina Rost, „ Genderlose, asexuelle Stimme? Von der Kopfstimme im Pop “ , in: PopScriptum - Sound, Sex und Sexismus 12 (2016), http: / / www.popscriptum.hu-berlin.de/ themen/ pst12/ pst12_rost. html, S. 2, [Zugriff am 17. 2. 2019]. 54 Beispielsweise die sehr tiefe Altstimme der queeren Sängerin Gurevich oder die androgyn hauchende und hallende Stimme von Ruth Radelet im Song I want your Love der Chromatics. 55 Vgl. Rost, „ Genderlose, asexuelle Stimme? “ , S. 4 - 7. 56 Vgl. ebd., S. 7. 57 Judith Halberstam, „ Queer Voices and Mucial Genders “ , in: Biddle und Jarman-Ivens (Hg.), Oh Boy! , S. 183 - 195, hier S. 187. 58 Vgl. Rost, „ Genderlose, asexuelle Stimme? “ , S. 4. 59 Halberstam, „ Queer Voices “ , S. 192. 60 Vgl. Tilo Hähnel, „ Was ist populärer Gesang? Zur Terminologie vokaler Gestaltungmittel in populärer Musik “ , in: Pfleiderer, Hähnel und Horn (Hg.): Stimme, Kultur, Identität, S. 53 - 74, hier S. 64. 61 Zur Erotik der Rauheit der Stimme siehe Roland Barthes ‘ einschlägigen Aufsatz, „ Zur Rauheit der Stimme “ , in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt a. M. 1990, S. 269 - 278. 62 Vgl. Maria-Alina Asavei, „ Beauty and critical art: is beauty at odds with critical - political engagement? ” , in: Journal of Aesthetics & Culture 1 (2015), https: / / doi.org/ 10.3402/ jac.v7.27720, [Zugriff am 18. 2. 2019]. 63 Vgl. Christoph Bartmann, „ Zur Politik des Schönen, heute. Überlegungen zur aktuellen Ästhetik im Anschluss an Gadamer “ , in: 112 Julia Ostwald Leonhard Emmerling und Ines Kleesattel (Hg.), Politik der Kunst. Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken, Bielefeld 2016, S. 143 - 156, hier S. 148 - 149. 64 Vgl. Asavei, „ Beauty and critical art ” . 65 Iris Därmann, „ Schönheitspflichten: Von der ästhetischen Reflexion zur kulturellen Praxis “ , in: Sigrid Walther, Gisela Staupe und Thomas Macho (Hg.), Was ist schön? , Göttingen 2010, S. 40 - 47, hier S. 47. 66 Siehe auch Trajal Harrell zu feministischer Kritik von Mode und Schönheit: „ I make the kind of dances I want to dance, and I want to see. [. . .] And a lot of it has to do with a certain level of feminist reasoning. The particular materials that I choose to work with I think come out of a kind of feminist critique. Like I specifically work with clothing, and I work with certain attributes that may not have been seen as primarily materials for art. And a lot of those materials and the way that we move, and the run way movement have been attributed towards a kind of femininity or a kind of female world and I kind of bring those into a kind of primary position in the work. And this is purposeful. ” Harrell im Interview mit J. O. 67 Fred Moten, „ Taste Dissonance Flavour Escape. Preface for a solo by Miles Davis ” , in: Women & Performance: a journal of feminist theory 2 (2007), S. 217 - 246, hier S. 225. 68 Siehe hierzu auch Maria-Alina Asaveis Bestimmung von „ critical beauty ” , die sie aus Kants Unterscheidung von unabhängiger und abhängiger Schönheit heraus entwickelt. Im Gegensatz zu unabhängiger Schönheit ist die abhängige Schönheit nach Kant in einem jeweiligen Kontext, einer Historie und bestimmten Funktion situiert. In Asaveis Argumentation von abhängiger Schönheit als Form politisch engagierter Kunst wirkt diese vorrangig über den Intellekt: „ To appreciate this (sic) art pieces as ‚ beautiful ‘ , we need to understand the concepts and ideas the artist has employed, the context (the cultural tradition, art history, the artist belonging to a specific culture), and so on. ” (Asavei, „ Beauty and critical art ” ). Wenn Antigone Sr. zwar auch über diesen referentiellen Kontext verfügt, transformiert Harrell diesen in eine vornehmlich sinnlich wirksame Ästhetik. 69 Vgl. Sonja Galler und Clemens Risi, „ Singstimme/ Gesangstheorien “ , in: Erika Fischer- Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstatt (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S. 302 - 305, hier S. 303. 70 Maurice Blanchot, Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, Berlin/ Wien 1982, S. 21. 71 Zu queerer Zeitlichkeit im Gegensatz zu ‚ straight time ‘ siehe Judith Halberstam, In a Queer Time and Place: Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York/ London 2005. 72 Vgl. José Esteban Muñoz, Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York/ London 2009, S. 7. 73 Ebd. S. 1. 74 Harrell im Interview mit J. O. 75 Blanchot, Der Gesang der Sirenen, S. 12. 76 Peraino, Listening to the Sirens, S. 440. 113 Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen Der postsouveräne Körper Bettina Wuttig (Marburg) Der postsouveräne Körper ist ein Körper, der sich seiner sozialen Konfiguration entzieht, indem er sich im ontogenetischen Modus 1 fortlaufend materialisiert. Der Beitrag folgt am Beispiel der zeitgenössischen Performancepraxis des ‚ physical dialog ‘ (Lepkoff) und den performancephilosophischen Ausführungen des Theaters der Versammlung (Holkenbrink) der Spur, dass Emotionen eine soziale und kulturelle Praxis sind. Diese Praxis schreibt sich in einem Prozess der Materialisierung in die Körper ein, und seine Rekonstruktion ist womöglich heteronormativitätskritisch als queere Subversion zu fassen. Materialisierung wird dabei mit Bezug zu vitalistisch (neu-)materialistischen Philosophien (Nietzsche/ Deleuze/ Guattari) - Soma Studies 2 - sowie im Rekurs auf die queere Phänomenologie Sara Ahmeds als De-Somatisierung skizziert. Es wird gefragt: Ist der postsouveräne Körper ein queerer Körper? Und, wenn ja, lässt sich im Modus des Rückbezugs auf eine noch nicht gedeutete Physikalität ein postsouveräner Körper machen? Einleitung [. . .] ein Gleiten hin zu anderen, gegenwärtigen Möglichkeiten, die keine Regressionen, sondern schöpferische Involutionen sind, die von einer Unmenschlichkeit, die am Körper selbst erlebt wird, zeugen, widernatürliche Hochzeiten außerhalb des programmierten Körpers. 3 Dieser Beitrag lotet aus, inwieweit Heteronormativitätskritik durch die ästhetische Erfahrung der Bewegungsimprovisation verkörpert werden kann. Ausgangspunkt sind Überlegungen zum postsouveränen Körper. Der postsouveräne Körper ist ein Körper, 4 der sich den biopolitischen Zugriffen entzieht, obwohl Körper allzeit in soziale Prozesse des Werdens eingebunden sind. Ein Körper vor seiner sozialen Konfiguration existiert zwar nicht, man kann sich ihm dennoch über ästhetische Erfahrungen annähern. Der postsouveräne Körper ist mehr als ein Fluchtpunkt der Sehnsucht des Denkens, er ist eine asymptotische Bewegung der Widerständigkeit - eine Form der De-Somatisierung von Herrschaftsverhältnissen. Die Frage, die dieser Beitrag adressiert, ist, wie Emotionen als soziale und kulturelle Praxis sich in einem Prozess der Materialisierung in den Körper einschreiben, in den Körper einwachsen, 5 bzw. mit welchen Denksystemen und Praktiken diese Prozesse des Einwachsens zurückverfolgt und durchkreuzt werden können. Ziel ist, zu zeigen, wie im Rahmen zweier unterschiedlicher Bewegungsimprovisationen hegemoniale Normen von Geschlechtlichkeit durchbrochen werden können, und diese Praxis damit zu einer queeren Subversion werden kann. Um diese Fragen zu beantworten, soll (muss) ein Denken des postsouveränen Körpers möglich werden. Dieses Denken interessiert sich dafür, wie Körper sich in Sprechweisen und Praktiken (auch Orientierungen) zu bestimmten Körpern materialisieren. Es handelt sich hierbei um ein Somatisch-Werden von sozialen Situationen, um eine Archivierung des Sozialen in den Körpern, der Leiberinnerung und -erfahrung. Die Verschränkung des Sozialen mit dem Körper auf diese Weise zu begrei- Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 114 - 128. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0011 fen, wird im Anschluss an eine kritische Lesart der Neurowissenschaften zur Körpergedächtnisbildung möglich. 6 Soziale Erfahrungen werden in meinem Verständnis nur dann begreifbar, wenn man ihre postkoloniale, gender- und klassenbezogene Einbindung in Machtverhältnisse sieht. Wie genau wächst in Körper ein, was sie umgibt? Wie kann Kritik aus der Sicht des postsouveränen Körpers gedacht werden? Welche Erfahrungsqualitäten können mit dem postsouveränen Körper assoziiert werden? Welche politische Kraft kann die Perspektive des postsouveränen Körpers entfalten? Der Beitrag nimmt zunächst Sara Ahmeds Ausführungen zu The Cultural Politics of Emotions 7 wie auch ihre queere Phänomenologie der Orientierungen 8 zum Ausgangspunkt einer leibbezogenen und phänomenologischen Heteronormativitätskritik. Im Weiteren wird mit Hilfe Judith Butlers und Michel Foucaults Kritik des autonomen (souveränen) Subjekts bzw. den Ausführungen zum postsouveränen Subjekt (Butler) der Boden für das Denken des postsouveränen Körpers bereitet. Der postsouveräne Körper ist Ergebnis der Zusammenführung von Ahmeds Phänomenologie der „ Einspurungen “ 9 von Orientierungen mit der poststrukturalistischen Kritik am autonomen Subjekt und des (vitalistischen) Neuen Materialismus 10 (Butler, Nietzsche, Deleuze/ Guattari), wie ich ihn im Rahmen der Soma Studies erarbeitet habe. Im nächsten Schritt wird in die Soma Studies eingeführt, und daraufhin die Zusammenführung der soeben erwähnten Denksysteme vorgenommen. Der Topos des postsouveränen Körpers wird letztlich via der performance-philosophischen Ausführungen zu Nietzsche on Stage/ Klick-Movement-Improvisation 11 , die in einen direkten Bezug zu Friedrich Nietzsches Leibgenealogie und Gilles Deleuze ‘ und Félix Guattaris „ o. K. (organloser Körper) “ 12 gesetzt werden, konkretisiert. Der Beitrag schließt mit einer autoethnografischen Tanzdokumentation des ‚ physical dialogue ‘ (Lepkoff) als weiteres Beispiel einer Annäherung an den postsouveränen Körper. In beiden Praktiken wird der postsouveräne Körper als Gegenspieler eines Subjekts, in welchen (orientierungsgebende) Emotionen einwachsen (Somatisierung), in Augenschein genommen. Die Frage der möglichen politischen Kraft des postsouveränen Körpers wird hier wieder aufgegriffen. Ist der postsouveräne Körper ein solcher, der sich in anderen Räumen de-somatisieren kann? 13 Körpereindrücke in (queeren) Orientierungen Norms are a matter of impressions, of how bodies are ‚ impressed upon ‘ by the world, as a world made up of others. In other words, such impressions are effects of labour; how bodies work and are worked upon shapes the surfaces of bodies. 14 Ahmeds queere Phänomenologie, wie sie sie insbesondere in The Cultural Politics of Emotion 15 und Queer Phenomenology, Orientations, Objects, Others 16 entwickelt, und maßgeblich von Lea Spahn für die Performance Studies und die Tanzforschung weiterentwickelt wurde, 17 ist von der Idee einer zirkulierenden Konstituierung der Subjekte in den sie umgebenden und durch sie beeinflussten Räumen geleitet. Die Frage, was ein Subjekt in einem Raum sein kann (im Sinne einer sozial anerkannten Existenz), wird hier zu einer Frage der Möglichkeit, sich im Raum auszudehnen, sich zu orientieren, mit etwas vertraut werden zu können: „ If orientation is about making the strange familiar through the extension of bodies into space, then disorientation occurs when that extension fails. “ 18 Das Sich-orientieren-Können wie auch das Scheitern der Orientierung sind episte- 115 Der postsouveräne Körper mologisch an eine leibanthropologische Dimension geknüpft. Mit Maurice Merleau- Ponty verweist Ahmed auf den Leib als notwendig eingehaust in die Umgebung: „ The here of the body does not simply refer to the body, but to where the body dwells “ . 19 Zugleich wird bei Ahmed diese anthropologische Position aufgebrochen, indem Wahrnehmungsprozesse historisiert werden. Über den Topos der Orientierung kann Ahmed freilegen, dass es (verdeckte) Denkvoraussetzungen und Wahrnehmungsgewohnheiten selbst sind, an denen die phänomenologischen Schulen (insbesondere Edmund Husserl, Martin Heidegger, Merleau-Ponty) sich orientieren. Orientieren- Können bzw. im Passivum die Orientierung versagt zu bekommen, verweisen auf eine politische Dimension, nämlich die der Normativität: „ We could say, that some spaces extend certain bodies and simply do not leave room for others. “ 20 Orientierungen werden ermöglicht oder verunmöglicht, je nachdem, ob der Raum sich durchlässig zeigt, eine*n aufnimmt oder abstößt, dort ein Ankommen ist, man sich vertraut machen kann, sich einwohnen kann (to inhabit). 21 Ahmed entwirft also eine politische Ökonomie der normativen Gestattungen, als deren Effekt „ out of place “ -Erfahrungen für bestimmte Subjekte generiert werden. 22 Ob ein Subjekt eine ‚ out of place ‘ -Erfahrung macht, hängt von seiner Positionierung im gesellschaftlichen Raum ab, ist flankiert von kulturell dominanten Narrationen. Narrationen, die insbesondere „ non-whites, immigrants, queers und other others “ 23 als Bedrohung der weißen heterosexuellen Existenz und darin im Besonderen der weißen Familie erzeugen. 24 Kulturelle Narrationen sind nicht affektneutral. Affekte spielen hier insofern eine Rolle, als dass sie die Investitionen dirigieren, welchem Objekt jemand sich zuwendet und welchem nicht. Narrationen sind in der Lage, Intentionen zu formen. Darüber hinaus sind es die Anordnungen der Objekte im Raum selbst, die sich den Körpern eindrücken; 25 die beeindruckten Körper wiederum bilden Wege und sind orientierungsleitend, weil man ihnen selbst folgt oder andere ihnen folgen. 26 Räumliche Orientierungen sind in dieser Sicht bedeutsam für die sexuelle Orientierung und die Sexualisierung der Körper im Allgemeinen. 27 So stellt Heterosexualität eine dominante Linie dar, die Körper in eine spezifische Weise ‚ führt ‘ . 28 Orientierungen des Körpers sind immer auch leibliche Orientierungen, insofern der Leib als dasjenige verstanden wird, vermittels desselben ein Individuum sich zur Welt befindet, sich spürend die jeweils sinnhaften Strukturen aneignet. „ Die Orientierungen meines Körpers formten ihn - als Leib - historisch und kulturell situiert auf spezifische Weise “ . 29 Dafür ist wiederum ausschlaggebend, was in einem jeweiligen Horizont verfügbar ist, was sich in der Nähe befindet. Das heißt, materiell-somatische Spuren befinden sich in einer dualen Verbindung zum leiblich-affektiven Erleben. Entscheidend ist, dass dieses Beeindruckt- Werden nicht politisch neutral ist, sondern einer Ontologie der sozialen Disparität von Ermöglichung und Verunmöglichung folgt. Das bedeutet, auf was jemand hin orientiert ist, und was sich in seinem*ihrem Körper und Leib überhaupt eindrücken kann, ist keine Angelegenheit einer freien Wahl, sondern folgt einer Historizität von Machtverhältnissen und sozialen Markierungen, die sich wiederum in Materialitäten, Artefakten, Werten, Denkmöglichkeiten, Begehrensformen, Wissen usw. zeigen, die die Einzelnen umgeben, den Einzelnen zugänglich sind. Ahmeds queere Phänomenologie schließt daher an eine Kritik der Differenz des mit sich selbst identisch geglaubten autonomen Subjekts an, welches das Subjekt als den sozial-räumlichen Verhältnissen vorgängig imaginiert. 30 Ahmeds Kritik am autonomen 116 Bettina Wuttig Subjekt ist zugleich eine Kritik der Heteronormativität: I would suggest that heteronormativity also affects the surfaces of bodies, which surface through impressions made by others. Compulsory heterosexuality shapes bodies by the assumption that a body must orient itself towards some objects and not others [. . .]. 31 Gleichzeitig soll hier queere Kritik, wie Ahmed sie vollzieht, als Kritik an der Machtförmigkeit von ‚ out of place ‘ -Erfahrungen in erweiterter Form begriffen werden, deren Effekte ebenso einer Veränderung im Sinne des Otherings (Said) zuzurechnen sind, die ‚ Immigranten ‘ und/ oder queers of color 32 erfahren können. ‚ Queer ‘ verstehe ich hier mit Ahmed als einen Modus, in dem die Welt „ no longer appears the right way up “ ; 33 Momente einer vitalen Erfahrung der Desorientierung, 34 Erfahrungen des ‚ out of place ‘ -Seins, die, in eine widerständige Praxis gewendet, Re-Orientierungen ermöglichen als „ places [. . .] yet to be inhabited. “ 35 Im Folgenden sollen diese Überlegungen Ahmeds zu verkörperten Normen zum Ausgangspunkt und Anstoß genommen werden, um über einen postsouveränen Körper zu reflektieren, da die von Ahmed beschriebenen Erfahrungen des ‚ out of place ‘ -Seins - so meine These - als Erfahrungen der Post- Souveränität verstanden werden können. Die Ausführungen werden im Weiteren mit einem poststrukturalistischen (vitalistischen) Materialismus zu einer phänomenologisch-neumaterialistischen Perspektive amalgamiert. Dafür soll zunächst auf die Kritik des souveränen Subjekts bei Judith Butler (und Michel Foucault) Bezug genommen werden. Kritik des souveränen Subjekts Besonders in ihren Ausführungen zur Politik des Performativen 36 koppelt Judith Butler ihre Kritik am autonomen Subjekt an den in der westlichen Philosophiegeschichte dominierenden Begriff eines souveränen Subjekts. Es handelt sich um ein „ Trugbild der Souveränität “ , 37 bestehend in der Annahme, es gäbe ein „ vorgefertigtes Subjekt “ , 38 welches die Welt betritt und seinen Platz aushandelt. Jenes Subjekt konstituiere sich jedoch zuallererst in diskursiven und performativen Praktiken. 39 Es gibt hiernach kein Macht- und Herrschaftsverhältnissen vorangehendes Subjekt. Als ‚ ontologischen Gegenspieler ‘ entwirft sie ein postsouveränes Subjekt ( „ post-sovereignity “ ) 40 und (be-) gründet dieses in der existentiellen Abhängigkeit von anderen. Innerhalb dieser Verschiebung vom Subjekt der Macht auf ein Arrangement von Praktiken 41 kommt nun aber der postsouveräne Körper dort ins Spiel, wo, nach Butler, die Praktiken, die dem Subjekt (als widerständige Praktiken) entgegengesetzt werden können, mit den Soma Studies als somatisch-leiblich rekonstruiert werden können. Butler nimmt in ihrer Postulierung des postsouveränen Subjekts Rekurs auf Michel Foucault. 42 Foucault rät: [. . .] wir sollten danach fragen [. . .], wie sich die Dinge auf der Ebene der laufenden [Hervorhebung B. W.] Unterwerfung verhalten, auf der Ebene der kontinuierlichen und ununterbrochenen Prozesse, die unsere Körper unterwerfen [subject], unsere Gesten beherrschen, unser Verhalten diktieren, usw.[. . .] wir sollten herausfinden, wie es funktioniert, dass Subjekte allmählich fortschreitend, real und materiell durch eine Vielzahl von Organismen, Kräften, Energien, Materialien, Wünschen, Gedanken usw. konstituiert werden. Wir wollten untersuchen, Unterwerfung und Subjektivierung in der Form zu fassen, in der sie auf materieller Ebene die Subjekte konstituieren. 43 Aus dieser expliziten Bezugnahme auf den Körper als unterworfen von Machtbeziehungen lassen sich folgende argumentati- 117 Der postsouveräne Körper onsleitende Annahmen ableiten: 1. die Existenz eines materiellen Körpers; 2. die Rekonstruierbarkeit dessen, wie sich materielle Körper zu Subjekten formieren; 3. die diverse Vitalität körperlicher Materialität (Kräfte, Organismen, Energien); 4. die Annahme, dass die Materialisierung des Körpers einhergeht mit der sozialen Herstellung von Emotionen und Rationalitäten als inskriptive Prozesse (Wünsche, Gedanken) und 5. dass es sich bei der materiellen Konstituierung der Subjekte um einen (immer auch somatischen) fortlaufenden Prozess handelt. 44 Wenn nun, wie ich annehme, der postsouveräne Körper ein Körper ist, der sich den Prozessen des Einschreibens, Einwachsens, Eindrückens 45 oder Einkörperns 46 in den ästhetischen Praktiken entziehen kann, wodurch genau geschieht das? Wie muss man sich diesen postsouveränen Körper genau vorstellen? Postsouveräne Körper Die Performancekünstlerin und Bildungswissenschaftlerin Carolin Bebek 47 beschreibt den Prozess, den Studierende des transdisziplinären Theaters der Versammlung durchmachen, wenn sie sich auf einen neuen Modus ästhetisch-performenden Arbeitens einlassen (welches meist freie und semi-strukturierte Improvisationen umfasst), als einen Prozess zwischen Selbstgewissheit und Unterwerfung unter das Unbekannte. Im Rekurs auf Butler benennt sie diesen Zustand post-souvereignity. 48 Sie expliziert diesen wie folgt: Post-souvereignity points to a kind of being in movement, within which it becomes possible to experience the other and oneself differently. Only a subjectivity that is capable of appreciating other foreign subjectivities, on the one hand, and its own foreign otherness on the other, can connect to this principle of movement. 49 Der über improvisatorische Bewegungspraktiken erreichbare Zustand der Post- Souveränität scheint hier das Assujettissement der Subjektivation 50 in eine subversive Krise zu stürzen. In der Klick-Performance- Struktur ‚ choreographiert ‘ das Auditorium via „ (Computer-)Befehle “ die Bewegung der Performer*innen. 51 Das heißt, die Performenden bestimmen ihre Handlungen nicht (länger) autonom. Es ist nicht zu viel gesagt, dass sich hier die Butler ‘ sche Ontologie der Machtkritik wiederfindet, bestehend in der Offenheit des Subjekts auf den anderen hin, Alterität und Dezentriertheit. 52 Denn: Ähnlich wie Butler Alterität und Ausgesetzt-Sein als ethischen Fluchtpunkt reklamiert, verweisen auch Lagaay und Holkebrink 53 auf Bebek - bezugnehmend auf die Notwendigkeit, es auszuhalten, dem anderen - als ‚ dem Fremden im Eigenen ‘ - ausgesetzt zu sein: To embark on a process in which certain ‚ foreignness ‘ with regard to particular objects and situations is responded to productively means being souvereign enough to risk one ’ s own sovereignity; being powerful enough [. . .] to embrace one ’ s own sense of powerlessnes. 54 Für Bebek bildet der Modus der Alterität oder eben derjenige der Postsouveränität überhaupt die Voraussetzung, eine Bewegungsimprovisation durchführen zu können, wie auch der Modus der improvisierten Bewegung Postsouveränität hervorbringen kann. Lagaay/ Holkenbrink schließen hier an, wenn sie assoziieren, dass in Momenten der Bewegungsimprovisation (besonders eben in solchen, wo die Bewegungsimpulse durch Zurufe des Publikums gesteuert werden), nicht ein ‚ Ich ‘ (sich bewegt) mit anderen ‚ Ichs ‘ in Kontakt tritt, sondern ‚ Es ‘ bewegt (sich). Begegnungen entstehen mehr, als dass sie absichtsvoll gemacht werden. Diesen Modus der „ absichtsvollen Absichtslosigkeit “ 55 bringen sie wiederum mit Fried- 118 Bettina Wuttig rich Nietzsches Genealogie des modernen Subjekts in Verbindung: Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde werden, eine kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen, welche von diesen Abergläubischen ungern zugestanden wird, - nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn ‚ er ‘ will, und nicht wenn ‚ ich ‘ will; sodass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt ‚ ich ‘ ist die Bedingung des Prädikats ‚ denke ‘ . Es denkt. 56 In meiner Studie zu Geschlecht als Erinnerungstechnik 57 habe ich anhand einer poststrukturalistisch-neumaterialistischen Nietzsche-Ausdeutung gezeigt, inwieweit die Annahme des ‚ Ich denke ‘ maßgeblich für das Identitätsdenken der Moderne überhaupt ist, welches von René Descartes bis in die Transzendentalphänomenologie Husserls hineinragt. 58 Nietzsche hat in seiner Genealogie des Leibes herausgestellt, dass bereits die Annahme dieses ‚ Ich ‘ ein Trugbild ist. ‚ Ich ‘ ist dasjenige, was im Rahmen von Macht- und Herrschaftsbeziehungen dazu instituiert werden kann, das Subjekt zu einem mit sich selbst Identischen zu machen, um etwa Teil der sozialen Ordnung zu sein, die für Nietzsche eine (kontingente) Herrschaftspraxis darstellt. Identitätszwang ist hier also der eigentliche Macht- und Herrschaftsmechanismus moderner Gesellschaften. Das ‚ Es ‘ stellt bei Nietzsche einen realutopischen 59 Gegenspieler zum Identitätszwang dar, eben diese oder jener sein zu müssen. Dieses ‚ Es ‘ „ denkt nicht nur “ in dem Sinne, dass das Denken hier nicht eine dem Leib abgelöste Entität bildet, sondern es rekrutiert sich als leibliche Vernunft: „ Dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich “ . 60 Leibliche Vernunft bedeutet weiter eine radikale „ Vorurteilslosigkeit des Leibes “ . 61 Es handelt sich dabei um eine vitalistische Kraft als radikaler Ambiguitätsraum der Existenz; ein Ort, der „ anders als das [ist], was wir beim Nennen seines Namens empfinden “ . 62 Ein Ort ‚ vor ‘ der sprachlichen Vereinheitlichung, ein leiblicher Ort, bevor das Subjekt gelernt hat, ‚ Ich ‘ zu sagen. Dieser Ort ist für Nietzsche verbunden mit einem ewigen Werden, ohne das jemals geworden sein wird; es ist der Moment einer immerwährenden Transformation: Subjekt-Vielheit ist hier gleich einem vitalen Leib „ Strom mit hundert Quellen und Zuflüssen. “ 63 Diese Metapher soll besagen, dass der Leib, ontologisch möglich, viele Bewusstseine hat, eine Vielheit ist, ein ‚ Es ‘ , das nicht klar umrissen und abgegrenzt werden kann von dem, was außerhalb seiner ist, allenfalls nur gewaltsam unter ein Dach eines einzigen ‚ Ich ‘ gebracht werden kann. 64 Kurz: Nietzsches leibliche Vernunft, Nietzsches vitale Kraft ist der postsouveräne Körper. Der postsouveräne Körper verweigert sich im Modus der Ontogenese den affektpolitischen Zumutungen. Er überrascht das Subjekt mit seinen vielfältigen Begehrensweisen, Nervenladungen, Impulsen. Der postsouveräne Körper ist mehr als das, mit was man gerechnet hat. Er scheint nicht mehr länger eingefasst in die affektpolitischen Disziplinierungen und in gängige humanistische Vorstellungen. Es zeigt sich aber nicht das Animalische, da dieses nur im Gegensatz zum Humanen verstehbar wäre - vielmehr wird an dem inkorporierten Dualismus von humanistisch und animalisch selbst gerüttelt. Der postsouveräne Körper ist verwandt mit dem Topos, den Gilles Deleuze und Félix Guattari den „ o. K. “ (organlosen Körper “ ) nennen, damit „ eine Unmenschlichkeit, die am Körper selbst erlebt wird “ meinen. 65 Gilles Deleuze und Félix Guattari knüpfen dabei an Nietzsche an, wenn sie in ihrer Schrift Tausend Plateaus (2002) das mit sich selbst identische, autonome Subjekt als eine männliche, weiße, hegemoniale Körperorganisation, einen weißen männlichen Organismus, der in den dualen Maschinen 119 Der postsouveräne Körper fabriziert wird, indem er anderen Körpern entgegengesetzt wird, verstehen. 66 ‚ Organismus ‘ steht für dasjenige, was „ in Form eines Sinns, einer Funktion und sozialen Ordnung auf den Körper ein-wirkt. “ 67 Widerständigkeit gegen die Durchdringung des Körpers - der körperpolitischen Dimension - sehen Deleuze und Guattari darin, „ sich einen organlosen Körper (o. K.) zu machen. “ 68 Sich einen o. K. zu machen, stellt dabei eine Auseinandersetzung mit den subjektivierten, unterworfenen, mit sozialem Sinn bestückten Organen dar. Der o. K. ist ein „ Grenzbereich der Freiheit “ , 69 ein Rückbezug auf die noch nicht gedeutete Physikalität. Bevor der postsouveräne Körper gleich in eine (angewandte) queere Kritik der Normativität überführt werden kann, muss die Figur der ‚ noch nicht gedeuteten Physikalität ‘ näher besprochen werden. Gemäß Nietzsche konstituiert sich das Subjekt dadurch, dass „ die Bewusstseine im Leibe erst durch das Phänomen der Sprache zu einer irrtümlichen Einheit verdichtet werden. “ 70 Der Leib ist bei Nietzsche ein plurales Chaos, physische Kraft, Intensität, Ausdehnung. Von sich aus hat er keine (z. B. vergeschlechtlichte) Be-Deutung, wenngleich er materiell gefasst ist. Souveränität ist dem Subjekt also nicht ex nihilo gegeben: „ verschiedene [. . .] Phänomene des Bewusstseins [werden] synthetisch zu einem Wesen oder Vermögen zusammen “ verdichtet, und ein „ Selbst als Ursache all dieser Phänomene “ wird nachträglich angesetzt. 71 Die Subjekt-Prädikat-Relation der Grammatik hat die Funktion einer Regel, welche die Selbstauslegung methodisch anleitet, einen Begriff von Subjekt gemäß der Menge leiblicher Zustände prädikativ als Wirkungen oder Handlungen des Subjekts vorzustellen. 72 Entscheidend nun zum Verständnis der oben in Aussicht gestellten Rekonstruktion des ‚ Prozesses ‘ der Subjektivation als somatische Praxis ist Nietzsches Idee der Materialisierung der sozialen Ordnung am Leib, innerhalb derselben das Subjekt uno actu der sozialen Ordnung hergestellt wird. Subjektivierung geht bei Nietzsche mit Erinnerungsprozessen, und zwar leiblichen Erinnerungen, einher. Es handelt sich um eine erinnerungstechnologische Produktion des Subjekts. 73 Hierfür wird gesellschaftlich notwendiges Wissen am Leib konstitutiv erinnert. Erinnerungstechnologien gehen bei Nietzsche mit Gewalt einher: Hierzu zählen physische Gewalten, bspw. Missbrauch, Versklavung, Folter, im Besonderen sprachliche Repressionen und Zu-Schreibungen, die produktiv wirken (Anrufungen). Diese Anrufungen bringen, indem sie erinnert werden, den „ Anschein als Zwang “ eines mit sich selbst identischen Subjekts hervor. „ Das Subjekt, das nicht eins ist, “ 74 ist ein sprachlich ‚ artifiziell ‘ fabriziertes, welches dazu den Einteilungen und Klassifizierungen einer Gesellschaft folgt. Deleuze und Guattari haben sich von diesen Denkbewegungen leiten lassen und sie in den Topos der „ Reterritorialisierung “ gegossen. 75 Unter Reterritorialisierung verstehen sie das Abstecken von binär codierten Bereichen, von Körpern, die symbolisch überzogen gegeneinandergesetzt werden: Denn es ist nicht, oder nicht ausschließlich, eine Frage des Organismus, der Geschichte und des Aussagesubjekts, durch die weiblich und männlich in den großen dualen Maschinen einander entgegengesetzt werden. Es ist zunächst eine Frage des Körpers - des Körpers, den man uns stiehlt, um daraus Organismen zu bilden, die man einander entgegensetzen kann. 76 Deterritorialisierung ist hier eine Art Rückeroberung des „ gestohlenen Körpers “ , 77 bspw. des noch nicht geschlechtlich codierten oder rassifizierten Körpers. Da es sich 120 Bettina Wuttig bei der ‚ Eroberung des Territoriums ‘ um eine Durchdringung des Körpers mit Bedeutungen handelt, die sich auf der leiblichen Ebene, der Ebene der Empfindungen zeigen, und zugleich die Körper selbst in ihren Handlungen, Aus- und Aufrichtungen formen (Embodiment), spreche ich in Erweiterung des Konzepts der Re- und Deterritorialisierungen von Somatisierung bzw. De-Somatisierung. Somatisierung ist die affektpolitische Aneignung des Köpers und De-Somatisierung die Rückeroberung des Körpers, das Sich-Zeigen somatischer Postsouveränität. Bei Nietzsche funktioniert Somatisierung als iterativer Angriff auf den vitalen Leib. Durch „ angewöhnte rasche Verbindungen von Gefühlen und Gedanken, die wenn sie blitzschnell hintereinander erfolgen nicht mehr als einzelne Complexe sondern als Einheiten wahrgenommen werden, “ 78 wird der (postsouveräne) Leib 79 zu einer Ich-sagenden und Ich-denkenden Einheit fabriziert. Schmerzen und Verletzungen (machtvolle Zuschreibungen) sind dabei die Katalysatoren für die Bildung von Erinnerungen als Erfahrungen, und zwar als eine habitualisierte Deutung der leiblichen Impulse innerhalb derselben. 80 Zusammengenommen heißt dies: Physiologische Impulse werden über Gedächtnispraktiken in einer habituellen präreflexiven Verknüpfung von Empfindungen mit Gefühlen und deren Deutungen zu einer wahrnehmungspraktischen Einheit verdichtet. Das heißt, das wahrnehmende Subjekt nimmt etwas wahr, was ihm als determinierte, verkörperte und sich verkörpernde Realität erscheint. Diese besteht aber in Wirklichkeit aus einer habitualisierten Verkettung von Empfindungen, Emotionen und der Deutungen beider. Darüber wird ein leiblicher, ontologischer Möglichkeitsraum geschlossen, der in der Ambiguität der Deutungen von körperlichen bzw. leiblichen Impulsen besteht. Im Verlauf der Subjektwerdung wird der (begehrens-)offene Leib erinnerungstechnologisch eingeengt; der postsouveräne Körper muss autonomes Subjekt werden. Affekttheoretisch gesprochen heißt das so viel wie: Gefühle und Bedeutungen, die jeweils an gesellschaftliche Kontexte geknüpft sind, und die sich mit bestimmten Körperempfindungen verknüpfen, affizieren konstitutiv das Subjekt. 81 Genauer: Erst über die Verschränkung von Empfindungen (bspw. ‚ hell ‘ ) und die gesellschaftlich hergestellten Bedeutungen dieser Empfindungen wird eine spezifische Emotion, z. B. Freude, erzeugt, die eine Empfindung zu einer Frage der Zuwendung zu oder Abwendung von einem bestimmten Objekt macht. 82 Anhand der sozialen Konfiguration der Emotionen, die mit ‚ hell ‘ einhergehen, wird gesellschaftliche Realität zu einer gespürten Realität des Subjekts. Daraus kann man schließen, dass der Leib als Scharnier zwischen Individuum und sozialer Ordnung fungiert, und zwar dergestalt, dass sich Ordnungen aus den wiederholten Orientierungen ergeben, von denen Subjekte sich leiten lassen. In der Form eines dualistischen Entgegensetzens der Körper und deren Anordnungen in einem hierarchisierenden Verhältnis (als Tun ohne Täter), als Wege, die entstehen, indem man sie geht, ist Geschlecht als präformative Kategorie nicht nur Effekt einer diskursiven oder praxeologischen Hervorbringung, sondern Geschlecht wird an einem materiellen Leib, genauer an den Körpern erinnerungstechnologisch materialisiert. 83 Geschlecht wird also nicht nur eingeübt, performt, diskursiv hervorgebracht, sondern Geschlecht, genauer vergeschlechtlichte Bedeutungsspuren, müssen erinnert werden. Sie werden „ embodied “ , 84 wenn man so will, da sich diese Erinnerung - lebenswissenschaftlich betrachtet - über ein implizites Leibgedächtnis vollzieht. 85 Der postsouveräne Körper zeigt sich als Ort, der sich dieser Erinnerungstechnik entzieht. Hier besteht agency in 121 Der postsouveräne Körper einer aktiven Vergesslichkeit. Es stellt sich ein Zustand ein, der „ anders als das [ist], was wir beim Nennen seines Namens empfinden “ , 86 ein Zeit-Raum (Moment), in dem das Subjekt (noch nicht) orientiert ist, ein Moment der vitalen Desorientierung, wo die Empfindung nicht kongruent ist mit der gewohnten Bezeichnung der Empfindung und die Sprachkonvention nicht zur Empfindung passt. Der postsouveräne Körper dehnt sich nicht in vertrauter Weise in den Raum aus, er bekommt nicht das Vertraute zu greifen. Er wird in seinen gewöhnlichen Schemata des auf die Welt hin Orientiert- Seins irritiert. Der postsouveräne Körper muss sich in seinem Scheitern an der Kontrolle überraschen lassen. Seine Welt zerfällt in die Einheiten von Empfindung (Körpereindruck), Affekt und Rationalität. Als auf diese Weise desintegrierter Körper kann die eingedrückte Spur, die vom Körper nachgezeichnete Linie aus der Deckung treten. Sie löst sich nicht nur aus dem leiblichen Empfinden heraus, sondern vom materiellen Körper ab. Diesen Prozess bezeichne ich als De-Somatisierung. Im Folgenden soll an einem weiteren Beispiel, der Bewegungsimprovisation ‚ physical dialogue ‘ (Daniel Lepkoff) verdeutlicht werden, wie diese De-Somatisierung als Zugewinn an Freiheit durch ein[en] Rückbezug auf die noch nicht gedeutete Physikalität und eine Reflexion der sich am Leib konfigurierenden Politik der Gefühle ‚ funktioniert ‘ . ‚ physical dialogue ‘ 87 Erste Situation: Daniel Lepkoff leitet eine Bewegungsimprovisation an. Die rund 30 Teilnehmer*innen werden zunächst eingeladen, durch den Raum zu gehen. Lepkoff schlägt vor, den Boden nicht als Objekt wahrzunehmen, sondern als Subjekt. Er ergänzt, dass dies nicht bedeutet, sich selbst mit dem Boden und den anderen, der Umgebung, dem Raum zu verbinden, da alles bereits verbunden ist. Es sei lediglich die Sprache, die Grammatik, die ein Konzept des Getrenntseins unterstellt. Lepkoff lädt dann ein, der Bewegung der Aufmerksamkeit zu folgen. Wahrnehmen heißt lernen, der Bewegung der Aufmerksamkeit zu folgen. Dafür ist es nötig, sprachlich vermittelte Konzepte loszulassen: „ To let go of concepts. “ Eine neue Erfahrung lässt sich nur dann machen, wenn man einen Schritt zurücktritt - von dem allzu Bekannten, weiß Lepkoff. Er sagt: „ to step back from the all too familiar - to deconstruct the familiar concepts means to take them away! “ Für Lepkoff ist die dekonstruktive Wahrnehmungsarbeit die Voraussetzung für Wahrnehmungserweiterung. Wahrnehmungserweiterung ist die Voraussetzung für Begegnungen. Begegnungen im Sinne von Instant Composition Performances, die nicht lediglich Altes reproduzieren sollen, sondern die Frische des Augenblicks einfangen. Zweite Situation: Körperarbeit zur Förderung der propriozeptiven Durchlässigkeit: Wir sollen paarweise zusammengehen. ‚ A ‘ darf einfach locker durchlässig, doch in sattem Kontakt mit dem Boden stehen. ‚ B ‘ reibt ‚ A ‘ mit der Hand und/ oder dem Arm ab. Dabei soll nicht nur die Körperoberfläche abgerieben werden, sondern ‚ B ‘ soll ‚ A ‘ mehr in den Körper hinein abreiben, bis tief ins Gewebe „ eindringen/ durchdringen “ (engl.: penetrate). ‚ A ‘ hat nun die Aufgabe, dort Spannung aufzubauen, wo die Penetration stattfindet (nur so viel als nötig) und dagegenzuhalten. Dann werden die Rollen getauscht. Am Ende der Bewegungseinheit (zur Mittagspause) gibt es eine Besprechungsrunde. Hier gibt es die Gelegenheit für alle zu sagen, was sie bewegt. Einige der Teilnehmer*innen äußern, sie hätten mit der Aufgabe, in das Gewebe des/ der anderen einzudringen, Schwierigkeiten gehabt. Sie 122 Bettina Wuttig äußerten Angst, die Grenzen des/ der anderen zu überschreiten. Viele assoziierten sowohl mit dem Wort als auch der Handlung des ins Gewebe Hineingehens eine sexuelle Handlung. Dritte Situation: Lepkoff und ich sprechen hinterher in der Pause über die Situation. Er stellt fest, dass soziale, emotionale und sexuelle Konzepte häufig Emotionen hervorrufen, die die Möglichkeiten eines physikalischen Dialogs einengen: Traurigkeit zum Beispiel. ‚ Traurigkeit ‘ entsteht häufig in der Arbeit mit dem Körper. Er schlägt vor, die alltäglichen Bedeutungen, die Gefühle zu haben scheinen, zu dekonstruieren und darüber hinaus die Körperempfindung (sensation) nicht in der gewohnten Weise als eine bestimmte Emotion zu interpretieren, sondern beständig zu fragen: „ Is it really. . .? “ Ist das wirklich Traurigkeit, was ich da fühle? Es ist ein Druck in der Brust, o. k. Dann spüre den Druck in der Brust, und wohin will es sich bewegen? Bewege Dich von dieser Empfindung aus (engl. move from that sensation! ) 88 Diese Dokumentation (m)einer Workshoperfahrung kann ebenso als paradigmatisch für eine Deterritorialisierung des Körpers genommen werden wie die von Holkenbrink und Bebek beschriebene Klick-Performance. Der im ‚ physical dialogue ‘ explizierte Aufruf, alltägliche Bedeutungen, die Gefühle zu haben scheinen, zu dekonstruieren und die Körperempfindung (sensation) nicht in der gewohnten Weise als eine bestimmte Emotion zu interpretieren, sondern beständig zu befragen, scheint es zu ermöglichen, dass das Subjekt an die (emotionale) Kapazitätsgrenze der ihm eingekörperten Norm gerät. Als solche ist der ‚ physical dialogue ‘ eine Bewegungspraxis, die nicht den sozialen, nicht den emotionalen Körper adressiert, sondern den Versuch unternimmt, die physikalischen Gesetze wie z. B. die Schwerkraft oder die propriozeptive und kinästhetische Wahrnehmung (des Raumes) zum Ausgangspunkt der ästhetisch-aisthetischen Begegnung zu machen. In der ersten Situation betrifft das die Arbeit mit dem grammatikalischen Artefakt, der Raum sei getrennt von einem Ich. Die Idee, dass Raum (m)Ich bewegt ( „ feel how you are moved by the space “ ) 89 bzw. ‚ Es ‘ bewegt (it moves), ist für viele realiter zunächst eine Form vitaler Desorientierung. 90 Dies ergibt Sinn vor dem Hintergrund, dass das Zum-Raum-Sein 91 für viele insbesondere männlich, heterosexuell und weiß positionierte Menschen postindustrieller Gesellschaften unvertraut sein mag; haben sie (wir) doch gelernt, dass sie (wir) als souveräne Subjekte den Raum unterwerfen bzw. diesen gestalten und hervorbringen können. 92 In der zweiten Situation, der Aufforderung, den Körper der*des anderen zu penetrieren, zeigt sich, wie sehr heterosexuelle Normen und Sprechweisen die Assoziation des Begriffs ‚ penetrate ‘ mit Heterosexualität bestimmen. Die Körper scheinen in ihrer Oberfläche und Tiefe davon durchzogen zu sein. Denn: Auch hier geraten die Tanzschüler*innen an emotionale Kapazitätsgrenzen der ihnen ein-gedrückten normativen Orientierungen. Die Scham, die sich hier zeigt, bei der Aufforderung das Gewebe des*der anderen zu penetrieren, verweist auf einen Bruch mit den einverleibten Normen. 93 Dieser besteht darin, sich nicht ohne weiteres eine heteronormativ-männlich konnotierte Handlung, in diesem Fall die des Penetrierens, aneignen zu können oder zu wollen. Und dies, obgleich Lepkoff keine sexualisierte Intention in die Übung legt (zumindest war das für mich auf keinerlei Ebenen spürbar). Lepkoffs Einladungen, den eigenen Körper anders wahrzunehmen, sich anderem zu überlassen, macht nicht nur die Effekte der Bearbeitung der Körper sichtbar und spürbar ( „ effects of labour “ , 123 Der postsouveräne Körper um an Ahmed zu erinnern). Lepkoffs Einladungen erzeugen vielmehr das Gefühl, nicht ‚ Herr der Lage ‘ zu sein. Das Unbehagen, die Hemmungen, die Scham, verweisen darauf, dass der postsouveräne Körper hervortritt, dessen Regungen, Kräfte, Intensitäten nicht dermaßen programmiert und gestohlen sind, in welchen wohl aber begriffliche Normen eingeschrieben sind. Die Sexualisierung der Körper, scheint uno actu des souveränen Subjekts in eine Krise zu geraten: Ein-Gedrücktes wird als Irritation spürbar. In der dritten Situation lockt Lepkoffs Frage: „ Is it really. . .? “ den postsouveränen Körper hervor. Sie lädt dazu ein, den in den Körper eingeschriebenen Text auf sein Alphabet hin zu befragen, den Text zurückzuverfolgen, wo er noch kein Text (Ich) war, sondern Subjekt - Vielheit - Empfindung ohne Zuschreibung. Diese Zurückverfolgung ist nötig, um den „ Ort, der anders als das [ist], was wir beim Nennen seines Namens empfinden, “ 94 zu betreten. „ Is it really? “ ist hier ein Aufruf zur Nicht-Souveränität, Post-Souveränität, den die Untersuchung des Ortes, an dem die Physis noch nicht interpretiert ist, mit sich bringt. Dieser Ort ist zugleich ein solcher, an dem die Interpretation absichtsvoll desavouiert wird. Dadurch wird der somatische Impuls selbst zum*zur Dramaturg*in. Statt der Sinnkonstruktion ‚ Traurigkeit ‘ , samt der habituellen Verknüpfung mit den Empfindungen und damit der Reproduktion einer affektiven Linie und Orientierung, kann dadurch eine Deterritorialisierung bzw. eine De-Somatisierung erfolgen. Der Körper tanzt sich dorthin, wo ‚ er ‘ oder ‚ es ‘ will, und nicht dorthin, wo ein Autor-Schöpfer sich den Weg bereits ausgedacht hat. Hier zeigt sich agency körperlicher Materialität. Damit geht auch eine Transformation auf der leiblichen Ebene einher. In diesem Fall: die Transformation des Affekts Traurigkeit. Da Affekte immer auch politisch konfiguriert sind, sind es die am körperlichen Leib geronnenen politischen Affekte selbst, die hier transformiert werden können. Gelingt also dieser Moment, überwindet man die Angst, nicht souverän zu sein, 95 so stellt sich eine Krise der gewöhnlichen Orientierungen, der Berührungsweisen ein. Diese Krise der räumlichen Orientierungen ist bedeutsam für die sexuelle Orientierung und die Sexualisierung der Körper im Allgemeinen, wenn davon ausgegangen wird, dass Heterosexualität eine dominante Linie darstellt, die die Körper in spezifische Weise führt. Es steht hier also eine Norm zur Disposition, die darin besteht, wie wir uns den anderen Körpern auf sozial anerkannte Weise nähern (können). Kurz: Die Krise führt in einen Horizont der Erwägung neuer, unsicherer Berührungsmöglichkeiten. Dieser Beitrag hat Überlegungen zum postsouveränen Körper angestellt, und diesen als Körper im fortlaufenden Werden begriffen, der sich durch seine Eigensinnigkeit den affektpolitischen Bedingungen entzieht. Diese affektpolitischen Bedingungen zeigen sich wiederum in (hetero-)normativen Bedingungen der Orientierungen und den Orientierungen selbst. An semantische Konventionen gekoppelt, schreiben sie sich über somatische (Bewegungs-)Praktiken in Körper ein und formen deren Materialität. Am Beispiel zweier Bewegungsimprovisationen konnte ich zeigen, dass in ästhetischen Erfahrungen eine Annäherung an den postsouveränen Körper stattfinden kann. Ästhetische Erfahrungen, die das postsouveräne Subjekt einladen, hervorzutreten, indem sie den Raum dafür öffnen, dass das Subjekt bewegt wird, statt, dass es Bewegungsvorgaben bekommt, können zunächst in eine Orientierungskrise führen. Die Krise ist wiederum dasjenige, was die normativen Muster der Orientierung erst spürbar werden lässt. In zunächst dem Subjekt ‚ uneigenen ‘ Bewegungen, Berührungen und Orientierungen als dasjenige, was das Subjekt konstituiert, weil es an den Rand 124 Bettina Wuttig dessen, was man sein kann, verschoben wurde, kann Nicht-Normatives und daher eventuell ‚ Fremdes ‘ im Transformationsprozess als ‚ Eigenes ‘ leiblich erfahren werden, Eingespurtes ausgespurt werden. Transformationsprozesse betreffen aber immer auch die körperliche Materialität (nicht nur die Ebene der leiblichen Erfahrung). Somatisierung und De-Somatisierung bedeutet, dass sich die in den Körper eingeschriebenen, eingewachsenen oder eingedrückten Spuren ablösen können (z. B. führen diese Übungen häufig zu dem Sich-lösen von faszialen Anspannungen, Veränderung der Wirbelstellung usw.). Es handelt sich hier also um messbare Veränderungen (insofern man eine solche Messung vornehmen möchte). Postsouveräne Körper sind prozessuale, bewegte Körper, die sich dem Stillstand ihrer Identifizierbarkeit entziehen. 96 Eine solche Orientierungskrise kann im Sinne einer verkörperten Kritik der Heteronormativität verstanden werden. Aus der Sicht des vitalistischen Materialismus bedeutet eine Krise, die hegemonialen habituellen Verknüpfungen von Körperempfindung, Gefühl, und Überzeugung/ Deutung der Empfindungen und des Gefühls zu verstören. Das ist der Modus der Desintegration, des Aufbrechens der in den Körper eingeschriebenen ‚ Identität ‘ . Desintegration ist leiblich-somatisch zu verstehen. Der Organismus stellt hier selbst eine eigenaktive Kraft dar. Diese eigenaktive Kraft entspricht dem postsouveränen Körper - ewig werden, ohne dass jemals geworden sein wird. Anmerkungen 1 Erin Manning, Politics of Touch. Sense, Movement, Sovereignity, Minnesota 2007. 2 Bettina Wuttig, Das traumatisierte Subjekt. Geschlecht - Körper - Soziale Praxis. Eine gendertheoretische Begründung der Soma Studies, Bielefeld 2016. 3 Gilles Deleuze und Fèlix Guattari, Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 2002. 4 Wenn ich hier von ‚ Körper ‘ spreche anstelle von bspw. Leib, dann deswegen, weil ich mich begrifflich an den poststrukturalistischen und vitalistischen Diskursen sowie der anglistischen phänomenologischen Literatur anlehne, die von Körpern bzw. ‚ bodies ‘ im Englischen sprechen. Sara Ahmed spricht bspw. von ‚ bodies ‘ , meint aber ‚ lived bodies ‘ : dasjenige, was im Deutschsprachigen mit ‚ Leib ‘ beziffert wird und auf den belebten, von innen heraus gespürten Körper verweist, wie ihre Ausführungen im Anschluss an die Phänomenologie Merleau- Pontys deutlich machen. Die Soma Studies, und damit das Denksystem, auf das ich hier Bezug nehme, adressieren den Körper in seiner somatischen vitalen Materialität und dem leiblichen Empfinden und gehen davon aus, dass es eine Entsprechung gibt, zwischen Prozessen der Inkorporation und dem leiblichen Empfinden als Erfahrung der somatischen Dimension. Ich spreche synonym von Körper und Leib, ähnlich wie Nietzsche das tut, wenn beide Dimensionen in ihrem dualen Aufeinander-verwiesen-Sein gemeint sind. Nur, wenn die Körper-Leib-Unterscheidung argumentativ virulent wird, führe ich diese dezidiert in den Diskurs ein. 5 Ich danke der AG Gender der Gesellschaft für Theaterwissenschaft für kritische Diskussionen zum Begriff der Einschreibung und den Vorschlag, den Begriff des Einwachsens für eine treffendere Repräsentation des Organischen zu verwenden. 6 Wuttig, Das traumatisierte Subjekt, S. 274. 7 Sara Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, Edinburgh 2014. 8 Sara Ahmed, Queer Phenomenology: Orientations, Objects, Others, Durham 2006. 9 Ebd. 10 Es gibt verschiedene Spielarten des Neuen Materialismus: Während bei Rosi Braidotti ein posthumanistischer Feminismus im Vordergrund steht, entwirft beispielsweise Karen Barad eine quantenphysikalisch informierte Wissenschaftskritik. Der hier vertre- 125 Der postsouveräne Körper tene Zugang ist nietzscheanisch-deleuzianisch, zudem von Elisabeth Grosz inspiriert, und bezieht sich auf die vitale Dimension von Körpern, die als gegeben und durch soziale Prozesse werdend verstanden wird. (Wuttig, Das traumatisierte Subjekt, S. 21). 11 Alice Lagaay und Jörg Holkenbrink, „ Performance in Philosophy/ Philosophy in Performance: How Performative Practices Can Enhance and Challenge the Teaching of Theory “ , in: Alice Lagaay und Anna Seitz (Hg.), Wissen Formen. Performative Akte zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst. Erkundungen mit dem Theater der Versammlung, Bielefeld 2018, S. 27 - 37; Carolin Bebek, „ Vom Inneren und vom Äußeren - eine Bildungswissenschaftlerin und Performerin wandert zwischen den Welten “ , in: Lagaay und Seitz (Hg.): Wissen Formen, S. 37 - 51. 12 Deleuze und Guattari, Tausend Plateaus, S. 372. 13 Im Anschluss an und in Erweiterung des Konzepts der De- und Reterritorialisierung bei Deleuze und Guattari siehe Wuttig, Das traumatisierte Subjekt. 14 Ahmed, Queer Phenomenology, S. 244. 15 Ahmed, The Cultural Politics of Emotion. 16 Ahmed, Queer Phenomenology. 17 Lea Spahn, „ Des/ Orientierung - ein leibliches somatisches Moment in (k)einer Beratungssituation “ , in: Bettina Wuttig und Barbara Wolf (Hg.), Körper Beratung. Beratungshandeln im Spannungsfeld von Körper, Leib und Normativität, Bielefeld 2019, S. 291 - 311. 18 Ahmed, Queer Phenomenology, S. 244. 19 Ebd., S. 8. 20 Ebd., S. 11. 21 Ebd., S. 12. 22 Ebd. 23 Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, S. 144. 24 Archille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014. 25 Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, S. 145. 26 Eva Georg hält in ihren Ausdeutungen Ahmeds fest: „ Das was uns ‚ nahe ‘ und ‚ präsent ‘ ist, ist nicht zufällig, wir gehen Wege nicht ‚ einfach so ‘ , vielmehr sind uns bestimmte Objekte und bestimmte Wege ‚ nahe ‘ , aufgrund von vorherigen Wegen, die wir bereits gegangen sind, aufgrund von Wahrnehmungen, die niemals neutral sind. Wir werden orientiert. Doch erst der Blick auf dieses Wie der Orientierung erlaubt es zu untersuchen, wie Leben in einige Richtungen gelenkt wird, ‚ mehr als in andere, schon allein dadurch, dass wir einfach dem folgen, was als ‚ gegeben ‘ erscheint ‘ (Ahmed 2006: 21; Übersetzung E. G.). “ (Eva Georg, „ Glücksversprechen oder: Causes of pain are far from random. Beratung als Orientierung. Beratung als Normierung. Eine queer-phänomenologische Perspektive “ , in: Wuttig und Wolf (Hg.), Körper Beratung, S. 197 - 218, hier S. 201). 27 Ahmed, Queer Phenomenology, S. 67. 28 Ebd., S. 71. 29 Spahn, „ Des/ Orientierung “ , S. 313. 30 Vgl. hierzu auch Georg, „ Glücksversprechen oder: Causes of pain are far from random “ . 31 Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, S. 145. 32 José Esteban Muñoz, Disidentifications. Queers of Colour and the Performance of Politics, Minneapolis 1999. 33 Ahmed, Queer Phenomenology, S. 265. 34 Ebd.; Spahn, „ Des/ Orientierung “ , S. 302. 35 Siehe hierzu insbesondere ebd. 36 Judith Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. 37 Ebd., S. 29. 38 Judith Butler, Körper von Gewicht, Frankfurt a. M. 1997, S. 165. 39 Ebd. 40 Judith Butler, Excitable Speech, New York 1997, S. 139, 145. 41 Butler, Hass spricht, S. 114. 42 Michel Foucault, Power/ Knowledge: Selected Interviews and Other Writings, 1972 - 1977, New York 1980. 43 Foucault zit. nach Butler, Hass spricht, S. 114; Hervorhebung Judith Butler. 44 In Das traumatisierte Subjekt. Geschlecht - Körper - Soziale Praxis habe ich in einer kritischen Bewegung an Butlers diskursivem Monismus gezeigt, dass Butler Materialisierung nicht als vitalen Prozess versteht, son- 126 Bettina Wuttig dern ‚ Sema ‘ und ‚ Soma ‘ in eins zu setzen scheint. Aus dieser Kritik ergibt sich - so habe ich argumentiert - unter anderem die Notwendigkeit zu einem ‚ somatic turn ‘ in den Geisteswissenschaften (S. 168). Diese Argumentation kann hier nicht wiederholt werden, ist aber implizit enthalten, wenn für den postsouveränen Körper die materialistischen Theoretiker Nietzsche und Deleuze bemüht werden. 45 Siehe auch die Arbeit Spuren von Mareike Buchmann, https: / / www.mareikebuchmann. de/ [letzter Zugriff 11. 06. 2020]. 46 Anja Gregor, Constructing Intersex. Zur Rolle von Körper, Geschlecht und Biographie in intergeschlechtlichen Erfahrungsaufschichtungen, Bielefeld 2015. 47 Bebek, „ Vom Inneren und vom Äußeren “ , S. 37 - 51. 48 Ebd., S. 40. 49 Ebd., S. 34. 50 Butler, Körper von Gewicht, S. 66. 51 Bebek, „ Vom Inneren und vom Äußeren “ , S. 40. 52 Judith Butler hält fest: „ [. . .] wir gehören uns nicht ganz selbst, da wir von Anbeginn der Existenz durch einen anderen adressiert werden, und jenes Adressiert-Werden durch den anderen in einer dem Subjekt vorgängigen Sprache stattfindet. “ (Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a. M. 2007, S. 46.) Und an anderer Stelle: „ Noch bevor ich ein ‚ Ich ‘ erwerbe, bin ich ein Etwas, das berührt wurde, das bewegt, gefüttert, zu Bett gebracht, angesprochen wurde, in dessen Umgebung - auch über es - gesprochen wurde “ (ebd., S. 95). Ergänzend: „ Die Bildung des Ich impliziert immer eine Adressierung durch das Du. Das Du ist immer in dem Ich enthalten, das Ich ist nichts ohne das Du “ . (Ebd., S. 92, Hervorhebungen im Original.) 53 Lagaay und Holkenbrink, „ Performance in Philosophy/ Philosophy in Performance “ . 54 Ebd., S. 35. 55 Ebd., S. 30. 56 Friedrich Wilhelm Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Stuttgart 1988, S. 22. 57 Bettina Wuttig, „ Nietzsches Leibphilosophie als Weg zur Rekonstruktion erinnerbarer Geschlechterordnungen. Geschlecht als Erinnerungstechnik denken “ , in: Jakob Guggenheimer et. al. (Hg.), When we were gender . . . Geschlecht erinnern und vergessen. Analysen von Geschlecht und Gedächtnis in den Gender Studies, Queer Theorien und feministischen Politiken, Bielefeld 2013, S. 41 - 65; Wuttig, Das traumatisierte Subjekt. Geschlecht - Körper - Soziale Praxis. 58 Ebd., S. 48 ff. 59 Ebd., S. 295. 60 Friedrich Wilhelm Nietzsche, Kritische Studienausgabe (Z, KSA 4) in 15 Bänden, hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/ New York 1980, S. 39. 61 Toyomi Iwawaki-Riebel, Nietzsches Philosophie des Wanderers. Interkulturelles Verstehen mit der Interpretation des Leibes, Würzburg 2004, S. 82. 62 Zitiert nach ebd., S. 84. 63 63 Christoph Kalb, Desintegration. Studien zu Friedrich Nietzsches Leib und Sprachphilosophie, Frankfurt a. M. 2000, S. 105. 64 „ Es gibt also im Menschen so viele ‚ Bewusstseins ‘ als es Wesen gibt, und in jedem Augenblicke seines Daseins, - die seinen Leib constituieren. “ (Nietzsche zit. nach ebd., S. 106; Hervorhebung im Original). 65 Deleuze und Guattari, Tausend Plateaus, S. 372. 66 Wuttig, Das traumatisierte Subjekt. 67 Andre Pawe, „ Wanna be oK! Über den organlosen masochistischen Körper “ , in: Paradigma. Zeitschrift für Menschen und Diskurse 3 (2011), S. 33 - 48, hier S. 34. 68 Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 772. 69 Pawe, „ Wanna be oK! “ , S. 34. 70 Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, Frankfurt 1992, S. 443. 71 Kalb, Desintegration, S. 106. 72 Ebd. 73 Wuttig, Das traumatisierte Subjekt, S. 163. 74 Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a. M. 1990. 75 Deleuze, Guattari, Tausend Plateaus, S. 376. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Kalb, Desintegration, S. 105. 79 Nietzsche unterscheidet nicht zwischen Körper und Leib; der Körper ist immer auch der 127 Der postsouveräne Körper empfindungsfähige Leib und umgekehrt - s. o. (vgl. Wuttig, Das traumatisierte Subjekt). 80 Ebd., S. 163. 81 Ebd. 82 Ahmed macht dies am Beispiel eines Kindes deutlich, das Angst vor einem Bären hat. Sie setzt diese Angst in den Kontext gesellschaftlich produzierter und historisch tradierter Narrative (über Bären), auf die das Kind unbewusst reagiert. „ What does she see when she sees the bear? We have an image of the bear as an animal to be feared, as an image that is shaped by cultural histories and memories. “ (Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, S. 7; Hervorhebung im Original). 83 Siehe Wuttig, Das traumatisierte Subjekt. Geschlecht - Körper - Soziale Praxis. 84 Sigrid Schmitz und Nina Degele, „ Embodying - ein dynamischer Ansatz für Körper und Geschlecht in Bewegung “ , in: Dies. et al. (Hg.), Gendered Bodies in Motion, Opladen 2010, S. 13 - 39. 85 Siehe Wuttig, Das traumatisierte Subjekt. 86 Iwawaki-Riebel, Nietzsches Philosophie des Wanderers, S. 82. 87 Es handelt sich hier um eine Dokumentation (m)einer autoethnografischen Tanzforschung, wie ich sie in ähnlicher Weise bereits 2016 veröffentlicht habe (Wuttig, Das traumatisierte Subjekt, S. 374). 88 Daniel Lepkoff, persönliches Gespräch, März 2008, Open Space Theater, Köln, Übersetzung B. W. 89 Diese Aussage ist meinen Feldnotizen vom 23. März 2008 entnommen (vgl. Wuttig, Das traumatisierte Subjekt). 90 Diese Aussage ist meinen Feldnotizen vom 23. März 2008 entnommen (vgl. Wuttig, Das traumatisierte Subjekt). 91 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 169. 92 Diane Torr in Gabriel Baur, Venuz Boyz, 2002; Eske Wollrad, Getilgtes Wissen, überschriebene Spuren. Weiße Subjektivierungen und antirassistische Bildungsarbeit, Bielefeld 2010, S. 141 - 163. 93 Hilge Landweer, Scham und Macht, Tübingen 1999; Bettina Wuttig, Der Fall des Traumas: zur somatischen Dimension geschlechtlicher Subjektivierungen. Eine Schrift in die Einführung der Soma Studies, Marburg 2014. 94 Friedrich Nietzsche zit. nach Iwawaki-Riebel, Nietzsches Philosophie des Wanderers. 95 Lagaay und Holkenbrink, „ Performance in Philosophy/ Philosophy in Performance “ , S. 34. 96 Manning, Politics of Touch. 128 Bettina Wuttig Rezension Leon Gabriel und Nikolaus Müller- Schöll (Hg.), Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie, Bielefeld: transcript 2019, 276 Seiten. Der gegenwärtigen akademischen Philosophie ist jüngst - mit vergleichendem Blick auf vier große Denker des frühen 20. Jahrhunderts, nämlich Wittgenstein, Benjamin, Cassirer und Heidegger - bescheinigt worden, dass sie nicht mehr den Mut und die Kraft habe, „ einen relevanten Verständnisbeitrag zu ihrem eigenen, sich in seinen Grundfesten wandelnden Zeitalter zu liefern. “ (W. Ellenberger) Wer diese Diagnose teilt, verlangt folgerichtig nach einem anderen, neuen Denken, das in der Lage wäre, die Probleme der Zeit adäquat zu erfassen und Modelle für deren Lösung zu entwerfen. Zu den radikalsten, auf genau diese Situation zugeschnittenen Angeboten, welche heute auf dem Markt der Ideen gehandelt werden, gehört ein KI-inspiriertes „ Denken jenseits des Menschen “ (Dotzler) und die damit verknüpfte „ (Wieder)Entdeckung von nicht-menschlicher agency “ (Hörl). Auch die avanciertesten Theoretiker und Praktiker des Theaters experimentieren in den letzten Jahren mit Konzepten, deren Ziel es ist, den konkreten Menschen zu dienen, indem sie den Menschen qua Subjekt de-zentrieren. Es geht bei solchen Experimenten nicht allein um den „ Abbau “ eines in die Krise geratenen „ Theaters des Menschen “ zugunsten eines denkenden, d. h. über den Menschen hinaus-denkenden Theaters, sondern gleichzeitig auch um die Ablösung des vorherrschenden Philosophierens, das immer noch an den neuzeitlichen Differenzen (Subjekt-Objekt, Geist-Körper etc.) orientiert ist, durch ein szenisches Denken. Der vorliegende Band, der - angereichert mit zusätzlichen Beiträgen - ein Symposion von Theaterwissenschaftler*innen aus Frankfurt und Tel Aviv dokumentiert, macht einerseits deutlich, dass und wie Theater eine eminente Form der philosophischen Reflexion betreiben kann, und greift andererseits die schon vorhandenen philosophischen Versuche auf, Sichtweisen zu erproben, die sich nicht mehr nach den gängigen Mustern des Vorstellens und Repräsentierens richten und deshalb dem Theater der Zukunft geeignete Orientierungsmarken liefern können. Für alle beteiligten ‚ Einrichtungen ‘ - Theater, Theaterwissenschaft und Philosophie - soll folglich eine ‚ Win-Win-Situation ‘ geschaffen werden. Im ersten Teil des Buches steht Derridas „ Einladung zu einem anderen Denken “ (S. 31) im Zentrum. Anhand seiner Überlegungen zu Shakespeares Theater entfaltet der als „ Dekonstruktivist “ allzu simpel verbuchte Philosoph die Frage „ nach einer dem Menschlichen selbst inhärenten Entgrenzung des Menschlichen “ (31), wie der Mit-Herausgeber Müller-Schöll treffend bemerkt. Derrida begreift Shakespeares Werk - im speziellen Fall die Gerichtsszene im Kaufmann von Venedig - „ als Schauplatz “ eines Denkens, das ständig in Bewegung bleibt und jede sprachlich fixierte Bestimmung einem Übersetzungsprozess unterwirft, unkonventionelle und unerwartete Bedeutungsfacetten sichtbar macht, wieder verschwinden lässt und durch weitere kurzfristige Sinneffekte ablöst. Diese Shakespeare-Lektüre leistet einen wichtigen Beitrag zum Entwurf eines Theaters, das sich aus guten Gründen vom abendländischen Denken der Repräsentation zu befreien versucht. Denn in der Repräsentation kehrt (wie es Derrida bereits 1980 in seinem berühmten Text „ Sendung “ formulierte) das Präsente „ als Double, Bildnis, Imago, Kopie [oder] Idee “ wieder und liefert so die abwesende Sache der Verfügungsgewalt des Subjekts aus. Diese Herrschaft des Subjekts, gegen die sich auch Adornos Kritik des ‚ identifizierenden Begriffs ‘ richtet, soll gebrochen, der „ Raum des Vorstellens und des Berechenbaren “ verlassen werden. Derrida hatte freilich nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Gefahren des Projekts, das leicht zur bloßen Mode verkommen kann, betont: „ Jede Dekonstruktion der Repräsentation [bliebe] vergeblich [. . .], wenn sie zu irgendeiner Rehabilitierung der Unmittelbarkeit führen würde. “ Es bedarf demnach äußerster Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 129 - 130. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0012 Sorgfalt, um ein Theater zu schaffen, das raumzeitliche „ Ereignisse “ ermöglicht, ungewohnte Praktiken des Vernehmens, der Resonanz, der Gelassenheit erprobt und die Grenzen der Repräsentation in Richtung auf das Unberechenbare überschreitet. Wie eine solche Sorgfalt geübt, der Rückfall in Figuren der Unmittelbarkeit vermieden und szenisches Gestalten als Form eines anderen Denkens zur Erscheinung gebracht werden kann, zeigen die weiteren Texte des Bandes. Im zweiten Teil des Buches werden Brechts Vorschläge für ein Theater im wissenschaftlichen Zeitalter (primär anhand des Messingkauf-Konvoluts) und Benjamins Kommentare zu diesen als „ Versuche “ deklarierten Projekten diskutiert. Leitend ist hier Benjamins Konzept einer (Adornos Negative Dialektik vorwegnehmenden) „ Dialektik im Stillstand “ , welche die Widersprüche zwischen Phänomenen oder Begriffen zu entfalten und auszuhalten vermag, ohne der Dynamik des Geschehens eine bestimmte Richtung (z. B. Versöhnung oder Einheitsbildung) zu geben. Im dritten Teil „ Szenische Konstellationen “ wird u. a. der zunächst von Benjamin eingeführte und sodann von Adorno weiterentwickelte Begriff der „ Konstellation “ expliziert (U. Haß), mit und gegen Heidegger die besondere Seinsweise der „ Szene “ erschlossen (M. Weise) und in einem äußerst erhellenden Text von J. Etzold über die Theater-Auffassung in Hölderlins Empedokles- Fragment die Verwandlung der Bühne in eine „ Gegend “ , d. h. einen „ choratischen Raum des Möglichen, des Künftigen und des Abschieds “ (154), vorgeführt. Ebenso wie Etzold greift S. Weber in seinem das Buch beschließenden Beitrag auf Platons schwierigen Chõra-Begriff zurück, um die Doppelfunktion der anvisierten Bühne des neuen Denkens zu charakterisieren: Ähnlich jener „ Chõra “ , von der Platon im Timaios spricht, soll die „ choratische Bühne “ nicht nur „ erzeugen “ und „ organisieren “ , sondern „ gleichzeitig durch[. . .]schütteln, [. . .] und wiederum von den Elementen, die [sie] ‚ empfängt ‘ , aufgeschüttelt [. . .] werden. “ (270) Weber rekurriert hier offensichtlich auf die Verwendung des Chõra-Begriffs bei Heidegger, Kristeva und Derrida. Heidegger verstand unter Chõra „ das sich Absondernde von jedem Besonderen, das Ausweichende, das auf solche Weise gerade anderes zuläßt und ihm ‚ Platz macht ‘“ , Kristeva „ eine ausdruckslose Totalität, die durch die Triebe und deren Stasen in einer ebenso flüssigen wie geordneten Beweglichkeit geschaffen wird “ , und Derrida, der sich sehr eng an Platons Text hält, etwas, das weder „ sinnlich noch intelligibel ist “ , das gleichsam einem dritten Geschlecht angehört und ein „ Gefühl des Schwindels “ erregt. Weil sich dieses merkwürdige ‚ Zwischen-Phänomen ‘ , das die genannten Autor- Innen mit dem griechischen Begriff Chõra umkreisen, vielleicht angemessener zeigen als sagen lässt, erhält das Theater mit all seinen Möglichkeiten, unsere vorurteilsreichen Auffassungen von Raum und Zeit, Körper und Ding, Pflanze und Tier, Bewegung und Ruhe, Ton und Stille, Natur und Technik etc. zu verstören und in ungeahnte Richtungen zu lenken, eine geradezu philosophische Aufgabe: Es soll mit seinen eigentümlichen ‚ Materialien ‘ das Denken aus den gespurten Bahnen herauslocken. Im vierten Teil des Bandes wird der Beweis angetreten, dass die Rede von einem ‚ anderen Theater ‘ , das der Philosophie als gleichwertiger Dialogpartner gegenübertritt, sich auf praktische Experimente, die in diese Richtung weisen, berufen kann. Die Analysen einer installativen Arbeit von William Kentridge (J. Schade), einer Tanzperformance von Rémy Héritier und Joris Camelin (L. Otto) und schließlich einer Arbeit von Walid Raad (L. Gabriel) machen u. a. deutlich, wie „ die Widerständigkeit der Zeit “ sich ins Denken einnistet (S. 207 ff.), wie mit dem auf der Bühne agierenden Körper gedacht wird (S. 224 ff.) und wie „ das Denken angesichts eines Undenkbaren “ (S. 244) möglich ist. Wenn man als LeserIn den Parcours dieser drei gelungenen ‚ Fallstudien ‘ absolviert hat, empfiehlt es sich, noch einmal im Buch zurückzublättern und die zu Beginn des zweiten Teils (S. 74 ff.) platzierte Interpretation einer Performance von Xavier Le Roy (N. Müller-Schöll) der erneuten Lektüre zu unterziehen. Man wird dann eine Formulierung für das finden, was in allen Beispielen für das andere Theater vollzogen wurde: nämlich die szenische Reflexion eines „ der körperlichen Erfahrung inhärente[n] Denken[s] “ (S. 77). Köln L UTZ E LLRICH 130 Rezension Judith Kemp, „ Ein winzig Bild vom großen Leben “ . Zur Kulturgeschichte von Münchens erstem Kabarett Die Elf Scharfrichter (1901 - 1904). Bavaria. Münchner Schriften zur Buch- und Literaturgeschichte 4. München: Allitera Verlag 2017, 381 Seiten. „ Ein winzig Bild vom großen Leben “ - diese Formulierung Willy Raths, eines der Gründungsmitglieder der Elf Scharfrichter, die Judith Kemp als Haupttitel ihrer Monographie gewählt hat, hat programmatischen Charakter nicht nur im Hinblick auf dieses frühe deutsche Kabarett, sondern auch im Hinblick auf das Anliegen des hier anzuzeigenden Buches: Kemp möchte anschaulich machen, wie „ sehr die Elf Scharfrichter [. . .] geradezu als ein Spiegel der wilhelminischen Gesellschaft und Kultur um 1900 zu betrachten sind “ (S. 12). Die formale Konzeption von Kemps 2015 am Institut für Musikwissenschaft der LMU München angenommener Dissertation entspricht dem Ziel der Autorin, „ erstmalig [. . .] eine systematische und umfassende Untersuchung der Elf Scharfrichter “ vorzulegen und so „ Münchens erstes Kabarett in seiner Gänze zu dokumentieren und zugleich auch zu analysieren “ (S. 11). Der Hauptteil der Publikation (Kap. IV) vollzieht die Geschichte dieser relativ kurzlebigen Institution anhand einer überwältigenden Materialfülle nach und geht dabei u. a. auf die Bedingungen der Gründung der Elf Scharfrichter, auf den Verlauf der vier „ Spielzeiten “ ihres Bestehens, auf organisatorische und betriebliche Abläufe, auf die bauliche Anlage, auf Aspekte der szenischen Präsentation, auf die Zusammensetzung des Publikums und auf Zensurpraktiken ein. Nur wenige Aspekte seien eigens angesprochen: die Lex Heinze (1900) als kulturpolitisch relevanter Sachverhalt der Wilhelminischen Ära in ihrer Bedeutung für die Atmosphäre, in der es zur Gründung der Elf Scharfrichter kam; der sich verändernde Status des Unternehmens (zunächst künstlerischer Verein, dann Geschäftstheater unter den Bedingungen des Gewerberechts) mit seinen Konsequenzen für Repertoire und Aufführungsmodalitäten (Zensur, Publikumsrücksichten, betriebliche Notwendigkeiten); die Relevanz von Angeboten über den regulären Spielbetrieb hinaus, etwa in Gestalt ausgedehnter Gastspielreisen oder in Form thematisch gebundener Kostümfeste; die Funktion der bildenden Kunst für die Erscheinung der Elf Scharfrichter; die teils gewollte, teils durch die beengten räumlichen Verhältnisse erzwungene enge Verbindung zwischen Bühnengeschehen und Publikum. Die Schwerpunkte von Kemps Studie liegen in der Vorstellung des Ensembles der Elf Scharfrichter (Kap. IV.5), im Bereich des Repertoires (IV.8) sowie bei den „ Themen “ (IV.9). In den biographischen Ausführungen findet sich eine Fülle von Daten unter anderem zu den „ Gründungsvätern “ des Unternehmens, zu den auch und vor allem jenseits der Elf Scharfrichter einflussreichen Vortragskünstler*innen Marc Henry, Marya Delvard und Frank Wedekind und zu den musikalischen Mitarbeitern. Als eine Art „ Buch im Buch “ erscheint hier der Abschnitt zu Hans Richard Weinhöppel (Scharfrichter-Name: Hannes Ruch), dem Hauskomponisten und Kapellmeister der Elf Scharfrichter, der für das Gros der musikalischen Beiträge verantwortlich zeichnete und der nach Kemp „ die eigentliche Keimzelle dieser Arbeit war “ (S. 14). In formalen und stilistischen Analysen von Weinhöppels Scharfrichter-Kompositionen zeigt Kemp die Eigenarten und die Grenzen seines kompositorischen Vermögens auf, das den spezifischen Anforderungen einer Kleinkunstbühne wohl in idealer Weise entsprochen hat. Die verästelten Darlegungen zu Weinhöppels Lebenslauf und Lebensweise (vgl. etwa die Abschnitte „ Der Bohemien “ und „ Der Libertin “ ), die diesen Analysen vorangehen, können paradigmatisch für die Problematik des von Kemp für ihre Arbeit gewählten Präsentationsmodus stehen: Es war der Autorin offenbar ein Anliegen, sämtliche in unterschiedlichsten Quellen aufgefundenen Informationen zu verarbeiten, und dies führt - in den Teilkapiteln unterschiedlich stark ausgeprägt - zu einer Textgestalt, die immer wieder einen gewissen Eindruck von Wahllosigkeit hinterlässt. Ein Mangel an Stringenz und ein überbordender Informationsfluss - interessant etwa die Erläuterungen zu Weinhöppel (alias Ruch) als Komponist von Grete Wiesenthals Pantomime Das fremde Mädchen - sind hier zwei Seiten einer Medaille. Kemps Ausführungen zum Repertoire der Elf Scharfrichter stellen sich als eine Art akribisch durchgearbeiteter Katalog dar, der die einzelnen Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 131 - 132. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0013 131 Rezension Programmteile nach Sparten/ Genres, Herkunft und Besetzungen aufschlüsselt und soweit irgend möglich - zu vielen der Nummern sind keine primären Quellen überliefert - hinsichtlich Thematik/ Sujet, Stilistik und Aufführungsmodalitäten charakterisiert. Als vorherrschende Nummerntypen identifiziert Kemp dramatische Szenen sowie Darbietungen mit musikalischer Begleitung und hier, wenig überraschend, Lieder bzw. Chansons. Thematisch standen die parodierende Auseinandersetzung mit aktuellen Tendenzen in Literatur und anderen Künsten und die, so ließe sich formulieren, Miniatur sozialer Milieus (inklusive des breiten Bereiches von Liebes- und erotischen Konstellationen) im Vordergrund. Im Durchgang durch das Repertoire wird immer wieder der Einfluss des Publikumsgeschmacks einerseits und der Zensur andererseits greifbar. Während sich Kemp für die Kategorisierung der Sologesänge an den Arbeiten von Walter Rösler und Wolfgang Victor Ruttkowski orientiert, entwickelt sie zur Erfassung der Programme der Elf Scharfrichter eine eigene Typologie, die „ einen möglichen Interpretationsansatz der verschiedenen Themen aufzeigen “ möchte (S. 299). Als „ über die Botschaft des jeweiligen Stücks hinausweisende Grundhaltung und damit so etwas wie eine programmatische Einstellung der Kabarettisten “ (ebd.) macht sie „ 1. gesellschaftskonforme, 2. kritische und 3. visionäre Darstellungen “ (ebd.) aus. Diese Kategorisierung erlaubt eine Orientierung innerhalb des so breiten und disparaten Scharfrichter-Repertoires. Es fragt sich allerdings, ob es im Hinblick auf die grundsätzliche ästhetisch-programmatische Ausrichtung der Elf Scharfrichter weiterführend ist, die parodierende Auseinandersetzung mit aktuellen „ Literatur- und Musikströmungen “ (ab S. 316) und die Obrigkeitsbzw. Kirchenkritik in gleicher Weise unter „ Kritik “ zu subsumieren. Der Kontextualisierung des Unternehmens der Elf Scharfrichter dienen zwei dem Hauptteil vorgeschaltete Kapitel, in denen - im Wesentlichen unter Heranziehung einschlägiger Forschungsarbeiten - das heterogene Feld von literarischen, theatralen, künstlerischen, theater-, kunst- und kulturreformerischen Institutionen, Initiativen und Genres skizziert wird, das um die Jahrhundertwende München in besonderer Weise prägte. Kemp zeigt, wie vielfältig die personellen, programmatischen und ästhetischen Verbindungen der Elf Scharfrichter zu diesem Feld waren. Wichtige Impulsgeber für das Münchner Kabarett findet Kemp auch in internationalen Trends der Bühnenkunst und des Unterhaltungsgeschäfts, wie in den verschiedenen Ausprägungen gemischter Programme, die sich im 19. Jahrhundert in Paris etabliert hatten, sowie in dem um 1900 zumal im deutschsprachigen Raum unter wechselnden ästhetischen wie ideologischen Prämissen viel diskutierten Varieté. Judith Kemp hat ein Buch vorgelegt, das zugleich opulent ausgestatteter Prachtband und akribisch recherchierte Quellenstudie ist und aufgrund der gut nachvollziehbaren Gliederung darüber hinaus Handbuchcharakter hat. Bayreuth M ARION L INHARDT Sruti Bala, The Gestures of Participatory Art. Manchester: Manchester University Press 2018, 156 Seiten. Wie wirkt „ participatory art “ ? Diese Frage scheint ausreichend diskutiert, Sruti Bala (Universiteit van Amsterdam) zeigt jedoch, dass dies mitnichten der Fall ist. Schon ihr Hinweis auf die Etymologie von „ participation “ (4) als kommerzielle Beteiligung und/ oder Teilhabe an der Kommunion wirft ein neues Licht auf die Fragestellung, denn Teilhabe ist innerhalb bestimmter ideologischer, institutioneller Formationen (des Handels und der Kirche) angesiedelt: „ If the terms of participation are already set by such authoritative forces, then doesn´t participation in the arts require the greatest vigilance? “ (5) So eröffnet die Autorin eloquent und präzise ihr Interessensfeld, denn sie untersucht Kunst und Teilhabe in ihren sozialen, politischen und institutionellen Kontexten. Sruti Bala stellt die Geste als Scharnier zwischen Kunst und Teilhabe, entsprechend ordnet sie das Material anhand von „ unsolicited “ (unaufgefordert), „ vicarious “ (nachempfunden) und „ delicate “ Gesten von Teilhabe. Zuvor jedoch Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 132 - 134. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.2357/ FMTh-2021-0014 132 Rezension entfaltet die Autorin die Weisen von Teilhabe an Kunst, indem sie alle Expert*innen, Handwerker*innen, Politiker*innen inkludiert, die (in welcher Weise auch immer) am Zustandekommen von Kunst beteiligt sind. Dies geht weit über das klassische Verständnis von Publikumsteilhabe als Involvierung in eine künstlerische Aufführung hinaus. So zeigt Bala beispielsweise, dass aktive Teilhabe an sozialen Theaterprojekten nicht emanzipatorisch sein muss, sondern ebenso weiße Dominanzkultur festigen kann. Solche Affirmationen werden jedoch oft von Teilnehmenden unterlaufen, so die Autorin: dies weniger in sichtbarer revolutionären künstlerischen Handlungen, sondern eher in (S. 42 f.) kunstvollen Gesten, die als Institutionenkritik wirksam werden. Innerhalb des zeitgenössischen kunstwissenschaftlichen Denkfeldes, in dem Nähe, Interaktion und Relationalität oft als politisch und damit als kritisch verstanden werden, betont Bala die Vermarktung relationaler Arbeit und fragt mit Tania Bruguera, ob Kunst nicht wieder praktische Funktionen haben könnte (S. 63). Damit transportiert sie den „ material turn “ der Geistes- und Humanwissenschaften in die Theaterwissenschaft. Doch zurück zu den Konzepten der Geste, die den roten Faden der Untersuchung bilden. Unaufgeforderte Gesten werden anhand von Radha Ramaswamys Workshopserie, die 2013 in der indischen Stadt Karur stattfand, untersucht. Dies waren Theaterworkshops nach Augusto Boals Methode des Theater der Unterdrückten. Bei einer Aufführung spielte beispielsweise ein Wachmann, der nicht Teil der Gruppe war, eine tragende Rolle. Wie ist diese ungeplante Teilnahme nun zu beschreiben? Wenn Gesten wie diese nicht übersehen werden, dann werden sie, so Bala, oftmals vorschnell als widerständig (in dem Fall gegen das Regime) bewertet und damit in eine simple Dichotomie von guter und schlechter (angepasster) Teilhabe eingeordnet (S. 91). Dem gegenüber schlägt die Autorin vor, unaufgeforderte Gesten als Neuordnung der Bedingungen von Teilnahme zu sehen. Sie stellt Verkörperungen zentral, in denen Pluralität und Ambivalenzen aufgehoben sein können: „ The unexpected gestures of participation . . . are thus neither a rejection of nor a co-option into a pre-determined regime of participation, but an embodied engagement with it. ” (S. 96) Nachempfundene Gesten bespricht Bala anhand des Performance-Projekts Where we are not (200) der libanesischen Künstlerin Lina Issa, die in Amsterdam verortetet ist. Da Issa beim Verlassen der Niederlande keine Garantie hatte, auch dorthin zurückkehren zu können, besuchte stattdessen die Tänzerin Aitana Cordero deren Heimat Libanon. Dort führte sie nach Issas Choreografie persönliche Begegnungen, beispielsweise mit Issas Familie, aus, deren Dokumentationen als Performance im Amsterdamer Theater brakke grond gezeigt wurde. Bala argumentiert, dass Issa durch die Figur der Stellvertreterin (stand-in) Theatralität im Sinne des Bewusstseins, Zuschauer*in zu sein, inszeniert. Die Publikumsteilhabe besteht in der Richtung der Aufmerksamkeit auf das künstlerische Ereignis, wodurch Bewusstsein über Zeug*innenschaft und damit ein potenziell öffentlicher Raum entsteht (S. 103 ff.). Where we are not ermöglicht die Reflektion der Zwangslage einer migrierten Künstlerin, die nicht nach Hause reisen kann. Nachempfundene Gesten eröffnen, so Bala, die Lücke zwischen der kulturellen Bedeutung einer Geste und ihrem affektiven Effekt auf den Körper, der sie ausübt. Auch hier kann jedoch nicht vorschnell auf politische Subversivität durch Publikumsteilhabe geschlossen werden. Vielmehr zeigt Bala die Verknüpfung von Reisefreiheit mit dem Recht auf Privatsphäre. Erzwungene Immobilität migrierter Personen geht hingegen oft mit der Notwendigkeit, das Persönliche zu zeigen, einher. Dies ist der Raum, den die Figur der Stellvertreterin in Where we are not eröffnet. Der Publikumsschlaf ist schließlich die delikate Geste, deutlich gemacht in der öffentlichen Intervention Nomad City Passage von Rebekka Reich und Oliver Gather (2005 - 2009 in Deutschland und Österreich). Darin wurden die Zuschauer*innen eingeladen, in öffentlichen Räumen in Zelten zu übernachten. Sruti Balas Studie ist eine dringend notwendige weitere Verknüpfung von Kunst und Teilhabe und Kunst als Teilhabe. Ich habe sie mit Spannung gelesen, da die Autorin für alle politisch denkenden Leser*innen neues Terrain beschreitet. Durch die klare Sprache und präzisen Fragestellungen wird die Leserin eher Teil eines fesselnden Dialogs und ist minder der einseitigen Konsumption verpflichtet. Als Vordenkerin der 133 Rezension Theaterwissenschaft und Performance Studies setzt die Autorin einen Meilenstein der transnationalen Kunstwissenschaft der Gegenwart, weil sie deren Relevanz, weit über die so genannte performative Wende hinaus zeigt. Somit sei The Gestures of Participatory Art sowohl neuen als auch langjährigen Kolleg*innen dringend zur Lektüre empfohlen. Gent K ATHARINA P EWNY 134 Rezension Autorinnen und Autoren Neslihan Arol received her Master ’ s degree in Film and Drama from Kadir Has University (Istanbul). For her PhD at the UdK Berlin, she expanded her scope to include stand-up comedy and meddahl ı k (a tradition of storytelling in Turkey) in her research on the intersection of feminism and comedy. In addition to her PhD, she continues an artistic research project on shadow play as an associate fellow at The Berlin Centre for Advanced Studies in Arts and Sciences since 2019. After her move to Berlin in 2014, she performed with groups such as „ Clowns ohne Grenzen ” and „ Bühne für Menschenrechte “ . Recent Publication: “ Gender in Comedy: Reflections from a Practitioner-Researcher “ , in: Staging Gender - Reflexionen aus Theorie und Praxis der performativen Künste (eds. Irene Lehmann et al.), Bielefeld 2019. Rosemarie Brucher, Ass.Prof. Dr., studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Germanistik und Komparatistik an den Universitäten Wien und Leipzig. Ihre Doktorarbeit zu künstlerischer Selbstverletzung im Zeichen Kants Ästhetik des Erhabenen erfolgte 2012. Danach war sie an der Universität Wien sowie der UdK Berlin tätig und ist seit 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin und seit 2018 als Assistenzprofessorin für Theaterwissenschaft am Zentrum für Genderforschung der Kunstuniversität Graz beschäftigt. Von 2014 bis 2016 war sie als Max Kade Fellow bzw. als Visiting Assistant Professor am German Department der New York University. Seit 2019 ist sie Vizerektorin für Forschung der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien und leitet das Institut für Wissenschaft und Forschung ebendort. Annette Bühler-Dietrich ist apl. Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Stuttgart. Von 2014 bis 2018 war sie DAAD- Lektorin an der Université Ouaga I Joseph Ki- Zerbo, Burkina Faso. Ihre literatur- und theaterwissenschaftliche Forschung befasst sich mit dem deutschsprachigen Drama und Theater seit dem 19. Jahrhundert, dem frankophonen afrikanischen Theater und Tanz der Gegenwart, Gender und Postcolonial Studies. Publikationen (Auswahl): Bühler-Dietrich und Noufou Badou, Le CITO - un maillon fort du théâtre au Burkina Faso. 20 ans de créativité et de résistance (Ouagadougou 2017), Drama, Theater und Psychiatrie im 19. Jahrhundert (Tübingen 2012). Miriam Dreysse, PD Dr. phil., Theaterwissenschaftlerin, unterrichtet an der Universität der Künste Berlin und der Universität Hildesheim. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: zeitgenössisches Theater und Performance, Gender Theorie, Geschlechterkonstruktionen in den darstellenden Künsten. Publikationen (Auswahl): Mutterschaft und Familie. Inszenierungen in Theater und Performance, Bielefeld: transcript 2015; Sicherheitslos. Prekarisierung, die Künste und ihre Geschlechterverhältnisse, hrsg. zus. mit Linda Hentschel und Kerstin Brandes, FKW, Juni 2012; Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin: Alexander Verlag 2007, hrsg. zus. mit Florian Malzacher; Szene vor dem Palast. Die Theatralisierung des Chors im Theater Einar Schleefs, Frankfurt/ Main: Peter Lang 1999. Lutz Ellrich, Prof. i. R. für Medienwissenschaft an der Universität Köln. Forschungsschwerpunkte: Auswirkungen der Computertechnik; soziale Konflikte; Misstrauen in Netzwerken und Organisationen, fremdkulturelles Verstehen, experimentelles Theater. Publikationen u. a.: Beobachtung des Computers (1995), Verschriebene Fremdheit (1999), Die Unsichtbarkeit des Politischen (2009), Vorführen und Verführen (2011), Werte(de)konstruktionen (2019). Melanie Hinz ist Professorin für „ Theaterpädagogik “ an der Universität der Künste Berlin, promovierte über „ Das Theater der Prostitution “ (transcript 2014). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gender/ Queer Studies, Probenprozesse, Theater als Soziale Kunst. Sie ist Gründungsmitglied der Frl. Wunder AG und realisiert seit 2006 Theaterperformances in unterschiedlichen Projektfor- Forum Modernes Theater, 32/ 1 (2021), 135 - 137. Gunter Narr Verlag Tübingen men und Institutionen: im Kollektiv, mit Studierenden und mit Expert*innen des Alltags. Benjamin Hoesch ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie Doktorand in der ortsverteilten interdisziplinären DFG-Forschungsgruppe „ Krisengefüge der Künste: Institutionelle Transformationsdynamiken in den Darstellenden Künsten der Gegenwart “ mit einem Projekt zum Thema Nachwuchsfestivals. Mit der in diesem Kontext entstehenden Dissertation ist er zudem an das Giessen Centre for the Study of Culture (GCSC) angeschlossen. Neben der Forschung arbeitet er künstlerisch im Regieduo mit Gregor Glogowski: www.glogowskihoesch.com/ . Marion Linhardt, Prof. Dr., ist Theaterwissenschaftlerin an der Universität Bayreuth. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen theaterwissenschaftliche Stadtforschung, Theater- und Musiktheatergeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkten in der Theatergeschichte Wiens sowie dem Musiktheater in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Kostümgeschichte. 2010 bis 2014 Schriftleiterin der Nestroyana, seit 2013 Herausgeberin (mit Beatrix Müller-Kampel) von LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie. Julia Ostwald ist Projektmitarbeiterin am Fachbereich Kunst-, Musik- und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg sowie beim dortigen Doktoratskolleg DSP geschlecht_transkulturell. In ihrer Dissertation erforscht sie Konstellationen von Stimme und Körper im Tanz der Gegenwart und der Moderne. Sie hat an der FU Berlin Tanzwissenschaft studiert sowie Tanzpädagogik an der Fontys Dansacademie Tilburg (NL). Neben ihrer langjährigen Arbeit in der Vermittlung von Tanz war sie als Gastwissenschaftlerin bei Het Firmament tätig (flämisches Expertisezentrum für das kulturelle Erbe der Bühnenkünste). Sie forscht insbesondere zu den szenischen Künsten der Gegenwart und der Moderne, Tanz und Stimme, Gender und Queer Studies und Beziehungen von Ästhetik und Politik. Katharina Pewny, Dr. habil., ist Theaterwissenschaftlerin. Von 2009 bis 2019 war sie Professorin an der Universität Gent, aktuell arbeitet sie als Yogalehrerin und Botschafterin für barrierefreies Yoga in Berlin und forscht zu Politik des Yoga (kulturelle Aneignung) / Intersektionalität und Spiritualität. www.birdyoga-berlin.de. Karl-Heinz Reuband ist Professor für Soziologie (em.) an der Universität Düsseldorf. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Kulturforschung, sozialer und kultureller Wandel, Politische Soziologie, Methoden der empirischen Sozialforschung. Publikationen u. a. (Hrsg.), Oper, Publikum und Gesellschaft. Wiesbaden: Springer Verlag 2018; (Hrsg.), Dresden. Soziale Transformationen und kulturelle Repräsentationen. Dresden: Thelem Verlag 2021; (Hrsg. mit U. Brinkmann), Rechtspopulismus in Deutschland. Wahlverhalten in Zeiten politischer Polarisierung. Wiesbaden: Springer VS 2021. Jenny Schrödl ist Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft an der FU Berlin; von 2015 - 18 leitete sie die Nachwuchsgruppe „ Kunst-Paare. Beziehungsdynamiken und Geschlechterverhältnisse in den Künsten “ (FU/ MPIB). Im Rahmen des SFB „ Kulturen des Performativen “ promovierte sie 2010 mit einer Studie zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater. Sie ist Initiatorin und Leiterin der AG „ Gender “ der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Zu ihren Publikationen zählen u. a.: Feministische Kunst der Gegenwart (Feministische Studien 02/ 2020), hrsg. mit Miriam Dreysse und Tanja Thomas; Kunst-Paare. Historische, ästhetische und politische Dimensionen, hrsg. mit Magdalena Beljan und Maxi Grotkopp, Berlin 2017. Gerald Siegmund ist Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Von 2015 bis 2018 leitete er das DFG-Projekt „ Theater als Dispositv “ . Er ist Mitglied der dezentralen DFG-Forschungsgruppe „ Krisengefüge der Künste. Institutionelle Transformationsdynamiken in den darstellenden Künsten der Gegenwart “ der LMU München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Theater seit den 1960er Jahren, Theatertheorie, Ästhetik, Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz und im 136 Autorinnen und Autoren postdramatischen Theater im Übergang zur Performance und zur bildenden Kunst. Von 2012 bis 2016 war Gerald Siegmund Präsident der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (GTW). Zuletzt erschienen: Jérôme Bel. Dance, Theatre, and the Subject, London: Palgrave Macmillan, 2017 sowie (gem. mit Rebekah Kowal und Randy Martin) The Oxford Handbook of Dance and Politics (Oxford University Press 2017). Bettina Wuttig, Prof. Dr. phil., ist Erziehungswissenschaftlerin und Professorin am Fachbereich Erziehungswissenschaften und dem Institut für Sportwissenschaften und Motologie der Philipps-Universität Marburg. Sie vertritt dort den Lehrstuhl „ Psychologie der Bewegung “ und ist Mitglied im Zentrum für Gender Studies und Feministische Zukunftsforschung (Genderzertifikat). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Poststrukturalistische und posthumanistische Theorie, Körper und Gesellschaft, Gender und Queer Studies, Diversity Studies in der Sportwissenschaft und der Motologie; Performance Studies und kulturelle Bildung; autoethnographische Forschung und nicht-westliche Gesundheitskonzepte. Ihr aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit affektiven Grenzziehungen in (post-) digitalen Weltmachens. Sie ist Begründerin und Herausgeberin der Reihe Soma Studies im transcript-Verlag. 137 Autorinnen und Autoren Inhalt: Aufsätze Karl-Heinz Reuband (Düsseldorf) Theater in der Krise? Die Neustrukturierung der Altersbeziehung kultureller Partizipation.............................................................................................................................................. 5 Benjamin Hoesch (Gießen) (Non)curating the Creative City: From 100 Grad to Performing Arts Festival Berlin ......................................................................................................................................... 13 Themenheft: Gender und Kritik Rosemarie Brucher (Wien) und Jenny Schrödl (Berlin) Editorial - Gender und Kritik .............................................................................................................. 29 Aufsätze Gerald Siegmund (Gießen) Gender-Spielräume: Entunterwerfung als kritische Praxis .............................................................. 31 Miriam Dreysse (Berlin) Kritische Identitäten. Subversive Strategien der Inszenierung von Gender in Theater und Performance .................................................................................................................................... 35 Melanie Hinz (Berlin) Alltagsexpert*innen im Theater als Kritiker*innen normativer Körperbilder und Geschlechterdiskurse ............................................................................................................................. 53 Annette Bühler-Dietrich (Stuttgart) Hoffnung als Kritik: Queere Relektüren von Ernst Bloch, José Esteban Muñoz und Bill T. Jones .............................................................................................................................................. 69 Neslihan Arol (Berlin) Henrike Iglesias’s GRRRRRL as Femmage on Stage: A Killjoy Utopia? .......................................... 85 Julia Ostwald (Salzburg) Von der krisenhaften Schönheit der Sirenen: Trajal Harrells Antigone Sr./ Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church (L) ....................................................................................... 99 Bettina Wuttig (Marburg) Der postsouveräne Körper ..................................................................................................................114