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Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
61
2023
341 Balme
Band 34 Heft 1 Forum Modernes Theater enthält das Themenheft: Intensive Umgebungen. Zu environmentalen Gefügen ästhetischer Erfahrung herausgegeben von Johanna Zorn FORUM MODERNES THEATER begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme und Berenika Szymanski-Düll (München) Schriftleitung: Johanna Zorn (München) in Verbindung mit Wolf-Dieter Ernst (Bayreuth), Doris Kolesch (Berlin), Peter Marx (Köln), Evelyn Annuß (Wien), Martin Puchner (Cambridge, Mass.), Kati Röttger (Amsterdam), Gerald Siegmund (Gießen), Meike Wagner (München) und Matthias Warstat (Berlin) FORUM MODERNES THEATER erscheint zweimal jährlich. Das Jahresabonnement kostet € 75,-, das Einzelheft € 45,-, das Doppelheft € 90,- (jeweils zzgl. Postgebühren).Vorzugspreis für private Leser € 60,- (zzgl. Postgebühren/ Lieferung und Rechnung an Privatadresse), sofern Sie dem Verlag schriftlich mitteilen, dass Sie die Zeitschrift ausschließlich für den persönlichen Gebrauch beziehen. Erfolgt keine Abbestellung bis zum 15. November, so verlängert sich das Abonnement automatisch um ein Jahr. Wir bieten zusätzlich ein kombiniertes Print- & Online-Abonnement sowie ein ausschließliches Online-Abonnement an. Bitte kontaktieren Sie den Verlag. Publikationssprachen: Deutsch, Englisch, Französisch Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Gewähr übernommen. Die Richtlinien für die Eingabe von Manuskripten können unter http: / / www.meta.narr.de/ zeitschriften/ stylesheetfmth.pdf abgerufen werden. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. www.forum-modernes-theater.de Anschrift der Schriftleitung: Dr. Johanna Zorn Ludwig-Maximilians-Universität Institut für Theaterwissenschaft Georgenstraße 11 80799 München fmt@lrz.uni-muenchen.de Rezensionsexemplare bitte senden an: Prof. Dr.Wolf-Dieter Ernst Theaterwissenschaft GW1 Zimmer 2.18 Universitätsstr. 30 95447 Bayreuth W.Ernst@uni-bayreuth.de Anschrift des Verlags: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen Fax +49 (0)7071 97 97 11, Tel. +49 (0)7071 97 97 0 Internet: www.narr.de, eMail: info@narr.de Inhalt Berenika Szymanski-Düll (München) Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Aufsätze Nicole Haitzinger (Salzburg) Hanamichi und Mie-Pose: Modern imprägnierte Versatzstücke des japanischen Kabuki in Max Reinhardts frühen Bühnenmodellen und Inszenierungskonzepten . . . . . . . . . . 6 Susanne Foellmer (Coventry) Don ’ t Move! Choreography as a Means of Arranging Protest in Times of Curfew . . 18 Themenheft: Intensive Umgebungen. Zu environmentalen Gefügen ästhetischer Erfahrung Johanna Zorn (München) Editorial - Intensive Umgebungen. Zu environmentalen Gefügen ästhetischer Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Aufsätze Silke Felber (Wien) Compost Turn. Neue Bestattungsprodukte im Spannungsfeld von Ökologie und Atmosphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Magdalena Zorn (Frankfurt am Main) ABBAs Hologramm-Show. Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Julia Prager (Dresden) Verräumlichung von Oberflächlichkeit. Zur Gestaltung einer Szenosphäre bei Susanne Kennedy (Drei Schwestern, Münchner Kammerspiele, 2019) . . . . . . . . . . . . . . 66 Tanja Prokic´ (München) Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre . . . . . . . . . . 80 Katja Schneider (Frankfurt am Main) Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Johanna Zorn (München) Meer sollst du sein, und Wald werden. Über eine neue Ästhetik der Einswerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Julia Stenzel (Mainz) Agora abbauen. Theater als metökische Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Rezensionen Karin Nissen-Rizvani, Martin Jörg Schäfer (Hg.): TogetherText. Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater (Artur Pe ł ka) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Ulf Otto (Hg.): Algorithmen des Theaters. Ein Arbeitsbuch. (Karina Rocktäschel) . . . 143 Lotte Schüßler: Theaterausstellungen. Spielräume der Geisteswissenschaften um 1900 (Thekla Sophie Neuß) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Umschlagabbildung: Elia Aubry, e*fau*und die welt, 2023 © Elia Aubry. © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, im Magnettonverfahren oder ähnlichem Weg bleiben vorbehalten. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Jede im Bereich eines gewerblichen Unternehmens hergestellte oder benützte Kopie dient gewerblichen Zwecken gem. § 54 (2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft, Goethestraße 49, 80336 München, von der die einzelnen Zahlungsmodalitäten zu erfragen sind. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach CPI books GmbH, Leck ISSN 0930-5874 ISBN 978-3-381-10731-5 Editorial Berenika Szymanski-Düll (München) Im Jahr 2016 habe ich die Schriftleitung von Forum Modernes Theater übernommen. Es war eine herausfordernde Aufgabe, die mich viel über den Wissenschaftsbetrieb lehrte und für das Heft einige Umstrukturierungen bedeutete. Bekommen wir ausreichend qualitative Beiträge, um neue Ausgaben zu garantieren? Wird es gelingen, den Rückstand der vergangenen Jahre aufzuholen? Wie lässt sich das Peer-Review sinnvoll umstrukturieren? Rückblickend betrachtet, freue ich mich, dass es in den vergangenen sieben Jahren gelungen ist, kontinuierlich zwei Ausgaben pro Jahr, manchmal auch in Form eines Doppelheftes, erfolgreich zu publizieren. Insbesondere das Format des Themenheftes wird sehr gut angenommen, aber auch das Peer-Review-Verfahren lockt viele Wissenschaftler*innen sowohl aus dem Inland als auch aus dem Ausland und vor allem auch aus dem Nachwuchsbereich, Einzelbeiträge einzureichen. Mit dem vorliegenden Heft gibt es eine Neuerung. Während ich nun gemeinsam mit Christopher Balme die Herausgeberschaft von Forum Modernes Theater habe, konnte mit Johanna Zorn eine neue Schriftleitung gefunden werden. Unter ihrer Aufsicht und ihrem Engagement ist die neue Ausgabe der Zeitschrift entstanden, die aus dem Themenheft „ Intensive Umgebungen “ (siehe das eigens hierfür verfasste Editorial) besteht sowie zwei frei eingesandten Artikeln: einem von Nicole Haitzinger (Salzburg), der sich mit Versatzstücken des japanischen Kabuki in Max Reinhardts frühen Bühnenmodellen und Inszenierungskonzepten auseinandersetzt, und einem von Susanne Foellmer (Coventry), in dessen Fokus choreographische Arrangements von Protesten in Zeiten des durch Covid-19 verhängten Versammlungsverbots stehen. An dieser Stelle möchte ich einen großen Dank an Johanna aussprechen. München, Juni 2023 Berenika Szymanski-Düll Forum Modernes Theater, 34/ 1, 5 - 5. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0001 Hanamichi und Mie-Pose: Modern imprägnierte Versatzstücke des japanischen Kabuki in Max Reinhardts frühen Bühnenmodellen und Inszenierungskonzepten Nicole Haitzinger (Salzburg) Dieser Artikel skizziert im ersten Teil die Wiener Theaterkultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Akzentuierung des Japonismus, in der Max Reinhardt (1873 - 1943) sozialisiert wurde. Diese von der Forschung meist nur als Randnotiz erwähnte strukturelle und ästhetische Gebundenheit Reinhardts an die Wiener Moderne scheint mir entscheidend für das Verständnis seiner ersten Bühnenmodelle und Inszenierungskonzepte zu sein. Die Analyse der Inszenierung Sumûrun (1905) dient im zweiten Teil schließlich zu thesengeleiteten Antworten auf die Frage, welche spezifische Funktion die aus dem japanischen Kabuki entlehnten Versatzstücke Hanamichi (Blumensteg) und die Mie-Pose hatten und welche ästhetische Erfahrung sie evozierten. Zur Theaterkultur Wiens in Zeiten der Konstruktion einer modernen Hauptstadt für ein altes Reich Um 1900 inszeniert sich Wien als Theaterstadt par excellence. Im Kontext der Konstruktion einer „ modernen Hauptstadt für ein altes Reich “ 1 wird ein vereinigendes festliches Theater imaginiert. 2 Das Supplement Welt avanciert zum Maßstab des kulturellen und politischen Denkens. Die ehemalige dynastisch geprägte Residenzstadt eines großen alten Reichs wird nach dem postrevolutionären und neoabsolutistischen Jahrzehnt der 1850er Jahre auf Basis eines kaiserlichen Erlasses von 1857 in den nächsten Dekaden zur metropolitanen Reichshauptstadt umstrukturiert, zu einem neuen modernen Wien in Verflechtung von Monarchie und Liberalismus: „ Die Planung und Errichtung eines riesigen Neubaukomplexes innerhalb des bestehenden Wiens [entlang der kreisförmigen Ringstraßenzone] war mit Sicherheit eine der herausragenden Leistungen der Stadtplanung und der bürokratischen Einbildungskraft des 19. Jahrhunderts. “ 3 War die Innere Stadt jahrhundertelang durch eine militärische Schutzzone, das Glacis, räumlich - und vorbehaltlich soziokulturell, obgleich hier vielerlei Fluktuationen beobachtbar sind - von den Vorstädten getrennt gewesen, werden nun in rascher Manier die ehemaligen Befestigungsmauern und Bastionen gesprengt, Militärareale wie das Arsenal mit einem (Waffen-)Museum ausgestattet und ehemalige Exerzierplätze oft mit der Kultur und Bildung gewidmeten Architekturen (Museen, Oper, Theater, Universität) bebaut. Es existieren Pläne von Carl Freiherr zu Liechtenstein, die neu zu erbauenden Hoftheater über Arkadengänge mit der Hofburg zu verbinden, das heißt als die architektonische Manifestation einer der theatralen Repräsentation und Kultur verpflichteten K.-u.-k.-Monarchie zu instituieren. Die endgültige Situierung der neuen Gebäude des Hofoperntheaters (Eröffnung 1869) und des Hofburgtheaters (Eröffnung 1888) am Ring und in der Nähe der Hofburg zeugt gegenwärtig noch von diesen nicht in letzter Konsequenz verwirklichten Plänen. Die in der europäischen Neuzeit jahrhundertelang gültige und für dynastische Forum Modernes Theater, 34/ 1, 6 - 17. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0002 Monarchien konstitutive kulturelle Amalgamierung von Diskursen, Narrativen und Inszenierungspraktiken, die für das anlassgebundene Festtheater bei Hof (Oper, Ballett) bestimmend gewesen ist, trifft auf die Herausbildung von Nationalismen und die Erstarkung des Bürgertums im europäischen 19. Jahrhundert: Beide Phänomene spiegeln sich in verschiedenen Ausformungen in der facettenreichen Wiener Spielplangestaltung. In einer hin- und herpendelnden Auf- und Abwertung des Theaters und der einzelnen Genres Sprechtheater, Oper, Ballett als Unterhaltung oder Kunst zeigt sich der Loyalitätskonflikt zwischen Dynastie und Nation seitens des größtenteils der Elite zugehörigen Hoftheaterpublikums geradezu paradigmatisch. Das Ballett im Wiener Hoftheaterkontext im 19. Jahrhundert wird quasi in einem Balanceakt in gleichem Maße von Partikularität (in Hinblick auf monarchische Gebundenheit und Geschmack) konstituiert wie über das Faible für Exotismus. Exemplarische und höchst beliebte Inszenierungen, in denen beispielsweise das Ballett als aristokratische Schaukunst, instituiert im Barock, weitergeführt wird, sind Die Japanesin (1874), Mikado (1885) oder die Die Puppenfee (1888); die japonistische Färbung im Sinne einer zeitgeistigen Modeerscheinung zeigt sich hier deutlich. Die Wiener Aristokratie hat neben der Hervorbringung einer hochartifiziellen Habsburger Tanz- und Festkultur und einem vielsprachigen höfischen Unterhaltungsangebot, das bis weit ins 18. Jahrhundert vorwiegend italienischsprachige Oper und französisches Drama zeigt, eine besondere Vorliebe für die Belustigungen des Volkes (Stehgreifspiele, Jahrmarkt- und Wandertruppentheater). Die Weltausstellung im Prater 1873, angelegt als immersives theatrales Ereignis, ist ein Publikumsmagnet und wird von allen Bevölkerungsschichten der Stadt Wien und internationalen Gästen besucht. Ein besonderes Highlight ist die Rekonstruktion eines Japanischen Teehauses: Nach einem bis dahin beinahe ausschließlich über Reiseberichte vermittelten ‚ Savoir japonais ‘ aus zweiter und dritter Hand seien hier die architektonisch detailgetreue Rekonstruktion eines Teehauses und inszenatorisch die Aufführung von Teezeremonien für europäische Gäste genannt, die das ‚ wirkliche ‘ Japan erfahrbar machen sollten. Außerdem ist die Affinität der europäischen Aristokratie zur Verwandlung in privilegiert antike oder ‚ fremde ‘ Figuren eine kulturelle Praxis, die in der Habsburgischen Festkultur seit dem 16. Jahrhundert praktiziert wird. Das als faszinierend anders erfahrene Japanische wird im Japanischen Kirschblütenfest der Pauline Fürstin von Metternich im Prater 1901 als Sujet aufgegriffen. Hierbei werden kulturelle Marker des Japanischen (wie Kostüm, Fächer) in der Wiener Aufnahmekultur hochgradig assimiliert und imaginierte japanische Figuren im Habsburger Stil verkörpert. Im Vergleich von Diskurs und Inszenierungspraxis der beiden Hoftheater in der „ zugleich dynastischen und etatistischen Residenz- und Reichshauptstadt “ 4 werden Bruchlinien von bildungskultureller und populärkultureller Ästhetik sichtbar: Das Sprechtheater in der Burg sieht sich der Konzeption eines neuen Nationaltheaters mit hauptsächlich deutschsprachigen Inszenierungen und der Herausbildung eines individuierten Repertoires verpflichtet, die Hofoper wird weiterhin bestimmt durch paneuropäische Vernetzungsoffenheit und Schematisierung. Zeitgleich wachsen, wie vorher erläutert, die Innere Stadt und die Vorstädte im Taumel der Ringstraßeneuphorie räumlich und kulturell mehr und mehr zusammen. Protegierte bis Ende der 1850er Jahre das Habsburgerregime hauptsächlich fünf stehende Theater - zwei Hoftheater in der noch mit Stadtmauern befestigten Inneren Stadt (Burgtheater und Theater nächst dem 7 Hanamichi und Mie-Pose Kärntnertor) und drei privilegierte Theater in den Vorstädten (Josefstadt, Leopoldstadt und an der Wien mit Sommertheater-Dependancen) - werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Reihe von neuen Unterhaltungstheatern genehmigt. Die Zahl der Vergnügungsstätten erhöht sich rasant (Panoramen, Zaubertheater, Varietés, Singspielhallen). 5 Um 1900 schließlich existieren, neben den zwei in neue Architekturen an der Ringstraße transferierten Hoftheatern (Burg, Oper), mehrere Volksbühnen (Raimundtheater, Deutsches Volkstheater, Kaiserjubiläums-Stadttheater), das eigens für Operetten erbaute Johann Strauss Theater, vielerlei Privattheater (u. a. Josefstadt, Carltheater, Theater an der Wien, Stadttheater, Pratertheater), Singspielhallen als Art wienerisches Vaudeville, Varietés (wie Danzers Orpheum, Ronachers Spezialitätentheater, Schwenders Kolosseum, das Wiener Colosseum und Drexlers Singspielhalle im Prater mit bis zu 2.000 Plätzen), drei feststehende Zirkusgebäude (Renz (1854), Busch (1892) und Schumann (1903)) und schließlich Stätten wie das Budapester Orpheum, Kabaretts, Volkssängerlokale, Dilettantenvereine, Affentheater, Panoramen, Menagieren, Zaubertheater, Seiltänzergesellschaften und Wanderzirkusse. 6 Die Wiener Theaterkultur um 1900 ist zweifelsohne facettenreich. Sie umfasst elitäre Ausformungen ebenso wie Stätten des kommerzialisierten Schauvergnügens. Diese Vielfalt ist erstens konstitutiv für die partikuläre Topographie der Stadt und zweitens für ein Verständnis von Theater als „ Chiffre für miteinander konkurrierende Erinnerungsräume “ 7 . Die Wiener Theaterkultur des 19. Jahrhunderts zeigt sich als komplexe Konstellationen verschiedener, teils verflochtener, teils widerstreitender Aspekte: erstens der vielsprachigen und barock ausgeformten monarchischen Festkultur, zweitens der Konstitution eines nationalen ‚ deutschsprachigen ‘ Sprechtheaters, drittens der sich kommerzialisierenden Unterhaltungskultur, viertens der Faszination für das Exotische und schließlich dem Faible für diverse aus den Volkskulturen kommende Belustigungen. Max Reinhardts theatergebundene Sozialisierung: Zur zweiten Geburt auf der vierten Galerie des Burgtheaters Max Reinhardt wurde als ältestes Kind von Wilhelm und Rosa Goldmann (geb. Wengraf), beide ungarischer Herkunft, am 9. September 1873 in eine jüdische Kaufmannsfamilie in Baden bei Wien geboren. Früh nahm er Schauspielunterricht bei Rudolf Perak, einem Statisten des Wiener Burgtheaters, und Emil Bürde, Professor am Konservatorium, und schließlich bei Maximilian Streben, einem der Direktoren des Fürstlichen Sulkowsky-Privattheaters in Wien Matzleinsdorf. Dort debütierte der junge Schauspieler im April 1890 erstmals auf der Probebühne und führte seit seinem ersten Auftritt den Künstlernamen „ Reinhardt “ . 8 In den nächsten Jahren spielte er in Wiener und österreichischen Theatern verschiedenste Rollen in einem gemischten Repertoire (von Schwänken, Volksstücken, Possen bis adaptierten ‚ Klassikern ‘ wie Shakespeares Dramen oder antike Tragödien/ Komödien), bis er - und hier beginnt die bekannte Reinhardt ’ sche Biographie - schließlich vom Berliner Regisseur Otto Brahm entdeckt und ans Deutsche Theater nach Berlin verpflichtet wurde. 9 Max Reinhardt, und dies scheint mir für meine späteren Thesen von Relevanz, artikulierte wiederholt in Notizen und Gesprächen (s)eine zweite Geburt: Ich bin auf der vierten Galerie geboren. Dort erblickte ich zum ersten Mal das Licht der Bühne. Dort wurde ich genährt (für 40 Kr. 8 Nicole Haitzinger altösterreichischer Währung pro Abend) mit den reichen Kunstmitteln des Kaiserlich- Königlichen Instituts, und dort sangen an meiner Wiege die berühmten Schauspieler ihrer jener Zeit ihre klassischen Sprecharien. 10 Max Reinhardts Akzentuierung einer eigentlich schauspielerischen und theatergebundenen Existenz zeugt von der wohl tiefst möglichsten Verbindung mit der Wiener K.-u.-k.-Theaterkultur und dem Burgtheater. Arthur Kahane, langjähriger Dramaturg an den Reinhardt ’ schen Bühnen, spezifiziert in Tagebuch des Dramaturgen (1928) diese vierte Galerie, weit über ihre Funktion als Sitzplatzkategorie hinausgehend, als Weltanschauung: Wer die vierte Galerie des Burgtheaters nicht persönlich erlebt hat, dem wird man sie nie begreiflich machen können. Die vierte Galerie des Burgtheaters war nicht etwa eine Theaterbillettkategorie (die billigste! ) mit nicht numerierten Sitzen, sondern ein Tempel (Tempel, nicht Synagoge); eine geweihte Stätte der Begeisterung; ein Sammelplatz der kunstliebenden Jugend Wiens, die Erziehung zur Kunst, und zwar zu einer strengen Anschauung der Kunst; ein Treffort der genauesten Theaterkenntnis und der unerbittlichsten Theaterkritik; und eine Schule stärkster Begabungen. Das Kapitel von der anonymen Bedeutung der vierten Galerie des Burgtheaters für die Theatergeschichte ist noch zu schreiben. Sie bildete eine esoterische Gemeinde. Sie ersetzte eine Weltanschauung. 11 Die theaternahe und kulturelle Sozialisierung von Max Reinhardt und seine Vorstellung von einem vom Schauspieler ausstrahlenden festlichen Welttheater, das vermeintlich gegensätzliche Aspekte der Wiener Theaterkultur des 19. Jahrhunderts vereint und genreelastisch angelegt ist, ist - so meine These - untrennbar mit der partikulären Situation der Konstruktion einer modernen Hauptstadt für ein altes Reich, sprich die partikulären Verschichtungen von zwei städtischen Modellen, also von alter Residenzstadt und neuer Metropole verbunden. Zugleich beginnt der sich ausbreitende Antisemitismus die Kunst- und Theaterwelt zu desillusionieren. Drei Aspekte sind, meinen Untersuchungen zufolge für Reinhardts frühes Oeuvre bestimmend: (1) die Resonanzen einer ‚ dynastisch und barock ‘ imprägnierten Habsburger Festkultur, (2) die Kommerzialisierung der Schaulust in neu etablierten Unterhaltungstheatern und (3) die Stadt Wien als ‚ Versuchslabor für Identitätskonstruktionen ‘ im künstlerischen Feld und, spezifischer für Max Reinhardt gedacht, der bedrohten und verletzten jüdischen Identitäten. 12 Ludwig Wittgenstein bringt es in einem Brief an Bertrand Russel vom 17. Oktober 1913 treffsicher auf den Punkt: „ Die Identität ist der Teufel in Person. Sehr viel wichtiger, als ich glaubte. “ 13 In Wien um die Jahrhundertwende ist die L ’ art pour l ’ art Haltung als [ … ] wohl politikfernste Kunst, am ehesten geeignet [ … ] eine genuin politische Funktion zu erfüllen. Das Streben nach ästhetisch vollendeten Formen sollte das Streben nach der Harmonie zwischen den Völkern, aus denen sich die Monarchie zusammensetzte, heraufbeschwören. 14 Diese Ästhetisierung der Existenz betrifft sowohl die Konstruktion von künstlerischen Identitäten wie von theatralen Inszenierungen. Die Ambivalenz zwischen dem kollektiven Phantasma der einheits- und gemeinschaftsstiftenden Theaterstadt und ihrer Attribuierung als Versuchsstation für Weltuntergänge könnte nicht stärker ausgeprägt sein als in Wien um 1900. Warum faszinierte Max Reinhardt das Kabuki und insbesondere der Hanamichi und die Mie-Pose, sodass er bereits in seinem frühen Œ euvre wiederholt darauf 9 Hanamichi und Mie-Pose zurückgreift? 15 Welche Resonanzen des Japanischen und welche Modi der Transformation lassen sich hinsichtlich Bühnenarchitektur und Modellierung von Körperlichkeit bestimmen? Welche Ähnlichkeiten - Ähnlichkeit verstehe ich hier als eine durch Differenz markierte Denkfigur - sind im Vergleich von japanischem Kabuki und dem Reinhardt ’ schen Regiekonzept zu dechiffrieren? Eine Liaison von Wien und Japan: Sumurûn als ‚ vermischte ‘ Inszenierung Die Premiere von Sumurûn fand am 24. April 1910 nicht in Wien, sondern in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin statt. In dieser Inszenierung setzte Max Reinhardt nicht nur erstmals den Hanamichi ein, es wird außerdem die Mie-Pose aus dem japanischen Kabuki assimiliert. In den darauffolgenden Jahren tourte Sumurûn wegen des großen Erfolgs; Stätten der Aufführung sind u. a. in New York, Paris und London. 16 Die Inszenierung basiert auf dem Textbuch Sumurûn. Eine Pantomime in 10 Bildern nach orientalischen Märchenmotiven des Deutschen Literaten Friedrich Freksa. In zeittypischer Manier spielt die Handlung anderswo, hier im Bagdad des 9. Jahrhunderts, die Figuren sind typisiert: ein Gaukler mit Buckel, eine Tänzerin, eine Alte, ein Stoffhändler, ein alter Scheich, der junge Scheich, die Herrin des Harems, Eunuchen, Haremsdamen. Ernst Lubitsch drehte 1920 den gegenwärtig noch verfügbaren Stummfilm Sumurûn (1920) als Hommage an seinen Mentor Max Reinhardt; meine Analyse basiert auf einer multiperspektivisch angelegten Zusammenschau dieser Quellen (hauptsächlich Libretto und Film). Thomas Mann hat im Zauberberg (1924) die Handlung (basierend auf dem Film) pointiert und treffsicher skizziert: Es war eine aufgeregte Liebes- und Mordgeschichte [ … ] stumm sich abhaspelnd am Hofe eines orientalischen Despoten, gejagte Vorgänge voll Pracht und Nacktheit, voll Herrscherbrunst und religiöser Wut der Unterwürfigkeit, voll Grausamkeit, Begierde, tödlicher Lust und von verweilender Anschaulichkeit, wenn es die Muskulatur von Henkersarmen zu besichtigen galt. 17 Max Reinhardt erwarb sich nachweislich nähere Kenntnisse über das japanische Kabuki, seine räumliche Ordnung und seine spezifische Modellierung von Körperlichkeit in seiner künstlerischen Zusammenarbeit mit dem Graphiker und Maler Emil Orlik. Dieser studierte während eines einjährigen Forschungsaufenthalts in Japan im Jahr 1900 japanische Holzschnittkunst. 18 1902 veröffentlicht Orlik einen Artikel mit dem Titel „ Japanisches Theater und Sada Yacco “ im Feuilleton des Prager Tagblatts, in dem er u. a. seine ästhetische Erfahrung eines Kabuki-Erlebnisses artikuliert, wie er sie wohl auch Max Reinhardt vermittelt hat. Er akzentuiert durch die Adaptierung der Drehbühne und des Hanamichi die Möglichkeit einer „ plastischen Scene “ und einer dimensionalen Erweiterung der Bühne. 19 Aber welche Funktion hat der Hanamichi, der von so großem Interesse für die europäische Theater- und Bühnenreform der Moderne wird, 20 im Kabuki Kontext? Das große japanische Theatergeschichtsnarrativ setzt den Entstehungsmoment des Kabuki an den Anfang des 17. Jahrhunderts. Ich zitiere Toshio Kawatake: The origin of Kabuki, it is popularly believed, was the Buddhist prayer dance known as nembutsu odori [i. O.], which a woman calling herself Izumo no Okuni performed in Kyoto in 1603. These performances took place out of doors in the precinct of the Kitano Shrine and along the riverbed at Shij ō on crude and temporary stages that were imitations of the N ō stage that preceded them. 21 10 Nicole Haitzinger In der gegenwärtigen japanischen Historiographie des Kabuki werden wiederholt folgende Aspekte betont: Erstens der Ursprungsmythos des Auftritts einer ‚ Tänzerin ‘ , zweitens die Nähe zum Kitano, einem Shint ō -Schrein und seinen kultischen Implikationen, drittens die Errichtung einer temporären Freilichtbühne, die die Bühnenarchitektur des streng der Funktion und Ästhetik der Aufführungen des japanischen Kriegsadels gehorchenden N ō als Matrix heranzieht und für einen städtischen Kontext (und ein breiteres Publikum) hochgradig assimiliert. Kawatake übersetzt aus Kabuki no sôshi aus der frühen Tokugawa Periode: ‚ a woman masqueraded as a man, and a man masqueraded as a woman [H. d. A.], dressing up as the madam of a teahouse and averting ‘ her ’ eyes with a bashful look ’ ; [ … ] flirting [ … ]; ‘ then, the more ‘ he ’ encouraged the madam of the teahouse to dance, the more winsome ‘ she ’ became; when the slow and graceful way she danced met their eyes, people would stare, and, especially among rich and poor, if ‘ he ’ encouraged a woman who seemed interested and made her dance, people ’ s feelings would be caught up; even monks and priests would be drawn in, and, forgetting their own shame or the eyes of others, they would dance excitedly in the theatre [H. d. A.]. ‘ 22 Obgleich die historische Existenz einer Tänzerin mit dem Namen Izumo no Okuni umstritten ist, 23 bildet sich hier ein Narrativ heraus, dessen Resonanzen für die Rezeption des japanischen Theaters für den Reinhardt ’ schen künstlerischen und intellektuellen Zirkel entscheidend zu sein scheinen: erstens die Tänzerin als Reformfigur der szenischen Künste, zweitens die erotische grundierte Maskerade/ Verwandlung, drittens der Erscheinungsauftritt (eines Geistes) und viertens schließlich die gemeinschaftsstiftende Funktion, die eine Teilnahme des Publikums am tänzerischen Ereignis vorsieht. Die ersten zwei Aspekte werde ich bei der Mie-Pose noch einmal aufgreifen. Für den dritten und vierten Aspekt, in denen der Raum quasi als Ko-Autor der Inszenierung zu verstehen ist, gibt Kawatake noch weitere Hinweise. Die Stätte des Tanzes, im Japanischen Shiba-I und bei ihm mit ‚ Theater ‘ übersetzt, besteht aus zwei Zeichen, nämlich 芝居 „ Gras “ [gepflegte Grünfläche] und 居 „ anwesend sein “ [verweilend, um dem Tanz zuzusehen]. 24 Ließe sich das vielleicht im Sinne einer verborgenen Resonanz in der europäischen Reform der Theater- und Bühnenarchitekturen dechiffrieren? Handelt es sich um eine den Sujets entsprechende Suche von Max Reinhardt nach theatralen Schauplätzen, die eine gemeinschaftsstiftende Anwesenheit ermöglicht? Die Wahl des Hanamichi für die Inszenierung von Sumurûn scheint eine logische Konsequenz zu sein, denn dieser bildete sich aus dem im N ō situierten Hashigakari - eine überdachte Passage, die den Außenraum, d. h. die Grünfläche, mit der im Innenraum befindenden Bühnenplattform verbindet - heraus. 50 Jahre nach dem ersten Auftritt von Okuni etablierte sich der Hanamichi dann im Kabuki. 25 Er diente zunächst als temporärer Verbindungssteg zur Bühne für Auf- und Abtritte, auf den Geschenke wie Blumen (Hana) für die seit 1629 ausschließlich männlichen Akteure 26 gelegt wurden. Mit der Dramatisierung des Kabuki im späteren 17. Jahrhundert wird der Hanamichi zum bühnenarchitektonischen Mittel funktionalisiert. Dies ermöglicht eine spezifisch inszenatorisch überlegte Interaktion zwischen den Akteuren und dem Publikum, d. h. eine räumliche Nähe zwischen beiden Parteien wird herstellt und zugleich eine Distanz aufrechterhalten, die über die Erhöhung des Hanamichi über den Köpfen des Publikums markiert ist. Der Hanamichi ermöglicht, ausgestattet mit Vorhängen an den Auftritten sowie 11 Hanamichi und Mie-Pose eingebauten Falltüren, 27 Erscheinungsauftritte von Figuren, die - im Theater generell und aus europäisch-rezeptionsgeschichtlicher Perspektive im artifiziellen Kabuki speziell - in einem ‚ Theater der menschlichen Existenz ‘ nicht ausschließlich als ‚ Menschen ‘ verstanden werden können. 28 Jede Figur, die im Theater auftritt, ist eine komplexe Entität und dies wird durch spezifische Bühnenarchitekturen mehr oder weniger akzentuiert. Das im Wortlaut der Zeit mit ‚ Blumenweg ‘ übersetzte Versatzstück aus dem japanischen Kabuki eignete sich nicht nur, um „ Mordszenen nach japanischer Art “ (Oskar Bie) darzustellen 29 - obgleich uns dies einen wichtigen Hinweis auf das versteckte Narrativ des japanischen Kabuki mit zahlreichen Grausamkeiten und Bühnentoden und deren Rezeption gibt. Es markiert darüber hinaus eine (theater-)revolutionäre Intervention in die räumliche und ästhetische (An-)Ordnung des Guckkastentheaters. Max Reinhardts erste Referenz für die stabile Ordnung des Guckkastentheaters sind sicherlich die nur zwei Dekaden zuvor am Ring der Gründerzeit in neue Architekturen transferierten Wiener Hoftheater; hier vor allem das Burgtheater, wenn wir uns an die Erfindung der vierten Galerie als seine zweite ‚ Geburtsstätte ‘ erinnern. In Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (1930), zweifelsohne ein literarisches Schlüsselwerk zum Verständnis der Wiener Moderne, wird ungemein treffsicher von der Romanfigur Ulrich von ‚ Theaterschatullen ‘ gesprochen: „ Es muß in den achtziger oder neunziger Jahren einen Baumeister gegeben haben, der in den meisten größeren Städten solche Theaterschatullen hinsetzte, die um und um mit Zierformen und Statuenzierrat beschlagen waren. “ 30 In einer anderen Szene des Romans wählt Musil die Metapher des „ unmöblierten Theaters “ für das formlos gewordene moderne Leben, über das Ulrich nachdenkt. 31 Der Theatermagier Max Reinhardt sieht zwischen ‚ Theaterschatullen ‘ und einem ‚ unmöblierten Theater ‘ keinen Widerspruch, ganz im Gegenteil. Der in ein europäisches Theaterdispositiv transferierte japanische Hanamichi kann in der Inszenierung von Sumurûn als ein Verbindungssteg zweier Theatermodelle interpretiert werden, der wiederholte Perspektivwechsel des Publikums - nach vorne gerichteter Blick und wiederholte Wendung des Blicks bei Auftritten und Abtritten von Akteuren - forciert und ein Blickregime konstituiert, das andere ästhetische Erfahrungen ermöglicht: Nicht alles kann gleichzeitig monosensorisch gesehen werden (Aktionen auf der Bühne vorne und Auftritte auf dem Hanamichi) und dennoch ist alles gleichzeitig präsent. Die letzte Szene aus dem Sumurûn-Film aus dem Jahr 1920 zeigt, wie die Reinhardt ’ sche Regieidee des Hanamichi in grandioser Geste von Ernst Lubitsch in den Stummfilm transferiert wird. 32 Im Textbuch zur Inszenierung endet Sumurûn mit: „ Der Aufseher des Bazars kommt, findet aber nur die Toten. Er, Nur al Din und die Frauen beschreiten den Blumenweg, den Weg der Befreiung. “ 33 Die perspektivische Ordnung des Hanamichi rhythmisiert strömende Figurationen und Figuren, in denen Akteur, typisierte Rolle und Epiphanien schließlich gleichzeitig präsent sind. Die Mie-Pose ist, so meine These, eine zweite Resonanz aus dem Kabuki, die im frühen Reinhardt ’ schen Oeuvre als Mittel zur Reform der Schauspieltechniken im Theater der Moderne verstanden werden kann. Mie kann laut Kawatake definiert werden mit: „ A mie [H. i. O.] is an acting technique in which an actor strikes a pose at important points in an action and holds it for several seconds. “ 34 Außerdem akzentuiert er in seiner Analyse die kurvenförmige und fluide Grazie der Kabuki Mie „ [ … ] in which the moving body traces a smooth, continuous line that ends at the precise moment that movement reaches its climax, [ … ] a distinctively Japa- 12 Nicole Haitzinger nese aesthetic [ … ] “ 35 Man unterscheidet zwischen verschiedenen Mie-Posen. 36 Bei der Nirami-Pose handelt es sich im eigentlichen Sinn um eine dreigeteilte Bewegungsphrase: Zuerst werden die Beine weit auseinandergestellt, der Körper des Akteurs ist frontal nach vorne, in manchen Fällen profil ausgerichtet. Damit wird die höchste Sichtbarkeit der typisierten Pose für das Publikum garantiert. Danach schüttelt der Kabuki- Spieler mehrere Male den Kopf, genannt ‚ senkai ‘ , um die Aufmerksamkeit auf sein Gesicht zu lenken. 37 Er bewegt die Augen expressiv hin und her und im Anschluss friert er die Pose ein. Max Reinhardt entlehnt die Mie-Pose hauptsächlich zur Reformierung der kodifizierten und stereotypisierten europäischen Bühnentheaterposen und -gesten, d. h. dass sie bewegungs- und gestentechnisch im Kontext einer europäischen Rezeptionsästhetik zwar stark transformiert wird und es sich keinesfalls um eine exakte Rekonstruktion der Mie-Pose handelt, dennoch aber in der Modellierung von Körperlichkeit und in der energetischen Regulierung wesentliche ‚ Partikel ‘ der japanischen Mie-Pose erkennbar bleiben und das Bewegungsmotiv ‚ japanisch ‘ im europäischen Kontext aufruft, wenngleich es sich nicht um eine exakte Rekonstruktion der Kabuki-Pose handelt. Im Textbuch wird Sumurûn als „ Eine Pantomime in neun Bildern “ 38 bezeichnet. Obgleich im Zuge der Antikenkonstruktionen und -rezeptionen die antike römische Pantomime in vielerlei neuzeitlich transformierter Gestalt auf den europäischen Bühnen aufgetreten ist, hat sie eine Hochzeit sicherlich im Kontext der Wiener Hoftheater im 18. Jahrhundert erlebt (u. a. in Zeiten der Engagements von Jean Georges Noverre und Gasparo Angolini), verwehrt sich der künstlerische Kreis um Reinhardt der Idee der Vergegenwärtigung der alten Pantomime. Laut Freksa sollen gerade nicht „ durch stereotype Gebärden Worte ersetzt [werden], so daß man sich wundert, warum die Leute nicht lieber gleich sprechen “ , dafür sollen Szenen konstruiert werden, „ in denen das Wort an sich entbehrlich sei. “ 39 Die schauspieltechnische Modellierung von Körperlichkeit basiert in Reinhardts Sumurûn - bewegungsanalytisch perspektiviert - auf der Adaptierung von tänzerischen Gesten und Posen aus zwei unterscheidbaren Referenzkulturen: erstens der künstlerischen Strömung des mitteleuropäischen Ausdruckstanzes, eine Ausformung des Tanzes der Moderne, die eine von Innen ausströmende Expressivität akzentuiert; nicht zufällig wird die typisierte Figur der Tänzerin im Reinhardt ’ schen Sumurûn von der Wienerin Grete Wiesenthal verkörpert, die mit ihrer schwunghaften Interpretation den Walzer aus der reglementierten soziokulturellen Ballordnung und aus dem Hoftheaterkontext löste und mit ihren tänzerischen Aufführungen bei den Wiener Sezessionisten und später europaweit für Furore sorgte. Arthur Kahane, 1872 in Wien geboren, jüdischer Herkunft, im Kontext der Theaterkultur der Habsburgermonarchie sozialisiert, später enger Mitarbeiter von Max Reinhardt und Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus in Berlin (1905 - 1932), liefert in seinem Tagebuch des Dramaturgen Zeugnis, wie groß der Einfluss der Grete Wiesenthal auf Max Reinhardt und die Wiener Moderne war: Aber man kann ja auch nichts anderes sagen als: wir erlebten ein Wunder, sie war eine Elfe, wenn sie tanzte, tanzte ihre Seele, und es ging ein unendlicher Zauber von ihr aus, der uns nie mehr losließ. [ … ] Kann sein, daß es die eingeborene Weltanschauung des Wieners ist: es gibt nur einen Tanz, und das ist der Walzer. Das Dionysische geschieht für den Wiener im Dreivierteltakt. [H. d. A.] [ … ] Aber im Grunde war alles, was sie [die Schwestern Wiesenthal] tanzten, Walzer und Wien. Wo gibt es noch eine Stadt, deren Seele so singt und tanzt! Wo gibt es noch eine Stadt, die so 13 Hanamichi und Mie-Pose wünschen, so träumen, so küssen und so schweben kann. 40 Zweitens werden bei Reinhardt Anleihen bei dem, seit dem 18. Jahrhundert streng kodifizierten japanischen Kabuki-Theaters genommen, eine - unter den Vorzeichen einer europäischen Ordnung der Künste/ Sparten - genreelastische szenische Form, basierend auf den drei Säulen Musik, Tanz und Virtuosität. In der Figur des Gauklers zeigt sich meiner These nach die Kabuki-Referenz, spezifischer die assimilierende Aneignung des kumadori Make-Ups 41 und der Mie-Pose. Im Sumurûn-Film aus dem Jahr 1920 wird die Figur des Gauklers von Ernst Lubitsch gespielt. Allerdings verkörpert nicht Grete Wiesenthal die Tänzerin, sondern die, den Eros ihrer Figur performativer akzentuierende Pola Negri. Der Film kann als kleine Hommage von Lubitsch an Max Reinhardt verstanden werden, der sein Mentor gewesen ist. In Lubitschs Auslegung der Rolle des Gauklers ist die Reinhardt ’ sche Idee der Mie-Pose sedimentiert. 42 Keineswegs gehorchen die Lubitsch-Posen den Bühnenkonventionen des Kabuki. Vielmehr handelt es sich um eine aus Japan entlehnte Bewegungsformel, die mit expressionistischem Gestus aufgeladen wird. Für Reinhardt und sein künstlerisches Ensemble stellt das Nebeneinander von zwei sich auf den ersten Blick beinahe um das Ganze unterscheidenden Modellen - erstens ein, aus europäischer und rezeptionsästhetischer Perspektive formalisiertes, japanisches Theater und zweitens die expressive europäische Bühnenkunst der Moderne - keinen Widerspruch dar. Beide verbindet die Vorstellung von einem Theater, das die gestische Modellierung von Körperlichkeit und den Fokus auf die Konstellation von Figuren im Raum privilegiert, sei es mit oder ohne gesprochenem oder gesungenem Text. Hugo von Hofmannsthal grenzt sich übrigens nach der ästhetischen Erfahrung von Sumurûn von der ihm zu wenig ‚ reinen ‘ Pantomime Reinhardts in einem Brief vom 5. Juli an Grete Wiesenthal ab: Indem ich mir die Kunstform „ Pantomime “ ausgehend von Reinhardts „ gemischter “ Form klar zu machen suchte, ist mir auch klar geworden, welche großen reichen Möglichkeiten hier für Sie da sind … Es handelt sich um eine Folge reiner Stellungen und Geberden. Die Geberden, die das Schauspielerische begleiten, sind alle unrein, weil vermischt; sie gehen ineinander über; auch ihrer Natur nach sind sie unrein, zum geringen Teil wahrhaft ausgebildete mimische Geberden, zum großen Teil bloße conventionelle Zeichen, wie die Buchstaben, die ja aus wahrhaften Bildern, den Hieroglyphen entstanden sind. 43 Hofmannsthal erfasst hier das Reinhardt ’ sche Konzept einer modernen Pantomime als ein ‚ vermischtes ‘ Genre, in der Wiesenthals expressionistischer tänzerischer Ausdruck mit der assimilierten Mie- Pose koexistiert. Genau diese ‚ Vermischtheit ‘ mit ihren strukturellen und ästhetischen Implikationen scheint mir wesentlich für das Verständnis von Reinhardts Vision eines modernen Theaters zu sein. Wie im Titel angekündigt, verstehe ich den Hanamichi und die Mie-Pose als modern imprägnierte Versatzstücke in Max Reinhardts frühen Bühnenmodellen und Inszenierungskonzepten, die - verflochten mit seinem Bezug auf das Modell einer barocken Festkultur und eines genreelastischen barocken Welttheaters überhaupt - maßgeblich zu einer vielsinnigen und multiperspektivisch angelegten theatralen Erfahrung im Zuge der großen Theaterreform um 1900 beigetragen haben. Max Reinhardt entlehnte in rezeptionsästhetischer Geste in seinem frühen Œ euvre nicht zufällig den Hanamichi und die Mie-Pose aus dem Kabuki: der für das europäische Theater adaptierte ‚ Blumensteg ‘ sprengt die sogenannte vierte Wand der Guckkastenbüh- 14 Nicole Haitzinger ne, (bewegungsanalytisch nachweisbare) Resonanzen der Mie-Pose erweitern außerdem den Bewegungsspielraum im Schauspiel und ermöglichen eine ungewohnte, intensivierte und facettenreiche szenische Präsenz. Durch die Verflechtung von japanischen und wienerischen Fäden mit vielzähligen anderen, hier nur angedeuteten, zaubert der Theatermagier Max Reinhardt in Sumurûn eine Inszenierung, die in der Habsburger Theaterkultur, ausstrahlend von Residenzstadt Wien, genauso historisierbar ist, wie sie zugleich im Kontext einer transnationalen, metropolitanen und avantgardistischen Bühnenreform verstanden werden kann. Anmerkungen 1 Vgl. Carl E. Schorske, Mit Geschichte denken. Übergänge in die Moderne, aus dem Amerikanischen übersetzt von Georgia Illetschko und Erik M. Vogt, Wien 2004, S. 22. 2 Weitere Literaturhinweise zur Theaterkultur in Wien um 1900 siehe: Christian Brandstätter (Hg.), Wien 1900: Kunst und Kultur: Fokus der europäischen Moderne, München 2006; Paul S. Ulrich, Wiener Theater (1752 - 1918), Wien 2018; Peter Payer, Großstadtbilder: Reportagen und Feuilletons - Wien um 1900, Wien 2012; Michael John, Albert Lichtbau, Schmelztiegel Wien - einst und jetzt, Wien 1990. 3 Schorske, Mit Geschichte denken, S. 129. Schorske gibt dem siebten Kapitel seines Buches den schönen und bezeichnenden Titel: „ Museum im umkämpften Raum: Das Schwert, das Zepter und der Ring. “ Das Schwert bezieht sich auf die Macht des Militärs, das Zepter auf die Monarchie und der Ring auf die Ringstrasse als in Architektur manifestierte frühe Moderne. 4 Vgl. Schorske, Mit Geschichte denken, S. 135. 5 Vgl. hierzu Marion Linhardt, Residenzstadt und Metropole. Zu einer kulturellen Topographie der Wiener Unterhaltungstheater (1858 - 1918), Tübingen 2006 und Nic Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869 - 1899), Bielefeld 2007. 6 Birgit Peter, „ Elitär populär. Diversität von Theaterformen im Wien um 1900 “ , in: Elisabeth Röhrlich (Hg.), Migration und Innovation. Perspektiven auf das Wien der Jahrhundertwende, Wien 2016, S. 281. 7 Vgl. zur Chiffre: Peter Plener, „ Zur Konstruktion von Erinnerung in der k. u. k. Monarchie “ , in: Wolfgang Müller-Funk/ Peter Plener/ Clemens Ruthner (Hg.), Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tübingen 2002, S. 81 - 92, hier S. 91. 8 Zur frühen Biographie Reinhardts vgl. Edda Fuhrich, Ulrike Dembski, Angela Eder, Ambivalenzen. Max Reinhardt und Österreich, Wien 2004, insbesondere S. 11. 9 Vgl. zu dieser Zeit beispielsweise die exzellente Studie: Peter Marx, Max Reinhardt: Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur, Tübingen 2006. Zu seinen Regiekonzepten vgl. insbesondere Jens Roselt, „ Der Regisseur als Autor der Inszenierung - Max Reinhardt “ , in: Ders. (Hg.), Regie im Theater: Geschichte - Theorie - Praxis, Berlin 2015, S. 197 - 205. 10 Max Reinhardt: „ Autobiographische Notizen “ [um 1940]. State University of New York at Binghamton, Max Reinhardt-Archive, R 5585 (O). Zit. nach Fuhrich, Ambivalenzen, S. 13. 11 Arthur Kahane, Tagebuch des Dramaturgen, Berlin 1928, S. 83. 12 Vgl. Michael Pollak, Wien 1900. Eine verletzte Identität, Konstanz 1997, S. 12; 1857 repräsentierten die Juden circa 2 % der Wiener Bevölkerung, 1880 ungefähr 10 %. Jahrmärker plädiert für einen alternativen Blick auf die „ jüdische Moderne “ ohne rassische Argumentation, die die städtische Sondersituation von Wien berücksichtigt. Wegen der strukturellen Probleme einer zu schnell gewachsenen Millionenstadt bringt die scheiternde Integration des Zustroms der aus dem Osten geflüchteten teils mittellosen, teils streng orthodoxen Juden in ein Dilemma, das in den 1880er Jahren in eine Welle von politischem und soziokulturellem Antisemitismus mündet. Vgl. ebd. S. 144. 15 Hanamichi und Mie-Pose 13 Pollak, Wien 1900, S. 19. 14 Ebd., S. 26. 15 Es sind in den letzten drei Dekaden einige richtungsweisende Artikel zu Max Reinhardts Rezeption des japanischen Kabuki veröffentlicht worden. Im Kontext der inszenierungsanalytischen Analyse seien hier erstens Erika Fischer-Lichte mit ihrem Fokus auf die Adaptierung von ‚ fremden ‘ Versatzstücken zur Überwindung der vierten Wand von der historischen Theateravantgarde genannt: Vgl. Erika Fischer-Lichte, „ Einleitung “ , in: Dies. (Hg.), Das eigene und das fremde Theater, Marburg 1999. insbesondere S. 7 f.; Erika Fischer-Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Marburg 1997. Hier insbesondere das Kapitel „ Inszenierung von Wahrnehmung. Vom fokussierenden zum schweifenden Blick in Reinhardts Theater am Beispiel von Sumurun (1910) “ , S. 41 - 56.; Erika Fischer-Lichte, „ Inszenierung des Fremden. Zur (De-)Konstruktion semiotischer Systeme “ , in: TheaterAvantgarde. Wahrnehmung - Körper - Sprache. Tübingen u. a. 1995, S. 156 - 241. Erika Fischer- Lichte: Interweaving Cultures in Performance: Different States of Being In-Between, Cambridge 2009. Zweitens ist die Studie von Toshio Kawatake mit seiner Akzentuierung des Barocken im Kabuki von großer Relevanz. Vgl. Toshio Kawatake, Kabuki. Baroque Fusion of the Arts, Tokio 2003. Max Reinhardts Japanaffinität in ihrer spezifischen Situiertheit in der Wiener Theaterkultur um 1900 ist jedoch noch recht wenig beleuchtet worden. 16 Leider ist dieser Film verschollen. Allerdings gibt es eine Rekonstruktion des Films, mit der hier gearbeitet wird. Siehe: Sumurûn (Deutschland 1920, R: Ernst Lubitsch). https: / / www.youtube.com/ watch? v=AHqnsl q6GF8 [Zugriff am 02.02.2022]. 17 Thomas Mann, Der Zauberberg, hg. Michael Neumann, Frankfurt a. M. 2002, S. 480. 18 Emil Orlik, „ Japanisches Theater und Sada Yacco “ , in: Prager Tagblatt 26 (15.02.1902), S. 1 - 2. 19 „ Unsere ‚ Neue ‘ Erfindung, die Drehbühne, ist da drüben über 100 Jahre alt und macht es möglich, die ganze Scene plastisch aufzubauen. Mitten durch den Zuschauerraum führen zwei erhöhte Stege, hanamichi (Blumenwege) genannt. Auf diesen Ausläufern der Bühne, die sie um zwei Dimensionen erweitern, spielen die Schauspieler im Kommen und Abgehen. “ Emil Orlik, „ Japanisches Theater und Sada Yacco “ , in: Prager Tagblatt 26 (15.02.1902), S. 1 - 2. 20 Um die Jahrhundertwende wurden im französisch- und deutschsprachigen Raum eine Reihe von Beschreibungen des sogenannten Blumenweges (wie beispielsweise sehr früh von Alfred Lequeux in seinem Aufsatz „ Le théâtre au Japon “ (1888) oder später um die Jahrhundertwende von Adolf Fischer in Japans Bühnenkunst und ihre Entwicklung in Westermanns Illustrierten deutschen Monatsheften, 1900/ 1901 publiziert). Ich möchte hier zwei Aspekte nennen, die eine europatypische Rezeption des japanischen Kabuki-Theaters im Fin de Siècle bestimmen: erstens das ästhetisch wahrgenommene andere Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Akteur*innen und Publikum im japanischen Kabuki im Vergleich mit der Guckkastenbühne, das durch den Hanamichi akzentuiert wird; zweitens die durch die räumliche Anordnung gegebene Möglichkeit der Gleichzeitigkeit von Szenen. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Das eigene und das fremde Theater, Tübingen 1999. 21 Kawatake, Kabuki, S. 50. 22 Zit. nach ebd. S. 51 und 53. 23 Vgl. Ivan R. V. Rumánek, „ Analysis of Okuni S ō shi as Sources of the Earliest Kabuki “ , in: The SOAS Journal of Postgraduate Research 8 (2015), S. 15 - 35. 24 Vgl. Kawatake, Kabuki, S. 53. 25 Vgl. Adolphe Clarence Scott, The Kabuki Theatre of Japan, London 1955, S. 49. 26 Onna Kabuki wird verboten wegen Korrumpierung der Moral, es folgt die Phase des wakashu Kabuki (schöne junge Männer), bis dieser wegen seiner homoerotischen Wirkungsmacht ebenfalls verboten wird. Schließlich 1653: Kabuki nur unter zwei Bedingungen erlaubt: Erstens Akteure müssen ihre Stirnlocken abschneiden, zweitens Aufführungen sollten „ monomane kyogen 16 Nicole Haitzinger zukushi “ sein, sprich auf Imitation basierende Stücke, keine erotisch aufgeladenen Tänze. Vgl. Kawatake, Kabuki, S. 54. 27 Vgl. Aubrey S. Halford/ Giovanna M. Halford (Hg.), The Kabuki Handbook, Tokio 1956, S. 417. 28 Ich möchte an dieser Stelle das dichotom konstruierte Modell von Kawatake aus rezeptionsgeschichtlich-europäischem Blick ausdifferenzieren. Im definitorischen Vergleich von N ō und Kabuki wird von Kawatake die menschliche Gebundenheit des Kabuki behauptet: „ The one essential difference is that while N ō is oriented heavenward, Kabuki is earthbound, or, put another way, N ō is a theatre of gods and spirits whereas Kabuki is a theatre of human beings. “ Kawatake, Kabuki, S. 51.Übernatürliche Figuren oder Kräfte, das Kumadori Make-Up, die Erhöhung des Hanamichi über den Köpfen des Publikums, Erscheinungsauftritte und die Mie-Pose zeugen von einer hoch artifiziellen Konzeption des Kabuki, sicherlich weniger ausgeprägt als im N ō . Siehe außerdem Peter Arnott, Theatres of Japan, London 1969, S. 15 - 156: „ Kabuki acting, at first acquaintance, seems as eclectic as its settings and to change its style not merely from play to play, but from moment to moment. It is, in fact made up of patterned movement and based on rigidly preserved traditional choreography. The actor receives extensive training in movement and gesture, which he then applies, guided by the interpretations of the past, to the role he is playing. [ … ] In consequence the actor is an imitator rather than an innovator. Improvisation is not easy, nor does the complexity of movement lend itself to experiment of free interpretation. Actors perpetuate their predecessors ’ styles with their names: in their way gestures of kabuki have become as stereotyped as No [theatre] and the actors try to follow the form established as most suitable to each occasion. “ ) 29 Oskar Bie, „ Sumurun “ , in: Die neue Rundschau 21 (1910) 11, S. 874. 30 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 672. 31 Ebd. S. 490. 32 Sumurûn (Deutschland 1920, R: Ernst Lubitsch), https: / / www.youtube.com/ watch? v=AHqnslq6GF8 [Zugriff am 02.02.2022]. 33 Friedrich Freska, Sumurûn, Berlin 1910, S. 24. 34 Kawatake, Kabuki, S. 113. 35 Ebd. S. 114. 36 Neben der nirami-Pose ist die emen no mie- Pose in vielen Stücken vertreten. Diese wird zumeist am Ende eines Aktes von allen Schauspielern gelichzeitig durchgeführt, was einen Tableau-artigen Effekt erzeugt. Außerdem gibt es hippari no mie, welche bei Bühnenauftritten zum Einsatz kommt - charakteristisch dafür ist das Einfrieren jeglicher Bewegung - und genroku mie, das sich aber ausschließlich in Stücken der Ichikawa Familien Kollektion etabliert hat. 37 Scott, The Kabuki Theatre of Japan, S. 104. 38 Victor Hollaender, Friedrich Freksa, Kleine Ausgabe zu Sumurûn: eine Pantomime in neun Bildern, Berlin 1910. 39 Friedrich Freksa, Hinter der Rampe. Theaterglossen, München 1913, S. 114. Vgl. auch Fischer-Lichte, „ Inszenierung von Wahrnehmung “ , S. 46. 40 Kahane, Tagebuch des Dramaturgen, S. 155 - 157. 41 Weiße Gesichtsbemalung, auf die entlang der Knochenstruktur des Gesichts farbige Linien aufgetragen und leicht verwischt werden: die Farbwahl, die Zahl der Linien, deren Stärke und Form visualisieren den Typus der Figur. Vgl. KAWATAKE, Kabuki, S. 109. 42 Sumurûn (Deutschland 1920, R: Lubitsch), [Minute 52: 15 - 53: 42]. 43 Zitiert nach Leonhard M. Fiedler, „‚ nicht Wort, - aber mehr als Wort …‘ . Zwischen Sprache und Tanz - Grete Wiesenthal und Hugo von Hofmannsthal “ , in: Gabriele Brandstetter/ Gundhild Oberzaucher-Schüller (Hg.), Mundart der Wiener Moderne, München 2009, S. 127 - 150, hier S. 142 f. 17 Hanamichi und Mie-Pose Don ’ t Move! Choreography as a Means of Arranging Protest in Times of Curfew Susanne Foellmer (Coventry) This article investigates protesting when there are restrictions on public assembly. In spring 2020, social movements (partly unwittingly) used choreographic means in order to deal with the prohibition of public gatherings, imposed by the Covid-19 pandemic. Examples in Tel Aviv (Black Flag protest, 19 April) and the campaign Empty Chairs in Germany (24 April) have one prominent characteristic in common: The lack of expansive spatial movement. The article delineates the ways in which these protests aimed to make their voices heard: Choreographic arrangements of physically distanced bodies were assigned on site to produce highly affective images for social media, thus shifting the focus of the protests ’ visibility into the online public sphere. In addition, the different situations of vulnerable bodies calling to action are of interest: Given the pandemic times, the concept of protection takes precedence. The interweaving of dance and protest is a common phenomenon in recent social movements such as in the regular flash mob One Billion Rising that happens annually on Valentine ’ s Day. 1 Activists and participants in this event are advocating for the end of violence against women worldwide, doing so by usually dancing to a choreography that is available on YouTube beforehand, and that can be learned and then performed in specified public places on 14 February at an agreed time. Videos and photos of these dance-protests are then circulated on the internet on various channels or on the organizers ’ website. Despite the increasing relevance of various social media platforms in the communication of public dissent, bodies gathering in the public sphere are still crucial in the struggle for social and political justice. But what happens if the physical public sphere is not available, as in the Covid-19 pandemic, which significantly limited public assembly in many countries all over the globe during the first lockdowns in spring 2020? 2 How does protest change, and how can choreography, in particular, support the ongoing need to make one ’ s voice heard? In this article, I investigate recent developments in protesting triggered by restrictions on public movement. Here, I argue, especially choreographic means are (often unwittingly) used to deal with the prohibition on ‘ corporeal crowds ’ gathering outside. By way of visual (pictorial) examples, I analyse a protest in Tel Aviv that used strict physical distancing in order to bypass the ban on assembly, and the protests of locked down restaurant owners in Germany, which omitted the appearance of human bodies entirely by placing empty chairs and tables on central squares, thus arranging “ choreographic objects ” 3 in a silent protest. Both events have a prominent characteristic in common: a lack of widespread, dynamic spatial movement of bodies conventionally gathering or marching in close proximity. Hence, in both examples there is the predicament of how to deal with (physical) social movement in the public sphere while also complying with exceptional health and safety regulations. Taking a closer look at these two protest situations, I will delineate how choreography is used as a tool to create a protest, especially when social movements face public and physical constraints. At the Forum Modernes Theater, 34/ 1, 18 - 31. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0003 same time, choreography serves as an analytical lens to detect and describe the reconfigured modes of protesting in recent social movements. Choreography ’ s Relation to Social Movement The interrelation of dance, choreography and social or political contexts has been acknowledged in academia recently. The late dancer and Professor in Art and Policy Randy Martin provided a theoretical foundation for the intertwinement of dance and politics, placing movement and mobilization at the centre of his thoughts. 4 This connection between dance and politics is mainly two-fold: Firstly, it is generated by the observation that political action is always already in motion, “ [i]t doesn ’ t await ignition ” . 5 Predominantly, these are bodies in motion, and here dance can emphasize how these bodies are organized, and how mobilization and thus political activity comes into effect. 6 Secondly, dance and politics are both related to “ forces ” that play a significant role in the making of society. 7 Here, dance can give a clearer idea about how these forces come about in situations of political dispute: “ [D]ance displays, in the very ways that bodies are placed in motion, traces of the forces of contestation that can be found in society at large. ” 8 The modes of empowerment of the connection between dance and politics in social movements is described by political theorist Dana Mills. Based upon the idea that dance is a means of communication, that is, “ an embodied language ” 9 , she argues that dance can hence provide opportunities for expressing political concerns 10 . According to Mills, campaigns such as One Billion Rising can empower protesters by both reclaiming public space and promoting respectful treatment of women. 11 More generally, literary scholar Andrew Hewitt posits choreography as an aesthetic model for the (re-)articulation of social orders. Social dances, for instance, can serve as both an aesthetic model and the “ enactment ” of social behaviour. 12 Hewitt is keen to highlight that choreography, here, “ is not only a secondary representation but also a primary performance of that order ” 13 , that is: Dances not only suggest a certain desired order yet to come, but also engender the very modes of socially being together. On that basis, Hewitt frames choreography as an “ aesthetic practice ” in the “ working out [ … ] of [ … ] social relations ” , 14 by mainly looking at examples in early 20th century dance history (such as Isadora Duncan). Dance scholar Susan Leigh Foster, however, concentrates on the concept of bodies in motion in situations of upheaval since the 1960 s. She further expands on social choreography by emphasizing choreography as a mode of embodied training in situations of protest. According to her, choreography can serve as a way of preparing activists by applying particular corporeal techniques in order to build up perseverance, for instance, for the die-ins within the scope of the ACT UP movement on Wall Street in 1987. 15 Putting the focus on the body, Foster emphasizes the “ central role that physicality plays in constructing both individual agency and sociality ” . 16 In addition to the activists gaining physical stamina, choreographing protests can also entail the planning of an action: Foster investigates the Greensboro sit-in in the context of the Civil Rights movement in the USA, where Black college students went to Woolworth and took seats at the “ white-only lunch counter ” (1960). 17 In this case, choreography almost serves as a script to meticulously assign the action in accordance with the principles of “ nonviolent, direct action ” , and to avoid violence against the activists. 18 Dance scholar Olive Mckeon adds to this perspective with an 19 Don ’ t Move! Choreography as a Means of Arranging Protest in Times of Curfew emphasis on unruly bodies when applying choreography as an analytical tool to investigate examples of direct action: She emphasizes the material aspect of bodies acting in situations of political upheaval, arguing that actions such as blockades cannot be explained by referring to discursive frameworks only. 19 These conceptual positions already give an idea of the manifold potential of choreography in particular: It can act as a creative, tactical agent as well as an ordering, at times strategical, societal force. Especially with regards to the latter strand, it is worth looking at what the concept of choreography entails. As I will show later by way of the two examples mentioned above, choreography in social movements firstly serves, in its ‘ conventional ’ , artistic, sense, as a spatial script or a score used to shape and prepare an action in which moving bodies are usually involved. The application of such methods can then also provide the possibility of employing choreography as an analytical tool to decode protests ’ mobile (or, in these cases, mostly immobile) structures. Secondly, and on a more general level, choreography entails the regulation of movement, that is, its assignments and arrangements, 20 for instance, when trying to facilitate a protest while complying with strict physical distancing measures. Here, the characteristics of choreography as an ordering force, as “ governance ” play a significant role. Sociologist Rudi Laermans points out choreography ’ s intrinsic governmentality, that is, its power dynamics. He introduces choreography as a “ forcefield [ … ] of actions and interactions ” 21 and equates it with the Foucauldian idea of power, that is, its dynamic structures and regulations. According to Laermans, these actions and interactions can take place between single human beings or collectives, and their respective environments. 22 Such a take on choreography expands the conventional concept of the single author-artist, the choreographer, who usually assigns preconfigured steps to dancers. I argue that this shift places choreography in a field of power relations which then can also appear outside of the dancerly realm, in moments of arranging and configuring masses of people in motion such as in a protest. Both dance and protest deal with movement in a certain, often pre-arranged, time and space. In protests, movements usually start with a structure such as following a certain preconceived route, via streets or places, sometimes creating specific marching patterns. At times, they mobilize vast numbers of people who amass physically in the public sphere, gathering for a rally, occasionally blocking vital traffic routes, or getting off track. However, the pandemic caused by the novel coronavirus put a halt to such activities, at least in the first few months of 2020. 23 With restrictions on physical movement in place, protesters had to become inventive in finding new ways to get their message across - when still holding on to the ambition to voice their concerns on the streets. Thinking of choreography as a mode of governing, of ordering and regulating movements, choreography then can be used as a tool to re-set and reenable protests under these new circumstances, as I will demonstrate with the two examples in the next section - even if the protesters would not necessarily refer to their practice as choreographic. However, such restrictions on public physical movement are not a novel phenomenon. In fact, protesters often had to cope with limitations on public movement in the past. A prominent example is the action of the so-called Standing Man (Duran Adam) within the scope of the Gezi Park protests in Istanbul in 2013. 24 Protesting in Istanbul became almost impossible after the police raided the camp of activists erected in Gezi Park, followed by a ban on public assembly. The single action of performer Erdem Gün- 20 Susanne Foellmer düz dealt with the predicament the protesters found themselves in, subverting the ban by ‘ just ’ standing in one place at Taksim Square on the evening of 17 June 2013, with his hands in the pockets of his trousers and his gaze directed towards the front of the nearby Atatürk Centre. As it was not forbidden to simply stand alone in a public place, the policemen, who soon showed up, did not know what to make of it 25 as they had no power to stop someone who was possibly just waiting for a friend or the bus. However, the action swiftly went viral on social media, 26 and many people joined Gündüz, standing still at his side, and producing further photos and videos posted online. Hence, while these (clandestine) protesters did not walk through the streets, the imagery of the protest quickly spread across the media channels worldwide. The meticulous choreography according to the pandemic guidelines is one focus of the investigations on recent protests in times of Covid-19 in the following section. Another aspect is the increasing importance of producing visual media content. Activists create powerful images for distribution in social and mainstream media, and I argue here that choreography helps to design such images. The two examples that I shall analyse below caught my attention when scrolling through my Twitter feed during the first lockdown in April 2020. Stop Motion On 19 April 2020, thousands of protesters took to the streets in Tel Aviv, or rather, they gathered in the city ’ s Rabin Square. The action was part of the ongoing Black Flag campaign, which started in March of the same year. It was a reaction to recent measures by the government, which allowed the secret service to track the mobile phones of civilians in the course of the coronavirus pandemic. Activists largely denounced the “ anti-democratic ” tendencies of these measures. 27 Remarkably, protesting was still allowed as long as social distancing measures were put in place. Hence, the organizers of the protest prepared Rabin Square by sticking black crosses onto the ground, which permitted the protesters to stand immobile on one spot, in a radial distance of six feet apart. Fig. 1: Black Flag Protest, Tel Aviv 19 April 2020. Photo: Tomer Appelbaum, in: Haaretz, 19 April 2020. The aerial shot of the action 28 (Fig. 1) immediately gained attention in mainstream and social media (Fig. 2) because of its impressively patterned, physically distanced choreography of the masses, creating a powerful, almost ornamental image. Fig. 2: Black Flag Protest, Tel Aviv 19 April 2020. Around the same time, on 24 April 2020, members of the German hospitality sector 21 Don ’ t Move! Choreography as a Means of Arranging Protest in Times of Curfew launched the Aktion Leere Stühle [Empty Chairs Campaign]. Owners of restaurants, bars, or cafés voiced their concerns as the ongoing lockdown caused an existential threat to their businesses, and demanded that the German government steps in and provides financial support. At first sight, this campaign does not seem to engage in the choreography of a protest because of the absence of any bodies (Fig. 3) - a fact that mirrored the situation in the hospitality sector - which ultimately was the message of the campaign. However, the action not only produced impressive media images, it also used the principle of “ choreographic objects ” 29 to make a statement while also complying with those regulations that were impacting on the hospitality industry in the first place. I will explain the connection to (and reshaping of) this choreographic concept in the next section. Fig. 3: Aktion Leere Stühle [Empty Chairs Campaign], Brandenburg Gate, Berlin, 24 April 2020. The chairs in the Aktion Leere Stühle were meticulously placed, forming an evenly shaped, repetitive arrangement, thereby recalling the structure of the spatially distanced protesters in Tel Aviv. Both actions make use of choreographic principles to facilitate their event, circumventing the prohibition on conventional gatherings and thus inventing new spatial arrangements of public dissent. Investigating these two examples of protest in situations of lockdown more closely, I will now focus on two aspects: Firstly, the shift away from common protest set-ups, achieved by the use of choreographic orders (triggered by the need to obey prescribed spatial arrangements), and secondly, the question of bodies and their vulnerability in these situations. Re-Assigning Protest As already mentioned, both protest campaigns produced strikingly ornamental iconographies for media distribution through their locally arranged choreographies. Art scholar Kerstin Schankweiler depicts the impact of so-called “ pictorial protests ” (German: “ Bildproteste ” ) by referring to the use of images on social media, for instance, during the Arab Spring in 2011. Schankweiler emphasizes the affective potential of “ image activism ” (German: “ Bildaktivismus ” ) within today ’ s “ economy of attention ” . 30 Her analysis is based upon so-called “ image icons ” (German: “ Bildikonen ” ) such as the Tank Man, standing in front of a tank in Beijing ’ s Tiananmen Square in 1989. 31 Such iconic pictures evoke corporeal empathy, she argues, by building upon the stirring up of strong emotions. 32 Now such emotive imagery and the associated memes are reinforced by (social) media posts, thereby engendering “ affective communities ” (German: “ Affektgemeinschaften ” ). 33 The difference to traditional protest environments - taking place on the streets and eventually being reported in the press - is their connection via social media, by way of emotionally loaded imagery posted, shared, and distributed among a community of usually like-minded users. Albeit many of them may not participate in the protest on site, they are connected via the online distribution of its visuals 34 , thus being affectively involved in the protest as “ co-witnesses ” (German: “ Co-Zeug*innen ” ). 35 22 Susanne Foellmer Such media images are produced by displaying and distributing iconographic pictures of protesting (individual) bodies such as the Standing Man, thus evoking a strong sense of affection and togetherness through the virality of media distribution. Pictures of the aerial shot of the Black Flag protest have been shared widely on social media, for instance, on Twitter, adding subtitles which use a vocabulary of amazement and fascination 36 . I would now argue that affective communities can be brought about through choreographic arrangements as well, which can generate structured dynamics of bodies, or non-bodies, gathering 37 as those described in the two examples above. In Tel Aviv, this is partly achieved by the rigorous embodied placement and ordering of the protesters on site, utilizing the novel constraints to produce visuals by applying an efficient camera perspective (aerial shot), hence explicitly combining corporeal and mediated protest. At the same time, protesters may have also (accidentally) benefited from the place ’ s symbolic value as a site of numerous rallies and campaigns, and bearing its name since 1995, honouring Yitzhak Rabin who was shot at this very location in the same year. Similarly, Aktion Leere Stühle used the symbolic potential of specific locations, for instance, by placing the chairs in front of Berlin ’ s Brandenburg Gate (Fig. 3) or on central squares in cities such as Frankfurt/ Main, highlighting the social and economic void citizens and business owners had to deal with during the first lockdown. While the Black Flag protest used (imposed) choreographic means to allow a physically distanced and largely immobile protest, the choreographic arrangement in Aktion Leere Stühle is not that evident at first sight, simply as no-body is there. What can be detected here is a shift in the protesting procedure that basically uses aesthetic means in order to gain attention. The chairs literally “ stand ” in for the missing customers; however, they do not represent a typical arrangement in a restaurant or a café: The chairs are placed side by side, not facing each other, while the tables have been omitted entirely - evoking an even bleaker image of the current situation. While forming an ornamental pattern, each chair seems to stand alone, in solitude, due to the position chosen, partly resembling a random set of audience seating. The allusion to empty (theatre) seats is not that farfetched: By “ facing ” towards a (virtual) audience - in this case, the politicians addressed to make changes or to help the affected industry - the chairs create a visual representation for the organizers ’ message. Hence, I would argue that the protesters are arranging an almost theatrical set-up, 38 albeit actors and spectators are (mostly) missing, using aesthetic choreographic tools in shifting the everyday arrangement of hospitality ’ s furniture by slightly changing the seating order, thereby creating an extra-ordinary arrangement - and thus symbolizing its impracticality for hospitality due to the lockdown measures. At the same time, the pattern of the chairs creates a strong emotional image. The Dresden event, for instance, posted an aerial shot of the protest, showing the chairs forming the letters “ S. O. S. ” . The campaign and particularly its images received widespread coverage, not only on social media, but also in newspapers all across Germany as well as the national news broadcasts. The images produced particularly shift the power of protest often achieved through amassing bodies - gathering on-site, and eventually blocking public spaces in order to interrupt everyday life - to the power of the message being distributed in the media, by creating and presenting an arranged irregularity of an (otherwise) regular order. In this sense, the chairs act as “ choreographic objects ” , a concept that was coined by choreographer William Forsythe. 39 Pro- 23 Don ’ t Move! Choreography as a Means of Arranging Protest in Times of Curfew jects such as Forsythe ’ s The Fact of Matter (2009), for instance, consisted of a course made of ropes hanging vertically from the ceiling with rings on the end of them - resembling equipment one might recall from the sports hall at school - and through which visitors could climb and “ walk ” from one end to the other, thus being brought into motion by these swinging choreographic objects. 40 In the case of the hospitality campaign, we could say that the arranged chairs serve as choreographic objects as well - albeit in a negative sense in terms of motion: The chairs do not trigger any movement at all. On the contrary, they enhance the fact of the imposed immobility needed to keep the pandemic at bay. Moreover, the empty chairs represent a movement that literally took place in another, prepandemic social time, and that is now missing. Usually, chairs (and tables) in a restaurant produce a certain mode of socializing and, quite often, conviviality. Here though, the chairs ’ purpose has been rearticulated, now choreographing the missing (customers ’ ) bodies, thereby uttering a silent cry for (financial) help. The restrictions on public movement prompted by the pandemic and the responses of most governments worldwide led to a meticulous policing of the corporeal public sphere. In countries such as France, people could only travel more than one kilometre from their home. In China, residents were not allowed to leave their houses at all (receiving essentials such as food via governmental services). Israel permitted people to leave the house to shop for food and medicine only and to go to work if necessary. In Germany, people were permitted to go outside for shopping, exercise, and medical reasons as often as they wished, but they were not allowed to meet with more than one other person at a time. England had similar arrangements but permitted only one outing a day. Dance scholar André Lepecki describes the general monitoring of movement as “ choreopolicing ” which does not necessarily have to involve interaction between persons only. 41 Rather, Lepecki conceptualizes the political itself as demarcated by movement: “ The adjectival ‘ political ’ defined as the movement of freedom is a difficult, everevolving commitment. It is less predicated on a subject than on a movement [ … ], defined by intersubjective action ” . 42 In this context, it is also important not to confuse politics with policies such as “ the issuing of executive orders ” . 43 Lepecki thus juxtaposes the idea of “ choreopolicing ” - where the police, for instance, acts as a “ movement controller ” 44 , striving to bring “ bodies in conformity, and [in] pre-assigned places for circulation ” 45 - with the concept of “ choreopolitics ” . Choreopolitics opposes modes of control, and emphasizes the free movement of bodies, highlighting dancers as model agents of such movements: they “ require[] a redistribution and reinvention of bodies, affects, and senses through which one may learn how to move politically ” . 46 This freedom, however, is not meant to be a loose idea of spontaneity or letting go, but rather closely linked to certain corporeal (dancerly) techniques such as particular structures of improvisation. 47 In the example of the Black Flag protest in Tel Aviv, it was the police who ordered the peculiar method of socially distanced protesting in the first place, directing the protest to be relocated to a larger place, that is, Rabin Square. The authorities also mandated the marking of the ground in order to maintain social distancing and required the protesters to wear a mask so that the action could go ahead. 48 As mentioned earlier, I would frame this as an imposed choreography. Lepecki shines a light on “ how police commands are essentially choreographic ” : 49 In the physically distanced gathering on Rabin Square, this 24 Susanne Foellmer choreographing even followed a score in a very traditional sense, if one understands choreo-graphy as the writing or scripting of movement. Here, the score consisted of the marking of the space with the black crosses on which the protesters were then told to stand still. The police also re-assigned the venue of the protest, re-locating it, perhaps rather accidentally, to Rabin Square to allow everyone to maintain the designated distance. Hence, on the one hand, the protesters ’ movements in Tel Aviv were choreopoliced, in a meticulously scored arrangement of physically distancing. On the other hand, it was indeed these very tools of choreopolicing that allowed a choreopolitical expression of protest, again, by providing the space and place for the activists ’ claims and, not least, by facilitating the structured utterance of political dissent in an already highly politicized space: Rabin Square. Now, what about the choreopolitical, or choreopoliced, potential in Aktion Leere Stühle? The campaign did not actually happen completely without human beings. Actions in cities such as Frankfurt/ Main showed a few mostly male protesters, loosely scattered among the chairs. Whether they were, or used to be, owners of restaurants is not evident as their posture does not quite match the gesture of a welcoming host - and thus rather fits the dysfunctional array of chairs when it comes to its non-convivial arrangement, as described before. What is more, the posing individuals radiate a certain hostility and thus remind one of bouncers in front of a (night) club, legs spread hip width apart, policing the entrance by selecting who can get in and who cannot. Not least, this impression is evoked by the uniformity with which the protesters stand for their claim: Though the black-and-white attire still matches a waiter ’ s typical workwear, the stylistic choice of jeans, t-shirt, and trainers - plus the obligatory face mask - creates a both casual and martial effect (Fig. 4). These protesters thus seem to emphasize the message of the campaign by adopting a fierce-looking posture, literally standing-in as pars pro toto for all the absent hospitality Fig. 4: Aktion Leere Stühle [Empty Chairs Campaign], Römer, Frankfurt/ Main 24 April 2020. 25 Don ’ t Move! Choreography as a Means of Arranging Protest in Times of Curfew businessmen and -women, their customers, as well as for the strict regulations in place: no entry at the moment. Such corporeal display of restrictions brings a second aspect to the fore, which I would like to address in the next section: The vulnerability of the protesters and their bodies, and the differences between conventional protesting, such as gathering in the streets, and the protests described here. Vulnerability and Protection Judith Butler has been offering a novel perspective on the question of agency in situations of public resistance lately. According to her, protesting against certain societal or political conditions is essentially not triggered by the drive to empower the activists, or the desire to overcome precarious positions or situations. Quite the contrary: Agency is engendered by the very mode of vulnerability in the first place: “ [ … ] even as public resistance leads to vulnerability, and vulnerability leads to resistance, vulnerability is not exactly overcome by resistance, but becomes a potentially effective mobilizing force in political mobilizations. ” 50 Butler modifies her previous conception of the body 51 in this particular context: The body is conceived of its essential needs and, thus, its very rights, such as nutrition, the “ freedom to move ” , or the absence of violence. 52 These bodies then “ enact a form of resistance that presupposes vulnerability [ … ] and opposes precarity. ” 53 Hence, bodies in protest initially become a mobilizing force because of perilous conditions which then lead to discontent. Here, the danger to physical integrity adds to this, that is, the very corporeal risks when gathering in the public sphere. Examples such as the Black Lives Matter movement particularly act on the grounds of the everyday danger of being attacked, arrested, or even murdered by the police 54 . Anusha Kedhar gives an example of such mobilization initiated by the very vulnerability of citizens ’ lives and especially those of Black people in the US. Protesters took to the streets of Ferguson, Missouri in 2014 to voice their anger about the death of Michael Brown, who was shot by police despite raising his hands in innocence and demonstrating the absence of danger by indicating that he was unarmed. Kedhar delineates how this gesture of vulnerability was rearticulated by the protesters, performing and chanting “ Hands up! Don ’ t shoot! ” and thus temporarily reclaiming bodily control in the public space. 55 Butler, again, developed her thoughts at a workshop that took place in Istanbul a few months after the Gezi Park protests, with all its political and social opportunities, followed by the crackdown on its activists. 56 Here, Butler slightly revises Hannah Arendt ’ s idea of the “ space of appearance ” that (provisionally) engenders the societal situation the activists fight for - such as in the camp at Gezi Park with its array of activities - and adds the need to include the infrastructure as well, such as the media conditions of such spaces these days. 57 The examples investigated in this article, however, show a different perspective on the question of vulnerability that is partly enhanced by the spatial restrictions addressed in the previous section. In the Black Flag protest, two different modes of vulnerability come to the foreground. Firstly, there is the threat to health by Covid-19 that engenders a general vulnerability of the population ’ s bodies. This overall condition leads to a protective protesting environment in terms of health and safety issues that is designed by the choreographic tools described before. 58 Secondly, though, the reason for protesting lies in another violation: the violation of personal protection rights by the government ’ s track- 26 Susanne Foellmer ing of private phones, inducing its citizens ’ vulnerability on a rather structural, systemic level. Remarkably, the state, that is, its executive arm, approved of the protest because of the thoroughly planned choreography and thus the orderly arrangement of bodies, prescribed by the police and followed by the protesters in order to be able to freely voice their concerns. In this sense, neither are the bodies in danger from the novel virus - as they all stand a safe distance apart from each other - nor are they themselves a threat to the stately order, as the rally is initially facilitated by official choreopolicing strategies. Hence, what actually comes into focus here is not the question of vulnerability. While this is an initial trigger to start the campaign (the violation of personal rights), the action itself instead promotes the narrative of protection: in defending one ’ s civic rights, and in safeguarding the means and methods to claim them. In Aktion Leere Stühle, modes of protection are on display as well. The assembly of (mainly) no-bodies turns the chairs into symbolic and, at the same, time quite literal place-holders for the critical economic condition many of the restaurants, cafés, and similar places of hospitality find themselves in. The action is arranged in compliance with the regulations, protecting its activists. At the same time, it represents the (mostly invisible) protesters ’ predicament: being protected from opening their businesses in order to survive financially. Here, vulnerability appears again: now as a threat to the financial situation of many of the protesters, with them possibly facing precarious living conditions as a consequence. The “ bouncers ” spread in between the chairs are literally enforcing this status quo on a visual level (fig. 4). They almost act like a repellent and thus highlight the difficulties caused by the pandemic situation in a symbolic manner: The prevention of taking a seat as this is legally forbidden. At the same time, the protesters express their discontent by striking a pose with spread legs and arms at their sides or folded behind their back. Hence, they are literally ‘ standing ’ for the issues caused by the current shutdowns, and the problems the industry is facing. Remarkably, both of the protests turned out to be efficient in achieving their aim or perhaps at least helped to further support their case. In Israel, the parliament finally decided to withdraw the bill that allowed mobile phones to be tracked due to data privacy issues. 59 In Germany, the government agreed to hand out financial aid for restaurants and other hospitality venues: They suspended VAT on meals for a certain period of time (however, this only happened when the hospitality sector was permitted to reopen again). 60 Hospitality employees were also subsequently included in the state ’ s furlough scheme (Kurzarbeit). 61 Conclusion Choreographic principles used to design protests in times of lockdown, not least, enable the creation of affective images that mainly shift the protesting situation online, into the public spheres of social and mass media. Such protests happening on-site thus function as literal pre-scripts to facilitate the distribution of the concerns in the media sphere, provoking affective responses by the choreographic arrangements of bodies - or objects. When bodies are prevented from gathering in huge and dense crowds and when passers-by are not to be expected, when there is no point in blocking roads as there are hardly any cars on site, events such as the two exemplary ones are thus not only facilitated to obey social, that is, physical distancing regulations. Their choreographies are particularly applied to render these events as a quasi-template for further 27 Don ’ t Move! Choreography as a Means of Arranging Protest in Times of Curfew online usage, for videos transmitted on YouTube, for pictures shared on Twitter, Facebook, or Instagram. 62 Thus, protests under these special circumstances aim for their mediation by way of using choreographic methods not only to enhance their visibility, as in pre-pandemic times. They are set up to facilitate the dissemination of their message in another media sphere in the first place, I argue. Furthermore, the creation of affective images such as the ones discussed suggests that activists are (partly involuntarily, partly deliberately) choreographing bodies or objects by making use of aesthetic principles, in this context: composing images which provoke a striking message, such as the pattern of bodies assembling on Rabin Square in Tel Aviv or the meticulous arrangement of chairs looking abandoned in an otherwise empty public place. Here, it is striking that activists are either submitting to choreopolicing measures or are deliberately using them to navigate their movements and corporeal assignments onsite (or omitting bodies entirely) in order to ultimately achieve their choreopolitical agenda - that then finds its liberal expression in the online public sphere. In this regard, the narrative of protection explored within the two examples gains yet another point of relevance: as the safeguarding of rights and, at least partly, the means of protesting in times of social and physical public restrictions. Acknowledgements This article was supported by a senior fellowship at the Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald, Germany. Figures: Fig. 1: Black Flag Protest, Tel Aviv 19 April 2020. Photo: Tomer Appelbaum, in: Haaretz, 19 April 2020, https: / / www.ha aretz.com/ israel-news/ .premium-over-athousand-israelis-brave-coronavirus-fea rs-to-protest-netanyahu-1.8781869 [Accessed 14/ 7/ 2022]. © Tomer Appelbaum, Haaretz. Fig. 2: Black Flag Protest, Tel Aviv 19 April 2020. A. Rivkin, Twitter, 20 April 2020, @amandarivkin [Accessed 11/ 2 2021]. © Tomer Appelbaum, Haaretz, ©Amanda Rivkin. Fig. 3: Aktion Leere Stühle [Empty Chairs Campaign], Brandenburg Gate, Berlin, 24 April 2020. © dpa picture alliance/ Alamy Stock Photo. Fig. 4: Aktion Leere Stühle [Empty Chairs Campaign], Römer, Frankfurt/ Main 24 April 2020, photo: © Peter Jülich. 1 The campaign One Billion Rising has been raising awareness of the global problem of violence against women since 2012. https: / / www.onebillionrising.org [Accessed on 05.12.2022]. 2 Following its detection in Wuhan, China in December 2019, the novel coronavirus quickly developed into a global pandemic. Initially, measures to contain the spread of the virus consisted of lockdowns, resulting in restrictions on public life, such as the closure of the hospitality and entertainment sector and so-called non-essential shops, as well as orders to stay indoors, and to study and work (if possible) from home. The closure of schools and kindergartens varied: some countries, such as Sweden, kept them open for children up to 16 years old. The first general lockdown in Germany lasted from 22 March to 4 May 2020 (beginning of the relaxation of restrictions), in Israel it lasted from19 March to 26 April 2020. Italy, which was one of the first European countries to be hit hard by the pandemic, ordered a general lockdown from 10 March to 4 May after having already closed local areas such as Lombardi on 21 February 2020. France locked down from 17 March to 10 May 2020, England from 29 March to 1 June 2020. In all of these countries, lockdowns were interpreted differently by the authorities, ranging 28 Susanne Foellmer from a strict ban on leaving the home except for one hour of exercise and work if needed in England, to no restrictions on exercising outdoors in Germany. Constraints also varied as to the number of people allowed to meet outdoors as well as the physical distance they had to maintain from each other (1.5 metres in Germany, 2 metres in Israel and England). 3 William Forsythe: “ Choreographic Objects ” (Essay), 2008. https: / / www.williamforsythe. com/ essay.html [Accessed on 14.7.2022]. 4 Randy Martin, Critical Moves. Dance Studies in Theory and Politics, Durham 1998. 5 Ibid., p. 2. 6 Ibid., p. 4. 7 Ibid., pp. 3, 6. 8 Ibid., p. 6. 9 Dana Mills, Dance and Politics. Moving Beyond Boundaries, Manchester 2017, p. 15. 10 Ibid., p. 5. 11 Ibid., p. 83. 12 Andrew Hewitt, Social Choreography. Ideology as Performance in Dance and Everyday Movement, Durham and London 2005, p. 2. 13 Ibid., p. 14. 14 Ibid., pp. 16 - 17. 15 Susan Leigh Foster, “ Choreographies of Protest ” , in: Theatre Journal 55/ 3 (2003), pp. 395 - 412, here p. 408. 16 Ibid., p. 395. 17 Ibid., p. 397. 18 Ibid., pp. 397, 398 - 402. 19 Olive Mckeon, “ Solidarity Means Attack: Choreographic Analysis and the West Coast Port Blockade ” , in: activate 3/ 1 (2014), pp. 28 - 39, here pp. 32 - 33. 20 Cf. Jaana Parviainen, “ Choreographing Resistances: Spatial - Kinaesthetic Intelligence and Bodily Knowledge as Political Tools in Activist Work ” , in: Mobilites 5/ 3 (2010), pp. 311 - 329, here p. 314; Maren Butte, Kirsten Maar, Fiona McGovern, Marie- France Rafael, and Jörn Schafaff, “ Introduction ” , in: Maren Butte/ Kirsten Maar/ Fiona McGovern/ Marie-France Rafael/ Jörn Schafaff (eds.), Assign and Arrange. Methodologies of Presentation in Art and Dance, Berlin 2014, pp. 19 - 29, here p. 21. 21 Rudi Laermans, “‘ Dance in General ’ or Choreographing the Public, Making Assemblages ” , in: Performance Research 13/ 1 (2008): pp. 7 - 12, here p. 12. 22 Ibid. 23 Restrictions on assembly were soon either relaxed or ignored, however: In Israel, angry citizens took to the streets in July 2020 to protest against Benjamin Netanyahu ’ s policy. A camp erected in front of the then prime minister ’ s house was finally torn down by the police. Cf. Oliver Holmes and Quique Kierszenbaum, “ Israeli police tear down anti-Netanyahu protest camp ” , in: The Guardian, 13.07.2020, https: / / www.theguardian.c om/ world/ 2020/ jul/ 13/ israeli-police-tear-do wn-anti-netanyahu-protest-camp-corrupti on-covid-19-crisis [Accessed on 14.07.2022]. Earlier, in June 2020, activists gathered and marched in the US and then many more countries to claim that Black Lives Matter, a movement triggered by the death of George Floyd who was murdered by a police officer. 24 From 28 May 2013 to 17 June 2013, activists gathered in Gezi Park, close to Istanbul ’ s Taksim Square, initially to protest against urban developments planned in the area. Starting with sit-ins, the gathering developed into a protest camp with tents being pitched on site, facilitating opportunities for assembly, discussion, planning and performing further actions. See Gurur Ertem, “ Gezi Uprising. Performative Democracy and Politics of the Body in an Extended Space of Appearance ” , in: Susanne Foellmer/ Margreth Lünenborg/ Christoph Raetzsch (eds.), Media Practices, Social Movements, and Performativity. Transdisciplinary Approaches. New York/ Abingdon 2018, pp. 81 - 99, here pp. 92 - 95. 25 Ibid., p. 93. 26 Ibid. 27 Middle East Monitor, “ Israel protest against ‘ anti-democratic ’ government measures comply with social distancing ” , 20/ 4/ 2020, https: / / www.middleeastmonitor.com/ 20200 420-israel-protest-against-anti-democratic-g overnment-measures-comply-with-social-di stancing/ [Accessed on 14.07.2022]. 29 Don ’ t Move! Choreography as a Means of Arranging Protest in Times of Curfew 28 The photo by Tomer Appelbaum was a shot taken from a drone, and later won him the Siena International Photo Award. Cf. Naama Riba, “ Haaretz Photographer Wins International Prize for This Incredible Shot ” , in: Haaretz, 24 September 2020, https: / / www.h aaretz.com/ israel-news/ .premium.MAGA ZINE-haaretz-photographer-wins-interna tional-prize-for-this-incredible-picture-1.91 83860 [Accessed on 14.07.2022]. 29 Forsythe, “ Choreographic Objects ” . 30 Kerstin Schankweiler, Bildproteste. Widerstand im Netz (Pictorial Protests. Resistance on the Internet), Berlin 2019, pp. 58 - 59 31 Ibid., pp. 25 - 26. 32 Ibid., p. 60. 33 Ibid. 34 See also Bennett and Segerberg on the dynamics of “ connective action ” in social media activism. Bennett, W. Lance and Alexandra Segerberg, “ The Logic of Connective Action ” , in: Information, Communication and Society 15/ 5 (2012), pp. 739 - 768. 35 Schankweiler, Bildproteste, p. 60. 36 Twitter user Jon Suante, for instance, admires the “ breathtaking ” imagery. J. Suante, Tweet on Tomer Appelbaum ’ s photograph of the Black Flag Protests Tel Aviv, @jon_suante, Twitter: 20/ 4/ 2020 [Accessed on 21.02.2022]. 37 Earlier, Elias Canetti already gave a vivid account of the idea of masses and emotions, by investigating the dynamics of crowds. Here though, it is particularly the momentum of crowding, of forming dense, at times rhythmical huddles, that provides situations of experiencing an affective togetherness, which he describes, for instance, in the very moment of “ discharge ” : “ Only together can men free themselves from their burdens of distance; and this, precisely, is what happens in a crowd. During the discharge distinctions are thrown off and all feel equal. In that density, where there is scarcely any space between, and body presses against body, each man is as near the other as he is to himself; and an immense feeling of relief ensues. It is for the sake of this blessed moment, when no-one is greater or better than another, that people become a crowd ” . Elias Canetti, Crowds and Power [1960], New York 1978, p. 18. I would argue that, in times in which precisely these dense masses are a pandemic taboo, other means of affective engagement such as via social media come to the fore. 38 Richard Schechner as well as Erica Fischer- Lichte and Matthias Warstat argue that performance happens in everyday life as well. Schechner focuses on performative action in rituals and the potential of drama in ordinary situations, Fischer-Lichte and Warstat attribute theatrical qualities especially to festive events. For protest as theatrical arrangement see also Schlossman, comparing the concepts of “ actors and activists ” , as well as Donath, investigating the theatrical arrangement of “ protest choirs ” in social movements such as the Arab Spring (2011) and Occupy Wall Street (2011). Richard Schechner, Performance Theory [1977], New York/ Abingdon 2003; Erika Fischer- Lichte/ Matthias Warstat (eds.), Staging Festivity: Theater und Fest in Europa, Tübingen 2009; David A. Schlossman, Actors and Activists: Performance, Politics, and Exchange Among Social Worlds, London/ New York 2002; Stefan Donath, Protestchöre. Zu einer neuen Ästhetik des Widerstands. Stuttgart 21, Arabischer Frühling und Occupy in theaterwissenschaftlicher Perspektive, Bielefeld 2018. 39 Forsythe, “ Choreographic Objects ” . 40 The installation was presented (and used) at exhibitions such as Move: Choreographing You. Art and Dance Since the 1960 s (curated by Stephanie Rosenthal, Hayward Gallery, London; Haus der Kunst, Munich; Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 2010 - 2011). 41 André Lepecki, “ Choreopolice and Choreopolitics: Or, the Task of the Dancer ” , in: TDR: The Drama Review 57/ 4 (2013), pp. 13 - 27. 42 Ibid., p. 14. 43 Ibid., p. 15. 44 Ibid. 45 Ibid., p. 19. 46 Ibid. 47 Ibid., p. 21. 30 Susanne Foellmer 48 Josh Breiner, “ Two Thousand Israelis Brave Coronavirus Fears to Protest Assault on Democracy ” , in: Haaretz, 19/ 4/ 2020, https: / / w ww.haaretz.com/ israel-news/ .premium-overa-thousand-israelis-brave-coronavirus-fearsto-protest-netanyahu-1.8781869 [Accessed on 14.07.2022]. 49 Lepecki, “ Choreopolice and Choreopolitics ” , p. 16. 50 Judith Butler, “ Rethinking Vulnerability and Resistance ” , in: Judith Butler/ Zeynep Gambetti/ Leticia Sabsay (eds.), Vulnerability in Resistance. Durham/ London 2016, pp. 12 - 27, here p. 14. 51 In her earlier works, Butler places the body in the (normative) realm of language. Judith Butler, Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, London/ New York 1990; Judith Butler, Bodies That Matter. On the Discursive Limits of ‘ Sex ’ , London/ New York 1993. 52 Butler, “ Rethinking Vulnerability and Resistance ” , p. 15. 53 Ibid. 54 Ibid., pp. 19 - 20. 55 Anusha Kedhar, “‘ Hands Up! Don ’ t Shoot! ’ : Gesture, Choreography, and Protest in Ferguson ” , in: The Feminist Wire, 14.10.2014, https: / / thefeministwire.com/ 2014/ 10/ pro test-in-ferguson/ [Accessed on 14.07.2022]. 56 Judith Butler, Zeynep Gambetti, and Leticia Sabsay, “ Acknowledgements ” , in: Butler, Gambetti, and Sabsay (eds.), Vulnerability in Resistance, pp. ix - x, here p. ix. 57 Butler, “ Rethinking Vulnerability and Resistance ” , p. 14. 58 Parviainen addresses such vulnerability in protests, for instance, as risk mitigation, examining, for example, an intervention by Greenpeace activists (2007): The action is meticulously choreographed by deliberately putting the protesters ’ bodies at risk, while at the same time keeping the danger at bay because of the choreographic preparation of the campaign. Parviainen, “ Choreographing Resistances ” , p. 323. 59 See Dan Williams and Ari Rabinovitch, “ Israel suspends cellphone-tracking for coronavirus quarantine enforcement ” , in: Reuters, 22.04.2020, https: / / www.reuters.com/ ar ticle/ us-health-coronavirus-israel-police-id USKCN2242JJ [Accessed on 05.12.2022]. 60 See information provided by the German Government. https: / / www.bundesregierung. de/ breg-de/ themen/ coronavirus/ faq-mehr wertsteuersenkung-1764364 [Accessed on 05.12.2022]. 61 See information from the German Ministry of Finance on the novel Corona-Steuerhilfegesetz (law on Corona-related tax support). https: / / www.bundesfinanzministerium.de/ Content/ DE/ Pressemitteilungen/ Finanzpoli tik/ 2020/ 05/ 2020 - 05 - 06-Hilfen-Gastrono mie.html [Accessed on 05.12.2022]. 62 Such arrangements can be also conceptualized as “ pre-enactments ” , that is, setting up a protest on site with the main intention of spreading its cause and demands in the online public sphere. See Susanne Foellmer, “ (Pre-)Enacting Resistance? Protest and the Means of Staging ” , in: Adam Czirak et al. (eds.), Performance zwischen den Zeiten. Reenactments und Preenactments in Kunst und Wissenschaft, Bielefeld 2019, pp. 141 - 157. 31 Don ’ t Move! Choreography as a Means of Arranging Protest in Times of Curfew Themenheft: Intensive Umgebungen. Zu environmentalen Gefügen ästhetischer Erfahrung herausgegeben von Johanna Zorn Editorial - Intensive Umgebungen. Zu environmentalen Gefügen ästhetischer Erfahrung Johanna Zorn (München) In Theater, Performance, Installation und Musik, in Bildender Kunst, Architektur, Stadtplanung und Design, in Sozialen Medien wie in Populärkulturen - , quer durch die unterschiedlichen Künste, Gestaltungs- und Medienformate lässt sich gegenwärtig eine signifikante Tendenz zur Inszenierung von intensiven Umgebungen beobachten. Sie sind intensiv im wörtlichen Sinne: Sie dringen in die Körperlichkeit und Gefühlswelt der Rezipierenden ein, um dort einen starken Eindruck zu hinterlassen. Hinter diesem speziellen Subjekt-Umwelt-Bezug, der die ontologische Grenzziehung zwischen Subjekten, Objekten und Räumen zugunsten einer environmentalen Verflochtenheit erodieren lässt, steht in der philosophischen Ästhetik der Begriff der ‚ Atmosphäre ‘ . Die Denkfigur der Atmosphäre knüpft die Eindringlichkeit der umschließenden Außenwelt programmatisch an die Undefinierbarkeit ihrer Wirkung: Wer wollte letztgültig klären, welchen spezifischen Eindruck der in den Sakralraum diffundierende Weihrauch im ästhetisch wahrnehmenden Subjekt hinterlässt; wer definieren, was die erotische Stimme aus den Kopfhörern über die mechanistische Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR) hinaus mit den Gefühlen und Einstellungen einer Einzelnen macht; wer die spezifischen Orte von individuellen Bedürfnissen und technologischen Suggestionen, von computationaler Antizipation und Reaktion in einer multipel vernetzten Ambient Intelligence in äußerster Konkretion bestimmen? Es scheint, als seien intensive Umgebungen, weil ostentativ unsagbar und in ihrer Wirkung diffus, weniger für solche, auf distinkte Erkenntnis über die Umwelt zielenden Antworten konzipiert, als vielmehr für die Erfahrung von räumlich transportierter, wechselseitig zirkulierender Energie da. Atmosphären sind nicht bloß gestalteter Raum und kreierte Umgebung, sondern, wie Gernot Böhme es formuliert, mit „ Gefühlston “ 1 gefüllte Umwelten, die nur im Modus der subjektiven Involvierung und im synästhetischen Erleben spürbar werden, mit anderen Worten: Sie lassen sich, da sie sich im Zwischen ereignen, weder dingfest machen noch durchanalysieren. Environmentale Gefüge räumlicher, körperlicher und medialer Konstellationen fordern sogar auch dort ein umfassendes In- Sein der sinnlich erfahrenden Subjekte, wo sie handlungsbefähigende Verfügbarkeit evozieren. Indem atmosphärisch verdichtete theatrale Räume, installative Soundscapes oder mit hoher Nutzer*innenaktivität kalkulierende digitale Plattformtechnologien produktionsseitig als „ affective tonalities “ 2 auskomponiert werden, findet ein strategisches ‚ attunement ‘ des rezipierenden oder interaktiv partizipierenden Subjekts statt. Diese Einstimmung von Publika und Akteur*innen in spezifische Situationen erzeugt Momente des leiblich-sinnlichen Einschlusses, die alle auf Distinktion gerichtete Aufmerksamkeit der Idee nach zugunsten einer immersiven Gefühlswelt absorbieren. So vielfältig die Gefühle sein können, die die unter den Anwesenden geteilten Stimmungen auslösen, so unbestimmbar und unlokalisierbar bleiben ihre Ursprünge. So verschieden die emotiven Effekte und deren Charakteristiken sein mögen, die intensive Räume erzeugen, so zielen sie doch allesamt Forum Modernes Theater, 34/ 1, 35 - 38. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0004 prinzipiell auf eine Amplifizierung von Affekten. Dass zugleich mit der sensorischen Überwältigung die Möglichkeit zur reflexiven Durchdringung jener komplexen medientechnologischen Verfahren, die an der Produktion dieser Umgebungen beteiligt sind, flach gehalten werden soll, hat zur Konsequenz, dass sich über diese weniger von außerhalb und im Ganzen systematisch konstatieren als vielmehr leiblich ‚ etwas ‘ in ihnen erspüren lässt. Entsprechend argumentierte die phänomenologisch lebensweltliche Theoriefigur der Atmosphäre für den affizierten Körper als ‚ Transmitter ‘ 3 , während die ökologische Kontextualisierung des ästhetischen Begriffs durch Gernot Böhme, die stark die Relation Subjekt-Objekt fokussiert, noch dezidierter für eine Eliminierung der Unterscheidung von Innen und Außen, von Substanz und Akzidens votierte. Unvorhersehbar waren die Konsequenzen dieses relationalen Umweltbegriffs: Das ästhetische Plädoyer für den Abbau von Grenzen schien zwar das poststrukturalistische Theoriesetting und seinen Schlüsselbegriff der Dezentrierung aufzurufen, erweist sich jedoch in der Gegenwart, wie eine Vielzahl an konzeptuellen Entwürfen zeigt, wesentlich anbindungsfähiger an das posthumanistische Paradigma der „ agential intra-action “ 4 . Der von Atmosphärewie von Posthumanismus-Diskursen gleichermaßen lancierte ethische Imperativ zur Erosion des autonomen Subjekts soll dabei eine virulente Bezugnahme auf die zeitgenössisch akute, ökologische Krisensituation leisten: Nachdem das Subjekt an der Zerstörung von Umwelt arbeitete, lässt nun der Posthumanismus das Subjekt der Erkenntnis erodieren. So wird der von Menschen gewaltsam vorangetriebene ‚ Abbau ‘ der Umwelt, der sich in geschmolzenen Gletschern und ausgetrockneten Flüssen ebenso zeigt wie in der Versteppung von Gebieten und dem Abrieb von Gestein, von posthumanistischen Theoriebildungen zum Anlass genommen, für das Knüpfen neuer Gefüge und Verwandtschaftsverhältnisse 5 zwischen humanen und nicht-humanen Akteur*innen zu argumentieren, mit dem nunmehr im Gegenzug die anthropozentrische, vernunftgeleitete Zentralität des Subjekts ‚ abgebaut ‘ werden soll. Getilgt wird die Perspektive des stets machtbewusst von außen auf die Ökologien der Natur und der Kunst blickenden und urteilenden Erkenntnissubjekts gegenwärtig bevorzugt durch neumaterialistische Ansätze. Der auffallend häufige Import des Neumaterialismus in ästhetische Diskurse nun bringt das ökologische Paradigma einer vorsubjektiven Relationalität von Agentien und ihren Umwelten wiederum in ein interessantes Verhältnis zum Begriff der Atmosphäre. Beides, die Ideen von Ökologie und Atmosphäre, scheint in environmentalen Versprechen auf unmittelbare Erfahrung heute sogar vielfach bis zur Unkenntlichkeit ineinander verschränkt und zudem ökonomisch verwertbar zu sein: Die Aussicht auf ‚ wahrhaftiges ‘ Naturerleben, auf ein ökologisches Ambiente ästhetischer Erfahrung, aber auch auf einen global distribuierten Einschluss in Umwelten sozialer Medien geht nicht nur mit sozialpolitischem Output einher, sondern ist längst Verkaufsargument einer verwalteten „ experience economy “ 6 . In dieser augenscheinlichen Verkopplung von ökologischen und ökonomischen Begehrnissen werden Kommunizierende und Diskutierende der Tendenz nach zu Kompliz*innen und Kollaborateur*innen einer Sphäre der ästhetischen Erfahrung, die Teilnahme und Verwertung, nicht aber Erkenntnis vorsieht. Mit dem atmosphärisch vermittelten Gebrauchscharakter ökologischer Ästhetiken schwindet das Potential zu Kritik an sich, die bei aller Involvierung doch stets des Schritts nach außen, in die Distanz bedarf: Das totale Ambiente des Selbst, das die ökologische Atmosphäre kreiert, bindet 36 Johanna Zorn die Legitimität von Ich-Positionen vorrangig an eine gefühlsbasierte „ self-mediation “ 7 . Wenn wir gegenwärtig, wie Ivan Krastev sagt, „ in einer Welt [leben], die stärker vernetzt, aber weniger integriert ist “ 8 , dann können sich folgende Fragen jedoch nur aus kritischem Blickwinkel stellen: Welche Formen nehmen Inszenierungen von Atmosphäre im spätmodernen Zeitalter der medientechnologischen Synchronisierung an? Welche Umwelten produzieren installative Settings? Welche Gebrauchsbedingungen gehen von diesen ökologischen Atmosphären aus? Und schließlich: Welche Wissensformen und Wissenspraktiken werden durch medientechnologische Strategien der Affizierung befördert? Das vorliegende Themenheft fokussiert das Negative der Atmosphäre aus einer medienkomparatistischen Perspektive: die komplexen Medientechnologien und Inszenierungsstrategien, die in atmosphärischen Umwelten zugunsten der Erzeugung von Effekten der emotiven Authentizität in Vergessenheit geraten sollen. Die Beiträge aus theater-, tanz-, musik-, medien- und kulturwissenschaftlicher Perspektive argumentieren in ihren unterschiedlichen Bezugnahmen allesamt für eine Differenzierung, Begrenzung und Kritik von relationalen Atmosphären. So nimmt die kulturwissenschaftliche Analyse von Silke Felber das aktuell boomende Geschäft mit der Kompostierung von Leichnamen zum Anlass, das dort artikulierte ästhetische Begehren nach umfassender Verbindung mit der Umwelt kritisch zu beleuchten. Das aus atmosphärischen Anreizen hervorgehende Verlangen nach medialer Arretierung und postmortaler Verstetigung steht ebenso in der Analyse von Magdalena Zorn im Zentrum, nun aber mit Blick auf die aporetische Konfrontation von medialer Konservierung und atmosphärischer Vergegenwärtigung, die die Hologram-Bühnenshow ABBAVoyage inszeniert. Das Spiel mit der unterbrochenen Ko-Präsenz durch Avatare, das dort für die auratische Aufladung einer medientechnologischen Unsterblichkeit sorgt, gerät in Susanne Kennedys Inszenierung der Drei Schwestern wiederum programmatisch ins Stocken. Die Lektüre dieser Bühnenarbeit durch Julia Prager geht den konzeptuellen Brüchen eines geteilten Raumes menschlicher Anwesenheit durch avatarhafte Schauspieler*innen nach, mit denen die Verifizierung des menschlichen Körpers strategisch unterbunden wird. Die leibliche Beglaubigung von Anwesenheit im Hier und Jetzt, die körperliche Affizierung durch atmosphärische Involvierung nimmt auch Tanja Prokic´ zum Anlass einer kritischen Lektüre. Ausgehend von der zeitgenössisch ubiquitären ästhetischen Verwertung spezifischer Stimmungsqualitäten in Umgebungen macht sie in ihrer konstellativen Analyse den Vibe als Wissensfigur über die Unverfügbarkeit technoökonomischer Gefüge in Inszenierungsstrategien Sozialer Medien fruchtbar. Das Nicht-zusammen-kommen- Können von Körpern wird schließlich in Katja Schneiders Betrachtung von choreografischen Projekten im öffentlichen Stadtraum während der Covid-19-Pandemie als Argument für die Konstruktion einer Atmosphäre des Fernen identifiziert. Der Beitrag von Johanna Zorn wiederum liest die sinnlich inklusive Atmosphäre eines umfassenden Erfahrens, die zeitgenössische Theaterästhetiken vielfach entwerfen, als quasimystische Praxis einer exzessiven Mimesis, die sich letztlich selbst invertiert. Dem performativen Aussetzen und Abbauen eines gemeinsam geteilten politischen Erscheinungs- und Versammlungsraums zugunsten ortsspezifischer Aushandlungsplätze von Verschiedenem geht zuletzt Julia Stenzel auf Basis zweier politischer Performances aus völlig unterschiedlichen lokalen Kontexten (Teheran und Ruhrgebiet) nach. 37 Editorial - Intensive Umgebungen. Zu environmentalen Gefügen ästhetischer Erfahrung Die von allen Beiträgerinnen geteilte kritische Praxis äußert sich darin, die Inszenierung von Stimmungen, Relationen, Umwelten, Vibes, Installationen, Milieus oder Feelings nicht einfach als Erfahrungsumgebungen hinzunehmen, sondern einer Analyse auszusetzen, ihren ästhetischen, ethischen, sozialen und politischen Paradoxien und Abgründen nachzugehen, um sie aus dem Abstand der Kritik heraus als epistemische Werkzeuge zu behandeln. Anmerkungen 1 Gernot Böhme, Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Berlin 2013, S. 21. 2 Jean-Paul Thibaud, „ The backstage of urban ambiances: When atmospheres pervade everyday experience “ , in: Emotion, Space and Society 15 (2015), S. 39 - 46; https: / / doi. org/ 10.1016/ j.emospa.2014.07.001 [Zugriff am 12.12.2022]. 3 „ Der Leib ist die Empfangsstation für Atmosphären und wirkt auf diese zurück “ . Herman Schmitz, Atmosphären, Freiburg/ München 2016, S. 11. 4 Karen Barad, „ Posthumanist Performativity: Toward an understanding of how matter comes into matter “ , in: Signs. Journal of Women in Culture and Society, 28/ 3 (2003), S. 802 - 831, hier S. 814. 5 Vgl. hierzu das programmatische „ making kin “ in Donna J. Haraway, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham/ London 2016. 6 Vgl. B. Joseph Pine II, James H. Gilmore, The Experience Economy, Boston 2011. 7 Paul Roquet, Ambient Media. Japanese Atmospheres of Self, Minneapolis/ London 2016, S. 5. 8 Ivan Krastev, „ Auf dem Weg in die Mehrheitsdiktatur “ , in: Heinrich Geiselberger (Hg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017, S. 117 - 134, S. hier 123. 38 Johanna Zorn Compost Turn. Neue Bestattungsprodukte im Spannungsfeld von Ökologie und Atmosphäre Silke Felber (Wien) Seit 2021 ermöglicht ein deutsches Unternehmen die Kompostierung menschlicher Leichname und bietet Hinterbliebenen ein dazugehöriges Ritual an. Der Beitrag widmet sich diesem Phänomen aus theatertheoretischer sowie diskursanalytischer Perspektive. Er fragt nach den konkreten Verfahren der Affizierung, die im Bewerben des Bestattungsprodukts namens Reerdigung implementiert werden, und fokussiert auf die spezifischen Begehrnisse (Böhme), die dabei adressiert bzw. evoziert werden. Das verkaufte Versprechen, als Kompost (wieder) in den Erdkreislauf einzugehen, reagiert, so die Prämisse, auf ein gegenwärtig im globalen Norden verstärkt zutage tretendes soziales Bedürfnis, dem Drang nach Luxus und Verschwendung etwas Bleibendes, Einzigartiges und ökologisch Vertretbares entgegenzusetzen. Paradoxerweise aber ist es ausgerechnet das den anthropozentrischen Raubbau vorantreibende Prinzip der Akzeleration, das das ökologisch bewahrende, ästhetisierte Produkt Reerdigung erst hervorbringt. Die Vorstellung einer Holzkiste, in der sein verstorbener Sohn tief in die Erde hinabgesenkt wird, um sich nahtlos einzufügen in Reihen anderer, ihrer Verwesung entgegenblickender Leiber, war dem niederländischen Psychologen und Dichter Frederik van Eeden ein Graus. In seinem 1914 entstandenen Text Pauls Erwachen träumt er davon, die Überreste seines Kindes direkt in der Erde zu bestatten: Ich will gern die teuren Reliquien meines Kindes der Erde geben, auf daß sie es in sich aufnehme und nutzbar mache zu neuem Leben. Aber dann sollte es so sein, daß die Erde unmittelbaren Zugang zu ihm hat und so schnell wie möglich den reinigenden, auflösenden Prozeß beginnen kann. Unglaublich peinigend sind mir die banalen Häßlichkeiten eines Kirchhofes mit Steinen, die aussehen wie Zuckerdosen oder Tortenschachteln, und allen den Dingen, die das Volk ohne Geschmack einander nachahmt. 1 Es sind diese Zeilen, die den Architekten Bruno Taut zu einem leidenschaftlichen Plädoyer für eine neue Art der Bestattung inspirierten. In einer 1916 erschienenen Ausgabe der Zeitschrift Die Gartenkunst fordert er, Erd- oder Feuerbestattung künftig durch etwas zu ersetzen, das er als ‚ Vererdung ‘ bzw. ‚ Perhumierung ‘ bezeichnet: „ Der tote Körper, der nun doch einmal aus der Sphäre des Lebendigen gerissen einem ganz neuen Kräfte- und Materienkreis eingeordnet ist, soll in Muttererde, Humusboden verwandelt werden. “ 2 Das Bestattungswesen von morgen habe sich nichts anderem zu widmen als der Pflege dieser Verwandlung, so Taut. Es sollte mehr als 100 Jahre dauern, bis die Visionen van Eedens und Tauts Wirklichkeit wurden. Seit 2020 nimmt das USamerikanische Unternehmen Recompose an seinem Standort südlich von Seattle Leichen zur menschlichen Kompostierung an. 3 Zurückzuführen ist dieses Konzept auf das 2014 gegründete Urban Death Project, mit dem Forum Modernes Theater, 34/ 1, 39 - 53. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0005 die Architektin und Designerin Katrin Spade das Ziel verfolgte, ein neues System zu entwickeln, das imstande ist, menschliche Körper innerhalb kürzester Zeit in Erde zu transformieren. Der Leichnam wird dabei gemeinsam mit Stroh, Heu, Holzspänen und Blumen in einen sargähnlichen Container aus Edelstahl gelegt, der alle paar Tage gewendet wird. Feuchtigkeit und Sauerstoff innerhalb dieses Containers werden maschinell gesteuert, sodass die Temperatur innerhalb des Behälters 70 Grad Celsius erreicht, was zu einer Verwesungszeit von etwa fünf Wochen führt. Innerhalb dieser Zeitspanne werden die menschlichen Überreste, so versprechen es die Erfinder*innen, zu wiederverwertbarem Kompost, der je nach Vorliebe der verstorbenen Person bzw. deren Angehöriger bepflanzt werden kann. Auch der Container, innerhalb dessen der Kompostierprozess vonstatten geht, wird wiederverwendet. Dank des Berliner Start-Ups Circulum Vitae GmbH gibt es mittlerweile auch in Deutschland die Möglichkeit, eine Kompostierung des eigenen Körpers prae mortem zu veranlassen. Nachdem das Land Schleswig- Holstein zum Schluss gekommen war, dass das Prinzip der ,Reerdigung ‘ (so der offizielle Produktname) dem Bestattungsgesetz entspreche, wurde im Frühjahr 2022 erstmals in Europa eine verstorbene Person in einen so genannten ‚ Kokon ‘ gebettet und der daraus gewonnene Kompost daraufhin beigesetzt. In Deutschland sieht der Bestattungszwang vor, dass die Überreste der oder des Verstorbenen auf einem Friedhof einzuhegen sind und somit öffentlich betrauerbar bleiben. Es ist also nicht möglich, die kompostierte Erde im eigenen Garten zu verarbeiten. In meinem Beitrag werde ich den konkreten Verfahren der Affizierung nachspüren, die Circulum Vitae GmbH im Bewerben dieses neuen Bestattungsprodukts implementiert, und werde auf die spezifischen Begehrnisse fokussieren, die dabei adressiert bzw. evoziert werden. Unter Begehrnissen verstehe ich mit Gernot Böhme unter den Vorzeichen des Turbokapitalismus entstehende Bedürfnisse, „ die dadurch, dass man ihnen entspricht, nicht gestillt sondern gesteigert werden. “ 4 Das verkaufte Versprechen, als Kompost (wieder) in den Erdkreislauf einzugehen, reagiert, so die Prämisse, auf ein gegenwärtig im globalen Norden verstärkt zutage tretendes soziales Bedürfnis, dem Drang nach Luxus und Verschwendung etwas Bleibendes, Einzigartiges und ökologisch Vertretbares entgegenzusetzen. Paradoxerweise aber ist es ausgerechnet das den anthropozentrischen Raubbau vorantreibende Prinzip der Akzeleration, das das ökologisch bewahrende, ästhetisierte Produkt ‚ Reerdigung ‘ erst hervorbringt. Der menschliche Verwesungsprozess, der im Durchschnitt 15 Jahre beträgt, wird hier durch technomorphes Zutun auf wenige Wochen verkürzt. Ausgehend von diesen Annahmen fragt der Beitrag danach, wie Circulum Vitae GmbH das von mir als ‚ cultural performance ‘ gelesene Kompostierereignis atmosphärisch-rituell auflädt. Cultural Performances unterliegen in theoretischer Hinsicht den gleichen Voraussetzungen wie theatrale Ereignisse: Sie sind zeitlich begrenzt, entbehren der Möglichkeit einer exakten Wiederholung, sind in Verlauf und Wirkung unwiederbringbar und setzen die räumliche Ko-Präsenz von Perzipierenden voraus. 5 Das Produkt ‚ Reerdigung ‘ im Rückgriff auf theatertheoretische Konzepte zu analysieren, fordert allerdings ein an lebendigen, humanen Akteur*innen orientiertes Verständnis von Performance heraus, das in der Theaterwissenschaft und den Performance Studies erst nach und nach kritisch hinterfragt wird, wie Rebecca Schneider hervorhebt: Though many scholars, including myself, have argued that theatrical performance is a mode of haunting, ghosting, or inhabiting 40 Silke Felber nonlinear time [ … ], for most scholars performance is still commonly thought of as work made by living beings (including animals) who are present in and to time. For most, if living humans are not present to a performance themselves, then living humans must hide somewhere in the wings of actions, or be the ones to ultimately bear agential responsibility for the actions of objects or animals or plants or even [ … ] algorithms. 6 Will man dem Atmosphärischen von Performances innerhalb der Künste wiewohl darüber hinaus hinreichend auf den Grund gehen, so ist der Fokus auf die darin involvierten humanen Akteur*innen unzureichend. Schließlich sind es vor allem die „ Ekstasen der Dinge “ 7 , die Gernot Böhme zufolge den Eindruck von Atmosphäre erzeugen, indem sie auf die Perzipierenden einwirken. Um die Affektivität von Performances fundiert erfassen zu können, benötigt es eine Perspektive, die sich nicht auf Körper und Stimme menschlicher Akteur*innen beschränkt, sondern die vielmehr transindividuelle Prozesse berücksichtigt und dabei Objekte und materielle Arrangements miteinbezieht. 8 Besonders gilt dies für Cultural Performances im Kontext von Tod und Bestattung. Begraben und Bepflanzen - Bestattungskulturen im Wandel der Zeit Der Siegeszug des europäischen Zentralfriedhofs, wie wir ihn heute kennen, ist sowohl Produkt (pseudo-)medizinischen Fortschritts als auch ökologisch-ästhetischer Bestrebungen. Das wachsende Bewusstsein über die physikalischen Eigenschaften und die chemische Zusammensetzung von Luft sowie die im Zuge der Ansteckungstheorie befeuerte Angst vor einer atmosphärischen Verseuchung durch Leichengifte (dazumal als ,Miasmen ‘ bezeichnet) führten im ausgehenden 18. Jahrhundert dazu, Hospitäler, Schlachthöfe sowie innerörtliche Begräbnisstätten an den Stadtrand zu verlegen. 9 Die alles überdeckende Angst vor unkontrollierbaren Ausdünstungen und verderblichen Lüften diktierte die Praxis, Tote und Kranke in Schach zu halten und sie geographisch von den Lebenden abzugrenzen. Diese Distanzierung trug ein progressives Gesicht, wie die Theologin Sabine Bobert unterstreicht: „ Hygienische Rationalität siegte über die christlich begründete und gelebte Gemeinschaft von lebenden und toten Gliedern der Gemeinschaft. “ 10 Tatsächlich ging mit der Auslagerung der Friedhöfe auch ihre Ablösung von den Kirchen einher. Religionsgemeinschaften verfügten um 1800 zwar nach wie vor über das Recht, eigene Friedhöfe anzulegen, unterlagen dabei aber biopolitischen Bestrebungen im Hinblick auf Hygiene und Gesundheit. Diese Bestrebungen entsprechen in nuce jenen Maßnahmen, die Alain Corbin als Resultat eines gegen Ende des 18. Jahrhunderts europaweit erstarkenden Gesundheitswesens identifiziert hat, nämlich „ [a]useinanderrücken, dem Menschengedränge Luft schaffen, den Raum der städtischen Einrichtungen neu aufteilen [ … ] “ 11 . Folgerichtig kreisten auch die Konzipierung des außerstädtischen Friedhofs und die damit einhergehende Einführung des Reihengrabs hauptsächlich um Fragen des richtigen Abstands - nämlich einerseits um den zwischen Begräbnisplätzen und Wohngebieten und andererseits um jenen zwischen den einzelnen Gräbern. Die im Namen der Hygiene eingeführte reihenweise Bestattung kam dem Gleichheitsideal der Aufklärung entgegen, wurden die Beisetzungen doch chronologisch nach Sterbedatum und ohne Rücksicht auf sozialen Rang, Familienstand oder Konfession der Ablebenden abgewickelt. 12 Beispielhaft für diese neue Bestattungskultur ist der 1787 - 89 von Friedrich W. Erdmannsdorff streng symmetrisch konzipierte Neue Begräbnisplatz in Dessau, der ursprünglich 41 Compost Turn. Neue Bestattungsprodukte im Spannungsfeld von Ökologie und Atmosphäre keinerlei Grabzeichen vorsah und den Friedrich Hölderlin nicht nur mit „ recht viel Menschlichkeit “ , sondern auch mit „ Schönheit “ 13 in Verbindung brachte. Tatsächlich steht Dessau prototypisch für einen „ vernünftigen und schönen Friedhof “ 14 und markiert die Anfänge einer Ästhetisierung des Bestattungswesens. Beispielhaft manifestiert sich diese Verquickung in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften, der sich vermutlich an Dessau orientiert. Im zweiten Teil des Romans zeigt sich Charlotte begeistert von der Idee des Architekten, im Kirchhof die Grabhügel zu plätten, die verbleibende Fläche mit Klee zu bepflanzen und die Grabsteine ihrem Alter nach an der Kirchmauer aufreihen zu lassen. 15 Walter Benjamin hat diese Passage zum Anlass genommen, den Handelnden des Romans Bedenken- und Rücksichtslosigkeit sowie Blindheit „ gegen dasjenige, was Wirkliches dem Gefürchteten einwohnt “ 16 , vorzuwerfen. Interessant in unserem Kontext aber ist, dass Charlottes revolutionäres Ansinnen, den Friedhof „ als ästhetischen Raum “ 17 neu zu konzipieren, den Boden für ein Zusammendenken von Landschaftsgärtnerei und Totenkult ebnet. Wenngleich Christian Cay Lorenz Hirschfeld in seiner Theorie der Gartenkunst (1779 - 85) 18 zwar bereits vorgeschlagen hatte, Friedhöfe mit landschaftsgärtnerischen Elementen aufzuwerten, so setzten sich Parkfriedhöfe in Deutschland erst mit der Eröffnung des Ohlsdorfer Friedhofs 1877 durch. Die von Wilhelm Cordes geplante und an amerikanischen Vorbildern ausgerichtete Grabstätte bestach mit Wiesen, Teichen, Blumenhainen und einem Rosengarten und wurde 1900 im Rahmen der Pariser Weltausstellung mit einem Grand Prix ausgezeichnet. 19 Mit dem aufkommenden Denkmalkult des gehobenen Bürgertums zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden der zeichenlose Friedhof und die mit ihm verbundene demokratisch-ästhetische Utopie einer Gleichheit aller ehemals Lebendigen, die Charlotte in Die Wahlverwandtschaften so wortreich hochhält, erfolgreich verdrängt. Die Grabmäler gestalteten sich immer ausgefallener und steigerten sich schließlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts „ zu einem Ausdrucksmittel opulenter Selbstrepräsentation “ 20 . Bald schon freilich sorgten die fortschreitende Industrialisierung und die damit verbundenen Beschleunigungsprozesse in Produktion und Transport dafür, dass Grabsteine für eine breite Bevölkerungsschicht leistbar wurden. Nun war es auch sozial und ökonomisch benachteiligten Gruppen möglich, dem Bedürfnis nach materialisierter Erinnerung in Form eines individuell gestalteten Grabmals zu entsprechen. Die zunehmende Ästhetisierung des Friedhofs hebt sich radikal von der spezifischen Utilität des herkömmlichen Kirchhofs ab: Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden Kirchhöfe grundsätzlich landwirtschaftlich genutzt und dienten dem Anbau von Obst und Klee oder als Weideland. Wenn hier Bäume oder Büsche gesetzt wurden, so geschah dies ausschließlich aus hygienischen Gründen bzw. im Zeichen der ‚ Miasmen ‘ -Bekämpfung. Nur allmählich entwickelte sich die Bepflanzung zum wesentlichen Gestaltungselement eines neuen Friedhofs, der nicht ausschließlich zum individuellen Betrauern, sondern auch zum Flanieren einlud. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts war der Übergang vom hauptsächlich landwirtschaftlich genutzten Friedhof zum reinen Zierfriedhof in Deutschland vollzogen. 21 Die Vorstellung, Friedhöfe mit menschlichem Kompost zu bepflanzen, blieb jedoch noch länger ein Tabu. Was also hat einen diesbezüglichen Paradigmenwechsel induziert? 42 Silke Felber Atmosphäre als Ware Wenngleich Bestattungsunternehmen nach wie vor in einem höchst tabuisierten Bereich arbeiten, so gestaltet sich das Geschäft mit dem Sterben heute anders als noch vor 20 Jahren. In ihrer Studie Bestatter im 20. Jahrhundert kommt Dagmar Hänel zum Schluss, dass sich die Selbstdarstellung von deutschen Bestattungsunternehmen bis in die 1990er Jahre hinein äußerst stereotyp gestaltete und durch eine signifikante „ Ausgrenzung der Objektivationen des Todes “ 22 auszeichnete: Särge und Urnen seien damals schlichtweg nicht in Schaufenstern in Erscheinung getreten. Im Gegensatz dazu streben Bestattungsinstitute in den letzten Jahren nach einem neuen, weltzugewandten Image, das weniger auf eine Verschleierung als vielmehr auf die Sichtbarmachung des Todes fokussiert. 23 Mittlerweile hat die Branche eine Vielzahl an Bestattungsformen hervorgebracht, die es dem Subjekt erlauben, seinen auf Einzigartigkeit abzielenden Lebensstil auch über den Tod hinaus zu performen. Konsument*innen können heute nicht nur zwischen Erd- und Feuerbestattung entscheiden, sondern auch darüber, ob ihre sterblichen Überreste verstreut, in einem Friedwald beigesetzt oder zu einem Erinnerungsdiamant vetrifiziert werden sollen. Diese zumal hedonistische Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod widerspricht paradoxerweise der spezifischen Tabuisierung, mit der die Phänomene Altern und Sterben heute nach wie vor bzw. wieder belegt sind. 24 Darüber hinaus aber kommt die lebensweltliche Ausrichtung der Befassung mit dem eigenen Ableben jenem neuen Interesse gleich, das dem Tod bereits zu Zeiten der Romantik entgegengebracht worden ist. „ Der Tod in der Romantik erforderte intensive Klage und bleibendes Andenken. Diese neue Kulturströmung, nicht die Kirche, gab wesentliche Impulse für den Friedhofskult im 19. und 20. Jahrhundert. “ 25 Vor diesem Hintergrund gewinnen Andreas Reckwitz ’ Ausführungen zu einer Gesellschaft der Singularitäten an Brisanz. Als prägende Kraft für unseren gegenwärtigen, sich im Zuge des postindustriellen Zeitalters ausdifferenzierenden individualistischen Lebensstil führt der Soziologe nämlich ebenfalls die Romantik mit ihren Vorstellungen einer entschiedenen Individualität des Subjekts ins Feld. 26 Die wesentliche Bedeutung dieser kulturellen Strömung liegt Reckwitz zufolge darin, „ dass sie das menschliche Subjekt erstmals radikal an der Besonderheit ausrichtet, die unter der Semantik ,Individualität ‘ verhandelt wird. Dieser dient anschließend eine umfassende Singularisierung sämtlicher Elemente der Welt. “ 27 Die Kunsterfahrung und ihr spezifisches, auf das Momentane fokussierende Zeitbewusstsein spiele dabei eine ebenso große Rolle wie u. a. die Erfahrung der Natur, die Erfahrung der affektiven Verbundenheit zu anderen sowie die „ singuläre Gestaltung der Dingwelt “ 28 . Im Folgenden möchte ich zeigen, inwiefern sich diese spezifische Durchdringung unterschiedlicher Sphären in der inszenatorischen Strategie von Circulum Vitae GmbH widerspiegelt. In seinen Überlegungen zu einem Ästhetischen Kapitalismus hat Gernot Böhme festgehalten, dass Waren heute in besonderer Art ausstaffiert werden, um ihren Tauschwert zu erhöhen. „ Man gibt ihnen ein bestimmtes Aussehen, sie werden ästhetisiert, und sie werden in der Tauschsphäre inszeniert. “ 29 Weil diese ästhetischen Eigenschaften der Waren nicht ausschließlich im Tauschzusammenhang, sondern auch in Bezug auf ihren Gebrauch wesentlich sind, entwickeln sie sich im Zeitalter der ästhetischen Ökonomie zu einem eigenständigen Wert. Waren evozieren laut Böhme „ einen neuen Typ von Gebrauchswert, der sich vom Tauschwert ableitet, insofern nämlich nun 43 Compost Turn. Neue Bestattungsprodukte im Spannungsfeld von Ökologie und Atmosphäre von ihrer Attraktivität, ihrer Ausstrahlung, ihrer Atmosphäre Gebrauch gemacht wird: Sie selbst dienen der Inszenierung der Ausstaffierung und Steigerung des Lebens. “ 30 Aus der Marketingforschung wissen wir mittlerweile zudem, dass sich Unternehmen immer weniger am Verkauf einzelner Produkte als vielmehr an Kund*innenakquise und -bindung orientieren. Um derartige Marketingziele zu erreichen, spielt gerade die bewusste Herstellung von Atmosphäre eine immense Bedeutung, wie der Wirtschaftswissenschafter Philip Kotler bereits in den 1970er Jahren prognostiziert hat: [I]n many areas of marketing in the future, marketing planners will use spatial aesthetics as consciously and skillfully as they now use price, advertising, personal selling, public relations, and other tools of marketing. We shall use the term atmospherics to describe the conscious designing of space to create certain effects in buyers. More specifically, atmospherics is the effort to design buying environments to produce specific emotional effects in the buyer that enhance his purchase propability. 31 Mittlerweile herrscht in der Marketingforschung auch ein Bewusstsein darüber, dass die Wahrnehmung und Bewertung von intentional hergestellten Atmosphären stark von sozialen Faktoren abhängen. Einzelne Verbraucher*innen reagieren je nach Markern wie Geschlecht, Alter oder Beruf unterschiedlich auf atmosphärische Interventionen. 32 Zu den ‚ atmospheric cues ‘ , mit denen Marketing arbeitet, gehören heute nicht mehr nur die Architektur von Firmen- und Geschäftsgebäuden, Layout, Beschilderung und Auslagen, Farben, Beleuchtung, Temperatur, Geräusche und Gerüche. Die Sprache des Atmosphärischen findet mittlerweile großteils im virtuellen Raum Gehör und inkludiert sämtliche ikonografischen und auditiven Elemente, die für die Gestaltung von Websites und ihrer Layouts verwendet werden, wie beispielsweise Farbschema, Symbole, Hyperlinks, Plug-Ins, Schriftart, Webgrenzen und musikalische Add-Ons. Sie alle sind an der Herstellung von ‚ web atmospherics ‘ beteiligt, unter der Lynn Dailey die bewusste Gestaltung von Webumgebungen fasst, die den Zweck erfüllen sollen, bestimmte affektive und kognitive Effekte bei den Nutzer*innen zu erzeugen, um damit positive Reaktionen der Verbraucher*innen zu erzielen (z. B. Wiederbesuche der Website, Browsing usw.). 33 Werfen wir also zunächst einen Blick auf den Webauftritt des Unternehmens Circulum Vitae GmbH und sehen uns an, wie das Produkt ‚ Reerdigung ‘ dort atmosphärisch angereichert und beworben wird. Die animierte Startseite reerdigung.de gibt den Blick frei auf einen lichtdurchfluteten, moosigen Mischwald. Überblendungstechniken vermitteln der Besucherin ein volatiles Gefühl des Schwebens und suggerieren ihr, Teil der porträtierten Umgebung zu sein. Der im Zentrum der Seite aufpoppende Werbetext ist eingängig: „ Werde Erde. In 40 Tagen wird durch eine Reerdigung aus einem Körper wertvolle Erde. “ 34 Vergleichsweise unscheinbar muten hingegen die beiden Menüpunkte ‚ Transformation ‘ und ‚ Nachhaltigkeit ‘ an, die am linken oberen Seitenrand darauf warten, von der Benutzer*in angeklickt zu werden. Der Inhalt der beiden Menu-Items ist identisch, jedoch unterschiedlich angeordnet. Unter Bezugnahme auf Piktogramme rahmt das Unternehmen den Kompostierprozess als einen fünf Stadien durchlaufenden „ Kreislauf der Natur “ 35 , innerhalb dessen der Körper der oder des Verstorbenen zunächst mit Blumen, Grünschnitt und Stroh bedeckt und in einen als ‚ Kokon ‘ bezeichneten Container gebettet werde. Die dabei herrschenden „ optimale[n] Bedingungen “ würden gemeinsam mit der Arbeit von Mikroben die Transformation der Leiche „ in frucht- 44 Silke Felber bare Muttererde “ bewirken: „ Keine Würmer und ohne Chemie. “ 36 Das Ende dieses Vorgangs markiere gleichzeitig einen Anfang: „ Ihr Körper ist zu Humus geworden, auf dem nun neues Leben gedeihen kann. “ 37 Abb. 1: Screenshot https: / / www.reerdigung.de/ Circulum Vitae GmbH macht die Vorstellung des Kreislaufs sowohl in metaphysischer Hinsicht nutzbar als auch im Hinblick auf ein spezifisches Bedürfnis nach Nachhaltigkeit, das sich als Unique Selling Point des Unternehmens herausstellt: Im Unterschied zu alternativen Möglichkeiten der letzten Ruhe wie Seebestattung, Friedwald oder Vetrifizierung geht der Reerdigung nämlich keine Verbrennung des Leichnams voraus. Das Unternehmen setzt vielmehr auf eine spezifische Wiederbelebung der herkömmlichen Erdbestattung (mit Baudrillard könnte man diesbezüglich von „ kulturellem Recycling “ 38 sprechen). Während bei jeder Feuerbestattung etwa eine Tonne CO ₂ verpuffe, gestalte sich das lediglich auf Temperatursteuerung zurückgreifende Kompostierverfahren, das im Rahmen der Reerdigung zum Einsatz gelangt, vergleichsweise umweltschonend, so der Werbetext: Signifikante CO ₂ Einsparung gegenüber einer Feuerbestattung Etwa 1 Tonne CO ₂ pro Reerdigung kann im Vergleich eingespart werden. Einerseits wird kein CO ₂ durch Verbrennung von Erdgas, Körper und Sarg in die Atmosphäre entlassen. Andererseits wird bei der Zersetzung viel Kohlenstoff im Humus gebunden und nicht in die Luft freigegeben. 39 Auf sprachlicher Ebene sticht hier der von parataktischem Satzbau geprägte, mit spezifischen ökologischen Termini, konkreten Zahlen und minutiösen Details zum beworbenen Kompostierverfahren versetzte Nominalstil ins Auge. Adressiert wird dadurch ein genuin rationales Verständnis von Leben und Tod, innerhalb dessen der Begriff der ‚ Atmosphäre ‘ auf die chemische Zusammensetzung und oxidierende Beschaffenheit der Erdoberfläche verweist. An anderer Stelle heißt es diesbezüglich: „ Der Tod ist tiefgreifend, bedeutsam und jenseits unseres Verstehens. Aber eine Reerdigung verstehen wir genau. “ 40 Gleichzeitig jedoch - und das scheint mir wesentlich zu sein - werden die Betreiber*innen von Circulum Vitae GmbH auch einem intuitiven, spirituellen Denken von (Über-)Leben und Sterben gerecht. So heißt es auf der Website: Lebensbejahend im Vergleich zu einer Feuerbestattung In vielerlei Hinsicht sind Reerdigung und Einäscherung sehr gegensätzlich. Die Umwandlung der menschlichen Überreste in lebendigen Boden unterstützt das Aufblühen des zukünftigen Lebens. Die Umwandlung in Asche unterbricht den Lebenszyklus und lässt unsere Materie in Rauch aufsteigen. 41 Bemerkenswert an dieser Passage ist, dass sie sich ex negativo auf das bereits in der Genesis des Alten Testaments verankerte Ideal eines unversehrten, im Grab seiner Auferstehung entgegenblickenden Leichnams bezieht. Diese Vorstellung wurde vor allem von der katholischen Kirche im Kampf gegen die um 1900 europaweit aufkommenden Bestrebungen hinsichtlich einer Wiedereinführung der Feuerbestattung mit Vehemenz in Anschlag gebracht. 42 1886 untersagte der Vatikan unter Papst Leo XIII seinen Mitgliedern strengstens, sich oder Dritte einäschern zu lassen 45 Compost Turn. Neue Bestattungsprodukte im Spannungsfeld von Ökologie und Atmosphäre oder einem Feuerbestattungsverein beizutreten. Eine diesbezügliche Änderung sollte erst 1964 vorgenommen werden. Umso interessanter ist es, dass das Unternehmen Circulum Vitae GmbH zwar betont, sein Produkt in Abstimmung mit Vertretern ‚ unterschiedlicher ‘ Religionsgemeinschaften gestaltet zu haben, dabei aber ausgerechnet jenen alttestamentarisch (1. Mose 3,19) verankerten Satz zitiert, der elementarer Bestandteil ‚ christlicher ‘ Begräbniszeremonien ist: „ Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir wieder werden, Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. “ 43 Performing Compost Bezeichnenderweise entzündete sich die katholische Kritik an der Verbrennung von Leichen vor allem an der durch den menschlich-maschinellen Eingriff evozierten Beschleunigung der Putreszenz. Die Verkürzung des als ‚ natürlich ‘ aufgefassten Verwesungsprozesses, so die verbreitete Auffassung, würde auch die damit unmittelbar korrelierende Trauerzeit empfindlich einschränken. 44 Umgekehrt bewarben die Befürworter*innen der Feuerbestattung den beschleunigten Verwesungsprozess mit Sicherheit und Kontrolle über den Leichnam: Wir haben [ … ] in dieser Form der Verbrennung eine Art der Leichenbestattung gewonnen, welche wirklich ohne irgendwelche Nachtheile für die Lebenden ist, und welche die theuren Reste lieber Verblichener in der schonendsten Weise, ohne sie mit irgend welchen fremden Stoffen zu mengen und in möglichst kurzer Zeit einer sicheren raschen Verwesung oberhalb der Erde übergiebt, statt sie der unsicheren, langsamen Verbrennung unterhalb der Erde auszusetzen, welche zu leicht in Fäulniß ausartet und dann den Lebenden Verderben und Tod bringt. 45 Die Passage legt Zeugnis ab für eine sich im Laufe der Moderne im globalen Norden herausbildende Gesellschaft, innerhalb derer bestimmte Lebensbereiche einer drastischen Beschleunigung anheimgefallen sind. Hartmut Rosa arbeitet in diesem Zusammenhang drei empirisch zu differenzierende Kategorien heraus (technische Beschleunigung, Beschleunigung des sozialen Wandels und Beschleunigung des Lebenstempos) und bestimmt zwei externe Motoren, die die Akzeleration kontinuierlich vorantreiben. Einerseits, so Rosa, seien soziale und technische Beschleunigung logische Folgen einer auf Wettbewerb und Profit abzielenden kapitalistischen Ökonomie, die in sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens eindringt. 46 Andererseits sei Beschleunigung in modernen, säkularen Gesellschaften ein „ Äquivalent für die (religiöse) Verheißung eines ewigen Lebens “ 47 . Das Akkumulieren von im Diesseits gelebten Erfahrungen und genutzten Möglichkeiten trete heute an die Stelle der Vorstellung eines Lebens ‚ nach ‘ dem Tod. Die Folge sei eine intendierte Beschleunigung des Lebenstempos, um die Anzahl von Erlebnissen maximal zu steigern. 48 Sowohl die gegen Ende des 19. Jahrhunderts propagierte Idee der Feuerbestattung als auch das Konzept der Reerdigung können als Symptome dieser Entwicklung gelesen werden. Sie korrelieren mit dem, was Rosa als „ eudaimonistische Verheißung der modernen Beschleunigung “ bezeichnet, d. h. die „ Vorstellung, daß die Beschleunigung des Lebenstempos unsere (also die moderne) Antwort auf das Problem der Endlichkeit und des Todes ist. “ 49 Die moderne Wachstumsökonomie kurbelt im Individuum offenbar nicht nur den Wunsch nach Akzeleration seines Lebenstempos an, sondern auch nach der Beschleunigung seines Verfalls. Wie aber wirkt sich dieses Phänomen auf unseren Bezug zu Ritualen aus? In seiner Abhandlung Vom Verschwinden der Rituale stellt Byung-Chul Han Überlegungen an, die anschlussfähig an Hartmut 46 Silke Felber Rosas Thesen sind. Han zufolge verschwinde die symbolische Wahrnehmung in einer Welt, die von exponentiell steigenden Veränderungsraten und von einem unaufhaltsamen Drang nach immer neuen Erlebnissen geprägt ist, mehr und mehr zugunsten einer vom neoliberalen Regime angekurbelten seriellen Wahrnehmung, die sich etwa im medialen Rezeptionsphänomen des ‚ Binge Watchings ‘ manifestiert. Das, was dadurch abgeschafft werde, so Han, sei die ‚ Dauer ‘ . Der ununterbrochene Zwang der Produktion unterstütze eine spezifische ‚ Enthausung ‘ , d. h. ein von Vergänglichkeit und Unbeständigkeit geprägtes Leben, das dem auf Dauer ausgerichteten ‚ Wohnen ‘ diametral gegenüberstehe. 50 Rituale wiederum lassen sich mit Han als „ symbolische Techniken der Einhausung “ definieren, die „ das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause- Sein “ verwandeln. 51 Sie wirken sinnstiftend, strukturierend und trostspendend. Folgerichtig bewirbt Circulum Vitae GmbH ihr Bestattungsprodukt mit Konzepten des Behausens, greift dabei jedoch auf Termini zurück, die sowohl der Welt des Bauens als auch der Sphäre der Fauna entstammen. So wird der Container, innerhalb dessen der Kompostierprozess vorangetrieben wird, als Kokon sowie als Ruhebett bezeichnet, die den Verstorbenen geborgen halten würden. Das Gebäude, innerhalb dessen die sogenannte Transformation vonstatten geht, nennt das Unternehmen Alvarium, d. h. Bienenstock. 52 Diese Werbestrategie entspricht nicht nur der Logik eines von der Virtualität des Überflusses gezeichneten Marktes, der, wie es Baudrillard formuliert hat, „ eine wiedergefundene, unerhört fruchtbare Natur [imitiert] “ 53 . Sie adressiert auch Bedürfnisse nach Sinn und Nützlichkeit, die die Idee des Recyclings zu befriedigen verspricht: Das Konzept der Kreislaufwirtschaft, das die menschliche Finalität in ein zyklisches Zeitverständnis transzendiert, widersagt dem Vernutzen, dem Erschöpfen des Vorhandenen sowie dem endgültigen Ablauf der (Lebens-)Zeit. Gleichzeitig erweist es sich als anschlussfähig an die sowohl innerhalb ökonomischer als auch religiöser Traditionen wertgeschätzte Tugend der Sparsamkeit. 54 Recycling lässt sich mithin nicht nur als pragmatische Antwort auf stetig wachsende Müll- und Abfallberge lesen, sondern auch als Versuch, einem teleologischen Fortschrittsdenken sowie der Endlichkeit des Todes etwas Produktives entgegenzusetzen. 55 Darüber hinaus subvertiert das Konzept der Rezyklierung die Dichotomien von Natur und Kultur, Sauberkeit und Schmutz, Ordnung und Unordnung, Erinnern und Vergessen. All diese Grenzen, so die Kulturwissenschafterin Susanne Hauser, müssen im Zuge des Recyclings überschritten werden, sodass das vermeintlich Schmutzige in eine symbolische Ordnung der Brauchbarkeit und Sauberkeit übergehen kann: „ Insofern hat jede Wiederverwertung etwas Alchimistisches an sich und ist von vornherein mit dem modernen Sanierungsdiskurs und seinen klaren Trennungen nur schwer mittels technischer Verfahren, Säuberungsprozeduren und neuer Deutungen zu versöhnen. “ 56 Es verwundert also nicht, dass Circulum Vitae das Kompostierereignis als „ geradezu magischen Vorgang der Natur “ 57 bezeichnet und im Umkehrschluss die ausgeklügelte Technik, die dabei zum Einsatz kommt, ausblendet. Pablo Metz, einer der Geschäftsführer*innen des Unternehmens, sagt in einem Interview: Die Natur benötigt eigentlich keine Technik. Und letztendlich ist es genau das, was wir tun: Wir betten diesen Menschen in diesem [sic! ] Kokon, denn da findet die Verwandlung statt, auf einem Bett aus Stroh und Blumen [ … ]. Das Einzige, was wir im Großen und Ganzen tun, ist: Wir kontrollieren und steuern Feuchtigkeit, Temperatur und Sauerstoff und stellen damit den Mikroorganismen die perfekten Bedingungen zur Verfügung. 58 47 Compost Turn. Neue Bestattungsprodukte im Spannungsfeld von Ökologie und Atmosphäre Das eigentliche Revolutionäre also, nämlich die im Zuge jahrzehntelanger Forschung entwickelte Technologie, die es ermöglicht, die durchschnittliche humane Kompostierdauer von 15 Jahren auf wenige Wochen zu reduzieren, bleibt mithin gänzlich unterbelichtet. Die dahinterstehende Maschinerie wird zugunsten der Vorstellung einer „ Natur, die nicht zu 100 % gleichmäßig arbeitet “ 59 , maskiert, unkenntlich gemacht. Paradoxerweise aber ist mit der Beschleunigung, die der Kompostierprozess dank des eingesetzten innovativen Verfahrens erfährt, eine zeitliche Dehnung des in Anlehnung daran konzipierten Rituals verbunden. Indem nämlich den Trauernden ermöglicht wird, den alle paar Tage stattfindenden Drehungen des Kompostiercontainers beizuwohnen, erstreckt sich das Trauerereignis nicht mehr nur auf einen Tag, sondern auf mehrere Wochen - Circulum Vitae GmbH spricht konkret von einer Transformationszeit von 40 Tagen und zitiert damit eine Zahl, der in unterschiedlichen Religionen eine große Symbolkraft zukommt. Innerhalb dieser Zeitspanne wird das als Kokon bezeichnete ‚ Ding ‘ zu einer aus menschlicher und nicht-menschlicher Arbeitskraft, aus Energie und pflanzlichen wie nicht-pflanzlichen Materialitäten bestehenden Maschinerie, die nicht nur an der Verwandlung des Leichnams arbeitet, sondern die auch an der Transformation von trauerbedingten Gefühlszuständen wie Zorn, Hoffnung, Furcht oder Zuversicht teilhat. Wie also lässt sich die Rolle, die dieses Objekt innerhalb des affektiven Transformationsprozesses einnimmt, näher beschreiben? Und inwiefern ist dieses Objekt an der Herstellung der spezifischen Atmosphäre beteiligt, die das Unternehmen Circulum Vitae GmbH vermarktet? Verfahren der Verzauberung In seinen einflussreichen Annäherungen an das Phänomen der Atmosphäre unterstreicht Gernot Böhme das Zusammenspiel der Wirkkraft, die von performativ in Erscheinung tretenden Objekten ausgeht, und der leiblichen Responsivität der Perzipierenden. Demnach erfassen wir die Beschaffenheit von Objekten zunächst einmal nicht funktional, sondern vielmehr auf einer rein körperlichaffektiven Ebene. Innerhalb der bewussten Herstellung von Atmosphäre, mit der wir es im Zuge von theatralen Ereignissen zu tun haben, ist die affektive Aufladung von involvierten Objekten aber auch untrennbar an bestimmte Sinnzuschreibungen geknüpft. Atmosphäre stellt sich hier „ erst in der gegenseitigen Verstärkung, Abschwächung und Wechselwirkung zwischen der Materialität und Referentialität der wahrgenommenen Raumkonstellation her “ 60 . Sabine Schouten exemplifiziert diese Beobachtung, indem sie einen dunklen Bühnenraum vor unseren Augen entstehen lässt, der von den Zusehenden erst nach Beifügung „ zeichenhafte[r] Versatzstücke “ 61 als Ort eines Verbrechens wahrgenommen werden kann. Abb. 2: Screenshot https: / / www.meine-erde.de/ na chhaltige-bestattung#pietaetvoll-und-asthetisch Die besondere Rolle, die solche Versatzstücke innerhalb des leiblich-kognitiven Perzeptionsprozesses im Zuge theatraler Ereig- 48 Silke Felber nisse einnehmen, lässt sich mit Blick auf Cultural Performances noch stärker betonen. So entzündet sich die spezifische Atmosphäre, die Trauerrituale herzustellen imstande sind, genuin an den darin agierenden und symbolisch-affektiv aufgeladenen Gegenständen. Ist das Ritual noch nicht als solches gerahmt, wie im Falle meines Untersuchungsgegenstandes, so hat die Attribuierung der darin involvierten Dinge a priori, d. h. im Zuge der Produktbewerbung zu erfolgen. Tatsächlich beschreiben die als Kokon und Bienenstock bezeichneten ‚ props ‘ eine „ Liturgie des Objekts “ 62 , die sich an religiös und ökonomisch konnotierten Kriterien wie Fleiß und Produktivität orientiert und darüber hinaus sinnstiftend fungiert. In ihrer Kapazität, semantisch unterschiedlich (de-)codiert werden zu können, lassen sich diese Objekte mit Reckwitz als Produkte einer im Laufe der Romantik einsetzenden „ Kulturalisierung der Welt “ begreifen, „ in deren Folge alles von der Seite des Profanen auf jene des Sakralen überwechseln kann. “ 63 Im Gegensatz zur Urne oder zum Erinnerungsdiamant, der aus der Asche von Verstorbenen fabriziert wird, gehen die im Kontext der Reerdigung in Erscheinung tretenden Dinge jedoch nicht in den Besitz eines Individuums über. Sie sind vielmehr Übergangsbehältnisse, ästhetisierte Apparaturen, die im Dienste der Wiederverwertung und der Nachhaltigkeit operieren. Im Zuge dessen produzieren diese recyclebaren Artefakte einen nicht messbaren Mehrwert, der sich ausschließlich im Bereich des Atmosphärischen verorten lässt. Kokon und Alvarium absorbieren sowohl die Aufmerksamkeit der Involvierten als auch unterschiedliche Emotionen und Gefühlsregungen, die zwischen Verstorbener und Trauernder, zwischen Zahlendem und Konsumierenden, zwischen dem so genannten realen und dem virtuellen Raum wabern. Mit Martin Seel gesprochen ist es mithin das Moment ihres ästhetischen Erscheinens, das diese Requisiten „ von ihrem begrifflich fixierbaren Aussehen, Sichanhören oder Sichanfühlen mehr oder weniger radikal abhebt. “ 64 Ästhetisch erfahrbar wird diese Atmosphäre erst durch einen spezifischen „ Einstellungswechsel “ 65 , der aufseiten der Perzipierenden stattzufinden hat und der von den am Ritual Teilnehmenden verlangt, den metallenen Container als Ruhebett und Hort der Verwandlung zu ‚ beglaubigen ‘ . Aus der Perspektive des New Materialism lässt sich diesem von Erika Fischer-Lichte beschriebenen Prozess der umspringenden Perzeption mit der „ figure of enchantment “ 66 begegnen, die die Philosophin Jane Bennett in ihren Überlegungen zu einer politischen Ökonomie der Dinge entwirft. Diese Figur der Verzauberung weist in zwei Richtungen, nämlich einerseits in die des sich verzaubert ‚ fühlenden ‘ Menschen und andererseits in die der Agency von Dingen, die in der Lage sind, Effekte in Menschen und anderen Körpern zu ‚ evozieren ‘ . Bennett rekurriert mithin auf ein spinozistisches und u. a. von Deleuze und Guattari weiterentwickeltes Denken von Affekt, das jedem Körper grundsätzlich Aktivität und Responsivität attestiert. Tatsächlich ist die spezifische affektive Verzauberung, mit der wir es im Kontext des Ereignisses Reerdigung zu tun haben, Resultat eines relationalen wiewohl dynamischen Gefüges. Sie entspringt einer von Karen Barad so bezeichneten ,intra-active performance ‘ 67 , die sich aus den physischen Begegnungen und Zusammenstößen humaner, tierischer, pflanzlicher und technologischer, in das Ritual involvierter Körper ergibt und dabei auf die intrinsische Verkoppelung von individuellem emotionalem Erleben, sozialer und ökologischer Umgebung verweist. In ihrer Publikation The transmission of affect begegnet Teresa Brennan dieser spezifischen Verstricktheit mit 49 Compost Turn. Neue Bestattungsprodukte im Spannungsfeld von Ökologie und Atmosphäre dem Begriff der ‚ affective atmospheres ‘ , worunter sie jenes Gefühl zu fassen versucht, das einen beim Betreten eines Raumes ereilt. Das, was gemeinhin in der Luft liegt, so Brennans von Brian Massumi informierte Überlegung, sind zirkulierende Gefühle, über die wir nicht autonom verfügen, sondern die vielmehr aus den Begegnungen des Körpers mit anderen resultieren. 68 Anstatt dieses faszinierende Zusammenspiel, das dem Reerdigungs-Ereignis zugrunde liegt, in Szene zu setzen, ist Circulum Vitae GmbH tunlichst darauf bedacht, Assoziationen der Furcht und des Ekels, die die Vorstellung des Kompostierens bei Kund*innen potentiell auslöst, in Schach zu halten. In der Rubrik Frequently Asked Questions verneint das Unternehmen die Frage, ob die sterblichen Überreste im Zuge einer Reerdigung „ von Würmern aufgefressen “ 69 würden, explizit: Die Verwandlung in Erde wird ausschließlich von mikroskopisch kleinen Mikroorganismen durchgeführt, die uns ständig umgeben. Durch die Steuerung des Verhältnisses von Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Feuchtigkeit gibt es eine perfekte, natürliche Umgebung, in der wärmeliebende Mikroben ihre Arbeit verrichten können. 70 Die Verrottung wird vom Unternehmen hier also nicht - wie an anderer Stelle - als Werk einer „ Natur, [die] nicht immer zu 100 % gleichmäßig arbeitet “ 71 präsentiert, sondern vielmehr als ein steuerbarer Vorgang, innerhalb dessen der Mensch die Kontrolle darüber hat, welche Organismen und Tiere daran mitarbeiten, und welche angeblich nicht: nämlich Würmer. Dieser kategorische Ausschluss ist insofern interessant, als es gerade der Wurm ist, anhand dessen Bruno Latour die wechselseitige Agency von menschlichen und nichtmenschlichen Organismen vor dem Hintergrund spezifischer ökologischer und soziopolitischer Rahmungen paradigmatisch skizziert hat. In seinen „ Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas “ zeichnet er nach, wie Würmer aus bislang menschlich unerklärlichen Gründen im Amazonas heimisch geworden sind und dort begonnen haben, eine nicht unbeträchtliche Menge an Aluminium zu erzeugen. 72 Das Leichtmetall wiederum bewirkte eine Metamorphose des vormals sandigen Bodens in lehmigen und von Waldbäumen bevorzugten Boden. Aus diesem Grund, so die Schlussfolgerung der von Latour herangezogenen Wissenschafter*innen, habe sich der Wald immer mehr in die Savanne hineingefressen. Offen bleibt dabei, wer innerhalb dieses Handlungsgefüges als die ausschlaggebende Kraft hervorgeht: Die Würmer? Das Aluminium? Die menschlichen Bewohner*innen des Regenwalds? Conclusio Ich möchte abschließend auf Gernot Böhme zurückkommen, demzufolge die ästhetische Ökonomie vier spezifische ,Begehrnisse ‘ hervorgebracht hat: das Bedürfnis nach Ausstattung des Lebens, das Bedürfnis, gesehen bzw. gehört zu werden, das Bedürfnis nach Ruhm und das Bedürfnis nach Mobilität. 73 Im Hinblick auf das Produkt ‚ Reerdigung ‘ lässt sich diese Liste um zwei weitere Begehrnisse ergänzen, die den Logiken des turbokapitalistischen Systems, das sie überhaupt erst hervorbringt, paradoxerweise diametral entgegenstehen: das Bedürfnis nach Nachhaltigkeit und das Bedürfnis nach Transformation. Circulum Vitae GmbH hat auf diese Begehrnisse mit einem Produkt geantwortet, das weder greifbar ist noch in den Besitz einer Konsumentin bzw. eines Konsumenten eingeht. Das, was das Unternehmen durch einen ausgeklügelten Webauftritt einerseits und durch die symbolischaffektive Aufladung spezifischer Artefakte andererseits kreiert bzw. verspricht, ist eine 50 Silke Felber prae mortem zu erwerbende Atmosphäre des Tröstlichen. Die affizierenden Verfahren, die Circulum Vitae GmbH in diesem Kontext einsetzt, ergeben sich aus einer konzisen Verschaltung von digitaler Sphäre und Dingwelt, innerhalb derer Atmosphäre nicht nur zu Werbezwecken evoziert, sondern als Ware ästhetisiert und in Szene gesetzt wird. Im Rückgriff auf die Vorstellung eines ewigen Kreislaufs werden dabei sowohl ökologische wie auch spirituelle Bedürfnisse nach Sinn (-stiftung) adressiert und kommerzialisiert. Anmerkungen 1 Frederik van Eeden, Pauls Erwachen, zit. n. Bruno Taut, „ Die Vererdung. Zum Problem des Totenkults “ , in: Die Gartenkunst. Zeitschrift für Gartenkunst und verwandte Gebiete 31 (1918), S. 78 - 80, hier S. 79. 2 Ebd., S. 79. 3 https: / / recompose.life/ who-we-are/ #history [Zugriff am 02.10.2022]. 4 Gernot Böhme, Ästhetischer Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2018, S. 28. 5 Willmar Sauter, „ Ereignis “ , in: Erika Fischer- Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart und Weimar 2014, S. 96 - 98, hier S. 98. 6 Rebecca Schneider, „ New Materialism and Performance Studies “ , in: TDR 59/ 4 (2015), S. 7 - 17, hier S. 9. 7 Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995, S. 131. 8 Vgl. zu diesem Desiderat auch Doris Kolesch und Matthias Warstat, „ Affective dynamics in the theatre. Towards a relational and poly-perspectival performance analysis “ , in: Antje Kahl (Hg.), Analizing Affective Societies. Methods and Methodologies, London 2019, S. 214 - 229, hier S. 228. 9 Vgl. Barbara Happe, Der Tod gehört mir, Berlin 2012, S. 61 ff. 10 Sabine Bobert, „ Die neuen Entwicklungen der Bestattungskultur aus theologischer Sicht “ , https: / / www.theol.uni-kiel.de/ de/ pro fessuren/ pt-bobert/ team/ bobert/ publikatio nen/ dateien-publikationen-bobert/ Bestat tungskultur.PDF [Zugriff am 02.10.2022]. 11 Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, aus dem Französischen von Grete Osterwald, Berlin 1982, S. 136. 12 Barbara Happe, „ Gottesäcker gegen Mitnacht und freyer Durchzug der Winde. Hygiene auf dem Friedhof des 18. Und 19. Jahrhunderts “ , in: Werner Friedrich Kümmel (Hg.), Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Bd. 7 für das Jahr 1988, Stuttgart 1990, S. 205 - 231, hier S. 224. 13 Reiner Sörries, Ruhe sanft. Kulturgeschichte des Friedhofs, Kevelaer 2009, S. 127. 14 Ebd., S. 132. 15 Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Berlin 2019, S. 155 ff. 16 Walter Benjamin, „ Goethes Wahlverwandtschaften “ , in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. I,1, hg. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2013 S. 123 - 201, hier S. 132. 17 Michael Mandelartz, „ Bauen, Erhalten, Zerstören, Versiegeln. Architektur als Kunst in Goethes Wahlverwandtschaften “ , in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 118 (1999), S. 500 - 517, hier S. 506. 18 Christian Cay Lorenz Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, Stuttgart 1990. 19 Vgl. Barbara Scharf, „ Der Ohlsdorfer Friedhof im Spiegelbild großer Ausstellungen “ , in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 78 (1992), S. 135 - 162, hier S. 140. 20 Happe, Der Tod gehört mir, S. 72. 21 Sörries, Ruhe sanft, S. 136 - 137. 22 Dagmar Hänel, Bestatter im 20. Jahrhundert. Zur kulturellen Bedeutung eines tabuisierten Berufs, Berlin u. a. 2003, S. 171. 23 Vgl. Antje Kahl, „ Das Design bestimmt das Bewusstsein? Die neue Sichtbarkeit im Bestattungswesen “ , in: Thomas Macho/ Kristin Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007, S. 151 - 163, hier S. 156. 24 Vgl. Thomas Macho, „ Sterben zwischen neuer Öffentlichkeit und Tabuisierung “ , in: Franz-Josef Bormann/ Gian Domenico Borasio (Hg.), Sterben. Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens, Berlin/ Boston 2012, S. 41 - 49. 51 Compost Turn. Neue Bestattungsprodukte im Spannungsfeld von Ökologie und Atmosphäre 25 Bobert, „ Die neuen Entwicklungen der Bestattungskultur “ , S. 3. 26 Vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt a. M. 2018, S. 98. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Gernot Böhme, Ästhetischer Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2018, S. 27. 30 Ebd. 31 Philip Kotler, „ Atmospherics as a Marketing Tool “ , in: Journal of Retailing 49/ 4 (1974), S. 48 - 64, hier S. 50. 32 Vgl. Scott Dacko, „ Time-of-Day Services Marketing “ , In: Journal of Services Marketing 26/ 5 (2012), S. 375 - 88; L. W. Turley und R. Milliman, „ Atmospheric Effects on Shopping Behavior: A Review of the Experimental Evidence “ , in: Journal of Business Research 49/ 2 (2000), S. 193 - 211. 33 Vgl. Lynn Dailey, „ Navigational web atmospherics explaining the influence of restrictive navigation cues “ , in: Journal of Business Research 57/ 7 (2004), S. 795 - 803, hier S. 796. 34 https: / / www.reerdigung.de/ [Zugriff am 02.10.2022]. 35 https: / / www.reerdigung.de/ #transformation [Zugriff am 02.10.2022]. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Jean Baudrillard, Die Konsumgesellschaft. Ihre Mythen, ihre Strukturen, Berlin 2015, S. 146 - 150. 39 https: / / www.reerdigung.de/ #anbieter-mei ne-erde [Zugriff am 02.10.2022]. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Zu den progressiven Kräften, die sich für die Wiedereinführung der Feuerbestattung einsetzten, gehörten vor allem Mediziner*innen, Hygieniker*innen, Sozialdemokrat*innen, Anhänger*innen der Arbeiterbewegung und Agnostiker*innen, die mit der Feuerbestattung den herkömmlichen kirchlichen Gebräuchen etwas entgegenzusetzen intendierten. Vgl. hierzu etwa Phönix. Blätter für fakultative Feuerbestattung und verwandte Gebiete des Zentralorgans des Verbandes der Feuerbestattungsvereine deutscher Sprache (seit 1888). 43 https: / / www.reerdigung.de/ #transformation [Zugriff am 02.10.2022]. 44 Happe, Der Tod gehört mir, S. 77. 45 Carl Reclam, „ Die Feuerbestattung “ , in: Die Gartenlaube 19 (1874), S. 308 - 313, hier S. 308. 46 Hartmut Rosa, Beschleunigung und Entfremdung, Frankfurt a. M. 2013, S. 35 - 38. 47 Ebd., S. 39. 48 Ebd., S. 40. 49 Ebd., S. 40 f. 50 Byung-Chul Han, Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, Berlin 2019, S. 16 [Herv. im Orig.]. 51 Ebd., S. 10 [Herv. im Orig.]. 52 Dieses Framing lässt an Hubert Tellenbachs Geschmack und Atmosphäre denken, wo der Begriff der Atmosphäre vor allem im Hinblick auf den Geruch des Nestes verwendet wird. Tellenbach zufolge ist Atmosphäre das, was einem das Gefühl gibt, zu Hause zu sein. Vgl. Gernot Böhme, The Aesthetics of Atmospheres, hg. Jean-Paul Thibaud, New York 2016, S. 1 - 2. 53 Baudrillard, Die Konsumgesellschaft, S. 41. 54 Susanne Hauser, „ Recycling, ein Transformationsprozess “ , in: Anselm Wagner (Hg.), Abfallmoderne. Zu den Schmutzrändern der Kultur, Berlin 2010, S. 45 - 62, hier S. 47. 55 Interessanterweise arbeiten die Unternehmer*innen von Circulum Vitae GmbH auf der Symbolebene mit einem Emblem, das dem sogenannten „ Grünen Punkt “ , also dem gängigen Recycling-Symbol, ähnelt. Es besteht aus zwei, einen Kreis bildenden und dabei in unterschiedliche Richtungen weisenden Pfeilen. Mit dem Pfeil aber ist ein Symbol aufgerufen, das der Idealvorstellung der Kreislaufwirtschaft diametral gegenübersteht und stattdessen die Leitgedanken der postfordistischen Wirtschaftsordnung zitiert, nämlich Schnelligkeit und Fortschritt. Vgl. hierzu auch Sonja Windmüller, Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissenschaftliches Problem, Münster 2004, S. 193. 56 Susanne Hauser, „ Recycling, ein Transformationsprozess “ , in: Anselm Wagner (Hg.), Abfallmoderne. Zu den Schmutzrändern der Kultur, Berlin 2010, S. 45 - 62, hier S. 46. 52 Silke Felber 57 https: / / www.reerdigung.de/ #transformation [Zugriff am 02.10.2022]. 58 Jörn Straehler-Pohl, „ Auf einem Bett aus Stroh zu Erde werden “ , https: / / www.deutsch landfunkkultur.de/ reerding-bestattung-100. html [Zugriff am 02.10.2022]. 59 https: / / www.reerdigung.de/ #nachhaltigkeit [Zugriff am 02.10.2022]. 60 Sabine Schouten, „ Atmosphäre “ , in: Erika Fischer-Lichte/ Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/ Weimar 2014, S. 13 - 15, hier S. 15. 61 Ebd., S. 15. 62 Baudrillard, Die Konsumgesellschaft, S. 12. 63 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt a. M. 2018, S. 99. 64 Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, München 2000, S. 46 - 47. 65 Erika Fischer-Lichte, „ Ästhetische Erfahrung “ , in: Erika Fischer-Lichte/ Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/ Weimar 2014, S. 98 - 105, hier S. 99. 66 Jane Bennett, Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham/ London 2010, XXI. 67 Vgl. Karen Barad, Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham 2007. 68 Vgl. Teresa Brennan, The Transmission of Affect, Ithaca/ NY 2004, S. 3. 69 https: / / www.reerdigung.de/ #nachhaltigkeit [Zugriff am 02.10.2022]. 70 Ebd. 71 https: / / www.meine-erde.de/ nachhaltige-bes tattung [Zugriff am 02.10.2022]. 72 Vgl. Bruno Latour, „ Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas “ , in: Ders., Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 36 - 95. 73 Vgl. Böhme, Ästhetischer Kapitalismus, S. 12. 53 Compost Turn. Neue Bestattungsprodukte im Spannungsfeld von Ökologie und Atmosphäre ABBAs Hologramm-Show Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben Magdalena Zorn (Frankfurt am Main) Im Jahr 2022 machte die Musikwelt durch ein besonderes Ereignis auf sich aufmerksam: Zu erleben war das Comeback der Band ABBA in Form einer Bühnenshow, die vier Avatare bestreiten. Diese ‚ ABBAtare ‘ , die äußerlich deckungsgleich mit Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid aus den späten 1970er Jahren sind, rufen beim Publikum ähnlich enthusiastische Reaktionen hervor wie sterbliche Popstars. Ausgehend von der Konstellation zwischen humanem Publikum und digitalen Avataren werden die für die Hologramm-Show ABBA Voyage konstitutive Zeitlichkeit sowie spezifische Formen der Liveness beschrieben, die Rezipient*innen dabei erzeugen. Einer atmosphärischen Form von Liveness, die durch Vergegenwärtigung von ‚ Gestorbenem ‘ zustande kommt, wird eine reflexive Liveness gegenübergestellt, die aus der humanen Selbstbefragung im posthumanen Raum resultiert. Im Unterschied zu den Raumbegriffen von ‚ Atmosphäre ‘ und ‚ Reflexion ‘ bringt derjenige der ‚ Ökologie ‘ , wie der Artikel abschließend zeigen will, in solche Akte humaner Zentrierung eine Aporie. Ewige Gegenwart Am 27. Mai 2022 war in London die Premiere eines außergewöhnlichen Konzerts zu erleben, das, so ist auf der dazugehörigen Homepage zu lesen, „ 40 Jahre lang geplant “ 1 worden sei. Die Rede ist von einer Bühnenshow der Kultformation ABBA, die in rund neunzig Minuten einen musikalischen Bogen über deren künstlerisches Schaffen spannt. Die meisten der im Programm dargebotenen Songs sind nicht nur eingefleischten ABBA-Fans bekannt, sondern gehören seit Jahrzehnten zum Inventar von Popkultur. Zu hören sind etwa die bekannten alten Hits „ Dancing Queen “ , „ Gimme! Gimme! Gimme! (A Man After Midnight) “ , „ Mamma Mia “ und „ Waterloo “ , die der Band in den 1970er Jahren zu großen Erfolgen verhalfen, daneben aber auch Tracks vom 2021 erschienenen Album Voyage. Dieses erste Studioalbum der Band seit der Veröffentlichung von The Visitors im Jahr 1981 lieferte dem Konzertprogramm Namen und Motto: Die Marketingstrategie des Events ABBA Voyage, so der Titel der Show, verkauft die vierzigjährige Sendepause, in deutlicher Allusion an die religiös einschlägige Dauer von vierzig Tagen, als Zeit der Vorbereitung eines Opus summum, das in Form einer Gesamtschau des musikalischen Schaffens der vier schwedischen Künstler*innen nun an sieben Tagen der Woche in Vorstellungen zu erleben ist. Dass ABBA Voyage dieserart eine klingende Autobiographie darstellt, bei der aus dem Rückblick die wichtigsten Stationen des Bandlebens noch einmal aufsummiert werden, ist nicht allein dafür verantwortlich, dass es sich dabei um ein Ausnahmeereignis handelt. Die Vorstellungen inszenieren nämlich zudem eine Apotheose der sterblichen Körper der Gruppe: Die Performance übernehmen anstelle der physischen Mitglieder die kinetisch-visuellen Systeme ihrer digitalen Hologramme. In zeitaufwändigen Sessions wurden mithilfe von Motion Capture-Tracking die natürlichen Bewegungs- Forum Modernes Theater, 34/ 1, 54 - 65. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0006 abläufe der vier Musiker*innen erfasst. Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid haben dafür Wochen im Studio verbracht. Die gewonnenen Informationen über ihr Körperverhalten übersetzte ein Team aus Digitalkünstler*innen sodann in lebensechte digitale Versionen, mit einer entscheidenden Variation: Die Geste der Rückschau auf ABBAs Vergangenheit übertrug sich auch auf das Erscheinungsbild der Bühnenavatare, die anstelle von in die Jahre gekommenen Idolen Charaktere präsentieren, die „ für immer jung “ 2 geblieben sind (Abb. 1). Den ebenfalls gealterten Fans der ersten Stunde, von denen sich in den Vorstellungen stets einige im Publikum befinden, stehen on stage digitale Kreaturen gegenüber, denen das Leben offenbar nichts anhaben konnte und die darum aussehen wie zur musikalischen Blütezeit ABBAs in den späten 1970er Jahren. Auch ihr Gesang stammt von früheren Studioaufnahmen und wird über Band eingespielt. So beglaubigen die Avatare mit ihren visuellen und akustischen Artikulationen performativ eine ewige Gegenwart, die nach dem Motto „ zum Raum wird hier die Zeit “ 3 keine Vergänglichkeit kennt. Ein Memento mori bietet das Bühnenkonzept einzig in Gestalt einer zehnköpfigen Band, die das Gefüge aus stimmlichkörperlichen Reproduktionen live unterstützt. Von der Kollision der Zeitschichten konnte sich das Premierenpublikum, zu dem außer dem schwedischen Königspaar das Who ’ s Who der Film- und Popmusikszene zählte, auch in dem Moment überzeugen, als die echten ABBA-Mitglieder, mittlerweile mit grauen Haaren und Gehstock, zum Dank an das Auditorium die Bühne betraten. Digitales Überleben Der zeitliche und finanzielle Aufwand, der für die erfolgreiche Realisierung der Show vonnöten war, beläuft sich auf rund sechs Jahre Vorbereitungszeit und ein Budget von Abb. 1: Die verjüngten Avatare von Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid performen die Show ABBA Voyage. 55 ABBAs Hologramm-Show. Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben 175 Millionen Dollar. 4 Sogar die ABBA- Arena im Londoner Queen Elizabeth Olympic Park mit 3.000 Plätzen, bis mindestens 2024 an mehreren Tagen der Woche der Aufführungsort von ABBA Voyage, wurde eigens gebaut. Anders als im herkömmlichen Tournee-Geschäft, bei dem Künstler*innen ihr Publikum in aller Welt bereisen, pilgert im Jahr 2022 alle Welt für ABBA in ein Londoner Stadion und exemplifiziert damit in konstitutiver Umkehrung das Gleichnis des Berges, der zum Propheten kommt. Die performative Funktion des ABBA- Theatrons lässt sich darum mit derjenigen von kulturellen und religiösen Aufbewahrungsstätten wie Sakralbauten, Schreinen und dergleichen engführen, die ebenso Orte der Sammlung und Verehrung sind. Die ‚ ABBAtare ‘ fungieren im architektonischen Aufführungssetting als Reliquien, deren religiöse Bedeutung seit jeher auf einer paradoxen Zweideutigkeit gründet: Ähnlich den verehrungswürdigen Überresten sterblicher Körper stellen die Hologramme im Verhältnis zu ihren physischen Doppelgängern einerseits Formen von Unvollständigkeit dar. „ [E]chte Menschen sehen halt [ … ] immer noch besser aus “ 5 , räumte etwa eine Rezensentin im Rolling Stone-Magazin ein. Da die Avatare, weil konservier- und aktualisierbare Reliquien, die Menschen Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid jedoch überleben, kommt ihnen andererseits der Vorschein von Vollkommenheit zu. Aus diesem Grund bringt die ABBA-Show für Oliver Bendel, einen Experten für Avatar-Konzerte, sogar die mimetische Relation zwischen physischem Vorbild und digitalem Nachbild ins Wanken: „ Mit diesem Abbild brennt man uns etwas ins Gehirn. Und ich glaube, diese Avatare - wenn wir sie oft genug sehen - werden wir mehr erinnern als die Originale. Die werden Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte überleben. “ 6 Was Bendel zur Sprache bringt, ist der emblematische Ewigkeitswert, den die überlebensfähigen digitalen Nachbilder von ABBA Voyage verkörpern. Die stets auf dieselbe Art und Weise agierenden Avatare sind beliebig reproduzierbar und darum prinzipiell auch endlos konsumierbar. Sie erzeugen eine geistig-materielle Hyperrealität, die auch der von ihnen dargebotenen Musik das Wertprädikat der Zeitlosigkeit verleiht. Nicht mehr der vergängliche Klang, der eine „ meditatio mortis continua “ 7 ermöglicht, steht in den Konzerten offenbar im Zentrum. Der Klang erscheint vielmehr als ein zeitloses, statisches Medium, das Hörenden die virtuelle Überwindung existenzieller Grenzen ermöglichen soll. Die Londoner Arena, so die Veranstalter, „ is built around ABBA ’ s timeless music “ 8 . Musikalische Reproduktionstechnologien standen seit jeher im Dienst einer Entzeitlichung und Verewigung des vergänglichen Klangs und initiierten damit einen Paradigmenwechsel in der Idee von musikalischer Aufführung. Ein Effekt, den der Wandel des Aufführungsmediums weg vom menschlichen Körper hin zu technischen Instrumenten der Wiedergabe mit sich brachte, betrifft das Verhältnis zwischen Vorbild und Nachbild. Aufnahmen wurden immer mehr zum Maßstab für Aufführungen und ihr Qualitativ der Perfektion zur Richtschnur auch für das prinzipiell unvorhersehbare spatiotemporale Live-Geschehen vor Bühnenpublikum. Heute etwa gehört, um ein Beispiel zu geben, der Einsatz von Playback in Live-Shows längst zum Standard. Es ist denkbar, dass die körperliche Praxis des „ musicking “ 9 in Zukunft auch von „ multimedialen Konstellationen “ 10 wie ABBAtaren nachhaltig normiert wird und Hologramme nicht mehr als künstlerischer Verfremdungseffekt, sondern als ein Normalfall von performativer Anwesenheit empfunden werden. Von solchen Prozessen der Normalisierung und Naturalisierung des medialen Artefakts, die ins- 56 Magdalena Zorn besondere digitale mimetische Technologien im Feld der Kunst anstoßen können, ist die jüngere Popmusikgeschichte voll. Verlieh die Software Auto-Tune Chers Song „ Believe “ aus dem Jahr 1998, indem sie als Stilmittel eingesetzt wurde, noch eine ästhetische Signifikanz, so wird der Einsatz digitaler Tonhöhenkorrektur heute, da er zur Selbstverständlichkeit von Kulturindustrie geworden ist, von Hörenden gar nicht mehr unbedingt distinkt wahrgenommen. Das Beispiel soll darauf hinweisen, dass digitale Medien wie ABBA-Hologramme im Prozess ihrer gesellschaftlichen Normalisierung dazu tendieren können, sich selbst unsichtbar zu machen. Im Moment werden die ABBAtare noch am Verhalten ihrer sterblichen Vorbilder gemessen: „ Man glaubt, die vier Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne live zu sehen, und nicht nur ihre ‚ Abbatare ‘“ 11 . „ Ich konnte nicht glauben, dass sie nicht echt waren “ 12 . Oder: „ als könntest du rübergreifen, sie berühren “ 13 . Publikumsreaktionen wie diese bringen die Ungläubigkeit über die ‚ Unechtheit ‘ der Hologramme zum Ausdruck und erklären deren realistischen Effekt über Metaphern. Die Kommentare deuten zugleich an, dass sogar digitale Wesen als symbolische Verkörperungen von Lebendigkeit wahrgenommen werden können und ihr Gesang für Rezipierende so klingt, „‚ als wäre e[r] live ‘“ 14 . Dieser Realitätseffekt, den das ABBA-Mitglied Björn Ulvaeus mit Blick auf die eigene Show feststellte, basiert auf der Bereitschaft des Publikums, das fiktionale Szenario als uneigentliche Realität anzunehmen, dem, was Samuel Taylor Coleridge als willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit bezeichnete. 15 Seit Jean Baudrillards Theorie des Simulacrums dürfte jedoch klar geworden sein, dass es von hier aus nur mehr ein gradueller Schritt hin zu einer medialen Welterzeugung ist, die symbolische Trugbilder erschafft, die als eigentliche Realitäten angenommen werden. 16 Die ABBAtare bringen Metaphern von Lebendigkeit hervor, jedoch, wie sämtliche Reproduktionstechnologien, als Kehrseite auch eine diskursive Präsenz des Todes mit sich. Schon Thomas Alva Edison verstand den von ihm erfundenen Phonographen, der zum Schlüsselinventar der im 20. Jahrhundert aufkommenden Musikindustrie gehört, als Kommunikationsmittel zwischen Toten und Lebendigen. Die Audioaufzeichnung war für ihn ein Instrument, um die Stimmen von Verstorbenen festzuhalten und deshalb eine Möglichkeit, die Grenzen des Todes zu überwinden. Dementsprechend bewarb er sein Produkt 1878 in The North American Review mit folgender rethorischer Frage: „ Can economy of time and money go further than to annihilate time and space, and bottle up for posterity the mere utterance of man [ … ]? “ 17 Dem Umstand, dass Reproduktionen, gerade weil sie vergegenwärtigende Zeugnisse für die Lebenden sind, vom Tod sprechen, widmete Roland Barthes 1980 sein Buch über Fotografie. 18 Der von Barthes in La chambre claire zur Sprache gebrachten Dialektik zwischen Erinnerung und Todesbedenken sind neben Fotografien genauso Tonträger unterworfen, die die Opernstimme einer Verstorbenen festhalten, oder Hologramm-Konzerte, die bis in die jüngste Zeit hinein nicht lebenden, sondern „ toten Musikern “ 19 gewidmet waren. Auch die verstorbene Operndiva Maria Callas etwa erlebte dabei ihre Auferstehung als Hologramm (Abb. 2). Die ABBAtare künden demgegenüber im Modus einer zukünftigen Vergangenheit davon, dass ABBA einmal ‚ gestorben sein wird ‘ . Indem die Hologramme die Mitglieder der Popband verjüngen, legen sie bereits zu deren Lebzeiten Zeugenschaft über ihr unwiederbringliches „ Es ist so gewesen “ 20 ab. Die digitalen Simulacren bekräftigen dabei nicht nur futuristisch 57 ABBAs Hologramm-Show. Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben das Gestorbensein der Band und die zukünftige „ Verzichtbarkeit “ 21 ihrer humanen Verkörperung, sondern auch die Uneinholbarkeit von längst abgeschlossenen kreativen Prozessen. Der Komponist Daniel Weissberg hat auf eine in diesem Zusammenhang instruktive Formulierung aus der Praxis der Schallaufzeichnung hingewiesen: „‚ Gestorben ‘ nennt man eine Aufnahme, wenn sie abgeschlossen ist und die Interpretinnen und Interpreten nicht länger benötigt werden. “ 22 Da auch die ABBAtare ihre menschlichen Verursachungen nicht mehr brauchen, sind sogar sie selbst bereits ‚ gestorben ‘ und markieren in konstitutiver Weise eine Abwesenheit von Liveness, die in Aufführungen stets als „ index of humanness “ 23 fungiert. Atmosphärische Liveness Wie gehen die Konzertbesucher*innen des Londoner Spektakels mit dieser umfassenden Präsenz des Todes um? In Anbetracht der fundamentalen ‚ Abwesenheit ‘ der ABBAtare ist es sogar bemerkenswert, dass sie keine Kosten und Mühen scheuen, um selbst ‚ anwesend ‘ zu sein. Individuen begeben sich in Gemeinschaft, um in Echtzeit Avataren zuzujubeln, obwohl es diesen ‚ Überlebenden ‘ versagt bleibt, entsprechend auf den Jubel zu reagieren. Die Feedbackschleife zwischen Bühne und Publikum, die mit Erika Fischer-Lichte wesentlich für Live- Aufführungen ist, weil sie Unvorhersehbarkeit und Kontingenz durch die Anwesenheit von Lebenden erzeugt, 24 scheint allem Anschein nach empfindlich gestört. Woher kommt der nichtsdestoweniger hohe Grad an Involvierung vonseiten des Auditoriums? Wie geht das rezipierende Subjekt mit der nicht vorhandenen Responsivität der Avatare um? Eine Antwort kann der ästhetische Begriff der ‚ Atmosphäre ‘ geben, der inmitten der Gestorbenen aufseiten des Publikums dennoch eine Erfahrung von Liveness ermöglicht. Ästhetische Definitionen von ‚ Atmosphäre ‘ fassen einen Vorgang, in dem Beziehungen zwischen Subjekten und Umwelten in differenzlose Gefüge übergehen. So versteht Gernot Böhme die Atmosphäre etwa als „ gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen “ 25 und entwirft damit einen unteilbaren ästhetischen Raum, in dem die Trennung zwischen Subjekt und Umgebung, ihrerseits Voraussetzung für den kantischen Begriff der Ästhetik, 26 ihren Stellenwert verliert. Der Medienwissenschaftler Paul Roquet spitzte diese Idee noch erheblich zu: In ‚ Atmosphären des Selbst ‘ 27 wird der äußere Umgebungsraum zur Funktion des affektiven Ichs. Die Hülle der Erde, die Newtons Begriff der ‚ Atmosphäre ‘ meint, und die der Vermittlung von Licht- und Schallwellen dient, so Roquets Idee, wird zum Medium des Individuums, das die Umwelt für seine Zwecke inhaliert. Roquet entwickelte seine Vorstellung im Kontext einer Medienkunst, die mit apparativen Strategien eine solche Umwertung befördert, etwa Videos, die mit repetitiven Strukturen für Entspannung sorgen, oder die Praxis der Kopfhörermusik, die das Subjekt in seine eigene „ auditory bubble “ 28 einschließt. Die neoliberale Gefühlskultur Abb. 2: Maria Callas als Hologramm gibt in Begleitung eines Live-Orchesters ein Konzert vor Publikum in der Pariser Salle Pleyel. 58 Magdalena Zorn stellt unentwegt neue Techniken bereit, die es Subjekten erlauben, mithilfe ästhetischer Environments die eigenen individualistischen Erfahrungsräume auszuweiten. Der Begriff der ‚ Liveness ‘ bleibt von diesem atmosphärischen Aufführungsbegriff nicht unberührt. „ The quality or condition of being alive “ 29 entsteht in der Atmosphäre, weil der ästhetische Rezeptionsvorgang eine ganz bestimmte Erlebnisqualität erzeugt. Im Modus eines „ emotional attunement “ 30 resoniert das Individuum dabei mit seiner Umwelt. Im Unterschied zu reflektierenden Handlungen, bei denen die Distanz zwischen beidem bestehen bleiben muss - ohne die Autonomie des Außenraums gibt es keine Reflexion, kein Echo - , kreieren resonierende Zustände unauflösliche Verbindungen. Das Subjekt schwingt mit dem ästhetischen Raum mit, 31 macht sich auf diese Weise zu seinem Zentrum und lässt die Stimmung der Sphäre in ‚ seine ‘ Stimmung invertieren. Die Idee von Liveness verwandelte sich stets im Gefolge medialer Entwicklungen. Erst seit der Entwicklung von Reproduktionstechnologien kam überhaupt die Praxis auf, über ästhetische An- und Abwesenheit zu sprechen, 32 und mit jeder medialen Erfindung wurde die Definition von ‚ live ‘ an neue Gegebenheiten ästhetischer Erfahrung angepasst. Zwar mag musikalische Liveness heute immer noch in jener „ actual, direct, live experience “ 33 der Rezipierenden begründet sein, die der Musikwissenschaftler Jonathan Dunsby 2001 im Eintrag „ Performance “ des Oxford Music Online als humane Universalie beschrieb. Medienkontakt jedoch steht dieser Erfahrung von Unmittelbarkeit schon seit dem 20. Jahrhundert nicht mehr im Weg. Besonders deutlich führen dies im intermedialen Spektrum die filmischen und fotografischen Medialisierungspraktiken von Performance-Künstler*innen vor. Die apparative Verewigung machte aus der proklamierten Einmaligkeit und Flüchtigkeit von Aufführungen immer schon einen Mythos. Zugleich lenkte sie die Aufmerksamkeit auf die Kopplung von Liveness und Medialität. Durch den historischen Wandel von Wahrnehmungsdispositiven wurde die unmittelbare Erfahrung schließlich sogar in digitalen Räumen möglich. Die Vorstellung von Echtzeit-Produktion wich dabei konsequent derjenigen von Echtzeit- Rezeption. Liveness ist heute „ the quality or condition (of an event, performance, etc.) of being heard, watched, or broadcast at the time of occurrence “ 34 . Lebendigkeit im digitalen Zeitalter also entsteht aus der Echtzeit von Rezipient*innen heraus: als „ perception of liveness “ 35 . Überträgt man den atmosphärischen Liveness-Begriff auf ABBA Voyage, so gelten die resonierenden Handlungen des Publikums, ihr Jubeln, Kreischen und Weinen oder die körperliche Äußerung des Tanzens, nicht in erster Linie den gestorbenen AB- BAtaren. Diese Verjüngten fungieren vielmehr als Apparate, die Subjekten im Auditorium dabei behilflich sein können, ein Gefühl eigenen Lebendigseins zu kreieren. Die apparative Strategie der Verlebendigung - die optische Mimesis der Hologramme an die ‚ abgestorbene ‘ Blütezeit der Band - führt aufseiten des Publikums zur Vergegenwärtigung musikalischer Erlebnisse, die in der Vergangenheit liegen. Insbesondere die ‚ Fans von damals ‘ , wie ABBA im „ Herbst ihres Lebens “ 36 angekommen, machen verstärkt von der Praxis des ‚ Lebendigens ‘ 37 Gebrauch. Diese Gruppe ästhetisch Wahrnehmender belebt im Wiederhören der altbekannten Musik ihr eigenes ‚ gestorbenes ‘ Leben, erzeugt eine Echtzeit aus Erinnerung, die als Atmosphäre des Ichs, als Raum der Selbsterfahrung zur Aufführung gelangt. In solcher Selbstzentrierung im Aufführungsraum, mit der ein extensives, Vergangenheit und Gegenwart verkoppelndes Zeiterleben einhergeht, das Totes wieder lebendig macht, finden Rezipierende von ABBA 59 ABBAs Hologramm-Show. Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben Voyage eine Form von „ (kausaler) Realisierung “ 38 vor, die Virtualität in uneigentliche, aber nichtsdestoweniger intensiv erlebte Realität kippen lässt. Der Vanitas-Diskurs dient dabei auf widersprüchliche Weise als Bezugsgröße: Einerseits zeigt sich, da die drohende Zukünftigkeit des Endens zu fehlen scheint, eine umgekehrte Form von Vergänglichkeit. Andererseits wird Vanitas gerade durch den Auftritt der verjüngten ABBAtare nolens volens beschworen. Reflexive Differenzen Das enthusiastische Live-Publikum der Show muss jedoch nicht unbedingt unaufhörlich mit der virtuellen Bühnenrealität resonieren, sondern kann sich für Momente auch in einer dem atmosphärischen Erfahren entgegengesetzten Weise in das Geschehen der Toten involvieren: durch Distanznahme zum Ereignis selbst. Das geschieht etwa, indem eine Einzelne die spezifisch virtuellen Angebotsbestimmungen des Konzerts, nämlich sich von Avataren in Enthusiasmus versetzen zu lassen, kritisch hinterfragt. Das tat während einer der Vorstellungen die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel, die für verschiedene deutschsprachige Medien von ABBA Voyage berichtete: Es gibt einen Moment, in dem plötzlich die Selbstreflexion einsetzt. Ein Moment, in dem ich mich frage: Was mache ich hier eigentlich? Die Antwort lautet: Ich jubele mit etwa 3000 anderen Menschen einer Projektion zu. Kreischende Begeisterung über 90 Minuten für die Lichtreflexion von vier Menschen auf einer Bühne. Ich habe sogar ein Poster gekauft - ein Poster, auf dem eine Projektion abgebildet ist, die Menschen zeigt, wie sie vor 35 Jahren einmal ausgesehen haben. 39 Meckel stellt die Absurdität ihrer eigenen Präsenz und zugleich ihre Faszination an dem Spektakel fest. Sie befragt ihre eigenen Beweggründe, Hologramme wie humane Popstars zu behandeln. Ihre Selbstbefragung wirkt in der Untersuchung der Liveness von ABBA Voyage wie ein Kontrastmittel: in den Atmosphären des Selbst findet eine Erkenntnissuche statt. Diese intentionale Geste gilt der Frage nach dem Standpunkt des Subjekts in der technologisierten Welt selbst und letztlich einem zentralen philosophischen Anliegen. Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy war einer jener Denker des Humanen, der das Subjektsein jenseits seiner Grenzen, im Außenraum der Technisierung verortete. In der Öffnung hin zur Technologie begreift der Mensch mit Nancy „ the exas proper “ 40 . Die humane Erkenntnis des Selbst-als-Außen hat eine Umwelt zur Bedingung, Technologie stößt in ihr eine „ Hermeneutik des Möglichen “ 41 an. In diesem Vorgang der Selbstauslegung verschieben sich nicht nur die Grenzbedingungen subjektiver Existenz permanent nach außen, sondern auch die Antworten auf die Frage „ Wer bin ich? “ sind kontinuierlich im Fluss. Dabei erkennt das Subjekt letzten Endes, dass ihm die Definition von sich selbst immer wieder von Neuem abhandenkommt, woraus eine produktive Verunsicherung resultiert. Dass sogar Projektionen aus Licht wie Menschen wirken können, ist eine der zentralen, aus existentieller Verunsicherung rührenden Erkenntnisse, die die Londoner ABBA-Show möglich macht. Was macht es aus, im Unterschied zu Hologrammen ein Wesen aus Fleisch und Blut zu sein? Worin unterscheiden sich Darbietungen von Menschen und Darbietungen von Avataren? Mit solchen genuin subjektphilosophischen Fragen, die den eigenen humanen Standort bestreffen, geht ein Riss durch das atmosphärische Erfahren. ABBA Voyage wird für Momente zum Raum der Reflexion und seine Avatare zu Spiegeln oder Echos, die dem Subjekt ein 60 Magdalena Zorn Bild, einen Widerhall zurückwerfen. In diesem Kommunikationszusammenhang zwischen Menschen und Maschinen dominieren Ähnlichkeitsbeziehungen: Die „ Selbstverständigung “ 42 des Subjekts nimmt an dem Umstand Anstoß, dass die ABBAtare ihm (zu) ähnlich sind. Erst die Erkenntnis über diese mimetische Relation sorgt für die Suche nach Differenz. Nicht nur die Lebendigkeit der Hologramme wird dabei fraglich, sondern insbesondere auch die menschenähnliche Bindung, die der Mensch für neunzig Minuten zu ihnen aufnimmt. Im Sinne der Aufforderung, die am Tempel des Apollo in Delphi geprangt haben soll, rufen ihm die Avatare gleichsam zu: „ Erkenne dich selbst! “ . In der Reaktion auf diesen Imperativ, der aus der Erfahrung von Ähnlichkeit hervorgeht, zieht das denkende und fragende Subjekt die entscheidende Differenz zur Umwelt wieder ein, die die Atmosphäre des Selbst verwischt. Der Gewissheit darüber, selbst ein Mensch zu sein, steht nun das Staunen darüber gegenüber, Objekte aus Licht so zu behandeln, als wären sie Menschen. So ermöglicht der Einsatz der Hologramm-Technologie in ABBAs neuer Bühnenshow eine Differenzerfahrung, die aus Handlungen der Reflexion und Selbstreflexion resultiert. Weniger die Gruppe der treuen ABBA-Fans als jene der technologisch affinen und an den neuesten ästhetischen Innovationen der digitalen Welt interessierten Besucher*innen konsultiert das Londoner Event sogar von Anfang an aus diesem reflexiven Erkenntnisinteresse heraus, bei dem sich das Subjekt mithilfe eines technologischen Gegenübers definiert. Dabei werden die ABBAtare, in den Worten des Musikwissenschaftlers David Trippett, behandelt „ as pilgrims once treated the high priestess Pythia, the fabled oracle of Apollo ’ s Temple at Delphi: a venue for the self ’ s unknowability “ 43 . Was Trippet in seiner Untersuchung von digitalen Stimmen wie Siri oder Alexa auf diese Weise unterstreicht, den Umstand nämlich, dass künstlichen Intelligenzen häufig die Autorität von Offenbarung zukommt, gilt ungebrochen für ABBA Voyage: Posthumane Agency wirbt hier zwar nicht mit dem Angebot, Individuen mit lebenspraktischen Ratschlägen zur Seite zu stehen, dafür aber mit dem Versprechen, mehr über diese zu wissen als diese selbst. 44 Indem Einzelne auf den Imperativ der Avatare, ihr ‚ Gnothi seauton ‘ reagieren, entsteht eine Liveness außerhalb des atmosphärischen Raums. Der Prozess dieses Entstehens hat allerdings zur Voraussetzung, dass das Subjekt das nicht-humane Gegenüber als ‚ präsent ‘ und ‚ anwesend ‘ akzeptiert. Mit dem Medienwissenschaftler Philip Auslander fordern virtuelle Artefakte häufig von uns ein, so behandelt zu werden, als wären sie live. Diese Forderung erheben Suchmaschinen, Homepages und Bots, indem sie suggerieren, in Echtzeit eine Antwort auf unsere Fragen parat zu haben. 45 Unter der Bedingung, dass ABBAtare dem Publikum anders als Suchmaschinen, Homepages oder Bots kein sprachähnliches Feedback geben, ist Auslanders Beobachtung auch für das Londoner Konzerterlebnis instruktiv - , das zeigt sich an einer Reaktion wie derjenigen der Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel. Das digitale Orakel äußerst sich dabei nicht über sprachliche Verlautbarungen, wie dies auch menschliche Künstler*innen auf der Bühne für gewöhnlich zu tun pflegen, sondern es macht stattdessen ein Reflexionsangebot. An die Stelle von Resonanz, in der die Umwelt als Auslöser eines individuellen Mitschwingens und einer Erfahrung des Selbst fungiert, tritt die reflexive Involvierung in das digitale Andere. Diese bewirkt jedoch nicht nur das selbstgewisse Nachdenken über das Humane, sondern eine Exzentrierung des eigenen Standpunkts, der ein anthropozentrisches Weltbild offenbart. 61 ABBAs Hologramm-Show. Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben Leben unter den Zwängen des Raumes Definitionsgemäß weiß ein Orakel mehr als seine Gesprächspartner*innen; seine Intelligenz wäre damit uneinholbar von der Selbstreflexion des Subjekts. Das Bild des Orakels weist auf ein Dilemma hin, in dem sich der Humanismus aus posthumanistischer Perspektive befindet. Die Theorie des Posthumanismus, die die ABBAtare konkretisieren, richtet sich ostentativ gegen das autonome menschliche Subjekt und sucht es durch Entwürfe von alternativen Intelligenzen zu verdrängen. 46 Dem posthumanistischen Diskurs gilt deshalb auch jegliche Form von autopoietischer Selbstkonstitution als wirklichkeitsfremd. Was Wirklichkeit ist, so die Ansicht, lässt sich nicht vom isolierten humanen Standpunkt aus beschreiben. Die Debatte begegnet jenen, die lebendtote Hologramme als Reflexionen und Projektionen von Subjektivität begreifen, mit dem Verweis auf einen anthropozentrischen Confirmation Bias, der die Tatsachen verzerrt. Die umfassende Kritik am humanen Korrelationismus, der Welt als das vom Menschen Wahrnehmbare sowie ‚ Lebendigkeit ‘ als Effekt subjektiver Selbsterfahrung und Selbstbefragung beschreibt, bestimmt nicht nur posthumanistische Positionen, sondern seit geraumer Zeit auch die ökologische Debatte. Unter dem Schirmbegriff der ‚ Ökologie ‘ , die laut ihrem Namensgeber Ernst Haeckel die „ Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt “ 47 darstellt, wird für einen Umweltbegriff argumentiert, in dem sich der Mensch umfassend von sich selbst exzentriert. Zu den Protagonist*innen dieser ökologischen Bewegung gehört etwa die Biologin und Gendertheoretikerin Donna Haraway. In ihrem jungen, aber bereits heute schon zum Klassiker avancierten Buch Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene aus dem Jahr 2016 wendet sie sich explizit gegen jene Autopoiesis, die das philosophische Subjektdenken seit Kant prägt. „ Nothing makes itself “ , so Haraway, „ nothing is really autopoietic or self-organizing “ 48 . Haraways Plädoyer für ein ‚ Making-with ‘ gründet demgegenüber auf einem von allen Lebewesen gemeinsam gestalteten, ‚ sympoietischen ‘ Leben. 49 Skizziert wird ein artenübergreifender Modus der Miterfahrung, mit dem auch eine multilaterale Perspektivenübernahme einhergehen soll. Zur Symbolisierung eines solchen wechselseitig dynamischen Kommunikationszusammenhangs greift die Autorin auf den Vorgang der Kompostierung zurück, der nicht auf genetischen Beziehungen, sondern auf Verwandtschaftsverhältnissen ( ‚ kin ‘ ) mit dem Fremden beruht. 50 Aufgerufen ist damit eine Idee von gemeinsamem Tod und gemeinsamer Wiedergeburt, die sich sogar vom Posthumanismus, der das Humane begrifflich noch integriert, so weit wie möglich distanziert. So kulminiert Haraways manifestartiges Gedankengebäude in der Losung: „ We are compost, not posthuman; we inhabit the humusities, not the humanities. Philosophically and materially, I am a compostist, not a posthumanist. “ 51 Ihre normative Empfehlung, sich als Mensch gemeinsam mit anderen Lebewesen dem biologischen Ablauf der Kompostierung zu fügen, ist allerdings voraussetzungsreich, denn das humane Wesen müsste dazu breit sein, sich selbst ‚ abzubauen ‘ . Denkt man den Kreislauf der Allverwandtschaft konsequent zu Ende, so fällt ihm auch die Differenz zwischen Organismus und Umwelt zur Gänze zum Opfer. Der Vorgang der Entdifferenzierung im Prozess der Kompostierung betrifft nicht nur dieses Verhältnis zwischen Organismus und Raum, sondern letztlich das Unterschiedene selbst: Auch die Dichotomie von Subjektivität und Digitalität, von Lebendigkeit und Tod verschwindet mit ihm. Die für ökologische Theorien typischen, „ normative[n] Implikationen “ 52 weist das Buch des Philosophen Timothy Morton 62 Magdalena Zorn mit dem Titel Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World aus dem Jahr 2013 auf. Die Schrift ist von Anfang bis Ende räumlichen Gebilden gewidmet, denen Objektivität zukommen soll. Paradefälle von Hyperobjekten sieht Morton nicht nur in der Klimaerwärmung, sondern auch in der Musik: Beide Phänomene überragen die Dimensionen des humanen Denkens und seien diesem deshalb nur in Form von indexikalischen Zeichen zugänglich. Die Indices des Klangs etwa, seine Schwingungen und Frequenzen, begreift der Autor zudem nicht nur als bloße Zeichen von Objektivität, sondern auch als Quellen humaner ästhetischer Praxis: Die Formen von Lebendigkeit, die das Subjekt in ABBA Voyage aus der Selbsterfahrung und Selbstreflexion heraus erzeugt, wären, mit Morton gesprochen, von numerischen Relationen, zählbaren Proportionen, digitalen Intelligenzen determiniert, einer platonistischen „‚ non-music ‘“ 53 also, die als außerzeitliche Instanz das Gesetz ästhetischer Wahrnehmung bereits in sich trägt. Versteht man Musik als ökologisches Hyperobjekt, dann involviert sie das Subjekt letztlich in eine Relation der Asymmetrie: Nicht der erfahrende und reflektierende Mensch schreibt seiner Umwelt dabei ästhetische Bedeutung zu, sondern der Raum selbst ist bedeutend. Ökologische Utopien, die für die Herrschaft des Raumes über das humane Subjekt argumentieren, bekräftigen einen Mechanismus, den der französische Philosoph und Soziologe Roger Caillois anhand mimetischer Praktiken im Tierreich beschrieben hat. Der Blattschmetterling, der sich in Farbe und Form an die Büsche angleicht, die er anfliegt, löst seine Differenz zur Umwelt bis zur Unkenntlichkeit auf. Mit Caillois kommen dabei jedoch nicht evolutionäre Anpassungsleistungen zum Tragen, sondern eine Zwangshandlung, die aus dem Gefühl eigener Unvollkommenheit resultiert. Ein empfundener Mangel veranlasse das Lebewesen zur „ Angleichung an die Umgebung “ 54 . Der Élan vital gibt einem „ Trieb zur Selbstaufgabe “ 55 nach, der Organismus wird zum Raum und zum „ enteigneten Wesen “ 56 . „ Leben weicht “ , so resümiert Caillois diesen aus Angst geborenen Mechanismus der Evolution, „ um eine Stufe zurück “ 57 . Indem ökologische Diskurse für die Angleichung des Lebens an den Kreislauf und die Autorität des Raumes plädieren, bringen sie in das humane Denken über das Nicht- und Posthumane eine Aporie. Aporetisch ist der Umstand, dass der Aufruf zur humanen Exzentrierung in räumliche Gefüge aus den Mündern von selbsterfahrenden und sich selbst befragenden Subjekten ertönt. Bekräftigt wird auf diese Weise ein humaner Korrelationismus, der verworfen werden soll. Gegen diesen selbstreferentiellen Mechanismus humanen Denkens kommt das Denken selbst weder im Namen der Wissenschaft noch in der Ästhetik an. Die Spielräume der Erfahrung und Reflexion, die die ABBAtare dem Publikum ermöglichen, sind nicht das Produkt von künstlichen Intelligenzen, sondern das Resultat einer ästhetischen Praxis, mit der sich der Mensch seine virtuelle Umwelt unterwirft. Es mag sich in der Tat so verhalten, dass digitale Orakel klüger sind als diejenigen, die sie befragen. Klüger sind sie bislang jedoch nur deshalb, weil jene fragen. Abbildungen Abb. 1: Die verjüngten Avatare von Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid performen die Show ABBA Voyage. Film-Still zum Video „ ABBA Voyage - Official First Look Trailer “ , https: / / www.youtube.com/ watch? v=iEikjzZO2 N8 (0: 24) [Zugriff am 15.09.2022]. Abb. 2: Maria Callas als Hologramm gibt in Begleitung eines Live-Orchesters ein Konzert vor Publikum in der Pariser Salle Pleyel. 63 ABBAs Hologramm-Show. Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben Film-Still zum Video „ Astonishment as hologram, live orchestra put Callas back onstage “ , https: / / www.youtube.com/ wat ch? v=ieTsKYg1_Qo (0: 17) [Zugriff am 15.09.2022]. Anmerkungen 1 ABBA Voyage, https: / / abbavoyage.com/ [Zugriff am 15.09.2022]. 2 Vgl. „ Abba-Konzert als Hologrammshow. Für immer jung “ , https: / / www.deutschland funkkultur.de/ abba-als-avatare-100.html [Zugriff am 15.09.2022]. 3 Richard Wagner, „ Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel “ , in: Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen 10, Leipzig 1911, S. 324 - 375, hier S. 339. 4 Vgl. Alex Marshall, „ Abba Returns to the Stage in London. Sort Of “ , https: / / www.ny times.com/ 2022/ 05/ 27/ arts/ music/ abba-voya ge-london.html [Zugriff am 15.09.2022]. 5 Sassan Niasseri, „‚ Abba: Voyage ‘ in London. Was die Abbatare können, was sie nicht können “ , https: / / www.rollingstone.de/ kritik-ab ba-voyage-in-london-was-die-abbatare-koen nen-was-sie-nicht-koennen-2452455/ [Zugriff am 15.09.2022]. 6 Zit. nach „ Abba-Konzert als Hologrammshow. Für immer jung “ . 7 Adam von Fulda, „ Musica “ (1490), in: Martin Gerbert (Hg.), Scriptores Ecclesiastici de Musica Sacra Potissimum 3, Sankt Blasien 1784, S. 329 - 381, hier S. 335. 8 ABBA Voyage. 9 Vgl. Christopher Small, Musicking: The Meanings of Performing and Listening, Middletown 1998. 10 Nicholas Cook, „ Klang sehen, Körper hören. Glenn Gould spielt Weberns Variationen für Klavier “ , in: Katrin Eggers/ Christian Grüny (Hg.), Musik und Geste. Theorien, Ansätze, Perspektiven, München 2018, S. 71 - 88, hier S. 74. 11 Miriam Meckel, „ Sein oder Nichtsein. Die Virtualisierung der Unterhaltungsbranche “ , https: / / www.handelsblatt.com/ meinung/ ko lumnen/ kreative-zerstoerung/ kolumne-krea tive-zerstoerung-sein-oder-nichtsein-die-vir tualisierung-der-unterhaltungsbranche/ 2860 1652.html [Zugriff am 15.09.2022]. 12 „ ABBA-VOYAGE PREMIERE. Fans begeistert - Erstmals singen die ‚ Abbatare ‘ in London “ (02: 28), https: / / www.youtube.com/ wat ch? v=PVNJCSZf1ZE [Zugriff am 15.09. 2022]. 13 Ebd., (02: 13). 14 Zit. nach dpa/ che, „‚ Ziemlich live ‘ mit den Abbataren. Comeback dank ‚ Star Wars ‘ - Technik “ , https: / / www.bluewin.ch/ de/ enter tainment/ comeback-dank-star-wars-tech nik-1234468.html [Zugriff am 15.09.2022]. 15 Vgl. Samuel Taylor Coleridge, Biographia Literaria, or, Biographical Sketches of my Literary Life and Opinions 2, New York 1817, S. 4. 16 Vgl. Jean Baudrillard, Agonie des Realen, übers. Lothar Kurzawa und Volker Schaefer, Berlin 1978. 17 Thomas Edison, „ The Phonograph and its Future “ , in: The North American Review 126/ 262 (1878), S. 527 - 536, hier S. 536. 18 Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie (La chambre claire, 1980), übers. Dietrich Leube, Frankfurt am Main 1985, S. 87. 19 Niasseri, „‚ Abba: Voyage ‘ in London “ . 20 Barthes, Die helle Kammer, S. 87. 21 Daniel Weissberg, „ Gestorben! Aufzeichnungsmedien als Friedhöfe. Warum Aufnahmen sterben müssen “ , in: Michael Harenberg/ Daniel Weissberg (Hg.), Klang (ohne) Körper. Spuren und Potentiale des Körpers in der elektronischen Musik, Bielefeld 2010, S. 201 - 216, hier S. 204. 22 Ebd., S. 201. 23 Paul Sanden, „ Rethinking Liveness in the Digital Age “ , in: Nicholas Cook/ Monique M. Ingalls/ David Trippett (Hg.), The Cambridge Companion to Music in Digital Culture, Cambridge 2019, S. 178 - 192, hier S. 185. 24 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 67. 25 Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995, S. 34. 26 Das Ästhetische ist mit Kant als „ das Verhältnis der Vorstellungskräfte “ , die das Subjekt seiner Umwelt imprägniert. Vgl. Imma- 64 Magdalena Zorn nuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, § 11. 27 Vgl. Paul Roquet, Ambient Media. Japanese Atmospheres of Self, Minneapolis/ London 2016. 28 Michael Bull, „ Investigating the Culture of Mobile Listening: From Walkman to iPod “ , in: Kenton O ’ Hara/ Barry Brown (Hg.), Consuming Music Together. Social and Collaborative Aspects of Music Consumption Technologies, Dordrecht 2006, S. 131 - 149, hier S. 133. 29 „ liveness, n. “ , in: Oxford English Dictionary, https: / / www-1oed-1com-10012712w1c23.e media1.bsb-muenchen.de/ view/ Entry/ 10932 0? redirectedFrom=Liveness#eid [Zugriff am 15.09.2022]. 30 Roquet, Ambient Media, S. 2. 31 Vgl. Veit Erlmann, Reason and Resonance. A History of Modern Aurality, New York 2010, S. 10. 32 Vgl. Philip Auslander, „ Live from Cyberspace. Or, I Was Sitting at My Computer This Guy Appeared He Thought I Was a Bot “ , in: A Journal of Performance and Art 24/ 1 (2022), S. 16 - 21, hier S. 16. 33 Jonathan Dunsby, „ Performance “ , in: Oxford Music Online, https: / / doi-org.emedien.ub.u ni-muenchen.de/ 10.1093/ gmo/ 97815615926 30.article.43819 [Zugriff am 15.09.2022]. 34 „ liveness, n. “ . 35 Sanden, „ Rethinking Liveness in the Digital Age “ , S. 183. 36 Niasseri, „‚ Abba: Voyage ‘ in London “ . 37 „ lebendigen, verb. “ , in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/ 21, https: / / www.woerterbuch netz.de/ DWB? lemid=L02600 [Zugriff am 15.09.2022]. 38 Jörg Noller, „ Philosophie der Digitalität: Realität - Virtualität - Ethik “ , in: Uta Hauck-Thum/ Jörg Noller (Hg.), Was ist Digitalität? Digitalitätsforschung/ Digitality Research, Berlin/ Heidelberg 2021, https: / / doi. org/ 10.1007/ 978 - 3-662 - 62989 - 5_4, S. 39 - 54, hier S. 45. 39 Meckel, „ Sein oder Nichtsein “ . 40 Jean-Luc Nancy, „ Our World. An Interview, in: Angelaki 8/ 2 (2003), S. 43 - 54, hier S. 51. Vgl. Erich Hörl, „ Die künstliche Intelligenz des Sinns. Sinngeschichte und Technologie im Anschluss an Jean-Luc Nancy “ , in: ZMK. Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 (2010), S. 129 - 147. 41 Armin Grunwald, „ Technik als Transformation von Möglichkeitsräumen. Technikphilosophie anders gedacht “ , in: Philipp Richter/ Jan Müller/ Michael Nerurkar (Hg.), Möglichkeiten der Reflexion. Festschrift für Christoph Hubig, Baden-Baden 2018, S. 203 - 216, hier S. 209. 42 Vgl. dazu Daniel Martin Feige, Kunst als Selbstverständigung, Münster 2012. 43 David Trippett, „ Digital Voices. Posthumanism and the Generation of Empathy “ , in: Nicholas Cook/ Monique M. Ingalls/ David Trippett (Hg.), The Cambridge Companion to Music in Digital Culture, Cambridge 2019, S. 227 - 248, hier S. 241. 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. Philip Auslander, „ Digital Liveness. A Historico-Philosophical Perspective “ , in: A Journal of Performance and Art 34/ 3 (2012), S. 3 - 11, hier S. 9. 46 Vgl. Trippett, „ Digital Voices “ , S. 234. 47 Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen 2, Berlin 1866, S. 286. 48 Donna J. Haraway, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham/ London 2016, S. 58. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 120. 51 Ebd., S. 97. 52 Georg Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe 3, Stuttgart 2011, S. 701. 53 Timothy Morton, Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World. Minneapolis/ London 2003, S. 188. 54 Roger Caillois, „ Mimese und legendäre Psychasthenie “ ( „ Mimétisme et psychasthénie légendaire “ , 1935), in: Roger Caillois, Méduse & C ie , übers. Peter Geble, Berlin 2007, S. 24 - 43, hier S. 35. 55 Ebd., S. 39. 56 Ebd., S. 36. 57 Ebd., S. 37. 65 ABBAs Hologramm-Show. Mit ‚ Gestorbenem ‘ leben Verräumlichung von Oberflächlichkeit. Zur Gestaltung einer Szenosphäre bei Susanne Kennedy (Drei Schwestern, Münchner Kammerspiele, 2019) Julia Prager (Dresden) Der Beitrag möchte zeigen, wie Susanne Kennedys Inszenierung von C ˇ echovs Stück Drei Schwestern Konzeptionen theatraler Atmosphären als eine ‚ zwischenmenschliche Erfahrung ‘ produktiv umdeutet: Der geteilte Raum steht in der installativen Verschaltung von fiktionalen, sprachlich-kulturellen, virtuellen und phänomenalen Räumen ebenso in Frage wie die Möglichkeit, das Zwischenmenschliche als Eigenschaft bestimmter Körper festzumachen. Klare Entgegensetzungen von virtueller Oberflächlichkeit und greifbarer Räumlichkeit, menschlichem und nicht-menschlichem Körper, An- und Abwesenheit werden ausgeräumt, wenn etwa die in der Luft hängende Guckkastenbühne von einer digitalen Projektionsfläche überblendet wird und die in ihrem Erscheinen in Silikonmasken ohnehin schon avatarhaft wirkenden Schauspieler*innen auf dieser dann noch einmal, nun jedoch als Körper- Simulationen sichtbar werden. Die gestaltete Szenosphäre kommt nicht allein bildgewaltig daher, sondern operiert durch das Sounddesign in sich abwechselnden Sequenzen von sterilen Sprechpartien mit eingespieltem Voiceover und ohrenbetäubenden Geräuschkulissen mit regelrechten Blackouts. Kennedys Theater erscheint gerade aufgrund seiner umfassenden Konstruktionen von Stimmungen als Versuchsraum, sich diesen auszusetzen und sich gleichzeitig der Gewalt ihrer Affektion entgegenzusetzen. Atmosphärenkonstruktionen: ein Aufriss Gernot Böhme sucht in seinem Aufsatz „ Atmosphärisches in der Naturerfahrung “ anhand von poetischen Texten eben dieses in Gedichten von Gottfried Benn, Stefan George sowie in japanischen Haikus aufzuspüren; mehr noch entwickelt er eine an das Atmosphärische gekoppelte ästhetische Betrachtung, die von der Ökologie ihren Ausgang nimmt, insofern diese als ein Umweltproblem aufgefasst wird, das an der leiblichen Verfasstheit des Menschen hängt. Wenn Böhme die Frage nach dem Umweltproblem im Bereich der Ästhetik verortet, dann jedoch allein in einer Weise, in der das Einwirken von Umwelt den Leib ‚ betrifft ‘ . Ästhetik koppelt sich hier an ‚ aisthesis ‘ und entfernt sich damit von Ästhetik als eine auf das künstlerische Artefakt gerichtete Praxis normativen Vermessens, die er u. a. mit einer semiotischen Lektürearbeit verbindet, in deren Zuge ‚ lesen ‘ als Tätigkeit des Entschlüsselns und Verstehens praktiziert wird. 1 In ihrer eigenen Abwendung von der semiotischen Lektüre „ theatralischer Texte “ hin zu einem auf eine bestimmte Form von Performativität abhebenden Analyseverfahren nimmt Erika Fischer-Lichte Böhmes Konzeption des Atmosphärischen für die theatrale Situation auf. Wie Böhme macht sie das Moment von „ Ko-Präsenz “ als „ einer gemeinsamen Wirklichkeit von Wahrnehmenden und Wahrgenommenen “ 2 stark. Theatrale Atmosphären werden hier als solche beschrieben, die nur im Moment ihrer „ Erspürung “ 3 durch das Publikum innerhalb einer inszenatorischen Raumkon- Forum Modernes Theater, 34/ 1, 66 - 79. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0007 stellation existieren und somit in einem Bereich des Zwischenmenschlichen verortet. Atmosphäre hinge dementsprechend vom Verhalten der Einzelnen ab, so wie diese umgekehrt in ihrem Verhalten von ihr leben. Wird das Wahrnehmen innerhalb eines kollektiven Zusammenhangs (etwa eines Theaterpublikums) vollzogen, dann treten alle Anwesenden in diesen Prozess ein, was jedoch nicht bedeute, dass die so kollaborativ im Zwischenraum von Inszenierung und Rezeption erzeugten Atmosphären nicht je verschieden aufgefasst werden. Atmosphäre wäre entsprechend als ‚ etwas ‘ zu denken, das sich räumlich zwischen Objekt und Subjekt „ ergießt “ 4 . Dass eine „ Beschränkung der atmosphärischen Wahrnehmung auf eine rein leiblich-affektiv geprägte Gegenstandserfahrung problematisch ist “ 5 , darauf verweist unter anderem Sabine Schouten. Zwar sei der erste Eindruck oft durch eine spezifische Atmosphäre geprägt, diese entschwinde aber nicht, „ sobald das Dargebotene vom Zuschauer mit einer bestimmten Bedeutung belegt wird. “ 6 Vielmehr vermögen solche Sinnzuschreibungen es, die Theatermittel mit weiteren affektiven Wirkungen aufzuladen. Neben diesem Einwand und dem im Bereich performativitätstheoretischer Debatten schon traditionellen Zweifel an der Trennung eines passiven, rein materiellen Leibes von einem diskursiven Körper - eine Konzeption, die auf seine Einbindung in (kulturelle) Raster des Wahrnehmens und damit auch die ihn konstituierenden Machtgefüge abhebt 7 - scheint noch ein weiterer Aspekt in der Verhandlung der theatralen Atmosphäre von Interesse, die in der Fokussierung auf den wahrnehmenden Leib- Körper zurücktritt. Dieser umfasst in besonderer Weise deren Inszenierung und das darin ausagierte, mitunter machtvolle und manipulative Spiel mit der Affektion. Mit Blick auf Susanne Kennedys Produktion, die in diesem Beitrag unter der Perspektive des Atmosphärischen betrachtet werden soll, steht sogar die Anwesenheit von sich affizierenden Körpern sowie die Konstellation eines auf das Hier und Jetzt verwiesenen Raum-Gefüges des Theaters in Frage. In der an der Grenze des Theaters operierenden, beinahe installativen Inszenierung von C ˇ echovs Stück Drei Schwestern lässt sich vielmehr ein Verfahren kritischen Durchspielens des Atmosphärischen ausmachen. Ein solches ergibt sich aus dem Zusammenkommen des Textverfahrens mit der Spezifik von Kennedys Inszenierungsweise, bei der avatarhafte Automatenfiguren mit konkreten Körpern, künstliche Sounddesigns mit körperlichen Stimmen und virtuelles Interface mit phänomenaler Umwelt disjunktiv verschaltet werden. Was dieser Beitrag entsprechend zeigen möchte, ist das Atmosphärische als spezifische und komplexe Spielform einer Relationierung von Umwelten. Wenn sich dabei der Theaterraum über seine Grenzen hinweg in den virtuellen Raum der Videoprojektion und digitalen Raumerzeugung ins scheinbar Unendliche verlängert wie auch fragmentiert, sich die reale Zeit in der überbordend inszenierten Langeweile ausdehnt und die unterbrochene Anbindung der theatralen Präsentation an den fiktionalen Stimmungs-Raum des C ˇ echov-Stücks ausgestellt wird, dann erscheint die Begrenzung von Raum und Zeit, von ‚ on ‘ und ‚ off ‘ radikal verunsichert. 8 Erzeugt und provoziert wird ein Raum(gefühl und -verständnis), in dem sich die Szenographien des virtuellen Bildraums mit dem materiellen Raum/ Raumbild des szenographischen Settings verschachteln und in dynamischen Prozessen interferieren. In diesem Zusammenhang scheint Ludwig Fromms Diktum, „ Szenographie ist Atmosphärenkonstruktion “ 9 zuzutreffen, insofern darin die Verkoppelung von Gestaltung und Affektion deutlich hervortritt. Auch Böhme verweist in seinen Ausführun- 67 Verräumlichung von Oberflächlichkeit gen zum Bühnenbild, das er sogar zum „ Paradigma einer Ästhetik der Atmosphären “ 10 erhebt, auf die Verknüpfung von produktions- und rezeptionsästhetischer Gestaltung im „ Schaffen von gestimmten Räumen “ 11 . Um dieser Relation von gestalterischem Tun und der Performanz des Wahrnehmens in seiner Interdependenz nachzukommen, entwirft wiederum Ruth Prangen den Arbeitsbegriff „ Szenosphäre “ , den sie mit jenem der „ Szenotopie “ relationiert. 12 Diese Bezeichnung erscheint in ihren Bezugsräumen als besonders geeignet, Inszenierung und Spiel des Atmosphärischen bei Kennedy greifbar zu machen. Wenn im Folgenden die spezifischen Spielweisen von Verräumlichung und Oberflächlichkeit im Zusammenhang der Szenosphäre verhandelt werden, dann soll es vordringlich darum gehen, die Transformation der im Diskurs um die Atmosphäre bemühten Kategorie des ‚ Zwischenmenschlichen ‘ nachzuvollziehen. Denn im Spiel mit der ruptierten Stillstellung und Einebnung im Stimmungsraum der Langeweile ergibt sich eine Potentialität des Körperlichen und Relationalen, die sich der geradezu selbstverständlich scheinenden Versicherung der gemeinsamen Anwesenheit produktiv entgegenstellt. Oberfläche und Raum: Szenosphäre Das Wort ‚ Atmosphäre ‘ lässt sich in zwei Teile zerlegen: zum einen in ‚ atmos ‘ , das so viel wie Dunst oder Dampf meint, und zum anderen in ‚ sphaira ‘ , Kugel oder Hülle. Das Atmosphärische, das ist zuvor angeklungen, wird von Böhme wie auch von Fischer- Lichte durch und durch räumlich und zwar im Raum eines Hier und Jetzt gedacht; gleichzeitig weist seine Etymologie auf einen von der Kugelform her konzipierten, eigentlich unendlichen Raum hin, dessen Schichten des Undurchsichtigen dennoch seine Begrenzung signalisieren. Dieses zweite, dem meteorologischen Bereich entlehnte Bild nimmt die besondere Szenosphäre von Kennedys Inszenierung bereits vorweg. Denn beim Betrachten von Lena Newtons Bühnenbild und Rodrik Bierstekers Videoinstallation oder - treffender - der zum Teil merkwürdig enträumlichten, weil ins virtuell Dimensionslose entgrenzten Szenosphäre von Drei Schwestern, stellt sich zunächst die Frage, wo hier denn eigentlich der theatrale Raum zu verorten, wie die Szene zu begrenzen sei: Den kompletten Bühnenraum überspannt in der Vertikalen eine Projektionsfläche, in deren Mitte ein tatsächlicher Guckkasten die Fläche in die Tiefe des dahinterliegenden Raums öffnet. Durch das Zusammenspiel von scheinbar schwebendem Guckkasten und Projektionsfläche wird die Vorstellung von Bilderrahmen und Bild evoziert und mit Blick auf die grundständige Form der bespielten Rahmenbühne verdoppelt. Über die Projektionsfläche strömt, begleitet von einem akustischen Rauschen, Stöhnen oder diffusen Ächzen, zu Beginn des Stücks die Animation einer feurig glühenden Rauch- oder Wolkendecke. Es drängt sich die Assoziation einer Ankündigung des vernichtenden Feuers aus dem C ˇ echov-Text auf, die hier eine temporale Inversion erfährt: Die Möglichkeit eines (notwendigen) Neuanfangs erscheint, anders als im Drama, gerade nicht an den Schluss, sondern eben an den Anfang gesetzt (Abb. 1). Zwischendurch senkt sich eine kleinere Leinwand vor die im Guckkasten weniger agierenden, denn festgesetzten Schauspieler*innen. Auf dieser sind (noch einmal) die mehr oder weniger figurierten Körper zu sehen, wie sie - zu grobkörnigen Pixeln transformiert - verzerrt und dergestalt stockend den Guckkasten immer wieder verlassen, indem sie durch die Seitenwände nicht ab-, sondern hindurchgehen. Die Szene scheint zunächst weniger von der thea- 68 Julia Prager tralen Gestaltung des Raums als der Inszenierung seines Eingehens in die virtuelle Oberfläche dominiert zu werden. Dieses Verfahren der Einebnung korrespondiert auf den ersten Blick mit den für Kennedy typischen und sich stets de-figurierenden Avatar-ähnlichen Figuren. Dabei werden die mit entindividualisierenden, dennoch geschlechtlich codierten Silikonmasken der Mimik enthobenen Gesichter (deren Körper diesen Verlust in überzeichnet gestischem Spiel wettzumachen suchen) als hypermoderne digitalisierte Menschen oder als posthumane Wesen bezeichenbar bzw. steht bei Kennedy grundsätzlich die Frage im Raum: „ Was ist der Mensch? “ 13 Ihre Figurationen stellen einen Bezug zur digitalen Umwelt her, die den Körper wie auch das Zwischen von Körpern nicht mehr im eigentlichen Sinn ‚ betrifft ‘ , sondern grundlegend transformiert. Allerdings spricht einiges dafür, diese Transformation nicht einfach hinzunehmen, sondern sie gerade in ihrem Prozessieren zu beachten. Denn selbst wenn in vereinzelten Sequenzen andere Spielende ohne Silikonmaske erscheinen, sind diese von der Maske nicht befreit. Ihr Verharren und Stillstehen lässt sie mindestens so künstlich wirken wie die tatsächlich maskierte Spielweise. Bemerkenswert erscheint dabei, dass die unmaskierten Gesichter zunächst etwas vermeintlich zu entbergen scheinen, was die Maske sowie die den Körper zumeist bis auf wenige Stellen wie Hände verdeckenden Kostüme in der Schwebe halten: Lassen sich durch die Bewegungen der maskierten Körper nur Vermutungen darüber anstellen, ob sie von jungen oder gealterten Körpern ausgeführt werden, stellt das Verfahren des Entbergens in kurzen Sequenzen sichtlich ältere Frauen-Körper aus. Besonders auffällig wird das Spiel mit dem Zeigen eines Körpers oder jenes auf einen Körper, wenn ein als derart gealtert vorgestellter Körper einen Apfel isst oder vielmehr spielt, einen Apfel zu essen. Die Tätigkeit des Essens, die traditionell als Versicherung des Körpers Abb. 1: Szenosphärische Einstimmung zu Inszenierungsbeginn. (Screenshot eines Videomitschnitts) 69 Verräumlichung von Oberflächlichkeit und seiner Anwesenheit gelten kann, erzeugt in dieser Inszenierung eher einen umgekehrten Effekt, der einmal mehr mit der Oberfläche und der oberflächlichen Wahrnehmung spielt. Denn was sichtbar zu werden scheint, ist weniger die Differenz des unmaskierten zum maskierten Körper als vielmehr die Oberflächlichkeit der Betrachtung, den Körper auf seine ‚ natürlichen ‘ Merkmale hin zu vermessen. Schon C ˇ echovs Text macht das (gendercodierte) Altern in mehrerlei Hinsicht thematisch: So wird ständig nach dem jeweiligen Alter der Figuren gefragt; die älteren Schwestern beklagen den Verlust von Jugend, während die jüngste Schwester immer wieder darum bemüht ist, nicht mehr als Kind wahrgenommen zu werden. Gleichzeitig versucht die durch die Heirat mit dem Bruder hinzukommende Natascha die alte Hausdame, Aniffa, aufgrund ihrer nachlassenden Arbeitskraft loszuwerden, obwohl sich die Schwestern dagegen wehren. Aniffa erscheint als spannungsreiche Figur im Stück, insofern ihr ein Narrenstatus zugeschrieben wird, durch den eine Perspektive ins Spiel kommt, die dezidiert ‚ von unten ‘ erfolgt und somit quer zu jener der dominierenden Klasse steht, von der das Stück handelt. Eine gewisse närrische Naivität scheint auch im Bild von Kennedys Inszenierung eingefangen zu werden, indem die ‚ apfelessende ‘ Schauspielende inmitten zweier anderer mit ernsten Mienen Spielenden merkwürdig gelassen und vergnügt blickt, sodass die auszehrende Langeweile, auf die noch zurückzukommen sein wird, eine Umcodierung erfährt. Selbstverständlich lässt sich aus der theatralen Präsentation heraus nicht klären, ob und inwiefern hier die C ˇ echov ’ schen Figuren überlagert werden. Ebenso möglich wird die Lesweise, dass die anfängliche kindliche Naivität der jüngsten Schwester Irina das mimische Spiel mit dem auffälligen Lächeln bedingt. Gleich zu Beginn macht C ˇ echovs Stück nämlich die Ambivalenz von Stimmungen deutlich, wenn zwischen den Schwestern Unklarheit darüber besteht, ob an diesem Tag, der zugleich der Todestag des Vaters sowie der Namenstag der jüngsten Schwester ist, nun gefeiert oder getrauert werden solle. An anderer Stelle lacht Mascha unentwegt in merkwürdiger Weise vor sich hin, ohne aber - auch auf Nachfrage hin - den Grund für ihre Stimmung benennen zu können oder gar zu kennen. ‚ Untertitelt ‘ wird diese Guckkastenszene dann auch noch mit einem schlichten und zeitlich nichtsdestoweniger komplexen „ Währenddessen “ . (Abb. 2) Dazu ertönt eine Stimme, die Folgendes verlautbart: „ Der Körper einer Frau erreicht einen seltsamen Nomadismus und durchquert Lebensalter, Situationen und Orte. Die Zustände des Körpers werden zu einer Heldenreise, die die Geschichte der Männer überwindet und die Krise der Welt. “ Abb. 2: Maskenspiel alternder Frauen-Körper. (Screenshot eines Videomitschnitts) Entgegen der inszenierten Gleichförmigkeit und Entindividualisierung lässt sich aufgrund des mimischen Spiels aber gerade kein derart zu verallgemeinernder Zustand, kein geteilter Bezug auf den Körper ausmachen. Vor allem bleibt unklar, ‚ welche ‘ Simulationen von ‚ was ‘ (Spiel, Körperlichkeit, Stimmung) überhaupt zu sehen sind. 70 Julia Prager Um das diesen Sequenzen zugrunde gelegte theatrale Verfahren trefflich auszudrücken, lässt sich ein Satz wiederholen, den das Stück selbst unentwegt auf den Screen projiziert, um so auf das Prinzip einer endlosen virtuellen Rekursion hinzuweisen: „ We are in a simulation of a simulation of a simulation “ . Nun ist das, was sich wahrnehmen lässt, aber nicht nur Bild. Kennedys Produktion lebt oder lebt eben nicht von einem spezifischen Sounddesign. Die avatarförmigen Spielenden bewegen zwar die Lippen; die zu vernehmenden Stimmen kommen jedoch aus dem digitalen ‚ off ‘ - wenn sich das aufgrund des ausgestellt prekären ‚ on ‘ überhaupt noch als solches fassen lässt. Und als solche sind sie gerade nicht aufgezeichnete Stimmen ‚ eines ‘ Körpers, sondern aus vielen Stimmen überlagerte und modifizierte Stimmteppiche. Auch die in den Mund oder vielmehr über den Mund hinweg gelegten Stimmen vermögen es nicht - ausgestellt über die Silikonmaske - , den Spielenden ein Gesicht zu verleihen. Vielmehr höhlt der stimmliche Einsatz das hinter den Masken verborgene Leben und damit jede Individualität aus. Aber auch wenn die scheinbaren Avatare auffällig ausgestellt aus leeren Gläsern trinken oder eben so tun, als ob sie äßen, ist die ‚ Leiblichkeit ‘ des Vorgangs doppelt simuliert; der Ton des Schluckens, Schlürfens, Abbeißens und Kauens kommt nicht nur von anderswo her, sondern aus einem entkörperlichten Raum der technologischen Virtualisierung. Dieses Spiel mit der Entkörperung scheint sich in einer geradezu paradoxen Dynamik von atmosphärischer Affektion, Überwie auch Unterforderung, auf den Raum der Schauenden und Hörenden zu übertragen. Traditionell gilt der immer vorhandene Geräuschteppich im Zuschauer*innenraum als Vergewisserung der Anwesenheit und Verbundenheit des Publikums, auch durch das Dunkel des Zuschauer*innenraums hindurch. Kennedys Inszenierung spielt jedoch gerade mit der heimeligen Situation ‚ vor ‘ dem Aufgehen des hier nicht vorhandenen Vorhangs, wenn die vielzahligen Sequenzen des Stücks von einem pausierenden Black auseinandergehalten werden. Das Stockdunkel des ausgedehnten Theaterraums wird dabei übertönt von unheimlich klingendem, ohrenbetäubendem Ächzen und Stöhnen. Das Spiel mit dem Dunkel stellt im Übrigen auch als Formzitat eine Relation zum fiktionalen Raum von C ˇ echovs Stück her, in dem in der einleitenden Regieanweisung des zweiten Aktes etwa dazu angewiesen wird, die Bühne nach dem Heben des Vorhangs im Dunkel zu belassen. In Kennedys Über-setzung radikalisiert sich in besonderer Weise vor allem die Grundstimmung von C ˇ echovs Stück, nämlich die der Langeweile. Scheint die überwältigende Unterbrechung des hereinbrechenden Dunkels zunächst überraschend, so zehrt dessen Wiederkehr bei Kennedy das unterbrechende Moment förmlich aus: Erschien die Unterbrechung anfänglich noch als Pause vom langwierigen Spiel mit der Unterlassung von Handlung, so verflacht das hereinbrechende Moment der Unterbrechung in der Wiederholung zunehmend, dehnt sich in seiner vorhersagbaren Wiederkehr aus und fügt sich der Stimmung von Langeweile ein. Wiederholt nimmt die abschweifende, monologisierende und aneinander vorbeiredende Figurenrede bei C ˇ echov auf die sich ausbreitende Langeweile thematisch Bezug. So scheint etwa die mittlere der drei Schwestern, Mascha, mit beinahe desinteressiertem Bezug auf Gogol die Langeweile als Grundstimmung des Daseins ebenso gleichgültig hinzunehmen: „ Bei Gogol heißt es irgendwo: Langweilig ist ’ s auf dieser Welt zu leben, Herrschaften! “ 14 Langeweile ist aber nicht nur das Leitthema des Stücks, sie bestimmt ebenso dessen dramaturgisches Verfahren, das we- 71 Verräumlichung von Oberflächlichkeit sentlich auf die atmosphärische Evokation von Langeweile abzielt. Zwar schreibt C ˇ echov in einem Brief an die Schauspielerin Vera Komissar ž evskaja: „ Die Drei Schwestern sind bereits fertig, aber ihre Zukunft, zumindest die allernächste, liegt für mich im Dunkel der Ungewissheit. Das Stück ist langweilig geworden, zäh, unangenehm; ich sage - unangenehm, denn es hat zum Beispiel vier Heldinnen, und die Stimmung ist angeblich düsterer als düster. “ 15 - und überarbeitet daraufhin das Stück. Jedoch korrespondiert gerade die beklagte Langeweile, die sich auch in der letzten Fassung nicht allein thematisch, sondern sowohl in Form der Figurenrede wie auch in der strukturellen Funktionalisierung des Wiederholungsprinzips aufdrängt, jener zeitgenössischen Lebensweise eines „ mechanischen Dahinlebens “ 16 , die C ˇ echov kritisch aufnimmt. Es scheint geradezu, als habe Kennedy C ˇ echovs Selbstzweifel zum Anlass der Gestaltung der Szenosphäre genommen. Das Spiel mit der Langeweile, spezifischer mit ihrer unangenehmen Dimension des Überdrusses, führt nicht zuletzt einen besonderen Zug der Zeitdehnung des postdramatischen Theaters fort, den Hans-Thies Lehmann für eine Abgrenzung vom dramatischen Theater fruchtbar macht. Mit Blick auf die dahingehend einschlägigen Ästhetiken von Robert Wilson oder Christoph Marthaler sieht ebenso Sven Grampp sowohl durch Verlangsamungen der Bewegungen bis zum Stillstand wie durch szenische Wiederholungen der immer gleichen Abläufe narrative Sinnzusammenhänge in produktiver Weise außer Kraft gesetzt. Die künstlerische Strategie, die Zuschauenden mit dieser Ereignislosigkeit in einen Zustand der unangenehm aufdringlichen Spannungslosigkeit zu versetzen, verbindet er dabei mit einem Moment des Aufmerkens: „ Denn nur durch die Qual der Langeweile werde es möglich, unsere vermeintlich durch die elektronischen Medien fragmentierte und hektisch-zerstreuten Wahrnehmungsmodalitäten hinter uns zu lassen, um so zu einer ‚ klareren ‘ oder doch zumindest ‚ humaneren ‘ Wahrnehmung zu gelangen. “ 17 Auf diesen Aspekt einer „ humaneren Wahrnehmung “ im scheinbar posthumanen Setting von Kennedys Inszenierung wird im nächsten Abschnitt zurückzukommen sein. Hier erscheint es weiterhin von Interesse, den Fluchtlinien von Langeweile als einem postdramatischen Verfahren zu folgen. Während in C ˇ echovs Stück besonders die jüngste Schwester Irina danach strebt, die (schmerzhafte) Langeweile im Kant ’ schen Sinn durch Arbeit zu überwinden, 18 dreht Kennedys Verfahren dieses Verhältnis um: Die Arbeit besteht hier gerade darin, die Langeweile auszuhalten. Im Hinblick auf die Rahmung der Inszenierung durch Kennedy selbst, die sich auch als Schamanin des Theaterrituals präsentiert, 19 lässt sich eine weitere Formulierung von Grampp aufnehmen, die sich ebenso für die Beschreibung des eigentümlich langweiligen Spiels bei Kennedy eignet: „ Langeweile wäre so verstanden eine Art Entschleunigungsvehikel und damit sogar notwendige Vorbedingung für eine ästhetische, wenn nicht gar esoterisch grundierte Sensibilisierung der Wahrnehmung. “ 20 Diese Bezugsfäden zu Theorien der Langeweile lassen sich produktiv mit den von Kennedy eingewobenen Textfragmenten aus Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft über die Wiederholung als das „ grösste Schwergewicht “ 21 des Denkens verbinden. Wird von Nietzsche einerseits die Bejahung des Lebens in der ewigen Wiederkunft des Gleichen beschworen, so auch nur oder gerade durch die wiederholten, aber auch variierenden Text-Auftritte einer derart mystischen Erfahrung. Im Stimmungsraum der Langeweile tritt das Spirituelle, Mystische oder gar Esoterische bei Kennedy 72 Julia Prager ebenfalls variantenreich und mitunter in verschiedenen Gestaltwerdungen in Erscheinung: So schwebt zeitweise eine blaue Maske im virtuellen Raum des Bühnenrahmens. Eine ähnliche Maske taucht auch im dreidimensionalen Guckkasten auf der ‚ Oberfläche ‘ eines Tablets wieder auf. Einmal wird das der regelrechten ‚ Verdauerung ‘ überantwortete Setting von einer Art Gesangseinlage unterbrochen, in der ein gehörnter Schamane mit einem Ritualstab, auf dessen Vorderseite wiederum die Maske (projiziert) erscheint, vor den Spielenden steht, während sie vor ihm knien. In diesen Unterbrechungen, die jedoch nicht tatsächlich die Grundstimmung des Stücks verändern, transformiert sich dennoch die Wahrnehmung der ‚ Verdauerung ‘ zu einer beinahe mystischen Erfahrung. An dieser Stelle ließe sich fragen, ob Kennedys Inszenierung eines derart rituellen Theaters auch den Moment seines von Brecht konstatierten Auszugs aus dem Kultischen in gewisser Weise stillstellt. 22 Bemerkenswert ist noch eine weitere Verbindung der Inszenierung von Langeweile mit ihrem theoretischen Diskurs, wenn Kennedy den Soundteppich einer Telenovela über die Szene der Langweile legt und diese damit verdoppelnd kommentiert. In den für die Dramaturgien von Daily Soaps 23 konstitutiven Verfahren der Wiederholung und Zeitdehnung hat Umberto Eco einen Modus des (re)sensibilisierten Wahrnehmens herausgestellt. Insofern Daily Soaps ein Grundmuster beinahe endlos variieren, ist nicht die Innovation ihre tragendes Element, sondern im Gegenteil die minimale Variation in der Wiederholung. Denn gerade die Langeweile, die sich durch die scheinbar endlose Wiederholung aufdrängt, zwingt dazu, auf Unterschiede zu achten. Mit Blick auf das Publikum stellt Eco somit die Wahrnehmung von Langeweile als eintöniges Stimmungsbild in Frage: „ Müssen wir an die Geburt eines neuen Publikums denken, dem die erzählten Geschichten, die es eh schon alle kennt, gleichgültig sind und das nur darauf aus ist, die Wiederholung und ihre winzigen Variationen zu genießen? “ 24 Nun lässt sich schwerlich sagen, dass die Szenosphäre von Langeweile bei Kennedys Drei Schwestern ein derart vergleichbares Genießen hervorzubringen sucht. Eher noch tritt sie gegen diesen Wunsch an, das Immergleiche im Theater lediglich in minimaler Variation konsumieren zu können. Dadurch allerdings scheint gerade die trotz Unterbrechungen ununterbrochene und gleichförmig gestaltete Stimmung der Langeweile Momente des beschriebenen Aufmerksamwerdens zu provozieren: Das Publikum reagiert oder reagiert eben nicht, indem es sich gegen die affektive Überschwemmung sträubt, wenn etwa an manchen Stellen dann doch gelacht oder auch gegen die überbordende Atmosphäre angelacht wird. Möglicherweise realisiert sich in diesen Momenten erst die groteske Komik, die C ˇ echov seinem Stück einzutragen suchte. Diese merkwürdige Spannung (in) der Langeweile ereignet sich auch und im Besonderen in der Spielweise der sich stets defigurierenden Figuren. Blitzhaft scheinen diese in manchen Sequenzen ‚ aufzumerken ‘ . So entsteht der Eindruck, als würden sie sich lediglich in diesen Augenblicken verkörpern und dementsprechend zu ihrer ‚ Rolle ‘ verhalten. Inwiefern auf diese Weise zumindest die Möglichkeit einer veränderten Wahrnehmung szenisch in Aussicht gestellt wird, soll versuchsweise im letzten Abschnitt gezeigt werden. Wiederholung, Simulation, Zögern Kennedys Inszenierung kreist wortwörtlich um das Strukturelement des C ˇ echov-Stücks: die Verlagerung des (insbesondere weiblich markierten) Glücks in eine noch nicht an- 73 Verräumlichung von Oberflächlichkeit gebrochene Zukunft und die absolute Unmöglichkeit, aus dem Jetzt auszubrechen, das sich als Endlosschleife von Zuständen des Wartens und der Langeweile gibt. In Moskau, aus dem die drei titelgebenden Schwestern als Angehörige der im Vergehen begriffenen Klasse russischer Intelligenzija in die Provinz kamen, so klagen und hoffen sie, war alles und wird alles besser - wenn sie es denn bewerkstelligen könnten, diesen Ort zu verlassen und zurückzukehren. Die Einschätzung mancher Kritikerstimmen, Kennedy ließe C ˇ echovs Text mehr oder weniger hinter sich, 25 verleugnet in vielfältiger Weise die besondere Relation, die der virtuell gedehnte und durch die aussetzende Materialität fragmentierte Raum der Inszenierung mit dem fiktionalen Raum des Stücks und seiner es umgebenden Raum-Zeit eingeht. Entgegen der diagnostizierten fehlenden Bezugnahme ließe sich sogar behaupten, dass sich Kennedys Inszenierung in ausgestellter Weise in die sich immer wieder neu wiederholende, beinahe unaufhörliche und damit selbst ausgedehnte Versuchssituation begibt, dem Text näher zu kommen - ohne dabei den Versuch zu unternehmen, ihn ‚ aufführen ‘ zu wollen. Zwar erlangte C ˇ echovs Stück in seiner Umsetzung durch Stanislavskij am Moskauer Künstlertheater große Bekanntheit, dennoch missfiel dem Verfasser dessen psychologisierende Inszenierung zutiefst. Besonders die Transformation des als Komödie oder zumindest als Tragikomödie mit grotesken Einschüben konzipierten Stückes zu einem regelrechten Rührstück widerstrebte ihm. 26 Wer Kennedys Inszenierung des Kollabierens von Zeit-Räumen als alleiniges Symptom der digitalisierten Umwelt ‚ liest ‘ , überliest also eben dieses Moment in C ˇ echovs Stück: Ganz im Gegensatz zur aristotelischen Poetik widersetzt es sich einer Handlung in angemessener zeitlicher Abfolge und dazugehörigem Spannungsaufbau. Zeit, ihr Verschwinden wie auch ihre Ausdehnung bestimmt die aneinander vorbeiredenden Figurenreden und ist ‚ andauernd ‘ Thema des Stücks: Zeit verfließt und steht gleichzeitig still - sie ist kein Gestaltungsraum für menschliche Tätigkeit, Handeln und Konflikte. Nahezu alle Veränderungen dringen von außen in das Leben der Figuren ein. „ In zwei-, dreihundert Jahren wird das Leben auf der Erde unvorstellbar schön sein “ , philosophiert etwa Oberstleutnant Werschinin. Die Besucher im Hause der drei Schwestern weisen wiederholt und ohne Konsequenz darauf hin, dass ihre Uhr sieben Minuten vor der Zeit gehe. Der alternde Arzt Tschebutykin betrachtet eine Porzellanuhr, bevor er sie fallen lässt und dabei zerstört. Kurz zuvor sinniert er: „ [V]ielleicht scheint es nur so, daß ich herumgehe, esse und schlafe. “ 27 Während zahlreiche feuilletonistische Bezugnahmen auf Kennedys Inszenierung also allein auf das Moment der Zeitschleife und Ausweglosigkeit abheben und darauf verweisen, dass metatheatral die Endlosschleife der immer wiederkehrenden Aufführung des Stücks vorgeführt werde, 28 möchte dieser Beitrag noch eine andere Lesart anbieten, die vom Spiel mit dem Atmosphärischen, in diesem Fall der festgesetzten langen Weile, ausgeht. Das Lesen von Theater aufnehmend und ebenfalls kritisch gegenüber der semiotischen Verstehenspraxis entwirft Gerald Siegmund eine allegorische Lektüre von theatralen Präsentationen. Im allegorischen Lesen trete das Materielle aus dem ‚ Aufführungstext ‘ hervor und damit auch das Zögern des Signifikanten Signifikat zu werden. 29 Zwar steht das Materielle in Kennedys Inszenierung grundsätzlich in Frage, jedoch scheint sich ein solches Zögern auf die darin gestalteten spezifischen Unterbrechungen der Simulation übertragen zu lassen, wie sich anhand kurzer Sequenzen probeweise vorführen lässt. 74 Julia Prager Beispielsweise überträgt Kennedy eine kleine Textstelle aus C ˇ echovs Stück, in dem Baron Tusenbach erwähnt, Werschinin komme aus Moskau, wonach in grotesker Weise von den Schwestern wiederholt nachgefragt wird, ob dies wirklich der Fall sei. Die groteske Komik dieser Sequenz ergibt sich zum einen aus dem wiederholten Nachfragen, auf das die befragte ‚ Figur ‘ mit einer fast unmerklichen, aber dennoch auffälligen Geste ‚ reagiert ‘ , indem der Schauspieler beinahe trotzig die Arme in die Seite stützt und mehrfach „ Ja, genau “ antwortet. Daraufhin scheint ein anderes, nicht-figuriertes Voiceover eine Regieanweisung über die jedoch unausgeführte ‚ Reaktion ‘ der Schwestern ( „ beide lachen vor Freude “ ) auszusprechen. Zum anderen verschiebt sich die Komik der Szene mit der raum-zeitlichen Über-setzung zwischen C ˇ echovs Stück, dem Raum der Inszenierung und dem Theaterraum: Denn die künstlich bayerisch gefärbte, wiederum künstliche Stimme des Befragten hebt hier die aus dem Text übernommene Stelle auf die Ebene der konkreten Präsentation im Haus der Münchner Kammerspiele. Dieses paradox individualisierende wie auch ver- und entortende Moment kollidiert in gewisser Weise mit der Verfahrenstechnik des simulierenden Avatars. Mit ihm bricht eine simulierte körperliche Materialität dennoch folgenschwer in den Signifikationsprozess der simulierten Simulation ein. Gleichzeitig stellt sich in diesem Verfahren der sich lokalisierenden Sprechweisen eine weitere komische Verbindung zum Text her, in dem Tusenbach aufgrund seines deutschen Namens mehrfach darum bemüht scheint, sich als Russe vorzustellen: „ Sie denken vielleicht im Stillen: Seht doch den gefühlvollen Deutschen! Aber ich bin, auf Ehre, ein Russe und spreche nicht mal deutsch. “ Oder an anderer Stelle: „ Ich habe eigentlich drei Familiennamen - Baron Tusenbach-Krone-Altschauer heiß ’ ich, aber ich bin Russe und gehöre zur orthodoxen Kirche, wie Sie. Vom Deutschen hab ’ ich nur noch wenig an mir, höchstens die Ausdauer und Hartnäckigkeit, mit der ich Sie langweile. “ 30 Durch die Überlagerung von Figuren in den ‚ Avataren ‘ erreicht Kennedys Inszenierung ihre eigentümliche Komik, die aus der Vervielfachung der Anspielungen auf Zugehörigkeit (zu einem Text und dessen Umwelt, einem Münchner Theaterhaus, einer Nationalsprache) und im Ausspielen der künstlichen bayrischen Intonation gegen die sonst in Bezug auf Lokalität unmarkiert bleibenden, deutschsprachigen Stimmen hervorgeht. Eine weitere Sequenz nimmt einen Spielzug in den Blick, der sich beinahe unscheinbar dem stark gestischen, also codierten und in dieser Weise lesbaren Spiel widersetzt. Immer wieder kommt es beinahe zu Berührungen, zu Bewegungen der Hände, die gerade nicht mehr gestisch zu sein scheinen, sondern sich dem Material oder dem eigenen Körper in merkwürdiger Weise nähern. Etwa klingelt mehrfach ein an die Wand montiertes Schnurtelefon wie ein Ruf aus vergangener Zeit. Wobei in Bezug auf den Stücktext und die darin vielfach thematisierte Telegraphie hinsichtlich der ausufernd digitalisierten Umwelt der Inszenierung sogar eher von einem technologischen Verbindungsstück der raum-zeitlichen Übersetzung gesprochen werden kann. Auffällig wird in dieser Sequenz jedoch die Art und Weise, wie sich die Hand der Spielenden dem Apparat nähert. Denn die Hände bedienen den Apparat nicht einfach, sondern kommen ihm tastend nahe, um kurz zu zögern, als ob sich der Körper seiner Instrumentalisierung entziehen wollte. In einer anderen Sequenz scheinen es wiederum die Hände selbst zu sein, die als solche wahrgenommen werden oder aber noch nicht als ‚ solche ‘ wahrgenommen werden, sondern als Körperteile, mit denen potentiell ‚ etwas ‘ getan oder berührt werden ‚ könnte ‘ . Dies wird unter anderem auch 75 Verräumlichung von Oberflächlichkeit dann beobachtbar, wenn eine der drei Schwestern mit ihrer Hand wie beiläufig den Boden berührt, dabei - wie im Zeitvertreib und aus dem Spiel herausfallend - mit den Fingern einzeln auftippt oder bewusst über die Oberfläche streicht. Ein weiteres in dieser Lesart als Unterbrechung der Simulation fungierendes Aufmerksamwerden des Körpers für den Körper passiert in der transformativen Aufnahme einer Szene aus C ˇ echovs Stück, in der die jüngste Schwester Irina einen Kreisel von Fedotik geschenkt bekommt. Hier schreibt Kennedys Inszenierung die Stelle aus C ˇ echovs Stück um bzw. holt sie vielmehr die Transformation der älter werdenden Irina ein, die zu Beginn des Stücks noch ausgestellt kindlich von ihrer jugendlichen Schönheit eingenommen zu sein scheint, sich im weiteren Verlauf jedoch immer wieder von diesem Selbst-Bild abwendet. Als Fedotik ihr das Kinderspielzeug übergibt, reagiert Irina unkommentiert freudig: „ Wirklich reizend von Ihnen! “ Als er ihr später noch „ bunte Bleistifte “ und „ Messerchen “ kauft, während er für sich ein „ Taschenmesser “ erstanden hat, reagiert Irina zwar weiterhin freudig, jedoch nicht kommentarlos: „ Sie hätscheln mich immer noch wie ein kleines Mädchen! (Nimmt Bleistifte und Messerchen; freudig.) Ach, wie reizend! “ 31 Im Setting von Kennedys den Körper zugleich geschlechtlich ausstellender wie auch entkörperlichender Inszenierung öffnet sich ein beinahe feministisch anmutendes Moment, wenn die am Boden sitzende Schauspielerin in Silikonmaske den bunt flackernd angestrahlten Kreisel befremdlich ansieht und ihre Hand zögerlich nach ihm ausstreckt, ihn jedoch nicht berührt, sondern (nach einer Verbindung? ) suchend in den Publikumsraum blickt. Für einen Moment zeigt sich im so körperlichen und eigentümlich wachen Blick ein Zögern, die Simulation, die Wiederholung, die Schleife des jugendlichen ‚ Frauseins ‘ fortzuführen (Abb. 3 und 4). Abb. 3: Unterbrechende Relationen von Text und Theater: Kreiselsequenz 1 (Screenshot eines Videomitschnitts) Abb. 4: Unterbrechende Relationen von Text und Theater: Kreiselsequenz 2 (Screenshot eines Videomitschnitts) Gleichzeitig wird eine andere Form des Zögerns gegen den Zeitraum der theatralen Präsentation ausgespielt, wenn die komische Art und Weise, mit der Fedotik in C ˇ echovs Stück immer wieder Fotografien von Personengruppen oder auch und zuletzt von Irina anfertigt, in Kennedys Szenosphäre über-setzt wird. Im Text heißt es: „ Wart ’ einen Moment! (Er photographiert die Gruppe im Saal.) Eins! Wart ’ noch einen Augenblick … (Er macht noch eine zweite Aufnahme.) Zwei! Jetzt hab ’ ich sie! “ Und zum Schluss entgegnet er Irinas Annahme, dass sie sich bestimmt wiedersehen werden: „ In zehn, fünfzehn Jahren vielleicht! Aber dann werden wir einander kaum wieder- 76 Julia Prager erkennen, uns höchstens kalt grüßen … (Photographiert sie.) Bleiben Sie stehen … zum allerletzten Mal! “ 32 Kennedys Inszenierung transformiert die Stelle, indem sie den Akt des Fotografierens mitsamt der Aufforderung zu warten oder stillzustehen wiederholt aufnimmt, nicht jedoch den abschließenden und konservierenden Akt dieser letzten Fotografie. Das fotografische Medium führt gerade nicht eine Pause im ‚ Verlauf ‘ einer Handlung ein, sondern radikalisiert die ‚ Verdauerung ‘ noch. In besonderer Weise wird damit die Verbindung von Theater und Fotografie hervorgehoben, die Roland Barthes in seiner Fotografiestudie Die helle Kammer herstellt. Dieser ‚ engere ‘ Zusammenhang von Fotografie und Theater besteht ihm zufolge in einer eigentümlichen Vermittlung des Todes: Die ursprüngliche Beziehung zwischen Theater und TOTENKULT ist bekannt: die ersten Schauspieler sonderten sich von der Gemeinschaft ab, indem sie die Rolle der TOTEN spielten: sich schminken bedeutete, sich als einen zugleich lebenden und toten Körper zu kennzeichnen: der weiß bemalte Oberkörper im totemistischen Theater, der Mann mit dem bemalten Gesicht im chinesischen Theater, die Schminke aus Reispaste im indischen Katha Kali, die Maske des japanischen Noh. Die gleiche Beziehung finde ich nun in der PHOTOGRAPHIE wieder; auch wenn man sich bemüht, in ihr etwas Lebendiges zu sehen (und diese Verbissenheit, mit der man „ Lebensnähe “ herzustellen sucht, kann nur die mythische Verleugnung eines Unbehagens gegenüber dem Tod sein), so ist die PHOTOGRAPHIE doch eine Art urtümlichen Theaters, eine Art von „ Lebendem Bild “ : die bildliche Darstellung des reglosen geschminkten Gesichts, in der wir die Toten sehen. 33 Hans-Thies Lehmann nimmt auf diese Stelle bei Barthes Bezug, um in der „ zeremonielle[n] und rituelle[n] Statik “ 34 des Theaters Robert Wilsons eben diese Verbindung auszumachen. Während Wilson jedoch mit dem Einsatz von Fotos und der in ihr gespeicherten Zeit seinen Stücken im Benjamin ’ schen Sinn einen melancholischen Zug verleiht, scheint Kennedys Theater etwas Anderes in dieser Verbindung hervorzuheben. Ihr Theater der nicht zur Gänze bedeckenden Masken sowie das Spiel der Schaupieler*innenkörper mit ihnen und gegen diese setzt das scheinbar lebendige Spiel, die „ Verbissenheit [ … ] ‚ Lebensnähe ‘ herzustellen “ zunächst aus, um möglicherweise die vielfach beschworene Bejahung des Lebens hervorzubringen oder diese vielmehr als Möglichkeit in die Zukunft zu setzen. Damit wird noch einmal deutlich, wie Kennedys Szenosphäre einer Konzeption theatraler Atmosphären von Ko-Präsenz entgegentritt, indem sie Relationen zwischen Zeiten und Räumen öffnet, in der Schwebe hält - und damit möglicherweise eben gerade dem Theater als einem solchen gerecht wird, dessen ‚ on ‘ sich nicht von seinem ‚ off ‘ scheiden lässt. Die zu Beginn dieses Beitrags mit Böhme adressierte Problematik der den wahrnehmenden Körper betreffenden Umwelten verschiebt sich hier zu einem Aufmerksamwerden für die Bedingungen und Bedingtheiten der stimmungsvollen Affektion und damit auch hin zur Frage nach der Möglichkeit ihr zu widerstehen, sie umzudeuten, anders zu rahmen. Kennedys Spiel mit dem Zögern lässt sich aus dieser Perspektive dann auch als jener potentielle Spalt lesen, in dem Agamben ethisches Potential entdeckt. Das Zögern definiert er als reine Potenz, als die Möglichkeit, die verwirklicht oder nichtverwirklicht werden kann, als Unbestimmbarkeit „ zwischen der Potenz zu sein (oder zu tun) und der Potenz nicht zu sein (oder zu tun). “ 35 In den Worten Judith Butlers wiederum steht mit dem Zögern nicht die Frage im Raum, ‚ ob ‘ wiederholen, sondern ‚ wie ‘ 77 Verräumlichung von Oberflächlichkeit wiederholen. 36 Oder eben in den Worten des stets „ philosophierenden “ Werschinin, dessen schwadronierende Sätze zum Teil mantrahaft in Kennedys Szenosphäre mehr eintauchen, als dass sie daraus hervorgehen: Ich denke oft bei mir: wie, wenn man so das Leben noch einmal, und zwar bewußt, von vorn beginnen könnte? Wenn das erste Leben, das wir schon durchlebt haben, sozusagen das Concept und das zweite die Reinschrift davon wäre? Dann würde doch jeder von uns bemüht sein, sich dieses zweite Leben angenehmer einzurichten, statt einfach das erste Leben zu copieren! Er würde alles behaglicher haben wollen, mit Blumen, mit reichlichem Licht … Ich hab ’ eine Frau und zwei Töchterchen, meine Frau ist kränklich und so weiter, und so weiter, na, wenn ich mein Leben von vorn beginnen könnte, würde ich jedenfalls nicht heiraten … Um keinen Preis! 37 Anmerkungen 1 Gernot Böhme, „ Atmosphärisches in der Naturerfahrung “ , in: Ders., Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Berlin 2013, S. 66 - 83. 2 Ebd., S. 34. 3 Sabine Schouten, „ Atmosphäre “ , in: Erika Fischer-Lichte/ Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/ Weimar 2014, S. 13 - 15, hier S. 14. 4 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 200 - 208. 5 Schouten, „ Atmosphäre “ , S. 15. 6 Ebd. 7 Vgl. hierzu Judith Butler, Bodies That Matter. On the Discursive Limits of „ Sex “ , New York/ London 1993; sowie Judith Butler, Frames of War. When is Life Grievable? , London 2010. 8 Vgl. hierzu Bettine Menke, „ On/ Off “ (Einl. zu 2. Sektion), in: Juliane Vogel/ Christopher Wild (Hg.), Auftreten. Wege auf die Bühne, Berlin 2014, S. 180 - 188. 9 Ludwig Fromm, Die Kunst der Verräumlichung, Kiel 2009, S. 148 f. 10 Gernot Böhme, „ Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphäre “ , in: Ders., Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Berlin 2013, S. 101 - 111, hier S. 101. 11 Ebd" S. 107. 12 Vgl. Ruth Prangen, Szenosphäre & Szenotopie. Künstlerische Forschungen zur Raumwahrnehmung und -struktur der Szenografie, Bielefeld 2017. 13 Vgl. hierzu Shirin Sojitrawalla, „ Was ist der Mensch. Porträt der Theaterregisseurin Susanne Kennedy “ , https: / / www.frankfurter-h efte.de/ artikel/ was-ist-der-mensch-2759/ [Zugriff am 08.01.2023] sowie Dies., „ Die Überwindung des Individuum als Chance “ , https: / / e-tcetera.be/ die-uberwindung-des-in dividuums-als-chance/ [Zugriff am 08.01. 2023]. 14 Anton Pavlovi č C ˇ echov, Drei Schwestern, übers. v. August Scholz, Berlin 2016, S. 31. 15 Wolfgang Schriek, „ Nachwort “ , in: Anton C ˇ echov, Drei Schwestern, Stuttgart 2013, S. 93 - 116, hier S. 94. 16 Ebd., S. 98. 17 Sven Grampp, „ Der Mittagsdämon zu Besuch im Vorabendprogramm. Langweilen als Kulturtechnik “ , in: Deutscher Hochschulverband (Hg.), Glanzlichter der Wissenschaft, Stuttgart 2007, S. 67 - 71, hier S. 70. 18 Immanuel Kant, Kants Werke - Akademie Textausgabe, Berlin/ New York 1968, S. 231. 19 Vgl. u. a. Sven Ricklefs, „ Moskau-Sehnsucht in Endlosschleife “ , https: / / www.deutschland funk.de/ tschechows-drei-schwestern-in-mue nchen-moskau-sehnsucht-in-100.html [Zugriff am 08.01.2023]. 20 Grampp, „ Der Mittagsdämon “ , S. 71. 21 Friedrich Nietzsche, „ Die fröhliche Wissenschaft “ , in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 3, hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988. S. 343 - 651, hier S. 370. 22 Vgl. Bertolt Brecht, „ Kleines Organon für das Theater “ , in: Ders., Werke, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 23: Schriften 3, Frankfurt a. M. 1989, S. 65 - 97, hier S. 67. 23 Streng genommen unterscheiden sich Telenovelas von Daily Soaps, insofern erstere 78 Julia Prager zwar ebenso einer Form des zyklisch-seriellen Erzählens folgt, jedoch gerade nicht auf Unendlichkeit angelegt ist. Die Geschichte einer immer weiblichen Hauptfigur wird aus der Verknüpfung von Liebesgeschichte und einer solchen des sozialen Aufstiegs generiert. Der glückliche Ausgang steht von Beginn an fest. 24 Umberto Eco zitiert nach ebd., S. 70. 25 Vgl. Theresa Steininger, „ Drei Schwestern stecken in der Endlosschleife “ , https: / / www .diepresse.com/ 6039708/ drei-schwestern-ste cken-in-der-endlosschleife [Zugriff am 08.01.2023]; sowie Wolf Banitzki, „ Tschechow zwischen Nietzsche und Pipilotti Rist “ , https: / / theaterkritiken.com/ 15-theaterberei ch/ kammerspiele/ 1482-drei-schwestern-2 [Zugriff am 08.01.2023]. 26 Vgl. Schriek, „ Nachwort “ . 27 C ˇ echov, Drei Schwestern, S. 45. Interessant erscheint hier, dass Falk Richter diese Stelle in der von ihm überarbeiteten Fassung des Stücks radikalisiert. Hier kommt Tschebutykin mit einer Uhr im Arm aus dem Keller und sagt vor sich hin: „ Ich existiere nicht, und das hier, das alles hier, gibt es gar nicht, nichts davon, nichts. Nichts existiert, nichts lebt, niemand denkt, nichts fühlt, nichts fühlt nichts lebt nichts ist nichts nichtet ich nicht nichts nicht … (Pause) “ . (Falk Richter, Anton Tschechow, Ulrike Zemme, Drei Schwestern, online unter: http: / / www.falk richter.com/ ckfinder/ userfiles/ files/ PDF/ Tra nslations/ Drei%20Schwestern.pdf [Zugriff am 01.09.2022]. 28 Vgl. u. a. Roland Pohl, „ Drei Schwestern am Volkstheater: Avatare im Spiegelstadium “ , https: / / www.derstandard.at/ story/ 20001298 87634/ drei-schwestern-am-volkstheater-ava tare-im-spiegelstadium [Zugriff am 08.01. 2023]; Petra Hallmayer, „ Sehnsucht nach der Pusteblume “ , https: / / www.nachtkritik.d e/ index.php? option=com_content&view=ar ticle&id=16695: drei-schwestern-muenchner -kammerspiele-susanne-kennedy-verordnet- [Zugriff am 08.01.2023]; Christiane Lutz, „ Wann anders ist nie “ , https: / / www.sued deutsche.de/ kultur/ theater-wann-anders-istnie-1.4424770 [Zugriff am 08.01.2023]. 29 Vgl. Gerald Siegmund, Theater als Gedächtnis. Semiotische und psychoanalytische Untersuchungen zur Funktion des Dramas, Tübingen 1996. 30 Č echov, Drei Schwestern, S. 16 und S. 27. 31 Ebd., S. 21 und S. 31. 32 Ebd., S. 21 und S. 55. 33 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M. 1989, S. 41. 34 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 2011, S. 333. 35 Giorgio Agamben, Bartleby oder die Kontingenz, Berlin 1998, S. 37. 36 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991, 217. 37 C ˇ echov, Drei Schwestern, S. 16 - 17. 79 Verräumlichung von Oberflächlichkeit Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre Tanja Prokic´ (München) Als alltagsnahe Konvention für unsagbare, subkutane Stimmungen hat sich mit den Sozialen Medien der Ausdruck ‚ Vibe ‘ etabliert, der im zugehörigen Hashtag Konjunktur hat. Was differenziert sensorisch erfahrbar ist, sich aber einer begrifflichen Festlegung verwehrt, bleibt durch die Kennzeichnung als ‚ Vibe ‘ offen für Assoziationen und Eindrücke. Gerade weil der Vibe ein indexikalischesVerhältnis zu einer sinnlich erlebten Wirklichkeit unterstellt, weist er eine Nähe zu installativen Künsten auf, die uns durch die Kreation von Atmosphären sinnlich involvieren, ohne eine eindeutige Bedeutung nahezulegen. Seit einigen Jahren tut sich auch in der Theorielandschaft die Forderung kund, den Atmosphären und Stimmungen von (literarischen, theatralen, filmischen, skulpturalen, musikalischen, architektonischen etc.) Kunstwerken und Objekten mehr Aufmerksamkeit einzuräumen. Die folgenden Ausführungen nehmen diese gehäufte Präsenz des ‚ Vibe ‘ in unterschiedlichen Zusammenhängen von der Theorie über die Kunst bis in die Alltagskultur zum Anlass einer konstellativen Analyse, um den Vibe als spezifische Wissensfigur in Betracht zu ziehen. Zuletzt wurden die „ Good Vibrations “ der kalifornischen Sonne Mitte der 1960er Jahre von den Beach Boys besungen. Heute kommen ,Vibes ‘ in sämtlichen Situationen vor: ‚ Schlechte Vibes ‘ , ,düstere Vibes ‘ oder rein situationsspezifische Vibes (wie ,Sommervibes ‘ oder ,Adventsvibes ‘ ) lassen sich im Alltag ausmachen oder via Hashtag über die Sozialen Medien teilen. Der Vibe ist die alltagsprachliche Kurzform von ‚ Vibration ‘ . Diese bezeichnet die Einstimmung oder sympathetische Resonanz eines Objekts auf die originäre Frequenz eines in unmittelbarer Nähe befindlichen anderen Objekts. 1 Vibes scheint eigen zu sein, dass sie empfangen werden und die Empfangenden ohne eigentliches Zutun, auch ohne gerichtete, rezeptive Haltung, das heißt ungewollt in Schwingung versetzen. Ihrer Definition nach setzt die Vibration die Beteiligten in ein Objektverhältnis. Diese relationale Schwingung scheint auch für das Alltagsphänomen des Vibes zu gelten. Deshalb lässt sich schwer festlegen, wo Vibes eigentlich zu verorten sind. Bei einem Song wie „ Good Vibrations “ ? Bei den Hörenden? Oder im Dazwischen? Objektivierbar ist der Vibe dementsprechend nur durch die sensorische Ko-Erfahrung anderer. Sprachliche Fixierungen hingegen drohen ihn eher zu ‚ zerreden ‘ . Dennoch scheint der Vibe als relationales Phänomen von Kommunikation, kultureller Codierung und medialer Rahmung abhängig zu sein, denn es handelt sich ja nicht um ein physikalisches Phänomen, sondern um ein soziales. Begrifflich steht der Vibe nicht zuletzt deshalb dem Begriff der Atmosphäre (Böhm), der Stimmung (Heidegger), der Einfühlung (Worringer), der Aura (Benjamin), dem Ambiente (Spitzer) oder der Präsenz (Gumbrecht) nahe. Analogien, Überschneidungen und spezifische Differenzen weist der Begriff wiederum zum Konzept der Umwelt (Uexküll), dem Ozeanischen Gefühl (Rolland, Freud) oder dem Milieu (Spitzer) auf. Im Vibe manifestiert sich ein aisthetisches Erleben, das mit der Rezeption Forum Modernes Theater, 34/ 1, 80 - 96. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0008 von Naturereignissen oder Kunst zusammenfallen, sich aber auch in beliebigen Alltagszusammenhängen einstellen kann. Im Kontext der Sozialen Medien lebt der Vibe als ein spezifischer Erfahrungsmodus neu auf. Diese Rückkehr des Vibes scheint, so die Hypothese der folgenden Ausführungen, in unmittelbarem Zusammenhang mit einer zunehmend mediatisierten Umwelt zu stehen. Vulgärtheoretische Annäherungen, die den Verlust an kopräsentischem, räumlich gesättigtem Erleben in Folge der Nutzung Sozialer Medien durch die Kompensation an verschlagworteten Zeugnissen räumlich gesättigten Erlebens in den Sozialen Medien erklären, greifen allerdings zu kurz, um ein gegenwartsspezifisches Phänomen wie den #vibe zu erklären. Daher folgen diese Ausführungen einem konstellativen Ansatz, der sich dem Vibe zugleich als medialem Phänomen und als Wissensfigur nähert. 1. Der Vibe und die Aura Am Ausgangspunkt meiner Überlegungen steht eine Beobachtung, die mit dem Kinobesuch der Neuverfilmung von Dune (USA 2021) in einem Unbehagen theoretischer Natur kulminierte, das sich vielleicht so auf den Punkt bringen lässt: 2 Wie war es möglich, dass mein Körper mit Gänsehaut und Erschaudern und vollkommen ohne intellektuelles Einverständnis auf dieses Überwältigungskino reagierte? Wie war die äußerste körperliche Affektion, sogar entgegen meiner reflexiven Einstellung möglich? Mein diagnostischer Befund, dass nämlich die unmittelbare Wirkung der körperlich verifizierten Erfahrung einer benennbaren Ursache vorgeordnet wird, erinnerte mich an ästhetisch geframte Situationen, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt für ein ähnliches theoriebasiertes Unbehagen theoretischer Natur gesorgt hatten. So war mir die Bewegung invertierter Kausalität als ästhetisches Konzept bereits im isländischen Pavillon auf der Biennale 2019 in Venedig begegnet. Unter dem Titel Chromo Sapiens hat die in Reykjavik geborene und in New York lebende Künstlerin Shoplifter (Hrafnhildur Amardottir) auf dem Biennale-Gelände der Insel Giudecca eine farbenfrohe, großzügig begehbare Grotte mit echtem und synthetischem Haar ausgekleidet (Abb. 1 und 2). Während der Eingangsbereich der Grotte mit Haarmassen in dunkleren Tönen ausgekleidet ist, dominieren im mittleren Bereich schillernde, kräftige Farben wie Pink, Gelb, Grün. Schließlich wird, je tiefer man vordringt, das Haar umso heller, und mit ihm die gesamte Grotte. In der Beschreibung heißt es, dass die Künstlerin in Anlehnung an wissenschaftliche Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie mit der Wirkung von Farben auf menschliche Stimmungen und Befindlichkeiten spielt. Die kleine Spritztour zu dem vom Hauptgelände etwas abgelegenen Pavillon soll, wie die Künstlerin betont, mit guter Laune, Entspannung und einem Anstoß für die Fantasie belohnt werden. Zu einer Reflexion eben dieser Funktionalisierung als Rückzugsort scheint die Installation allerdings nicht wirklich einzuladen, sondern vielmehr zu einem Gefühl. So artikuliert es auch die Künstlerin im Interview: „ Of course there is like layers of meanings and references in this work, but you don ’ t have to know anything about anything. It simply makes people happy. “ 3 Die Besucher*innen streicheln das Haar, staunen und bewegen sich wellenförmig durch die Grotte. Die begleitende Klangmalerei sowie der weiche Teppich absorbieren Unterhaltungsgeräusche und dämpfen Bewegungen ab, was zu dem Gefühl eines physisch vom Rest der Welt abgeschlossenen Orts beiträgt. 4 Was aber bleibt von der Installation nach Verlassen in die gleißende Sonne Venedigs? Als Zeugin meiner eigenen 81 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre körperlichen Affektion war ich ‚ hier, jetzt ‘ anwesend (gewesen). Die ästhetische Faktizität, die die Grotte erzeugt, scheint in diesem Selbstzweck vollkommen aufzugehen. Ein kognitiver Überschuss ergibt sich durch die Konzeption der Installation nicht, vielmehr ein affektiver Überschuss, der das Bedürfnis der Mitteilung hinterlässt - eine Mit-teilung allerdings, deren Informationscharakter rein idiosynkratischer Natur ist. Denn dass sich die Erfahrung des Hier-und- Jetzt genauso angefühlt hat, wie sie sich eben angefühlt hat, lässt sich nicht wirklich diskursiv zur Disposition stellen. Sie ist in sich als affektiv-leibliche authentifiziert und dadurch auch gleichermaßen verifiziert. Es kann sich also allenfalls um eine Mitteilung handeln, die schon von vornherein um den Blackbox-Charakter der eigenen Botschaft weiß, und die ein Verstehen als Missverstehen systematisch einkalkuliert - das aber auch nur, insofern sie um die Nichtgeneralisierbarkeit der eigenen Erfahrung weiß. Abb. 1: Fluffy White. Im Herzen der Grotte Abb. 2: Rainbowcolors. Blick nach oben Am Beispiel des isländischen Pavillons Chromo Sapiens lässt sich eine doppelt gegliederte Bewegung beobachten. Installative, medial verfasste Kunst tritt zunehmend als eine Erweiterung lebensweltlicher Zusammenhänge auf, 5 wobei nicht selten ein im Verhältnis zu diesem formulierter Gebrauchszweck als Rückzugs- und Erholungsort ins Spiel kommt. Vorübergehende Weltflucht scheint nicht nur in der Gegenwartskunst eine zentrale Rolle zu spielen, sondern eine Tendenz zu sein, die sich für alltägliche Mediennutzung und Medienästhetik ganz allgemein beobachten lässt. In diesem Sinne fordert Paul Roquet: „ we must also attend to how media are becoming more atmospheric at a formal level “ 6 . Mit seinem Konzept der „ ambient media “ rekurriert Roquet auf ein spezifisches Verständnis von Atmosphäre „ as something mediated by and for the human senses “ 7 . Den historischen Wendepunkt für eine solche Entwicklung findet Roquet in den 82 Tanja Prokic´ ausgehenden 1970er Jahren mit den Überlegungen von Brian Eno zu seinem 1978 erscheinenden, sechsten Album Ambient I: Music for Airports. In den dortigen Liner Notes definiert Eno „ ambience [ … ] as an atmosphere, or a surrounding influence: a tint “ 8 . Dementsprechend sieht er die Aufgabe von Ambient Music darin, „ to accomodate many levels of listening attention without enforcing one in particular; it must be as ignorable as it is interesting “ 9 . Ambient Music breitet sich, so Roquet, ab den 1980er zunächst in Japan aus und bringt zunehmend auch Gesamtkonzepte hervor, die einen atmosphärischen Umgebungsraum zu erzeugen suchen. Enos Idee „ to induce calm and a space to think “ 10 spielt dabei nach wie vor eine zentrale Rolle, vor allem stehen jedoch die affektiven Anreize in verschiedenen ästhetischen und sensorischen Registern im Vordergrund, die eine starke Stimmung auch ohne die volle Aufmerksamkeit des Publikums erzeugen sollen. 11 Diese dissonante und gleichsam konsonante Tendenz von Ambient Media sorgt zwar für Entspannung, treibende Reflexionen und wandernde Gedanken, verhindert aber eine gerichtete Reflexion, die erlauben würde, sich zur Musik oder zum Umgebungskunstwerk zu verhalten. Ambient Media sind nicht darauf angelegt als klar konturiertes ‚ Objekt ‘ im Unterschied zu einem ‚ Subjekt ‘ erfasst zu werden, sie verbleiben eher im ‚ Hintergrund ‘ , insofern für eine umgebungserzeugende Ästhetik überhaupt noch die Differenzierung von Vorder- und Hintergrund bemüht werden kann. Mit Blick auf den isländischen Pavillon als Umgebungskunstwerk wird deutlich, dass nach der Trennung eines klar konturierten Objekts von der subjektiven Erfahrung wenig mitzuteilen bleibt. Was vielmehr bleibt, ist die ästhetische Erfahrung selbst. Wie beeindruckend das Zusammenspiel von Materialität und Sound, wie fluoreszierend die Farben sind, das lässt sich eben nur in Abhängigkeit vom eigenen Empfinden, der eigenen leiblichen Erfahrung mitteilen. Kunst, die derart auf Relationalität angelegt ist, 12 basiert darauf, dass die Formebene unter die Ebene der Medialität gleitet, mit der Folge, dass sich die ästhetische Medialität mit der sensorischen Erfahrung gewissermaßen synthetisiert. Dass genau diese Synthese auch als ein parasitäres Andocken zu einem relationalen Mangel führen kann, davon geben nicht zuletzt die Versuche Zeugnis, das ästhetische Erleben medial zu arretieren. Wunderbar illustriert diesen Effekt die erste umfassende internationale Werkschau der japanischen Künstlerin Fujiko Nakaya, die unter dem Titel Nebel leben im Münchener Haus der Kunst stattfand (08.04.2022 - 31.07.2022). Der Kern der Ausstellung ist auf die beiden Nebelskulpturen Munich Fog (Wave), #10865/ I im Hauptraum der Ausstellung und Munich Fog (Fogfall) #10865/ II im Außenraum an der Ostseite des Hauses ausgerichtet. Sie bilden den Publikumsmagneten der Ausstellung. 13 Die Nebel werden im 30-Minuten-Takt produziert. Das Publikum erlebt hautnah, wie der Raum binnen weniger Minuten vollständig in den Nebel eingehüllt wird. Die Atmosphäre, die sich hier ergibt, basiert auf einer Reihe von singulären Parametern, die von der Künstlerin kalkuliert werden, um ein Gesamtphänomen zu erzeugen, deren einzelne Faktoren unter der Wahrnehmungsschwelle verbleiben würden. Auch wenn sich die in den Nebelarbeiten angegebenen Zahlenkombinationen auf die nächstgelegene Wetterstation beziehen, deren Daten die Planung der jeweiligen Installation beeinflussen, bleibt auf der Seite des Publikums nur die ästhetische Erfahrung, an die sich im Entstehen der Skulptur bzw. in ihrem Vergehen anschließen lässt. Ähnlich wie im Pavillon Islands gleitet die Form - für die ja der Begriff der Skulptur mehr als konstitutiv ist - unter das Medium 83 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre bzw. die Medialität (des Nebels). Fast schon symptomatisch signifizieren die in die Höhe gehaltenen Smartphones die Relationalität des Kunstwerks. (Abb. 3). Die reine Erfahrung ist defizitär, sie ist auf Vervollständigung, auf mediale Arretierung angelegt. Damit wird Munich Fog (Wave), #10865/ I zur Gegenwartskunst par excellence. Denn im großen Raum der Werkschau kommt weniger das Naturspektakel des Nebels zu Aufführung als vielmehr das soziale Phänomen des Vibes. Das Gesamtkunstwerk ergibt sich dabei erst durch die leibliche Verifizierung der Besucher*innen. Zur Gegenwartskunst wird Munich Fog (Wave), #10865/ I erst im Versuch seiner Publika, den Vibe des Nebels medial im Foto zu arretieren. Auch wenn das entsprechende Hashtag zur Ausstellung bei Instagram kaum bespielt wurde, 14 verrät doch die Kalkulation mit dem medialen Weiterleben des Münchner Nebels etwas über die Affinität von relationaler Kunst und medialer Teilhabe, wie sie in den Hashtags auf den digitalen Plattformen TikTok oder Instagram zum Ausdruck kommt. Weder relationale Kunst noch die unter dem Hashtag ‚ vibe ‘ rubrizierten Stimmungsbilder bzw. -videos stehen für sich. Sie vervollständigen sich in der medialen Arretierung, in der Sammlung, im Mitteilen und Verteilen. Abb. 3: „ Nebelsichten “ In den sozialen Netzwerken kursiert das Hashtag ‚ vibe ‘ vermehrt als Suffix, dem ein spezifizierendes Präfix vorangeht. So bürgen etwa #christmasvibes, #artisticvibes, #partyvibes, #holidayvibes, #darkvibes, etc. für die Gestimmtheit bestimmter Situationen. Die unter dem Hashtag versammelten Vibes vereint das paradoxe Unterfangen einer Verfügbarmachung des Unverfügbaren. Dabei fungiert die Rubrizierung als vorläufige, behelfsmäßige Erklärung für ein Zusammenspiel von Faktoren, die in ihrer Singularität unterhalb der Wahrnehmungsschwelle verbleiben. Erst im Gesamtgefüge scheinen sie mit dem Subjekt zu resonieren und aufgrund ihrer Vagheit ein Artikulationsbedürfnis auszulösen. „ It ’ s an intuition with no obvious explanation ( ‚ just a vibe I get ‘ ). “ 15 Lose gekoppelte Medialitäten wie etwa Farben, Formen, Sound, Temperaturwechsel, Wind, Dampf, Wolken, Licht, oder fest gekoppelte Medien wie ein Möbelarrangement, gefaltete Wäsche, Zimmerpflanzen, eine Landschaft, etc. erzeugen dabei einen Gesamteindruck, der eben nicht sprachlich fixiert werden kann: A vibe can be positive, negative, beautiful, ugly, or just unique. It can even become a quality in itself: if something is vibey, it gives off an intense vibe or is particularly amenable to vibes. Vibes are a medium for feeling, the kind of abstract understanding that comes before words put a name to experience. 16 Entscheidend bei diesem Gesamteindruck ist aber auch die Vermengung von ‚ objektiven ‘ Qualitäten mit subjektiven Perzeptionen, die wiederum unter der semantischen Rubrizierung ‚ vibe ‘ Anspruch auf Generativität erheben. Je mehr man sich mit den unter dem #vibe versammelten ‚ Einzelphänomenen ‘ vertraut macht, desto deutlicher wird, dass der Vibe nicht ohne den Versuch seiner Semantisierung - auch wenn diese scheitert - existiert. Der Vibe mag einen individuellen emotiven Gefühlskomplex mediatisieren, aber er erhebt gleichzeitig auch einen Anspruch auf objektive Teilbar- 84 Tanja Prokic´ keit. Der Vibe scheint untrennbar von dem Versuch seiner Kommunizierbarkeit zu sein. Gernot Böhme verweist in Bezug auf Atmosphären auf diesen seltsamen Widerspruch unter dem Hinweis, dass wir offenbar über ein reiches Vokabular [verfügen], um Atmosphären zu charakterisieren, nämlich als heiter, melancholisch, bedrückend, erhebend, achtungsgebietend, einladend, erotisch, usw. Unbestimmt sind Atmosphären vor allem in Bezug auf ihren ontologischen Status. Man weiß nicht recht: Soll man sie den Objekten oder Umgebungen, von denen sie ausgehen, zuschreiben, oder den Subjekten, die sie erfahren? Man weiß auch nicht so recht, wo sie sind. Sie scheinen, gewissermaßen nebelhaft den Raum mit einem Gefühlston zu erfüllen. 17 Böhmes Konsequenz lautet dementsprechend, dass „ Atmosphäre [ … ] nur dann zum Begriff “ werden kann, „ wenn es einem gelingt, sich über den eigentümlichen Zwischenstatus von Atmosphären zwischen Subjekt und Objekt Rechenschaft zu geben “ 18 . Rechenschaft über diesen eigentümlichen Zwischenstatus lässt sich u. a. mit einem Umweg über eine der ersten kritischen Auseinandersetzungen mit dem Übergang von der (analogen) Kunst in das Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit ablegen: Die Rede ist von Walter Benjamins Konzept der Aura. In seinem klassisch gewordenen Aufsatz versucht Benjamin diesen Wandel durch die ästhetische Kategorie der Aura zu beschreiben. Benjamin definiert die Aura am Beispiel der Wahrnehmung von Naturphänomenen „ als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. “ 19 Er erläutert weiter: „ An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft - das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen. “ 20 Die Aura, auch wenn es an mancher Stelle so klingen mag, verschwindet als ästhetische Kategorie allerdings keineswegs. Sie passt sich eher korrelativ der durch die Massenmedien veränderten Wahrnehmung an. Die Überpräsenz an Reproduktionen ruft (bei den rezipierenden Massen) das Anliegen hervor, „ des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion, habhaft zu werden “ 21 und verstetigt es gleichermaßen. Indem die Reproduktionstechnik die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle des einmaligen Vorkommens des Kunstwerks sein massenweises. Diesen Anpassungsprozess der Aura an die veränderte Situation unter den Bedingungen der Reproduzierbarkeit bezeichnet Benjamin als „ Verkümmerung “ 22 , als „ Verfall “ 23 oder „ Zertrümmerung “ 24 . Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren ‚ Sinn für das Gleichartige in der Welt ‘ so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt. 25 Dieser Prozess ist für ihn nicht zuletzt deshalb mit einer reduktiven Bewegung konnotiert, weil mit der Expansion in alle Bereiche der Gesellschaft ( „ aus dem Bereich der Kunst “ herausgelöst) auch eine Art Umkehr oder Neukodierung des Auratischen stattfindet. Wenn Benjamin das korrektive Bedürfnis, das sich in Bezug auf die Aura 1 (= vor dem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit) äußert, mit „ Einmaligkeit und Dauer “ identifiziert, so scheint das Bedürfnis, das er mit der Aura 2 (= im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit) identifiziert, nämlich „ Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit “ 26 , noch immer auf die Zirkulation von Reproduktionen bzw. neuen Genres in den Sozialen Medien zuzutreffen - allerdings mit einer entscheidenden Neuerung, die es möglich macht, den Vibe mo- 85 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre dellhaft als neuerliche Anpassung, d. h. als Aura 3 (= im (post)digitalen Zeitalter) zu verstehen. Denn Vibes können nahezu synonym für die sympathetische Resonanz mit dem, über grafische Schnittstellen gesendeten und empfangenen Content gelesen werden. „ Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit “ formt sich in den Sozialen Medien zu Singularisierung und Rubrizierbarkeit. Wie es dazu kommt, soll im folgenden Argumentationsschritt genauer beleuchtet werden. 2. Die Wende zum Content Mit der Kommerzialisierung des Internets Mitte der 1990er Jahre ist der Grundstein für eine weitflächige und komplexe Verschränkung von Alltag und Technologie gelegt worden, dessen Folgen für die Contentproduktion mit der Umstellung des Internets auf Web 2.0 ab dem Jahr 2003 sichtbar werden: Sogenannter user*innengenerierter Content flutet das Netz. Während die Literatur- und Teile der Medienwissenschaft noch an klassischen Unterscheidungen von Form und Inhalt oder an der vermeintlich neutralen Medium-Form-Unterscheidung festhalten (etwa um Formkrisen als Generatoren von ästhetischen Innovationen beschreibbar oder Inhaltskritik über Formfragen objektivierbar zu machen), scheint sich ein solcher Ansatz insbesondere im Hinblick auf die Masse an Content, die im Netz zirkuliert, nicht mehr länger zu bewähren. Zentrale Plattformparameter wie Design und Affordanz, die im Zuge der Markteinführung des Smartphones im Jahr 2007 und des Ausbaus des mobilen Internets eine immer größere Rolle spielen, müssen in Rechnung gestellt werden, um den Überschuss von Content und insbesondere dessen soziale Effekte, die sich in veränderten Kommunikationsmodi niederschlagen, beschreibbar zu machen. Dazu müssen zunächst zwei Richtigstellungen in Bezug auf das Verständnis von Content vorgenommen werden. Zunächst wird mit Content erst einmal so etwas wie ein Platzhalter, eine Variable benannt. Content im Kontext von Web 2.0 distanziert sich mit dem Ausbau der digitalen Plattformen nach und nach auf eigentümlich paradoxe Weise von der ursprünglichen Bedeutung ‚ Inhalt ‘ oder ‚ Gehalt ‘ . Die Rede von Content lässt sich als eine graduelle Verkehrung der Unterscheidung zwischen Inhalt und von Inhalten freigelassener Werbefläche bzw. Werbeeinheiten in Zeitungen, Magazinen oder sonstigen Programmen verstehen. Mit der Kommerzialisierung des Internets hat sich die Praxis, Inhalte zu erstellen, um einen Anlass für Werbeblöcke zu haben, derart beschleunigt, dass die Contentproduktion zu einer der wesentlichen Produktionsebenen der globalen Gesellschaft avancierte. Kate Eichhorns aktueller Darstellung in Content (2022) lässt sich zwar einiges hinzufügen, aber ihrer Definition von Content als „ something that circulates for the sake of circulation “ 27 lässt sich ohne Einsprüche zustimmen. Content ist Anlass, eine Falle. Content ist Umgebung für Werbung. Die Nachfrage nach Content ist groß und wird immer größer, weil Content die Frequentierung von Plattformen erhöht und die Verweildauer auf Plattformen verlängert. Zweitens gilt, dass Content einem mathematischen Informationsbegriff nähersteht als dem klassischen Inhaltsbegriff, der eben noch mit Bedeutung assoziiert ist. ‚ Information ‘ im rein mathematischen Sinn ist das Signal, das auf einem stabilen Kanal von ‚ Sender ‘ zu ‚ Empfänger ‘ transportiert werden soll, wobei die zentrale Herausforderung darin besteht, das Signal ohne Rauschen zu übertragen. Die Indifferenz gegenüber dem Inhalt der Information könnte nicht größer ausfallen, wie Tiziana Terranova in Network Culture (2004) hervorhebt. ‚ Wer ‘ in diesem Modell übermittelt bzw. was übermittelt wird, ist ebenfalls egal, gewährleistet werden muss allein 86 Tanja Prokic´ die störungsfreie Übertragung. Was also als Information gilt, bestimmt sich von der technischen Aufgabe her, ohne Störungen oder Verluste zu übermitteln. Weder die Ästhetik noch die Form der Botschaft spielt eine Rolle. Die informationstheoretische Definition von Claude Shannon und Michael Weaver, 28 auf die sich Terranova bezieht, 29 hat die Informations- und Kommunikationstechnologie revolutioniert und gleichzeitig ein Fundament für die Medienwissenschaft gelegt. Marshall McLuhans berühmtes Diktum „ The medium is the message “ 30 ist ohne den Einfluss dieses Informationsbegriffs kaum zu verstehen. Die immense kulturelle Transformationskraft eben nicht auf die übertragenen Inhalte bzw. Bedeutungen zurückzuführen, sondern auf die Medien selbst, basiert auf der Idee einer akzelerierten und reichweitenstarken Übertragung von Information, unabhängig von der Komplexität ihres Bedeutungsgehalts. Dementsprechend pointiert McLuhan: „ Societies have always been shaped more by the nature of the media by which men communicate than by the content of the communication. “ 31 Die Medien sind diejenige Größe, auf die der wissenschaftliche Blick daher zu richten sei. 32 Versteht man also Content als dasjenige, was um der Zirkulation willen zirkuliert, dann scheint es ratsam zu sein, auf die medienökonomischen Bedingungen zu blicken, die eine solche Entwicklung nicht nur befördern, sondern notwendig machen. Die Rede vom Content zeigt eine Wende an, die nicht mehr nur die Verteilung und Verwischung von Journalismus, Unterhaltung und Werbung betrifft, sondern die ubiquitäre Vermischung von Rezipient*innen als Produzent*innen. Der Content wird zur bevorzugten und ausschließlichen Partizipations(ober)fläche der User*innen. Diese investieren „ free labour “ 33 , um die ihnen kostenfrei angebotenen Dienste und Infrastrukturen zu ‚ nutzen ‘ . Terranova zufolge investieren Individuen in der Medienindustrie immer schon „ free affective and cultural labour “ , die nicht notwendig ausgebeutete Arbeit darstellt, aber über Anstellungsverhältnisse oder bezahlte Arbeit hinausgeht. 34 Mit dieser veränderten Form der Arbeit geht eine Transformation der Ware einher, die erst mit der Kommerzialisierung des Internets virulent wird. Die Ware verschwindet regelrecht, indem sie sich in einen offenen Prozess verschiebt, anstatt in ein fixes Endprodukt zu münden. Von hier aus lässt sich genauer fassen, was die Wende zum Content anzeigt: Im Design der digitalen Plattform markiert Content durch die unaufhörliche Aufforderung zur Partizipation eine Trendwende zum „ Ephemerwerden der Ware “ 35 . Arbeitsprozesse sind als solche weder markiert noch definiert, genauso wenig ist deutlich, was genau als Ware gilt und ob es sich bei Content überhaupt um Waren handelt. Denn dieser invisibilisiert Arbeitsprozesse eher, als dass er sie sichtbar macht. Im Kontext von Plattformen wie Instagram oder TikTok verbirgt sich die Arbeit hinter vermeintlichen Zufällen, natürlichen Talenten, mühelosen Einlagen, scheinbar authentischen Gesten und Schnappschüssen, die allerhand Vibes vermitteln. Wenn Gernot Böhme also anmerkt, dass „ Atmosphäre [ … ] nur dann zum Begriff “ werden kann, wenn es gelingt, „ sich über den eigentümlichen Zwischenstatus von Atmosphären zwischen Subjekt und Objekt Rechenschaft zu geben “ 36 , dann stellen die sozialen Einlassungen der digitalen Plattformen die beste Adresse dar. Denn die Sozialen Medien stellen für „ zwei oder mehr Gruppen “ eine digitale Infrastruktur zur Interaktion bereit. Dafür positionieren sie sich als Vermittlerinnen, die unterschiedliche Nutzer*innen zusammenbringen: Kund*innen, Werbetreibende, Dienstleister*innen, Produzent*in- 87 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre nen, Lieferant*innen und sogar physische Objekte. Sehr häufig bieten die Plattformen auch eine Reihe von Werkzeugen, die ihre Nutzer*innen in die Lage versetzen, eigene Produkte, Dienstleistungen und Marktplätze aufzubauen. 37 Sie agieren damit in einem Zwischenraum, dessen Grenzen und Modi sie selbst gestalten. Denn digitale Plattformen schaffen erst einen Nutzen, nachdem sie eine kritische Masse an Nutzer*innen gewonnen haben, die die Vermittlerrolle der Plattformen ex post, und nicht ex ante, plausibilisiert: man spricht in diesem Fall von einem „ Netzwerkeffekt “ 38 . Erst wenn diese notwendige kritische Masse erreicht ist, entwickelt die Plattform nach und nach einen Einschlusseffekt. Sie wird als Standard unumgänglich, ihre Dienste haben sich gewissermaßen universalisiert. 39 Die individuelle Nutzung durch die User*innen erhöht anschließend den Traffic auf den Plattformen, was ihren Wert steigert und es ihnen schließlich erlaubt, ihre „ Plattformmacht “ 40 zu bündeln. Kommerzielle Plattformen haben damit ein ökonomisches Interesse an der persistenten Aufforderung zur Generierung und zum Teilen von Content - oder präziser: Sie sind, da sie ja eigentlich gar keine Ware und keinen neuen Dienst anbieten, unmittelbar von der Partizipation der User*innen abhängig. Von hier aus lässt sich die Leistungsfähigkeit von Terranovas materiellem Informationsbegriff begreifen. Das informationstechnologische Setting hat die materiellen Grundlagen der Kommunikation folgenschwer verschoben und auf die Materialität der Kommunikation zurückgewirkt. Das Medium interferiert damit also in die Botschaft, nur dass das Medium, d. h. die Plattform, eben kein neutrales Medium ist, sondern über programmierte Constraints und Affordanzen reguliert wird, 41 die nicht primär - wie gerne von großen Unternehmen behauptet - auf Usability 42 angelegt sind, sondern vorrangig ökonomischen Rechnungen folgen. Dazu möchte ich noch knapp auf die Bedeutung des Interfaces im technoökonomischen Gesamtgefüge der kommerziellen Plattformen eingehen. Über das Interface erschließt sich die Verschiebung der Aura 2 zum Vibe als offene, unabgeschlossene, relationale Größe. In seiner Schrift The Stack beschreibt Benjamin Bratton das Interface als eine von sechs Schichten des Stacks. Ohne klar und deutlich auszubuchstabieren, worum es sich beim Stack eigentlich handelt, macht Bratton das Verständnis desselben als eine den Planeten umfassende Megastruktur von der Beschreibung der Funktionsweise der einzelnen Schichten und ihrer jeweiligen Vernetzung abhängig. Geht man zunächst von der Vorstellung aus, dass am obersten Ende, das heißt am User*innen-Ende, die Befehlseingabe steht, dann beinhaltet das unter informationstechnischen Gesichtspunkten erst einmal nicht mehr als den Umstand, dass ein Befehl eingegeben wird und sich damit ein Pfad von einem ‚ Sender ‘ zu einem ‚ Empfänger ‘ vertikal durch die Schichten des Stacks bildet. Stellt man sich die Übertragungsinfrastruktur als eine vor, die eine gewisse Materialität involviert, so erschließt sich die Aktualität von Brattons Modell, in dem die User*in über ein Interface ihre Informationseingabe tätigt. Diese wird als solche nur transportierbar, weil sie sich durch Empfangsadressen und Sendeadresse verallgemeinert (lesbar wird). Um aber einen entsprechenden Transport über Pfade zu ermöglichen, bedarf es einer realen Infrastruktur innerhalb von Städten oder quer durch das Territorium (alle Formen von Leitungen), Umschlagspunkte sowie Zwischenspeicher für den Transport und den Empfang der Information (Cloud Layer). Alle diese Schichten sind, obgleich sie immateriell erscheinen, wiederum auf Res- 88 Tanja Prokic´ sourcen angewiesen und wirken auf die Geosphäre (Earth Layer) zurück. Unter der Perspektive von Brattons Modell des Stacks gewinnt Terranovas Plädoyer für einen materiellen Informationsbegriff deutlich an Kontur. Nicht nur die Arbeit ( „ free labour “ ), die in der Information steckt, sondern auch die physischen Ressourcen werden sichtbar. Die idealen Positionen von ‚ Sender ‘ , ‚ Vermittlungsmedium ‘ und ‚ Empfänger ‘ lösen sich auf. Entsprechend unterscheidet Bratton in seiner Architektonik des Stacks diffiziler in Schichten. Auf der obersten Ebene des User*in-Layers ist nicht mehr zwischen Menschen, Tieren oder einer KI zu unterscheiden. 43 In der Logik des Stacks ist eine User*in jene Position, die über ein Interface-Layer Pfade in den Stack gibt, sie ist aber auch das Ergebnis, das Produkt dieses Pfades. 44 Die in Brattons Buch abgebildete Skizze des Stacks illustriert aber einmal mehr, dass die Vorstellung einer flachen Ontologie allenfalls Sinn ergibt, wenn man ausschließlich den User*in-Layer beobachtet, was nicht zuletzt durch das Interface-Design entsprechend befördert wird. Nach Bratton ist eine der Hauptfunktionen des Graphical-User*in-Interface-Designs die Vereinfachung und Zusammenfassung aller möglichen Interaktionen auf eine verständliche Menge von Op(era)tionen, die die User*innen leicht handhaben können. 45 Schnittstellen regen User*innen systematisch durch Affordanzen und Constraints zu entsprechenden Interaktionen an. Auf der Ebene des Designs werden Umgebungen gestaltet, die dazu beitragen, die User*innen nicht zu überfordern, ihre Aufmerksamkeiten in bestimmte Richtungen zu lenken, und die entscheidenden Operationen zu choreografieren. Wenn etwa bei der Gestaltung von Benutzeroberflächen Sensoren prädominant zum Einsatz kommen, entstehen Informationen durch abwesende oder fehlende Interaktion. 46 Mediale Umgebungen verzichten dann auf kontaktbasierte Interaktion, d. h. auf die kognitive Verarbeitung und Selektion von Informationsprozessen, sondern nutzen die beteiligten Akteure eher als Informationsquelle. Menschliche Nutzer*innen agieren in medialen Umgebungen und Interfaces als Subjekte und reagieren gleichzeitig als Objekte vorgegebener Systeminteraktionen, in denen sie gelenkt und in die sie eingepasst werden. Ein solches, auch als persuasiv bezeichnetes Design verändert nicht nur singuläres Verhalten, sondern hat eine strukturelle Transformation der kulturellen Skripte und Erwartungshaltungen zur Folge. Es erzeugt, mit Star und Bowker formuliert, so etwas wie „ communities of everyday practice “ 47 . Damit verstricken digitale Plattformen notwendig das Soziale in ihre Funktionsweise, so dass man im Anschluss an Otfried Jarren und Renate Fischer durchaus von einer „ Plattformisierung von Öffentlichkeit “ 48 sprechen kann. Verteilungspraktiken und kulturelle Formen scheinen mobiler und flexibler denn je, denn weder komplexe Produktionsprozesse mit schwerfälligen, von Expert*innenwissen abhängigen Technologien noch hohe Investitionskosten stellen sich dem Content in den Weg. Ein in Echtzeit, und für ein anonymes Publikum zur Verfügung gestellter Content ist im digitalen Flow notwendig flüchtig und unverbindlich, da die Teilenden um die Logik der Anschlussdynamiken wissen, d. h. um die Abhängigkeit von freier, affektiver Arbeit, die den Content aufnimmt, weiterleitet, kommentiert, nachahmt oder gar korrigiert. Auf der Mikroebene einer „ network time “ 49 ist das Erstellen und Teilen von Content kaum mehr auseinanderdividierbar: mit dem Resultat, dass die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt zunehmend verwischen. Damit geht ein eigenwilliger und nachhaltiger Effekt auf das Erleben von Gegenwärtigkeit einher: im Internet ist das ‚ Jetzt ‘ 89 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre des geteilten Contents immer zugleich auch Zeit der neuerlichen Bearbeitung. Das hat Konsequenzen für die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft, die zunehmend brüchig wird. Zeit wird unter den Bearbeitungsprozessen fluide. Diese zeitlichen Dynamiken hat Manuel Castells bereits zur Jahrtausendwende mit dem Stichwort einer „ timeless time “ 50 beschrieben. Neben der emergenten Form der Zeit kennzeichnet die Netzwerkgesellschaft Castells zufolge zudem eine emergente Form des Raums, die er im Gegensatz zu einem Raum der Orte, „ wo Bedeutung, Funktion und Örtlichkeit eng miteinander verwoben sind “ , als „ space of flows “ 51 bezeichnet: In diesem sind die „ dominierenden Funktionen in unseren Gesellschaften “ genauso wie „ eine wachsende Zahl alternativer sozialer Praktiken (wie etwa soziale Bewegungen) und persönliche Interaktions-Netzwerke “ 52 organisiert. Die „ Bedeutung und Funktion “ 53 der Interaktionen und Operationen, die Menschen an verschiedenen Standorten verbindet, hängt laut Castells von den Strömen ab, die im Netzwerk verarbeitet werden. Das hat zur Folge, dass Content, will er die „ Beachtung der Vielen “ 54 bzw. möglichst viele Aufmerksamkeitsressourcen bündeln, sich diesen medialen Dispositionen eines Raums der Ströme anpasst. Dieser Anpassungsprozess folgt der Logik des Ephemerwerdens des Contents zugunsten der Hervorhebung der Partizipation. Die Regeln und Operationen der Partizipation sind fluide und reichen von aktiv user*innengeneriertem Content 55 bis hin zu eher rezeptiv ausgerichtetem, affektivem Investment, das durch die mediale Erfahrung ‚ getätigt ‘ wird. Ein im Sinne der von Castells beschriebenen Netzwerkökonomie erfolgreicher Content hält den Anteil kognitiver Rezeption relativ flach und erhöht den Anteil des affektiven Investments. Denn während affektiven Investments sind die Übergänge fließend und offener für unterschiedliche Begehrensstrukturen, die Zugänge niedrigschwellig sowie der Selbst- und Fremdversicherungsanteil, der zum Weiterleiten und Teilen anregt, hoch. Wenn also zur abstrakten Beschreibung des Vibes immer wieder seine Unabgeschlossenheit, seine Unsagbarkeit oder das Dazwischen herangezogen werden, dann scheinen sich hier gleichermaßen Effekte und ein implizites Wissen der Netzwerkkultur zu verdichten. 3. Zany, Cute, Interesting Sianne Ngai hat für diese affektive Sättigung ästhetischer Erfahrung ein Begriffsinventar zur Verfügung gestellt, das es ermöglicht, den Vibe unter den Gesichtspunkten der Ästhetik zu fassen. Our Aesthetic Categories lautet der Übertitel ihrer 2012 erschienen Studie: Ästhetische Kategorien, so Ngai, verlieren im Spätkapitalismus ihren autonomieästhetischen Anspruch und verwandeln sich historisch spezifisch den veränderten Arbeits-, Konsumptions- und Kommunikationsbedingungen an. 56 Dem Untertitel ihrer Studie gemäß korreliert mit jeder dieser Bedingungen eine ästhetische Kategorie: ‚ zany ‘ , ‚ cute ‘ , ‚ interesting ‘ . Die Kategorie des Interessanten steht in einem Relationsverhältnis zur kommunikativen Zirkulation: Durch selektive Operationen bündeln wir Aufmerksamkeit und legitimieren diese Operation und die aufgewendeten Aufmerksamkeitsressourcen kommunikativ. In dem Relationsmodus entsteht der Gegenstand erst - es ist, als ob er durch unsere Aufmerksamkeit ein zweites Mal hervorgebracht würde. Signifikant ist, dass das als interessant deklarierte Phänomen dies nicht aufgrund einer seiner materiellen oder funktionellen Eigenschaften ist. Ganz im Gegenteil: das Interessante ist immer im Werden und ergänzt das Phänomen durch die Praxis der Beobachtung und Selektion. 90 Tanja Prokic´ Damit ist es, so Ngai, niemals final, sondern „ in medias res, ‚ on its way ‘ to a ‚ there ‘ whose content or meaning is indeterminate “ 57 . Mit dem Niedlichen hingegen geht ein explizit physisch-affektiver Modus einher. Zur Deklaration eines Phänomens als niedlich wird immer auf die spezifische Materialität verwiesen werden. Fluide können allerdings die Affekte sein, die das Niedliche hervorruft. Die objektifizierende Praxis der Identifikation beruht auf einer primären Asymmetrie, die ein Changieren von zärtlichen bis aggressiven Gefühlen für das niedliche Objekt ermöglicht. 58 Das Niedliche und das Interessante verfahren „ semidescriptive or semijudgmental “ , 59 d. h. sie sind kommunikative Mittel, die unter dem Deckmantel des Beschreibens ein Urteil erlauben. 60 Das Verrückte ( ‚ the zany ‘ ) wiederum ist durch eine Ästhetik des Überschusses gekennzeichnet, die kein Urteil ermöglicht, sondern vielmehr eindeutig einen aktiven Beziehungsmodus verkörpert, der augenscheinlich ein Zuviel darstellt. „ Temporally as well as spatially unbounded and thus extremely difficult to quantify “ 61 , weist das Verrückte die expliziteste Verbindung zur „ free labour “ der Netzwerkkultur auf. Es sucht und findet einen Beziehungsmodus, innerhalb dessen anschließend obsessiv, physisch, affektiv und kognitiv ‚ überinvestiert ‘ wird. Eben weil es sich bei diesen ästhetischen Kategorien nicht um generative Abstrakta handelt, sondern vielmehr um konkrete Beziehungsweisen, funktionieren sie sowohl als „ subjective, feeling-based judgments as well as objective or formal styles “ ; sie sind „ double-sided in more ways than one: they are subjective and objective, evaluative and descriptive, conceptual and perceptual “ 62 . Ngai zeigt damit eine Tendenz zur Contentförmigkeit an. Inhalt und Bedeutung nähern sich ästhetischen Beziehungsweisen an. Diese stellen den affektiven Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen wir ästhetisch verarbeiten, erfahren oder mit anderen teilen. 63 All diese Kategorien verweisen auf die Emergenz eines neuen Subjekttypus, der sich nicht mehr über die Selbstreflexivität oder Ironiefähigkeit der Postmoderne auszeichnet, sondern sich vielmehr über einen unabschließbaren Prozess der Selbstvergewisserung definiert, der andere über entsprechend distanzlose Praktiken der Selbstversicherung permanent involviert. Ästhetische Erfahrungen, die eben diese Praktiken der Selbstversicherung reproduzieren, haben entsprechend Konjunktur. Mit der Umstellung auf Content, so lässt sich nun resümieren, geht sowohl eine Krise von Sinn und Bedeutung als auch eine Neukodierung von Arbeit einher, die treffender als eine Bearbeitung zu verstehen ist: Im Kontakt mit Content geht es häufig darum, diesen zu bearbeiten, oder für entsprechende Channels, Plattformen oder Publika aufzubereiten. Diese Bearbeitungsprozesse kalkulieren dabei vorauseilend-anpassend mit den impliziten Distributionsregeln der entsprechenden Plattformen sowie mit einem ästhetisch-affektiven Modus der Rezeption. Dabei ist genau der Content, der einen affektiven Überschuss erzeugt, prädestiniert dazu, (erneut) geteilt zu werden, so als nutze er die ‚ Empfänger ‘ gleichzeitig auch als ‚ Sender ‘ / ‚ Verteiler ‘ . Die Prozesse der Zuteilung von Content tragen sich mehr und mehr algorithmisch vermittelt zu. Den Empfänger*innen bleibt meist nur mehr die reaktive Selektion: 64 Es handelt sich demnach um einen minimalen Graubereich, in dem Kontrollverlust in einer sonst hochgradig kontrollierten und automatisierten Umgebung möglich ist. As computation becomes more deeply ubiquitous and the agency of the User is shared by any addressable thing or event, then for many people, the world may become an increasingly alien environment in which 91 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre the privileged position of everyday human intelligence is shifted off-center. 65 Der #vibe als ein digitales Rubrizierungsphänomen übersetzt dieses Zwischen von Enteignung und Entlastung, das mit einer ubiquitären Computisierung einhergeht, und objektifiziert es gleichermaßen. Seine Anziehungs- und Faszinationskraft steht - freilich in einem differenten historischen Zusammenhang - dem kantischen Erhabenen nahe, insofern auch hier ein Phänomen zur Anschauung gebracht werden soll, das „ über alle Vergleichung groß ist “ . 66 Allerdings verschiebt sich diese Inkommensurabilität, 67 die Kant dem Erhabenen attestierte, auf das für erlebende, rubrizierende Subjekte unverfügbare technoökonomische Gefüge. Eben dessen Beschreibung wäre Aufgabe der Theorie. 4. Vibrant Theories Umso erstaunlicher ist, dass sich jene Theorien, die eine populäre Rezeption erfahren, durch eine seltsame Verweigerung einer angemessenen Beschreibung des (Post-)Digitalen und seiner Subjekte auszeichnen. Im Gegenteil lässt sich sogar eine Affinität zwischen Theorien und ‚ atmosphärischen ‘ Kunstinstallationen bzw. relationalen Kunstwerken wie die eingangs beschriebenen von Shoplifter oder Fujiko Nakaya feststellen. Das Beschreibungsvokabular in den Ausstellungskatalogen, Ausstellungstexten oder Leporellos legt dementsprechend Zeugnis ab von dieser Affinität. Bemüht wird für die Beschreibung von Gegenwartskunst allerorts immer wieder die Theoriefigur des ‚ Entanglements ‘ . Mit dieser soll einerseits das relationale Verhältnis von Betrachter*in und Kunst signifiziert, andererseits die flache Ontologie betont werden, die Betrachter*in und Kunst auf gleicher Ebene mit der eigenen Umwelt verortet: Die Aussage der Kunst erhebt sich genauso wenig von einer gemachten oder zu machenden Erfahrung, wie die Kunst sich über die Umwelt erhebt. Allenfalls gibt sie einen Anstoß, diese anders und neu zu betrachten und unterstützt eine zu leistende Dezentrierung. Affekte zirkulieren gemeinsam mit den gestalteten Oberflächen und Materialitäten, die häufig nicht-humane Akteure wie Künstliche Intelligenzen, Apparaturen, Bakterien oder Tiere (mit Vorliebe Spinnen) oder Naturkräfte (Gezeiten, Luft, Wasser) involvieren. Meist zielen die zugrundeliegenden ästhetischen Programme auf eine unmittelbare, sinnliche Stimulation ohne zusätzliche Umwege über Geschichte, komplexe Narrative oder Dramaturgie. Sie zielen auf ein immersives Erleben, ein inklusives Gefühl oder eine affektive Überwältigung der Betrachtenden. Die Theoriefigur des ‚ Entanglements ‘ mag vielleicht schon bei der Konzeption besagter Installationen eine entscheidende Rolle gespielt haben, weshalb sie sich so affin für die Beschreibung zeigt. Entnommen ist sie den theoretischen Ansätzen des Neuen Materialismus von Donna Haraway, Jane Bennett, Anna Lowenhaupt Tsing oder Karen Barad und Bruno Latour. Ein ökologisches Umdenken, das die erdzeitliche Situation des Anthropozäns verlangt, wird hier als ein Denken des Anderen konzipiert, während der reflexive Diskurs als anthropo- oder androzentrisch identifiziert wird. Das Sich-verwandt-machen bei Haraway (Making Kin), 68 die Betonung der Kollaboration bei Tsing, des Mit-werdens und der agentiellen Verschränkung bei Barad, die Idee einer vibrierenden Materie bei Bennett sowie die offenen, flachen Netzwerke humaner und nicht-humaner Akteure bei Latour versprechen mit der Dezentrierung des Menschen aus der Mitte des Geschehens ein Gegenrezept insbesondere gegen eine Hierarchisierung von Wissen und theoretische Vor- 92 Tanja Prokic´ annahmen. Kunstrezeption wird damit graduell in ein „ kollaboratives Spiel “ und „ kollaborative Arbeit “ 69 verwandelt. Eine der populärsten Publikationen des Neuen Materialismus - Jane Bennetts Monografie Vibrant Matter: A Political Ecology of Things (2010) - trägt die Vibration, den Vibe im Titel, doch gerät hier das dringlich zu erklärende Phänomen der Gegenwart, nämlich die ubiquitäre Drift zu atmosphärischen Medien(um)welten, zum ästhetischen Programm der Theorie selbst. 70 Eine einfache Fluktuationsbewegung von der Theorie in den Diskurs greift sicherlich zu kurz, um der hier vonstattengehenden Gesamtverschiebung gerecht zu werden. Die „ Theorieatmosphäre “ 71 , d. h. der inklusive, barrierefreie Charakter, der mit den neumaterialistischen Theorien und ihrer Absage an historisch überfrachtete und aufwendige Methodenkomplexe einhergeht, ist eher so einladend und so partizipativ gestaltet wie die Drift zum Content in den Sozialen Medien. Theorie droht hier zum Instrument von Einverständnis zu werden, anstatt zur Erkenntnis beizutragen. Eine solche Theorie reproduziert nicht nur die Grenzverwischung zwischen Erkenntnis und Erleben, sondern treibt diejenige zwischen Innen und Außen, Diskurs und Materialität, Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt systematisch voran. Sie optiert eher für einen antirationalen, gefühlsbasierten Zugang, 72 anstatt kritikfähige Konzepte zu entwickeln. Dass die Entwürfe des Neuen Materialismus so populär sind, könnte mit der gegenläufigen Drift der Ware zur Information zu tun haben. Wenn Waren, ihrem allgemeinen Ephemerwerden zur Folge unter den Kriterien der Wahrnehmung verarbeitet werden, müssen sie sich auch den entsprechenden Priorisierungs- und Selektionsprozessen anpassen. Damit gehen Verkürzung und inhaltliche Unterbestimmtheit auf der einen Seite und zunehmende Antirationalität und Emotionalisierung auf der anderen Seite einher. Das heißt je flacher eine Information gestaltet ist, desto schneller kann sie verarbeitet werden; je affektiver sie gestaltet ist, desto beliebiger sind die Anschlussmöglichkeiten. Der Entwertungsprozess, der mit dem Verständnis von Inhalt als Content einhergeht, bildet die entscheidende Voraussetzung der Entwicklung hin zur Ware als Emotion: Hermeneutik, Bedeutungsgehalt und Semantik werden zweitrangig, während gefühlsbasierte und kommunikative Selektionen in den Vordergrund treten. Es ist nur folgerichtig, dass damit die Ich-Instanz wieder in den Mittelpunkt rückt, ohne die zwar faktenbasiertes Sprechen auskommt, gefühlsbasiertes aber nicht. Während objektive Statements in der dritten Person oder Partizipialkonstruktionen auf diskursive Argumentation und Gegenargumentation angelegt sind, verschiebt sich das Verhältnis bei ichzentrierten Aussagen und subjektivierten Beobachtungen: Die diskursive Erörterung einer Erfahrung, die sich präsentiert, um Zustimmung oder Ablehnung hervorzurufen, gestaltet sich schwierig bis unmöglich. Gefühlsbasierte Urteile müssen damit rechnen, ihrerseits mit gefühlsbasierten Urteilen beantwortet zu werden. Das hat nicht nur Konsequenzen für die geltende Vorstellung von Objektivität, sondern wiederum auch für die ‚ Objekte ‘ , auf die sich die Urteile beziehen, bzw. die zu Urteilen Anlass geben. In Bezug auf jenen von Böhme adressierten Zwischenstatus von Subjekt und Objekt wird nun deutlich, dass die Nivellierung der Grenzen zwischen (Aussage-)Subjekt und (Aussage-)Objekt, sowie zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, aus den atmosphärischen Anreizen entsprechender Medienumwelten resultiert. Je unabgeschlossener die Informationen sind, desto stärker hängen sie von einer subjektiven Einfühlung ab. Je weniger die Subjekte allerdings in ihrer Ganzheit, sondern mehr und mehr als ‚ Dividuen ‘ angesprochen wer- 93 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre den, die digitale Spuren hinterlassen, desto uninteressanter werden sie abseits von ihren ‚ Einfühlungen ‘ sein. Diese Entwicklung wiederum zeitigt Effekte auf allerlei Objekte. Insbesondere in der Kunst, im Film, in der Literatur und im Theater zeichnet sich seit ein paar Jahren eine Tendenz zum Atmosphärischen ab; vor nicht allzu langer Zeit wurde die dazugehörige Ästhetik noch als eine der Immersion gefeiert. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen dürfte nun aber deutlich werden, dass das Immersive einer allgemeinen Tendenz unseres Verhältnisses zum Ästhetischen Ausdruck verleiht. Unsere ästhetische Kategorie des Vibes zielt zweifellos ohne Umwege auf die Ebene einer gefühlsbasierten Rezeption und Beurteilung, indem sie auf die vorsubjektive Ebene von Stimmungen oder Atmosphären setzt. Damit wird zwar unsere Wahrnehmungsfähigkeit aktiviert, unsere Handlungsfähigkeit aber eben nicht notwendig. Vielmehr stellt sich die Frage, inwiefern Handlungsfähigkeit auf reaktive Einfühlungen verkürzt wird, und ob Wahrnehmungsfähigkeit schlichtweg mit Erkenntnisfähigkeit gleichzusetzen ist. Eine Änderung der individuellen Perspektive, zu der die ‚ Vibrant Theories ‘ zweifellos Anlass geben, produziert nicht notwendig Erkenntnisse. ‚ Vibrant Theories ‘ verkürzen vielmehr die Aufgabe der Theorie, Konzepte zu entwickeln, auf das Staunen, mit dem jede Theorie bloß beginnt. 73 Abbildungen Abb. 1 Shoplifter. Chromo Sapiens, Installationsansicht. Isländischer Pavillon. Biennale Venedig 2019, Foto: Tanja Prokic´ Abb. 2 Shoplifter. Chromo Sapiens, Installationsansicht. Isländischer Pavillon. Biennale Venedig 2019, Foto: Tanja Prokic´ Abb. 3 Fujiko Nakaya. Nebel Leben, Installationsansicht. Haus der Kunst 2022, Foto: Andrea Rossetti Anmerkungen 1 Robin James, „ What is a vibe? On vibez, moods, feels, and contemporary finance capitalism “ , https: / / itsherfactory.substack.com / p/ what-is-a-vibe [Zugriff am 10.06.2022]. 2 Ich referiere hier auf Vivian Sobchacks phänomenologische Beschreibung der Kinosituation in The Address of the Eye: A Phenomenology of Film Experience, Princeton 1992. 3 So die Künstlerin im Interview, siehe http: / / shoplifterart.com/ chromo-sapiens-venice-bi ennale TC: 03: 43 - 03: 52 [Zugriff am 04.08. 2022]. 4 Auf der Website der Künstlerin findet sich Bildmaterial und ein Video; http: / / shoplifter art.com/ chromo-sapiens-venice-biennale [Zugriff am 04.08.2022]. 5 Dass das nicht notwendig mit einer ‚ nur ‘ körperlich verifizierten Erfahrung enden muss, beweist das Theater-Kollektiv SIGNA. Vgl. dazu Tanja Prokic´, „ Wir Hunde “ , in: Dies./ Anna Häusler/ Elisabeth Heyne/ Lars Koch (Hg.), Verletzen und Beleidigen. Versuche einer theatralen Kritik der Herabsetzung, Berlin 2020, S. 37 - 96. 6 Paul Roquet, Ambient Media: Japanese Atmospheres of Self, Minneapolis 2016, S. 17. 7 Ebd., S. 4. 8 Die sogenannten ‚ liner notes ‘ sind der ersten amerikanischen Version der Platte Music for Airports/ Ambient 1, PVC 7908 (AMB 001) beigefügt; http: / / music.hyperreal.org/ artists/ brian_eno/ MFA-txt.html [Zugriff am 04.08. 2022]. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Roquet, Ambient Media, S. 3. 12 Vgl. zu relationaler Kunst: Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, Dijon 1998. 13 Für weiterführende Informationen und zur digitalen Sammlung: Vgl. https: / / nakaya.ha usderkunst.de/ de [Zugriff am 08.08.2022]. 94 Tanja Prokic´ 14 https: / / www.instagram.com/ explore/ tags/ fui jkonakaya/ [Zugriff am 08.08.2022]. 15 Kyle Chayka, „ TikTok and the Vibes Revival “ , https: / / www.newyorker.com/ culture/ cultural -comment/ tiktok-and-the-vibes-revival [Zugriff am 10.06.2022]. 16 Ebd. 17 Gernot Böhme, Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Berlin 2013, S. 21. 18 Ebd., S. 22. 19 Walter Benjamin, „ Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Dritte und letzte autorisierte Fassung, 1939] “ , in: Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Gesammelte Schriften I-2, Frankfurt a. M. 1980, S. 471 - 508, hier S. 479. 20 Ebd., S. 479. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 477. 23 Ebd., S. 479. 24 Ebd., S. 479 f. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 479. 27 Kate Eichhorn, Content, Cambridge/ Massachusetts 2022, S. 5. 28 Claude E. Shannon/ Warren Weaver, The Mathematical Theory of Communication, Indiana 1963 [1949]. 29 Tiziana Terranova, Network Culture: Politics for the Information Age, London/ Ann Arbor 2004, S. 13. 30 Marshall McLuhan, Das Medium ist die Botschaft, Dresden 2001. 31 Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964, S. 57. 32 McLuhan, Das Medium ist die Botschaft, S. 170. 33 Terranova, Network Culture, S. 74. 34 Ebd., S. 88, 91. 35 Ebd., S. 91. 36 Böhme, Atmosphäre, S. 22. 37 Nick Srnicek, Plattform-Kapitalismus, Hamburg 2018, S. 46, Gendering im Original mit Unterstrich. 38 Michael Seemann, Die Macht der Plattformen: Politik in Zeiten der Internetgiganten, Berlin 2021, S. 89 f. 39 David Singh Grewal, Network Power. The Social Dynamics of Globalization, New Haven 2008, S. 150 - 154. 40 Benjamin H. Bratton, The Stack: On Software and Sovereignty, Cambridge/ Massachusetts 2016; Vgl. Seemann, Die Macht der Plattformen, S. 93 - 95. 41 Vgl. Donald A. Norman, „ Affordance, Conventions, and Design “ , in: Interactions 3 (1999), S. 38 - 42. 42 Donald A. Norman, The Design of Everyday Things: Revised and Expanded Edition, New York 2013, S. 19. 43 Dass die K. I. letztlich auch im Prozess des Deep Learning eine User*in ist, lässt sich indirekt den Ausführungen von Peli Grietzer entnehmen, der sich - bemüht um eine mathematisch informierte Literaturwissenschaft - dem Entstehen von Vibes in automatisch generierten literarischen Texten oder Bildern widmet. Vgl. Peli Grietzer, „ Theory of Vibe, in: Site 1. Logic Gate: the Politics of the Artifactual Mind (2017), https: / / www.glass-bead. org/ article/ a-theory-of-vibe/ ? lang=enview [Zugriff am 10.08.2022]. 44 Bratton, The Stack, S. 254. 45 Vgl. ebd. S. 388. 46 Ebd., S. 342. 47 Geoffrey C. Bowker, Susan Leigh Star, Sorting Things Out: Classification and Its Consequences, Revised Edition, Cambridge 2000. 48 Otfried Jarren, Renate Fischer, „ Die Plattformisierung von Öffentlichkeit und der Relevanzverlust des Journalismus als demokratische Herausforderung “ , in: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit? Leviathan 37 (2021). S. 365 - 382. 49 Terranova, Network Culture, S. 39 f.; Geert Lovink, Dark Fiber: Tracking Critical Internet Culture, Cambridge 2003, S. 142 f. 50 Manuel Castells, „ Bausteine einer Theorie der Netzwerkgesellschaft “ , in: Berliner Journal für Soziologie 11(2001), 423 - 39. Auf Englisch liegt seine 3-bändige Untersuchung zum Informationszeitalter ab 1996 ff. vor. 51 Ebd., S. 430. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Jörg Döring et al., „ Was Bei Vielen Beachtung Findet: Zu Den Transformationen Des 95 Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre Populären “ , in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 6 2 (2022), S. 1 - 24. 55 Axel Bruns, „ Produsage: Towards a Broader Framework for User-Led Content Creation “ , in: B. Shneiderman (Hg.), Proceedings of 6th ACM SIGCHI Conference on Creativity and Cognition, Washington DC 2007, S. 99 - 105. 56 Sianne Ngai, Our Aesthetic Categories: Zany, Cute, Interesting, Cambridge/ London 2012, S. 238. 57 Sianne Ngai, „ Merely Interesting “ , in: Critical Inquiry 34 4 (2008), S. 777 - 817, hier S. 800. 58 Vgl. Ngai, Our Aesthetic Categories, S. 1. 59 Ebd., S. 92. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 200. 62 Ebd., S. 29. 63 Sianne Ngai, „ Our Aesthetic Categories “ , in: PMLA 125 4 (2010), S. 948 - 58, hier S. 952. 64 Vgl. dazu meine Ausführungen zur algorithmischen Subjektivität: Tanja Prokic´, „‚ The minimally satisfying solution at the lowest cost ‘- Hypervigilanz in der digitalen Gegenwart “ , in: Florian Mehltretter/ Arndt Brendecke et al. (Hg.), Sprachen der Wachsamkeit, Berlin/ Boston 2022. 65 Bratton, The Stack, S. 338. 66 Immanuel Kant, „ Kritik der Urteilskraft. II. Buch, § 25 (A 80, B 81) “ [1790], in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Bd. X., Frankfurt a. M. 1957, hier S. 333. 67 KU § 23, II 87 ff. 68 Donna Haraway, Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt a. M./ New York 2018, S. 141 f. 69 Haraway, Unruhig bleiben, S. 138. Siehe dazu etwa auch die Begeisterung Latours für die Kunst von Tómas Saraceno: Bruno Latour, „ Some Experiments in Art and Politics “ , ht tps: / / www.e-flux.com/ journal/ 23/ 67790/ so me-experiments-in-art-and-politics/ [Zugriff am 10.08.2022]. 70 Siehe meine Kritik an Bennett: Tanja Prokic ´, „ From Constellations to Assemblages: Benjamin, Deleuze, and the Question of Materialism “ , in: Deleuze and Guattari Studies (Special Issue: „ Deleuze and the Material Turn “ ) 15/ 4 (2021), S. 543 - 570. 71 Elena Beregow, „ Theorieatmosphären. Soziologische Denkstile als affektive Praxis “ , in: Berliner Journal für Soziologie 31, Nr. 2 (2021): 189 - 217, hier S. 200. 72 Ebd. 73 Vgl. dazu Mario Grizelj, Oliver Jahraus, Tanja Prokic´, Vor der Theorie. Immersion - Materialität - Intensität. Tagungsband, Würzburg 2014. 96 Tanja Prokic´ Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit Katja Schneider (Frankfurt am Main) Durch die Covid-19-Pandemie gerieten Konzepte von Nähe und Distanz im Spannungsfeld von Körper, Ökologie und Atmosphäre ebenso auf neue Weise ins Blickfeld wie partizipative und interventionistische choreographische Projekte. Indem in der Pandemie die Nutzung des städtischen Raums für die Bewohner*innen reduziert wurde, beeinflusste dies auf gravierende Weise speziell solche choreographischen Projekte, die etablierte Raumwahrnehmungen durchkreuzen, den Modus von Räumen verändern und zugleich die ordnenden Kräfte solcher Räume deutlich machen wollten. Am Beispiel von zwei Produktionen - trajectory - pictures of the fleeting world des Münchner Choreographen Micha Purucker sowie Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett der Gruppe Ligna - konturiert der Beitrag, wie sich Projekte im Kontext der Pandemie auf je besondere kinästhetische und atmosphärische Weise im öffentlichen Raum situieren. Außerdem fragt er danach, welche Affizierungsstrategien mit Bruno Latours Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown (2021) korrespondieren. Ein Blick zurück in den April 2020: „ Künstler*innen laufen über das Gelände, Techniker*innen, tatsächlich auch ein klein wenig Publikum, obwohl das hier eigentlich gar nicht sein sollte. Und Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard gibt Handlungsanweisungen: ‚ Haltet Abstand, flaniert ein bisschen, es darf nicht aussehen wie eine Veranstaltung! ‘“ 1 So beschreibt der Kulturjournalist Falk Schreiber ein Event auf Kampnagel während des ersten Lockdowns, bei dem den erforderlichen Hygiene- und Abstandsregeln Folge geleistet werden sollte. Dem Gehen der Besucher*innen auf Distanz und in scheinbar zufälliger Kopräsenz, das generell auch eine „ gar nicht mal uninteressante Kontaktvermeidungsimprovisation “ 2 ergeben könne, gewann der Kritiker dabei über die pragmatische Dimension hinaus offensichtlich eine spezifisch ästhetische Qualität ab: „ Solche Choreographien werden überall eingeübt: Choreographien, in denen der öffentliche Raum durchstreift, jede Berührung aber vermieden wird. “ 3 Choreographie - und das weist sie sowohl im Gebrauch Schreibers im Hinblick auf das proxemische Verhalten der Besucher*innen auf Kampnagel als auch im Verständnis zeitgenössischen Tanzes aus - entsteht im konfligierenden Spannungsfeld aus ordnenden Vorgaben und individueller körperlicher Ausführung. In solch erweitertem, deutlich über ein Verständnis von organisierter Bewegung in Zeit und Raum 4 hinausgehendem Choreographiebegriff 5 sind auch Formate wie Walks, Parkour-Läufe, Gänge sowie nomadische und ‚ site-specific ‘ -Projekte enthalten und bilden Beispiele choreographischer Aktivität, die gleichermaßen (wenn auch unterschiedlich) von Akteur*innen und Publikum ausgeführt werden können. In einem spezifischen Umfeld auf besondere Weise propriozeptiv und kinästhetisch affiziert zu werden, ist kennzeichnend für choreographische Projekte im öffentlichen Raum. Solches „ practising place “ 6 geht einher mit einer temporären, atmosphärischen Aufladung eines Umfelds, die auf kinästhetischen Erfahrungen basiert und diese zugleich ermöglicht, und kann als Ausdruck von Handlungsmächtigkeit und Selbstwirksamkeit verstanden werden. 7 In meinem Beitrag wer- Forum Modernes Theater, 34/ 1, 97 - 110. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0009 de ich zwei choreographische Projekte im öffentlichen Raum näher untersuchen, die sich auf je besondere kinästhetische und atmosphärische Weise im öffentlichen Raum situieren und die beide von der Situation des Lockdowns betroffen waren. Um die Spezifik der beiden Arbeiten - es handelt sich um trajectory - pictures of the fleeting world des Münchner Choreographen Micha Purucker einerseits und Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett der Gruppe Ligna andererseits - zu verdeutlichen, möchte ich zunächst auf choreographische Konzepte eingehen, die mit einer spezifische Affizierung von Umwelt korrelieren. Permeable Relationen Die ökologische Überzeugung, dass wir immer von unserer Umwelt affiziert werden, weil wir einen Körper haben, und dass diese Affizierungen in Relation zur Umwelt im Tanz verkörpert werden können, ist ein Kennzeichen zeitgenössischen Tanzes. Insofern scheinen die auf aktuellen Covid-19- Pandemie-Erfahrungen basierenden „ Lektionen “ von Bruno Latour, die das Bewusstsein darüber schärfen, dass, „ einen Körper zu haben bedeutet, zu lernen affiziert zu werden “ 8 , auf ein Wissen zu verweisen, das dem Tanz bereits inhärent ist - wenn es auch in der Regel nicht in Latourscher Radikalität umgesetzt wird. Denn die Erweiterung zeitgenössischer Tanztechniken um somatische Ansätze 9 und Konzepte des Fluiden behält zumindest heuristisch die Idee von einem ‚ menschlichen Körper ‘ bei. Latour hingegen wirft die Frage auf: Was ist ein ‚ menschlicher ‘ Körper [ … ]? Die Ungewissheit über die genauen Grenzen eines Körpers ist so groß, dass Lynn Margulis vorgeschlagen hat, den allzu engen Begriff ‚ Organismus ‘ durch das zu ersetzen, was sie ‚ Holobionten ‘ (Gesamtlebewesen) nennt, eine wolkenartige, nur vage konturierte Gesamtheit von Agentien, die es relativ dauerhaften Membranen ermöglichen, dank der Hilfe fortzubestehen, die das Außerhalb dem bietet, was sich innerhalb befindet. 10 Die Jahre der Covid-19-Pandemie waren (und sind) geprägt von Distanz und Distanzierung. Zugleich veranschaulichen sie in paradoxer Umkehrung und auf erschreckende Weise, wie nah und verbunden wir untereinander und mit unserer Umwelt sind. Als die Luft zum Atmen zu einem Risiko wurde, sollten wir uns separieren - „ einschließen “ in Bruno Latours Worten - , und uns „ Eingeschlossenen “ konnte deutlich werden, wie „ auf immer miteinander vermischt, unentwirrbar verquickt, ineinander verschachtelt “ 11 Mensch und Umwelt sind. Latours „ Lektionen aus dem Lockdown “ , wie der deutsche Untertitel seines 2021 publizierten Buches Wo bin ich? lautet, beziehen sich auf Wissensinhalte, die speziell (wenn auch partiell) im Tanz realisiert werden. Als ein frühes, prominentes und einflussreiches Beispiel sei hier die Arbeit von Anna Halprin genannt. Abb. 1: Eine der Explorationen Anna Halprins auf ihrem legendären „ Dance Deck “ . Die US-amerikanische Choreographin, Tänzerin, Lehrerin und Therapeutin entwickelte bereits in den 1950er Jahren eine 98 Katja Schneider somatisch orientierte Art und Weise zu arbeiten, in der die Aufmerksamkeit der Künstlerin auf den eigenen Körper in seiner Affizierung durch die Umwelt im Fokus steht. Eines dieser stark von der Natur beeinflussten Stücke ist The Branch Dance (1957), eine Gruppenchoreographie mit Zweigen und Ästen, die auf dem hölzernen „ Dance Deck “ ihres Hauses in Kalifornien open air gezeigt wurde (Abb. 1). Die in das Projekt involvierte Tänzerin und Choreographin Simone Forti betont den Stellenwert, den diese choreographische Praxis einer Relationierung von Körper und Umwelt im Schaffen Halprins einnahm: She taught the process of going into the woods and observing something for a period of time, and then coming back and somehow working from those impressions … . She led us to this awareness of somatic sensations in response to perceptions outside so that the inside and outside of each of us would be working together. 12 Künstlerische Explorationen in der kalifornischen Landschaft waren eine Konstante in Halprins Arbeit, die sich später auch in Still Dance with Anna Halprin (1998 - 2002) fotografisch materialisierte. Die bildende Künstlerin und Fotografin Eeo Stubblefield entwickelte einen Score für Halprin und inszenierte sie für ihre Fotos nackt, bedeckt von Schlamm und Blättern, überrollt von Wellen, in einem Strohkostüm im Feld, fast mimikryhaft verschwindend in ihrer Umgebung. Die Fotografie lenkt den distanzierten Blick des Betrachters auf Halprins inszenierten Körper, der sich mit seiner Umwelt verbindet. Die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Wittmann legt nahe, dass die von Stubblefield fotografisch beglaubigte Auflösung der Grenzen zwischen dem Körper der Tänzerin und ihrer Umgebung das choreographische Programm Halprins als ein wechselseitiges Affektionsgeschehen verkörpert: Das Leben in der Natur, für Jahrzehnte auch in den Wäldern, Bergen, Seen und am Pazifischen Ozean, war für Anna Halprin immer mehr als nur Inspiration. Es ist für sie ein Weg, Prozesse wahrzunehmen und zu erkunden, an denen der Mensch als biologische, kulturelle und soziale Spezies teilnimmt. Darin gründet, so könnte man vorsichtig formulieren, ihre Ästhetik. ‚ We are not the center of the universe. We are not in control. We are part of it. ‘ 13 Sich als Tänzer*in/ Choreograph*in permeabel für die Umwelt zu machen - sei es für die Natur wie bei Halprin, für die soziale Umwelt und ihren psycho-somatischen Niederschlag auf Körper wie bei Meg Stuart oder als Materie neben anderen Elementen wie bei Mette Ingvartsen - und sich als Künstler*in so zu destabilisieren und zu dezentrieren, bedeutet für die Rezeption, einem atmosphärischen ‚ Drängen ‘ nachzugeben, das in den entsprechenden Inszenierungen kinästhetisch und emotional wahrgenommen werden soll. Das Konzept einer solchen mutuellen Permeabilität zwischen der Körperlichkeit der Performenden mit ihrer sozio-biologischen Umwelt einerseits und zwischen Körpern von Zusehenden und Performenden andererseits, einer solchen Verwobenheit auf mehreren Ebenen, resoniert partiell mit neumaterialistischen Theorien. Anzuknüpfen wäre hier an Karen Barads „ intra-activity “ 14 , die Annahme von „ phenomena - dynamic topological reconfigurings/ entanglements, relationalities/ (re)articulations “ 15 in einer sich dyamisch prozessierenden Welt: This ongoing flow of agency through which ‚ part ‘ of the world makes itself differentially intelligible to another ‚ part ‘ of the world and through which local causal structures, boundaries, and properties are stabilized and destabilzed does not take place in space and time but in the making of spacetime itself. 16 99 Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit Entscheidend scheint mir jedoch, dass dieses Entanglement auf eine Weise gedacht wird, die eine Figur des ‚ Gegenüber ‘ radikal ausschließt, um wechselseitige Abhängigkeiten zu akzentuieren. 17 Bis zu welchem Grad lässt sich in einem konventiollen theatralen Setting die Figuration des ‚ Gegenüber ‘ reduzieren, die, wie Latour formuliert, dazu führe, „ sich anstarren zu lassen “ 18 . Um an die erwähnten Beispiele von Anna Halprin anzuknüpfen: So verwoben mit der Umwelt sie ihre choreographische Arbeit konzeptualisiert, es handelt sich hier um ein Entanglement auf der Produktionsebene, insofern auf der Rezeptionsebene die Distanz bleibt, das Beobachten von Performenden und Betrachten von Fotografien. Diesem Dilemma inszenierter ‚ Intraaktion ‘ entkommen solche Veranstaltungen kaum, auch wenn sie auf gesteigerte Strategien der Immersion setzen; denn auch Instanzen wie Autor*innen, Werk, Publikum bleiben stabil. Für Inszenierungen dieser Art, die in Theaterräumen stattfinden, hielt das Eingeschlossen-Sein in Folge der Covid-19- Pandemie zwar auch eine „ Lektion “ bereit, deren existentielles Ausmaß sich aber weniger einer neuen Selbsterkenntnis im Sinne Latours verdankte, sondern dem Totalausfall von Präsentations- und Rezeptionsmöglichkeiten durch das Schließen der Theater, Galerien und Museen im Lockdown. Auf andere Weise betroffen von tatsächlichen Umkodierungen und einer zu lernenden Latourschen „ Lektion “ waren hingegen Performances und Choreographien im öffentlichen urbanen Raum. Die plötzliche „ virologische [ … ] Deutungshoheit über den Raum “ 19 hatte diesen nachhaltig verändert. Neue, die Räume materiell und symbolisch strukturierende Markierungen im „ Meer der Zeichen “ 20 tauchten sowohl in den gewohnten Innenräumen als auch im urbanen Stadtraum auf und differenzierten so den Raum semiotisch und atmosphärisch aus. Einbahnregelungen, Pfeilführungen, Absperrbänder kanalisierten die Navigation durch bekannte Territorien. Mit den neuen Hinweisen und der korporalen Aufführung der Hygiene- und Abstandsregeln wurde der Raum nicht nur neu markiert, ihm wurde nicht nur eine neue Lesart hinzugefügt, sondern er verwandelte sich tatsächlich, wenn man man sich auf das Konzept des ‚ practising place ‘ bezieht. Längeres Verweilen an einem Ort war nicht gestattet, Menschenansammlungen sollten unterlassen werden, allein deren Anschein war sogar zu vermeiden. Räume sollten so zu Durchgängen werden, wie sie aus Transitbereichen 21 zum Beispiel in Flughäfen bekannt sind, dazu geschaffen, sie zügig in einer Richtung zu passieren. Konfrontiert mit dem Herunterfahren des öffentlichen Lebens und der Reduzierung individueller Handlungsmöglichkeiten, machten wir während der Covid-19- Pandemie als Kollektiv die Erfahrung, dass Eingriffe in den menschlichen Aktionsradius im öffentlichen Raum die von uns ansonsten wie selbstverständlich bevölkerten Räume tatsächlich und nachhaltig modifizierten. Es zeigte sich, wie fragil habitualisiertes Verhalten im institutionalisierten öffentlichen Raum ist und wie schnell das gewohnte Umfeld seinen Modus konventioneller Alltäglichkeit verliert. Indem in der Pandemie der städtische Raum auf Durchgangsfunktionen reduziert wurde, wurden auf gravierende Weise speziell solche choreographischen Projekte beeinflusst, die etablierte Raumwahrnehmungen durchkreuzen, den Modus von Räumen verändern und zugleich die ordnenden Kräfte solcher Räume deutlich machen wollen. Konzeptuelle Bezugspunkte bilden dabei Praktiken der Situationistischen Internationale wie Dérive und Psychogeographie: Erstere bestand aus einem ‚ flüchtigen Durchstreifen verschiedener Umgebungen ‘ (d. h. zielloses, zufälliges Umherwandern in der 100 Katja Schneider Stadt, nur geleitet und gestoßen durch den unterbewußten ‚ Zug ‘ der Architektur); letztere bezeichnete das Studium und die Wechselbeziehungen des ‚ Driftens ‘ und das Herstellen neuer, emotional begründeter Stadtpläne, die als Grundlage zur Konstruktion neuer, utopischer Umgebungen dienen sollten. 22 Guy Debord und die Situationisten formulierten und erprobten auf Basis dieser Fortbewegungskonzepte in urbanen Umgebungen in den 1950er und 1960er Jahren ein Arsenal an Praktiken und theoretischen Begründungen, die bis heute für Arbeiten von Micha Purucker, Rimini Protokoll, Martin Nachbar oder Ligna virulent sind. Auf diesen Kontext städtischer Interventionen verweist explizit Hilke Berger: „ Es gibt eine Vielzahl unendlich spannender Projekte, die alle eint, was die Situationisten bereits [ … ] beabsichtigten: eine Wahrnehmungsschärfung und Veränderung des alltäglichen urbanen Raums. “ 23 Der Ausgriff ins Alltägliche, atmosphärische Irritationen und anschließende Neujustierung im Vertrauten, das Abweichen von angepassten Verhaltensweisen und die Aneignung von Stadtraum prägen diese Projekte. Gemeinsam ist ihnen auch die dezidierte Kritik an kapitalistischen und neoliberalen Strukturen sowie an daran angepasste Verhaltensnormierungen. Da stellt sich die Frage, was mit diesen Projekten passiert, wenn das habitualisierte Verhalten, gegen das angearbeitet wird, in Zeiten der Pandemie selbst gerade in einem spektakulären Umprägungsprozess begriffen ist. Was verändert sich, wenn Normierungen und Gebrauchsweisen urbaner Orte, die sich bislang als äußerst hartnäckig erwiesen haben, wenn die, von Ligna so bezeichnete, „ Homogenisierung innerstädtischer Räume zu Konsumzonen “ 24 Covid-19-bedingt zusammenbrechen? Was geschieht also, wenn sich die städtischen „ Konsumzonen “ zu Zonen des Nicht-Konsums wandeln, in denen normalisierte Gesten unfunktional werden - „ die Straße an den Schaufenstern in einem gewissen Abstand entlang gehen, an einem Schaufenster stehen bleiben, näher treten, schließlich den Laden betreten und das eigene Geld gegen eine begehrte Ware tauschen und die Ware zum Eigentum zu machen, das in einer Plastiktüte versteckt wird “ 25 ? Die Ökonomisierung des öffentlichen Raums, gegen die viele künstlerische Projekte im öffentlichen Raum gerichtet sind, verschwand nicht im Lockdown, aber sie ist in weiten Teilen dysfunktional geworden (auch weil sie sich in den virtuellen Raum verlagert hat). Neben dieser Zurückdrängung des normativen und habitualisierten Konsumverhaltens im öffentlichen Raum zeigt sich eine zweite pandemiebedingte Veränderung, die sich als nicht weniger tiefgreifend herausstellt. Denn erschwert wurden auch insbesondere Praktiken des Schweifens, der Vergemeinschaftung, des gemeinsamen Abhängens, die sich Verwertungslogiken widersetzen und durch künstlerische Interventionen und Strategien gezielt unterstützt werden können. Dazu muss es einzelnen in einer Gruppe ermöglicht werden, sich zu begegnen, aber dabei, zumindest punktuell, nicht zu assimilieren. Dieses abweichende Verhalten muss potentiell Aufmerksamkeit generieren können, es braucht die Möglichkeit des Verharrens in einer hektischen Umwelt 26 - oder der permanenten Motion in einer stillgestellten Umwelt. Letzteres manifestierte sich auch in Walks und Walking Pieces. Während der Pandemie verzeichnete das Fachmagazin tanz in seiner Spielplanübersicht neben unzähligen Online- und Video-on-Demand-Produktionen in den Monaten Juli und August 2020 fünf solcher Veranstaltungen, darunter auch von Ligna den Audio-Walk Ulysses 2.0 für Einzel- Gänger*innen auf Kampnagel. In Großbritannien wurden Walks unter dem Titel Wal- 101 Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit king Publics/ Walking Arts #WalkCreate Gathering im Netz gesammelt. Der britische Künstler Hamish Fulton - der als „ Walking Artist “ seit 1969 das Gehen zum Zentrum seines Werks gemacht hat - schuf während des ersten Lockdowns ein weiteres seiner typographischen Werke, in denen er seine konzeptualisierten Geherfahrungen mediatisiert. Das Wandbild The Quietest Day, 3 April 2020 reagiert auf das radikale Zurückfahren sozialer Aktivitäten während der Covid-19-Pandemie. 27 In roter Schrift und durchgehender Großschreibung nennt das Werk ein Datum (3. April 2020, während des Lockdowns in GB), einen Zeitraum (49 Tage), eine Jahreszeit (Frühling 2020), einen Ort (im Südosten Englands) und zwei Tätigkeiten: Zählen ( „ 49 barefoot paces “ ) und Gehen ( „ in every direction on grass each day “ ). In schwarzer Schrift steht am unteren Rand - mit einer Leerzeile vom Text in roter Schrift getrennt - „ Song of the Blackbird “ . Das Lied der Amsel erklingt am ruhigsten Tag. Man kann diesen Atmosphäre-Marker lesen als eine akustische Sensation am ruhigsten (stillsten) Tag oder als die Emphase gesteigerter Präsenz am ruhigsten (einsamsten) Tag beziehungsweise als eine Kombination von beidem, da die akustische Ruhe einhergeht mit Einsamkeit als Folge von einzuhaltenden Abstands- und Hygieneregeln. Fultons Wandbild übersetzt medial eine Folge von 49 Gängen, höchstwahrscheinlich von ihm allein unternommen, die eine kollektive Situationserfahrung (Quarantäne/ Lockdown) mit individuellen Erfahrungen gesteigerter Sensitivität (barfuß im Aprilgras, Gesang der Amsel), spezifischer Proxemik (Gehen) und spatiotemporaler Bestimmung (3. April 2020, 49 Tage, Südosten Englands) in einem typographischen Bild verdichtet. Gehen und Zählen behaupten sich hier als menschliche Aktivitäten in einer Zeit, in der solche Aktivitäten von Regularien generell beschnitten wurden ( „ during a reduction of human activity “ ). Distanz zu halten war bekanntermaßen die wichtigste Auflage in den ersten beiden Jahren der Pandemie. Gehen mit Abstand, Stehen mit Abstand, Agieren mit Abstand - als die ersten Lockerungen einsetzten, reduzierten Theater die Plätze, entzerrten die Reihen, ließen Sessel entfernen, um das Publikum auf Abstand zu halten und gaben Distanzen für die Interaktionen auf der Bühne vor, was zumeist den technischen Abteilungen oblag, während Choreograph*innen und Dramaturg*innen gemäß den Vorgaben bestehende Stücke umarbeiteten und neue erarbeiteten, um so die Auflagen zu erfüllen, die eine Öffnung der Theater erlaubten. Distanz auf der Bühne und im Zuschauerraum bedeutete auch, dass Zugänge zu Theatern klar geregelt wurden: Wollte man zum Beispiel eine Veranstaltung besuchen, dann hieß es: Warten in abgetrennten Bereichen unter Einhaltung des Abstands, Einlass in kleinen Gruppen nach Sitzplatznummer auf den im Vorfeld besorgten Tickets und Auslass in derjenigen Kohorte, in der man in einer Reihe zusammensortiert worden war. Die Steuerung dieser durchaus komplexen Choreographien der Besucher*innen oblag in der Regel den Platzanweiser*innen, die tunlichst den Überblick über Nähe und Distanz der Menschen behalten sollten. Situationen, in denen sich Menschen versammelten, waren stark reduziert, reglementiert sowie klar markiert. Die deutlich sichtbare Kennzeichnung als Veranstaltung erwies sich überhaupt als Voraussetzung zu deren Genehmigung. Zugleich allerdings, so verdeutlicht es die eingangs zitierte Beschreibung Falk Schreibers, durfte eine Veranstaltung paradoxerweise weder wie eine Versammlung aussehen noch eine sein. Ästhetik der Peripherie Die Arbeit trajectory - pictures of the fleeting world von Micha Purucker trägt die Dynamik 102 Katja Schneider des Instabilen bereits im Titel. Sie war im Münchner Stadtraum für die Zeit von 24. März bis 2. April 2020 anberaumt, geplant als Intervention, die sich an wechselnden Orten materialisieren, nur einer rudimentären Logik der Ankündigung und des Beginns der ‚ Aufführung ‘ folgen, und darin weder eine klare Blicknoch Publikumsführung etablieren sollte. Der Lockdown verunmöglichte die Live-Performance. Stattfinden konnte sie nur in ihrem medialen fotografischen Teil, großen Werbeflächen, die unterschiedliche Motive in spezifischen Farbschemata zeigen: etwa Reste von antik anmutenden Säulen, eine Funkstation, Menschen, die mit Laptop und Rucksack vor einer Wand sitzen. Die Bilder wurden zu Relikten. Denn was nicht stattfinden konnte, war die performative Aneignung der Orte. Geplant war: Acht Performer*innen tauchen vor diesen Wänden auf und führen signifikante Gesten und Handlungen aus - etwa aufs Handy blicken, die Bildfläche ansehen, an ihr vorbeigehen, vor ihr kauern, einen Ball festhaltend. Das flächige Plakatmotiv und die temporär auftauchenden Körper der Performer*innen etablieren so sich rasch konstituierende theatrale Situationen, „ gestimmte Räume “ 28 (Elisabeth Ströker), atmosphärische Teilräume in einem alltäglichen öffentlichen Raum. Die räumliche Nähe der Performer*innen zur Bildfläche, ein spezifisches Farbschema des Kostüms, das mit der Farbgebung der Bildfläche korrespondiert, und die dadurch gelenkte Aufmerksamkeit identifizieren den Moment als eine die alltägliche Atmosphäre des Stadtraums übersteigende Situation. Nach der rasch wieder de-stituierten Situation begeben sich die Performer*innen zu einer anderen Bildfläche. Das Spiel „ mit geführter und überraschender Wahrnehmung “ 29 , so Purucker, konnte wie gesagt wegen der Covid-19-Pandemie nicht stattfinden, die Bildflächen aber hingen. Abb. 2: Micha Purucker trajectory - pictures of the fleeting world, 2020. © Volker Derlath 103 Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit Für die unregulierte, unvorhergesehene Drift durch die Stadt, die sich hier ergeben sollte, gab es keine Möglichkeit - abgesehen davon, dass der Verkehr sowieso deutlich reduziert war. Die Gänge der U-Bahn, die Flächen in Untergeschossen wurden in ihrer Eigenschaft als Transitbereiche bekräftigt und vereindeutigt, die gerichtete Bewegung der Passant*innen sollte allenfalls nur durch punktuelle Aufmerksamkeit - der schnelle, streifende Blick auf das Plakat - abgelenkt werden (Abb. 2). Der hastende, zielorientierte Mensch sollte nicht in seinem Alltagsverhalten irritiert werden. Irritieren, vom Lateinischen irritare, bedeutet (auf)reizen, erregen, und damit eine Verunsicherung und Desorientierung, die in pandemischen Zeiten im öffentlichen Raum zu vermeiden war. Er sollte nicht in eine neue, ungewohnte Situation immergieren. Puruckers Arbeit - so wie sie geplant war - oszilliert zwischen einem verfremdenden Eingriff in den öffentlichen Raum (durch die Bildflächen), einer theatralen Aktion (der Performer*innen) und einem Walk (sowohl der Performer*innen als auch der Passant*innen, die den Performer*innen möglicherweise folgen wollten). Was genau passieren würde, war nicht zu kontrollieren. Möglicherweise hätte sie den Passant*innen erlaubt, sich im Latourschen Sinne „ verorten “ 30 zu lernen, also „ immer spezifischer, eigentümlicher “ 31 zu werden, als Netzwerk- Akteur*in, der*die sich in seinem*ihrem Verwobensein mit der Umwelt ‚ erkennt ‘ . Es scheint, als wäre diese individuelle Immersion mit unvorhergesehenem Resultat zu problematisch für die Pandemie-Situation gewesen, wohingegen regelgeleitete spielerische Aktivitäten, auch kollektive, zunehmend populärer wurden. Für die städtische Lebenssituation in Kopenhagen konstatiert David Sim etwa: Während wir also das Leben in öffentlichen Räumen betrachteten, stellten wir fest, dass es einen Rückgang bei den klassischen Aktivitäten im Stadtzentrum gab, aber an ihre Stelle vermehrt Erholung, Sport und Spiel getreten waren. Tatsächlich war die Nutzung der öffentlichen Plätze mehr oder weniger identisch mit der Zeit vor Corona, dagegen war die Mobilität stark zurückgegangen. Die Anzahl der Fußgänger*innen stieg in den Quartieren außerhalb des Stadtzentrums, während sich die Mobilität im Zentrum verringerte. Orte, die bereits eine öffentliche Aktivität wie Ballspielen ermöglichten, wurden sogar noch populärer als zuvor. 32 Während der Pandemie verloren Orte also ihre stabilen Zuordnungen und atmosphärischen Einlassungen. Stadtzentren entvölkerten sich und mit ihnen ihre kommerzielle Nutzung. Im Gegenzug wurden periphere Räume atmosphärisch neu aufgeladen. Ein Beispiel dafür bot die im Sommer 2020 in Koproduktion von Künstlerhaus Mousonturm, dem Hessischen Staatsballett und der Tanzplattform Rhein-Main entstandene Arbeit des Performance-Kollektivs Ligna 33 mit dem Titel Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett, das in expliziter Reaktion auf die Pandemie-Situation entstanden war. 34 Von vierzehn internationalen Choreograph*innen 35 bekamen die Teilnehmer*innen, zu denen viele Laien zählten, per Kopfhörer in einem gemeinsam geteilten Raum, auf einem städtischen Platz, unter Einhaltung der Abstandsregeln, gesprochene Anweisungen für choreographiertes Verhalten zu hören. Gemäß den unterschiedlichen Ansagen bewegten sich die nunmehrigen Performer*innen allein, individuell, zugleich aber auch gemeinsam. Die immersive, selbstbezügliche, in die Erfahrung der Einzelnen verlagerte Wahrnehmung ermöglichte Momente von gerichteter Aufmerksamkeit, wenn die Tanzenden hörten: „ Let ’ s think about ourselves and know the people around us “ . 36 Die verbale Aufforderung der gesprochenen Scores verband das tanzende Individuum mit den anderen 104 Katja Schneider räumlich distanzierten Individuen, da diese kinästhetisch erfahrbar wurden. Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett ermöglichte ein kollektives und zugleich immersives Erlebnis, das auf seine Art singulär war in der Zeit des Lockdowns. Affiziert durch die Stimmen im Ohr, ermöglichte der Tanz in einer Choreographie der Distanz Begegnungen, die körperlich waren, obwohl sie ohne körperliche Berührung auskamen (Abb. 3). Abb. 3: LIGNA, Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett von LIGNA, 2020. Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett wurde an unterschiedlichen Orten aufgeführt, von zwei Veranstaltungen existieren mediale Übersetzungen, auf die Lignas Homepage verlinkt: eine rund dreizehnminütige filmische „ Dokumentation “ 37 , die beim Berliner Festival Tanz im August 2020 aufgenommen wurde, sowie ein dreiminütiger „ Trailer “ 38 , der in einem Stadtraum gefilmt und nicht datiert wurde. Beide Mediatisierungen sind speziell im Hinblick auf das konkrete Umfeld interessant. Denn solche Interventionen in den öffentlichen Raum leben von der Irritation, der Affizierung nicht nur der Teilnehmenden, sondern auch der Passant*innen, die mit nicht-alltäglichen Verrichtungen im öffentlichen Raum konfrontiert werden. Nicht selten bleiben diese stehen und fragen das „ teilnehmende Publikum “ 39 - eigentlich: Akteur*innen im öffentlichen Raum - , was sie denn gerade dort machen würden, kommentieren untereinander, was sie sehen, oder nehmen ostentativ keine Notiz davon, was wiederum vom „ teilnehmenden Publikum “ registriert wird. Manchmal lagert sich um die Tanzenden auch ein Ring von nichttanzenden Menschen, die stehenbleiben, sich hinsetzen, Haufen bilden und so ein Publikum zweiter Ordnung darstellen, insofern man Lignas Bezeichnung des „ teilnehmenden Publikums “ - also der Tanzenden - als Publikum erster Ordnung übernimmt. In beiden filmischen Mediatisierungen von Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett sucht man nach diesem aktivierten Publikum zweiter Ordnung vergeblich. Die Interventionen durch das „ teilnehmende Publikum “ manifestieren sich als künstliches und künstlerisches Substitut für momentan nicht mögliche Praktiken an einem Ort der Begegnung. Künstlich, weil sie angemeldet und genehmigt, geplant und vorhersehbar sind. Substitut, weil sie einen Verlust deutlich machen - den der Unvorhersehbarkeit, der Irritation und Desorientierung im öffentlichen Raum. Wie nebenbei zeigt die mediatisierte Form des Balletts als Film, dass ein Blick für ein physisch nicht-teilnehmendes Publikum nur ein vorübergehender, streifender sein kann, deutlich abgegrenzt vom Vollzug der choreographischen Handlung im öffentlichen Raum. Die durch den Score vorgegebenen Verhaltensanweisungen resultierten in einer regelbasierten Performance, die den potentiell für alle offenen Umraum in ein Auditorium für diejenigen, die nicht „ teilnehmendes Publikum “ waren, umwandelte beziehungsweise dieses ganz ausschloss: die „ Dokumentation “ der Version bei Tanz im August etwa zeigt gar kein Publikum zweiter Ordnung mehr. Getanzt wurde auf einem durch eine Metallumrandung eingegrenzten Parkdeck. Die Youtube-User*innen, die das Video anklicken, übernehmen 105 Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit einerseits die Rolle des Publikums, indem sie den Tanzenden zusehen, und werden zugleich zu akustisch Teilnehmenden, insofern sie die choreographischen Anweisungen, die sonst nur den Tanzenden zugespielt werden, als Audiospur hören. Der Trailer hingegen zeigt, dass aber auch in einem belebteren Umfeld der Blick des Publikums zweiter Ordnung temporär ist, driftend, denn die Menschen sind klar abgegrenzt von den Tanzenden im öffentlichen Raum. Der Trailer inszeniert das Publikum zweiter Ordnung als Insass*innen einer vorüberfahrenden Tram, als Rollerfahrer*innen, als Vorübergehende. Jemand schiebt einen Kinderwagen. Es sind im wörtlichen Sinn Passant*innen, die quasi im Vorübergehen einen Blick auf das Ballett werfen. Ein höherer Grad an Affizierung scheint nicht vorgesehen zu sein. Die potentielle Intervention wandelt sich so in eine theatrale Performance im Freien, auf einem Platz im öffentlichen Raum. Das anarchische Potential, das typisch für Interventionen im öffentlichen Raum, auch für die von Ligna ist, ist hier nur noch ahnbar. Der Platz in der Stadt wie das Parkdeck transformierte sich in einen zugerichteten, geschlossenen, nach Regeln funktionierenden Spielplatz. Insofern ist der Begriff „ Ballett “ durchaus zutreffend, da die Tanzenden einen choreographischen Score ausführen, indem sie den gehörten Anweisungen folgen, und so ein - bei allen individuell möglichen Abweichungen und Verweigerungen - gemeinsames Stück aufführen. Das auditiv affizierte und motorisch aktivierte „ teilnehmende Publikum “ agiert auf einer Bühne, die sich selbst genug ist - was im Hinblick auf die Bedingungen, die in Zeiten der Pandemie herrschten, nicht despektierlich gemeint sein soll, es zeigt vielmehr, dass Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett den Teilnehmenden Raum und Möglichkeit gab, sich selbst als wirkmächtig und zu Begegnungen unter den Auflagen der Distanz fähig wahrzunehmen. Inszeniert wird so eine Gruppe „ Eingeschlossener “ , um Latours Begriff noch einmal zu belasten, die im öffentlichen, aber eingehegten Raum, durch Stimmen affiziert und kontrolliert, wieder Kontakt zu sich selbst, zum eigenen Körper und zur Umwelt aufnehmen, also sich ansatzweise als „ holobiontisch “ wahrnehmen kann. Wobei der Titel Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett bei Ligna eine Emphase formuliert, die topologisch nicht ganz widerspruchsfrei zur Performance wirkt: ‚ Zerstreuung ‘ im Sinne von ‚ Unterhaltung ‘ ließe sich ‚ überall! ‘ als Benefit einer Veranstaltung versprechen. Aber topologisch - im Sinne der Transformation von Nähe in Verstreutheit, von Konzentration in Dispersion - als Bewegung ins Entferntere, Unübersichtliche, Ungeplante, Freie, entspricht dies nicht der durch einen Score fix definierten Formation der Körper und ferngesteuerten Verhaltensanweisungen, wie oben beschrieben. ‚ Zerstreuung ‘ im Sinne von ‚ Verbreitung ‘ ( „ disseminaton “ ist die verwendete Übersetzung im Trailer) wiederum würde nur auf weit verbreitete Publikation (analog zu ‚ Sendung ‘ ) referieren. Aber auch hier ist ‚ überall! ‘ eine Übertreibung, auch im Blick etwa auf den im Trailer eingeschalteten Sprecher-Kommentar „ auf der Suche nach einem globalen Körper, der nicht einer ist, sondern viele “ 40 . Die Affizierung der Teilnehmenden erfolgt primär über Fremdsteuerung durch Stimmen, aber wie erwähnt in mediatisierter Form des Youtube-Videos (die live nicht öffentlich gehört werden können). Im Unterschied dazu lässt sich nicht voraussagen, wodurch und wohin sich die Passant*innen mit ihrer Wahrnehmung von Puruckers Interventionsprojekt in dessen Pandemie-Version, bei der nur die Wandflächen realisiert werden konnten, leiten lassen. Hier entscheidet keine akustische Fremdsteuerung, sondern das Erleben plötz- 106 Katja Schneider lich anders „ gestimmter Räume “ führt Passant*innen zu Entscheidungen: ob sie gar nicht darauf eingehen, sich den Wandflächen entziehen, nur einen flüchtigen Blick werfen im Vorbeigehen oder ob sie stehenbleiben, ob sie sich angesprochen und verbunden fühlen mit den Motiven auf den Bildflächen. Ob sie in der geplanten Performance mitlaufen, sich einklinken, die Aktionen der Performer*innen teilen in den sich schnell manifestierenden und wieder auflösenden Momenten. In Puruckers trajectory - pictures of the fleeting world wird die Berufung auf ‚ Flüchtigkeit/ Vergänglichkeit ‘ angewendet auf das Leben selbst und dessen Wahrnehmung, die unerfassbare Totalität mittels einzelner, wechselnder Bilder repräsentiert. Selbst in der Fragmentierung entfaltet die Affizierung im Transit Wirkungen im öffentlichen Raum, die unsere Beweglichkeit auf sanfte Art modifizieren. Lektionen wollen und sollen gelernt werden, erfordern also eine Erkenntnisleistung. Die achte Latoursche Lektion lautet „ Ein Territorium zu beschreiben - aber an Ort und Stelle “ 41 , die dreizehnte fordert „ Sich in alle Richtungen zerstreuen “ 42 , und hier nimmt Latour am Beispiel seiner Allegorie des Käfers Gregor Samsa aus Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung metaphorisch Bewegung und Tanz in Anspruch: Bewegungen seien neu zu erfinden, neu zu erlernen, „ nicht mehr ins Unendliche fortschreiten, sondern lernen, [ … ] zurückzuweichen, auszuscheren. Das ist eine andere Art, sich zu emanzipieren. “ 43 Die ähnliche Begriffsverwendung von ‚ Zerstreuen ‘ bei Latour und bei Ligna möchte ich hier nicht strapazieren, aber es scheint naheliegend zu konstatieren, dass sich die Projekte von Purucker und Ligna diesem Diskurs einschmiegen, indem sie Strategien anbieten, den „ an Ort und Stelle festgenagelten “ 44 in der (pandemiebedingten) Distanz, temporär und im Transit, Chancen eröffnen, physisch und mental in einer Weise zu reagieren, die emanzipierend wirkt - folgt man Latour: „ Wir müssen unsere Bewegungsfähigkeiten, ja unsere Wirkkräfte wiederfinden. [ … ] Im rhythmischen Kriechen meines Gregor liegt Schönheit, liegt Tanz. “ 45 Abbildungen Abb. 1: Anna Halprin, The Branch Dance, 1957, zit. in: Gabriele Wittmann, Ursula Schorn, Ronit Land, Anna Halprin. Tanzprozesser gestalten, München: K. Kieser 2013. Abb. 2: Micha Purucker trajectory - pictures of the fleeting world, 2020. © Volker Derlath. Abb. 3: LIGNA, Zerstreuung überall! Ein internationales Radioballett von LIGNA, 2020. Screenshot des Trailers, im Netz unter: https: / / www.youtube.com/ embed / U_w6Y5R_K-U Anmerkungen 1 Falk Schreiber, „ Ästhetik des Abstands. Kontaktvermeidungsimprovisation ist der prägende Trend - auch im Foyer “ , in: tanz. Zeitschrift für Ballett, Tanz und Performance. Jahrbuch 2020, S. 57 - 59, hier S. 57. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Raum wird hier im raumsoziologischen Sinn als relationaler Raum verstanden. 5 „ Körper spektralisieren sich in Vorstellungsbilder, Medienbilder, projizierte Stimm-Körper und anschauliche anwesende Körper, aufgezeichnete und physisch artikulierte Stimmen, in Licht und Schatten. Bewegung entsteht zwischen all diesen heterogenen Elementen als choreografierte Bewegung. Ein derart erweiterter Choreografiebegriff setzt verschiedene Elemente, Materialien, Körper zueinander in Beziehung. Choreografie ordnet sie an und ordnet ihren Bezug an, der je nach Interessenlage geschlossener 107 Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit oder offener gestaltet werden kann. “ Gerald Siegmund, Theater- und Tanzperformance zur Einführung, Hamburg 2020, S. 209. 6 Gretchen Schiller, Sarah Rubidge, „ Introduction “ , in: Dies. (Hg.), Choreographic Dwellings. Practising Place. Houndmills, Basingstoke/ New York, S. 1 - 10, hier S. 2 7 Ebd., „ Here the notion of kinaesthetic inhabitance and the role of the public as performative agents is central. Here constructed spaces become embodied places for the public. Here we slip outside of the traditional forms of choreographic practice. “ 8 Bruno Latour, Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown, Berlin 2022, S. 133 [kursiv im Original]. 9 Zur Definiton von „ somatisch “ : „ Somatic [ … ] refers to internal bodily reactions [ … ]. A somatic level of knowledge and reaction is deeply embedded in the body, it is frequently pre-reflective and pre-conscious, and makes itself known in a range of ways that are difficult to clarify in words [ … ]. “ Susan Kozel, „ Performing encryption “ in: Martina Leeker/ Imanuel Schipper/ Timon Beyes (Hg.), Performing the Digital. Performativity and Performance Studies in Digital Cultures, Bielefeld 2017, S. 116 - 134, hier S. 122, Fn. 10. 10 Latour, Wo bin ich? , S. 67 f. 11 Ebd., S. 65. 12 Die Tänzerin, Choreographin und eine der Protagonist*innen des Postmodern Dance Simone Forti über The Branch Dance, https: / / www.annahalprin.org/ performances [Zugriff am 15.08.2022]. 13 Gabriele Wittmann, „ Anna Halprin: Leben und Werk “ , in: Dies./ Ursula Schorn/ Ronit Land (Hg.): Anna Halprin. Tanz - Prozesse - Gestalten, München 2009, S. 15 - 47, hier S. 43. 14 Karen Barad, „ Posthumanist Performativity: Towards an Understanding of How Matter Comes to Matter “ , in: Signs. Journal of Women in Culture and Society, 28/ 3 (2003), https: / / www.jstor.org/ stable/ 10.086/ 345321 [Zugriff am 05.12 2022], S. 801 - 831, hier S. 817. 15 Ebd. S. 818. 16 Ebd. S. 817. 17 Vgl. Latour, Wo bin ich? , S. 113. 18 Ebd. S. 114. Latour erwähnt in diesem Zusammenhang das Theater: „ Es spielt übrigens keine Rolle, ob man ihm [dem Betrachter; K. S.] ein Meisterwerk vor Augen führt, den Entwurf einer Industrieanlage, einen Schlachtplan, eine Luftaufnahme, eine Theaterszene oder die Karte eines Gebiets, das ein Fürst sich unterwerfen möchte. “ , S. 116. 19 Carsten Ruhl, „ Zur gesellschaftlichen Lage der Architektur “ , in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 17/ 2, 2020, S. 25 - 42, hier S. 25. 20 Peter Stachel, „ Das Meer der Zeichen - Zur Lesbarkeit urbaner Räume als kollektive Gedächtnis-Texte “ , in: Zeitschrift für Semiotik, 36/ 1 - 2 (2016), S. 13 - 34. 21 Ich verwende hier den Begriff „ Transitraum “ funktional im Hinblick auf das zügige Passieren eines Raums und gehe nicht weiter auf die Begriffsprägung durch v. a. Marc Augé als „ Nicht-Orte “ (Marc Augé, Nicht- Orte, München 2011) ein, auch wenn dessen Attribuierung solcher Räume mit Regelhaftigkeit und Zweckhaftigkeit hier weiterführend wäre und gerade im Hinblick auf die Raumwahrnehmung während der Covid-19- Pandemie eine intensive Re-Lektüre lohnen würde: „ [ … ] der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit. “ Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 121. 22 George Robertson, „ Die Lettristische Internationale “ , in: Wolfgang Dressen (Hg.), Nilpferd des höllischen Urwalds - Spuren in eine unbekannte Stadt - Situationisten, Gruppe SPUR, Kommune I. Ein Ausstellungsgeflecht des Werkbund-Archivs Berlin zwischen Kreuzberg und Scheunenviertel, November 1991, Giessen 1991, S. 67 - 69, hier S. 67 f. 23 Hilke Berger, „‚ Und jetzt bitte alle: Intervention ‘ . Über die Kunst der Partizipation zwischen Instrumentalisierung und Aktivierung “ , in: Günter Jeschonnek (Hg.), Darstellende Künste im öffentlichen Raum. Transformationen von Unorten und ästhetische Interventionen, Ein Projekt vom Bundesver- 108 Katja Schneider band Theater im Öffentlichen Raum und Fonds Darstellende Künste, Berlin 2017, S. 376 - 382, hier: S. 382. 24 LIGNA, an alle! : Radio, Theater, Stadt. Mit einem Vorw. von Patrick Primavesi und einem Bildessay von Arthur Zalewski, hg. Anne König und Paul Feigelfeld in Zusammenarbeit mit LIGNA, Leipzig 2010, S. 135. 25 Ebd. 26 Vgl. etwa die Performance-Videos A Needle Woman (1999 - 2001) der südkoreanischen Künstlerin Kim Sooja. Zur Ausstellung im MoMA PS1: https: / / www.moma.org/ calendar/ exhibitions/ 4732; [Zugriff am 17.09.2022], sowie die prominente Aktion des „ Standing Man “ Erdem Günduz 2013 auf dem Taksim- Platz in Istanbul. Vgl. dazu Katja Schneider, „ Wie stehen? Ein Vorschlag zur Kombination von Tanz- und Bewegungsanalyse mit Kontextualisierungs- und Referenzialisierungsstrategien “ , in: Christopher Balme/ Berenika Szymanski-Düll (Hg.), Methoden der Theaterwissenschaft, Tübingen 2020, S. 199 - 220. 27 Fultons Arbeit war zu sehen in der Ausstellung der Schirn Kunsthalle Frankfurt und ist abgebildet im Katalog Walk! , hg. Matthias Ulrich und Fiona Hesse mit Marie Oucherif, Wien 2022, S. 89 - Abbildungen der Arbeit finden sich auch im Netz, z. B. https: / / www.artsy.net/ artwork/ hamish-fulton-thequietest-day-3-april-2020 [Zugriff am 17.09. 2022]. 28 Elisabeth Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a. M. 1977, S. 31. Vgl. auch Hermann Schmitz/ Matthias Bauer/ Institut für immersive Medien (ifim) der Fachhochschule Kiel (Hg.), Atmosphären: Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung (Jahrbuch immersiver Medien 2013), Marburg 2013. 29 http: / / www.micha-purucker.de/ files/ index_s ubmenuL.php? seite=4&folge=33 [Zugriff: 15.09.2022]. 30 Latour, Wo bin ich? , S. 120. 31 Ebd. 32 David Sim, „ Die Soft City in harten Zeiten. Wie sich der öffentliche Raum in Dänemark bewährt hat “ , in: Doris Kleilein/ Friederike Meyer (Hg.), Die Stadt nach Corona, Berlin 2021, S. 112 - 125, hier S. 113. 33 Das Kollektiv besteht aus den drei Künstlern Ole Frahm, Michael Hueners und Torsten Michaelsen. 34 Vgl. die Website von Ligna, https: / / www.lig na.org/ 2020/ 08/ zerstreuung-ueberall-ein-int ernationales-radioballett/ [Zugriff am 18.07. 2022]: „ Das Radioballett Zerstreuung überall! reagiert auf die internationale Pandemie des Covid-19-Virus: Die geschlossenen Grenzen und die Unmöglichkeit zu reisen führen zu einer Abwesenheit von choreographischen Positionen und Stimmen. In Zeiten der Abschottungspolitik und der Rückbesinnung auf das Nationale stellt das Stück eine neue Verbundenheit über Ländergrenzen und Kontinente hinweg her: ein Vorschlag für eine andere Art des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Sorge umeinander. “ 35 Alejandro Ahmed (Brasilien), Bebe Miller (USA), Bhenji Ra (Australien), Edna Jaime (Mosambik), Eisa Jocson (Phillippinen), Geumhyung Jeong (Südkorea), Mamela Nyamza (Südafrika), Maryam Bagheri Nesami & Mitra Ziaee Kia (Iran), Melati Suryodarmo (Indonesien), Nir Shauloff and Dana Yahalomi/ Public Movement (Israel), Raquel Meseguer (Großbritannien), Yuya Tsukahara + contact Gonzo (Japan), https: / / www.ligna. org/ 2020/ 08/ zerstreuung-ueberall-ein-intern ationales-radioballett/ [Zugriff am 18.07. 2022]. 36 Im Trailer „ Zerstreuung überall! / Dissemination everywhere “ , 1: 36 bis 1: 42, im Netz unter: https: / / www.youtube.com/ embed/ U_ w6Y5R_K-U [Zugriff am 17.09.2022]. 37 https: / / www.youtube.com/ embed/ Fb5zJglE07c [Zugriff am 18.07.2022]. 38 https: / / www.youtube.com/ embed/ U_w6Y5R _K-U [Zugriff am 18.07.2022]. 39 Ligna bezeichnet in der Beschreibung ihres Projekts die Tanzenden als teilnehmendes Publikum, https: / / www.ligna.org/ 2020/ 08/ zerstreuung-ueberall-ein-internationalesradioballett/ #more-2658 [Zugriff am 18.07.2022]. 40 https: / / www.youtube.com/ embed/ U_w6Y5R _K-U [Zugriff am 18.07.2022], 00: 44 - 00: 50. 41 Latour, Wo bin ich? , S. 97. 42 Ebd., S. 159. 109 Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit 43 Ebd., S. 161. 44 Ebd., S. 98. 45 Ebd., S. 161. 110 Katja Schneider Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung Johanna Zorn (München) Mit dem Begriff der Atmosphäre wird gemeinhin eine dyadische Wechselwirkung des Umgebenseins beschrieben, die durch Stimmung erzeugt wird. In dieser ökologischen Dimension widersetzt sich das ästhetische Konzept der Atmosphäre nicht nur seiner ontologischen Bestimmung, sondern steht paradigmatisch für ein egalitäres Denken in Relationen und Verstrickungen, wie es neumaterialistische und posthumanistische Ansätze entwerfen. Für das zeitgenössische Theater nun scheint eine Ästhetik des ‚ Attunements ‘ vor allem deshalb attraktiv zu sein, da sie intensives Erleben gegen ein klares Erkennen ausspielt. Ausgehend von P ı nar Karabuluts Inszenierung La Mer Sombre (Münchner Kammerspiele, 2022) entwickelt der Beitrag eine kritische Perspektive auf die inklusive Atmosphäre eines umfassenden Erfahrens, die die Theoriefigur des ‚ Entanglements ‘ in Ästhetik übersetzt. An SIGNAs Die Ruhe (Schauspielhaus Hamburg, 2021/ 22) invertiert das Versprechen auf ein vollständiges ästhetisches Eintauchen schließlich in eine regelrechte Pathologie der Atmosphäre, mit der die quasi-mystische Praxis des Einswerdens als exzessive Mimesis thematisch wird. Die theatrale Sphäre der Verschmelzung La Mer Sombre (Das dunkle Meer) lautet der Titel einer szenischen Collage aus Texten und Gedanken der bislang im internationalen Spektrum weitgehend schwach rezipierten, surrealistischen Künstlerin Claude Cahun, die am 30. September 2022 unter der Regie von P ı nar Karabulut ihre Premiere an den Münchner Kammerspielen feierte. Drei Texte der zur queer avant la lettre deklarierten Autorin und Fotografin, die ebenso um die Überschreitung von Geschlechtergrenzen wie um die kritische Bestandsaufnahme eines subjektivistischen Verortungsgebots in der Welt zirkulieren, werden darin zum titelgebenden ‚ dunklen Meer ‘ und damit zur mäandernden Bewegung im weiten Land der Seele zusammengebunden. Als pluraler Körper dreier Schauspieler*innen spricht ein genderfluides Ich, das sich der erkenntnistheoretischen Zentrierungsmacht durch ein assoziatives Spiel kontrastierender Multiperspektivität widersetzen möchte. „ Die Macht der Drei “ , so heißt es einmal vulgärphilosophisch in der Inszenierung, „ kann nicht entzweit werden. “ Entsprechend trotzt ein vielgliedriges tentakuläres Denken und Agieren, wie es Donna Haraway in den posthumanistischen Diskurs eingebracht hat, der identitären Konzentration. 1 Die in schrilles Pink getauchte, von kitschigen wie ostentativ nutzlosen Trashobjekten gesäumte Bühne, die eine vom Boden bis zum Hintergrund reichende einzige Spiegelungsfläche für die feucht-ölig glänzenden, futuristisch kostümierten Körper der Figuren bietet - alles hier schreit nach einer Atmosphäre der Vervielfältigung und Übergänglichkeit. Der titelgebende, kulturgeschichtlich wirkungsreiche Topos des Meeres übernimmt dabei offenkundig nicht nur die Rolle, die Kehrseite des narzisstischen ‚ Wasserspiegels ‘ als eine flüssige, ausufernde Grenzenlosigkeit, Unbestimmtheit und Dislokation im Zeichen einer Ich-Entgrenzung zu chiffrieren, sondern öff- Forum Modernes Theater, 34/ 1, 111 - 126. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0010 net durch das Attribut des Dunkels ebenso das Programm einer Tiefe, das mit der Inszenierung als Raum der Sprengung von Festlegungen und Standorten zugunsten eines entterritorialisierten, abgründigen Zwischen-Seins beschworen wird (Abb. 1). Abb. 1: Auf der Spiegelungsfläche bilden die drei Figuren in La Mer Sombre ein tentakuläres Gefüge Geht es nach dem Produktionsteam von La Mer Sombre, soll die Inszenierung ihr Publikum in erster Linie sinnlich einhüllen. Ein mystisch gefärbtes ‚ ozeanisches Gefühl ‘ 2 wird überdeutlich gegen die erkenntnistheoretische Logik der Grenze aufgerufen. Es arbeitet der Verschmelzung von Subjekt und Umwelt, nicht aber der diskursiven Erörterung dieses Verhältnisses zu. In diesem Sinn lässt die an der Inszenierung beteiligte Schauspielerin Gro Swantje Kohlhof in einem kurzen Trailer auf muenchen.tv keinen Zweifel daran, dass das Dunkel des Meeres und die damit programmatisch evozierte Trübung des Blicks virulente Konsequenzen für die ästhetische Erfahrung mit sich bringen ‚ soll ‘ . Der dezidierten Abkehr von einem dialogisch vermittelten Handlungsgeschehen zugunsten einer ‚ Umarmung ästhetischer Uneindeutigkeit ‘ , wie es darin sinngemäß heißt, gewinnt sie die Überzeugung ab, dass man den Abend schlicht „ einatmen “ 3 solle. Mit der Akzentuierung des Atmens als Moment der sinnlichen Hingabe an die Umgebung wird die Wirkungsqualität des Abends expressis verbis an jenen virtuellen Übertragungsbereich übergeben, mit dem bereits Walter Benjamin der Aura im philosophischen und medientheoretischen Diskurs zu einiger Berühmtheit verhalf. An einer prägnanten Naturerfahrung schildert er bekanntlich, was Aura ihm bedeutete: Die Erscheinung einer einmaligen ‚ Nah-Ferne ‘ , die sich „ atmen “ 4 lässt. Diese Aura also kreiert eine spezifische Präsenz, die sie zugleich materiell unverfügbar hält. So ist „ die leere charakterlose Hülle [ihrer] Anwesenheit “ 5 nichts anderes als die Luft, die eine Situation umgibt. Das Haltlose dieser instantanen Erfahrung vermag diejenigen, die sich für die Umwelt öffnen, in eine so eindrückliche wie diffuse Stimmung zu versetzen. Der ästhetische Weltinnenraum der Atmosphäre La Mer Sombre bezieht ihre auratische Qualität ebenso aus einer Naturkraft, nur ist es hier anstelle der Luft das Meer, das symbolisch die Verbindung mit der Umgebung, die Hingabe an den Raum stiftet. Tief unten nun in der unermesslichen Dunkelheit, so verheißt es die titelgebende Metaphorik des dunklen Meeres, versagt die Klarheit des Blicks, jenes im Reich des Lichten verorteten sinnlichen wie sinnhaften Instruments, dessen epistemologische Verwerfung metonymisch und emblematisch mit derjenigen der cartesianischen Selbstbefestigung des erkennenden Subjekts zusammenfällt. In der Tat kratzt das Stück La Mer Sombre einmal mehr an längst überworfenen cartesischen Prämissen zum Verhältnis zwischen Subjekt und Umwelt und regt zum Nachdenken an: Der erkennende Mensch war schwerlich jemals jene autonome Instanz, die sich selbst genügt, das „ fundamentum inconcussum “ 6 , das sogar Umwelt als Objekt unterwirft. Eingebunden sind wir schließlich in eine Umgebung, der 112 Johanna Zorn wir ebenso angehören wie wir Beobachtende von ihr, Denkende über sie und Handelnde in und mit ihr sind. Wir sind in ihr und trennen uns zugleich von ihr. Diese Operation der Trennung zwischen Subjekt und Umwelt erfüllt dabei vor allem eine epistemische Funktion: Sie macht den heuristischen Befund einer komplementären Verschränkung von Subjekten, Organismen und Dingen in der Welt mit der Welt erst möglich. Von der Antike über die scholastische Tradition bis in die neuzeitliche Philosophie hinein und weit darüber hinaus scheinen erkenntnistheoretische Vereinnahmungen des im Bereich der Okularität verankerten Wahrheitskriteriums der Klarheit die passende Zauberformel gegen eine aus Unschärfe resultierende Fuzzy Logic, gegen die Unbestimmtheit ( ‚ obscuritas ‘ ) von Vieldeutigem und Vagem geliefert zu haben. Die Vorschrift zum klaren und deutlichen Erkennen ( ‚ clare et distincte ‘ ), die denkende Wesen auf die distinkte Verortung von Gegenständen der Anschauung verpflichtet, hat bis heute nicht nur die Konvergenz von Sehen und Erkennen erstaunlich stabil gehalten, sondern auch Subjekt und Objekt schroff voneinander getrennt. Kritische Sensibilität für diese philosophiegeschichtlich wirksame, brisante Teilungsgewalt zwischen Innen (Ich) und Außen (Welt) knüpfen neumaterialistische Ansätze demgegenüber an ein relationales Denken, das die ökologischen Dimensionen eines multipel verflochtenen Seins in und mit der Umwelt in den Graubereichen und Übergängen, im Diffusen und Vagen von sich wandelnden, wellenförmigen Gefügen zwischen Humanen und Nicht-Humanen aufsuchen soll. Entsprechend entschieden begegnet die Denkfigur des Entanglements dem erkenntniskritischen Korrelationismus Kants, der in der Formierung des Objekts als Gegenstand „ nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens “ 7 nicht nur die Grenze zwischen Subjekt und Objekt zementiert, sondern sie nachhaltig als subjektive Operation der Unterwerfung von Außenwelten konsolidiert hat. Bewusstsein dafür, dass wohl immer schon alles, „ was fanatisches Anschaun/ nicht durchdrang, [ … ] als Wall um uns “ 8 stand, das sehenden und erkennenden Auges eben nicht aufzulösen ist, regt sich auf grundsätzliche Art und Weise in der verworrenen ästhetischen Erfahrung, d. h. in der leiblich-sinnlichen Affizierung durch Umwelt. Die französische Umschrift des psychologischen wie theologisch-mystischen ‚ nescio quid ‘ 9 in die Formel des ‚ je ne sais quoi ‘ , die seit Ende des 17. Jahrhunderts das begrifflose Geheimnis, die unverort- und dennoch spürbare ‚ Anwesenheit von etwas ‘ poetisch verschlüsselt, verleiht den unerklärbaren wie unergründlichen Überschüssen von Erfahrungen prägnanten Ausdruck im Unsagbaren. So heißt es in Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/ 96) über die Schauspielerin Melina, sie habe „ ein ich weiß nicht was in ihrem Wesen, das sie interessanter machte “ 10 . Lautréamont wiederum bietet in seinen Chants de Maldoror (1868) das Vorstellungsbild von dichtem Nebel und Rauch, der die Dinge umhüllt, gegen die strenge Mathematik auf: „ Il y avait du vague dans mon esprit, un je ne sais quoi épais comme de la fumée “ 11 - , das Vage steht offenkundig quer zur erkenntnismäßigen Fetischisierung des Entbergens, zur definitorischen Fixierung von Objekten, zum pornografischen Blick auf die ‚ nackte Wahrheit ‘ im Außen. Als sinnliches Gebot zum Gefühl strukturiert es schließlich sogar das kontradefinitorische Selbstverständnis romantischer Poetik. „ On sent le romantique, on ne le définit pas “ 12 , lautet die dazu passende Formulierung der Ansteckung von Louis-Sébastien Mercier. Auf die Erfahrung von Unbestimmtheiten, die zunächst einmal schlicht Wirkung entfalten, antwortet wiederum explizit die 113 Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung Geburtsstunde der philosophischen Ästhetik. Schließlich konzipiert Alexander Gottlieb Baumgarten mit seiner unteren Erkenntnislehre ( „ gnoseologia inferior “ 13 ) Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur eine Theorie der Ästhetik, sondern argumentiert mit ihr für ein graduelles Differenzdenken, das ausdrücklich auf den nebulosen Zwischenbereich des Sinnlichen angewiesen ist und sich der Entbergung von fundamentalen Gegensatzpaaren deshalb radikal verschließt. Die semantisch eng geknüpfte Textur von ästhetischer Verworrenheit und Entdeckung verdeutlicht er, wie auch Benjamin später die Aura, an einem Naturereignis. Er begreift diese sogar als regelrechte Mimesis an die Natur, die ebensowenig aus der Nacht in den Tag einen „ Sprung macht aus der Dunkelheit in die Klarheit des Denkens [natura non facit saltum] “ 14 . Als sinnliche, sensitive Erkenntnis ( „ cognitionis sensitivae “ 15 ), die nur Wahrnehmungsübergänge kennt, nicht aber zu distinkten Einteilungen fähig ist, beansprucht die ‚ cognitio clara et confusa ‘ ihren Platz neben der kategorialen ‚ cognitio distincta ‘ . Dabei hält Baumgarten bei aller ästhetischen Aufwertung des Undeutlichen und Verworrenen dennoch an einem Erkenntnis- und Wahrheitsbegriff fest, der auf Totalität abzielt, insofern er sogar das Diffuse integriert. Zugleich lässt er keinen Zweifel daran, dass sich die ästhetische Erkenntnisleistung dem Unhaltbaren und Fluiden, auf das sinnliche Wahrnehmung notwendigerweise trifft, anpassen muss, indem sie auf Verwandlung mit einem ‚ Denken der Verwandlung ‘ antwortet. Epistemische Leerstellen erhalten in der Ästhetik Baumgartens demnach ebenso eine Aufwertung wie die Überzeugung an Raum gewinnt, dass das Zusammenfließen, die untrennbare Verschmelzung ( ‚ confusa ‘ ) der Erscheinungen in die sinnliche Erkenntnistätigkeit einbezogen werden müsse. Baumgartens zentraler Idee allerdings, dass ästhetische Erfahrung erkenntnisfähig ist, da multisensorische Erlebnisse und körperliche Affizierungen ihre spezifische Qualität nicht nur im Empfinden der eigenen Anwesenheit im Hier und Jetzt haben, sondern auch Reflexionen anstoßen, können zahlreiche Akteur*innen im zeitgenössischen Theatergeschehen offensichtlich nur mehr wenig abgewinnen. Der historische Aufruf Alan Kaprows zur ‚ happenistischen ‘ Einlassung in künstlerisch gestaltete Umwelten, „ Go IN instead of LOOK AT “ 16 , fand bereits in Nicolas Bourriauds Manifest einer ‚ relationalen Ästhetik ‘ 17 sein triviales Echo, in der es nur mehr um die Konvergenz zwischen Menschen und Umgebungen geht. Im Zeichen einer umfassenden „ experience economy “ 18 verkaufen auch Theaterinstitutionen unter dem Schlagwort der ‚ Immersion ‘ seit geraumer Zeit das Versprechen auf ein hautnahes und intensives Erleben von Parallelwelten, denen nicht selten bewusstseinserweiterndes Potential zugeschrieben wird. Mit einer an Derivaten von einschlägigen Theoriesettings genährten Rhetorik wird in ästhetischen Bekenntnissen in auffallender Häufigkeit aber auch dann Erleben gegen Erkennen, Fühlen gegen Verstehen, Sein-mit gegen Sehen-von ausgespielt, wenn es weniger um ein partizipatives Eintauchen in durchgestaltete, installative Settings geht, sondern ein relativ klassisches Bühnendispositiv getrennter Orte des Darstellens und Rezipierens aufrechterhalten bleibt. Diese proklamierte Neigung künstlerischer Erfahrungswelten zum Gefühl ist Symptom einer soften Implementierung von aktuellen theoretischen Ansätzen einer epistemologischen Ökologie in theatrale Produktionsprozesse. Dabei zeigt sich, wie im Fall von La Mer Sombre, der Versuch einer Inversion von Theorie in ästhetische Anwendung, die weniger an einem Verhältnis kritischer und diskursiver Durchdringung interessiert zu sein scheint als vielmehr an einer künstlerischen Praxis der Korrelation, die Einverständnis zwi- 114 Johanna Zorn schen Theorie und Ästhetik produziert: Die emphatische Aussprache gilt dann paradoxerweise einem ästhetischen Sein im Moment, das sich selbst genügen und gerade nicht reflexiv eingeholt werden soll. Hinter solchem künstlerisch aufgefangenen, kulturwissenschaftlichen Interesse an der Frage, welche Gefühle, Emotionen und Affekte zwischen Körpern und Technologien operieren und welche Umwelten sich dadurch konfigurieren, das mit dem Affective Turn 19 einhergeht, steht letztlich der Begriff der Atmosphäre. In ästhetischen Diskursen bürgt er gemeinhin für eine Fokussierung auf die dyadische Wechselwirkung des Umgebenseins. Sein enges Verwandtschaftsverhältnis zu Konzepten der Aura, der Präsenz oder des ‚ je ne sais quoi ‘ zeigt sich daran, dass er keine Eigenschaften von Dingen benennt, sondern ‚ etwas ‘ , das sich im Zwischenraum medialer Kommunikation und Erfahrung als leiblich affektives Betroffensein, als sinnliche Erfahrung ‚ ereignet ‘ . Verben, die Atmosphäre signalisieren, sind deshalb weniger konstativ und systematisch, sondern dezidiert relational und projektiv. Ihre virtuellen Dimensionen entfalten sie im „ Versuch, die Weltspaltung zu überwinden “ 20 . Es sind sympathetische Zeitwörter wie ausstrahlen, heraustreten, steigern, ermöglichen, umgeben, zukommen, hineingeraten, beschwören, einfärben, die uns gewöhnlich anzeigen, dass wir von Atmosphären affiziert sind, uns in einer bestimmten Atmosphäre befinden, d. h. kein Sein von außen betrachten, sondern Ausdruck von etwas in einer spezifischen Umwelt unmittelbar spüren, dessen Teil wir bereits sind. Im Entwurf einer „ ökologischen Naturästhetik “ , die Gernot Böhme mit seinem Atmosphäre-Buch vorlegt, bezeichnet der Philosoph Atmosphären entsprechend als „ Sphären der Anwesenheit von etwas “ 21 , spezifischer als „ Räume, insofern sie durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d. h. durch deren Ekstasen ‚ tingiert ‘ sind. “ 22 Diese atmosphärische Einfärbung kann so subtil wie aufdringlich sein. In der Einsicht, dass Atmosphäre, in die ich hineingeraten kann, weil sie ausstrahlt und mich aus sich heraus umhüllt, ebenso wenig Ding ist wie das Gefühl, das in ihr resoniert, hat wiederum Hermann Schmitz „ Gefühle als Halbdinge “ 23 bezeichnet. Sie bilden offensichtlich ein spätes Echo auf das ‚ je ne sais quoi ‘ der affektiven Diffusion. In seiner esoterischen Dimension ist der Fluchtpunkt des Atmosphäre-Begriffs dabei durchaus problematisch, weil er insofern im Reich der Homologie gefangen bleibt, als dass sein Ansteckungspotential sich nur als wechselseitiges Verbindungsgeschehen einer Einstimmung ( ‚ attunement ‘ ) entfalten kann. Die unübersehbar affirmative Qualität von Atmosphäre geht von ihrer Tendenz aus, die verschiedenen Umwelten im Modus der Deckungsgleichheit zu einem einzigen Weltinnenraum der Stimmungen zusammenzuschließen, so wie Rilke das in seinem Gedicht „ Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen “ (1914) paradigmatisch formuliert hat: „ Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum “ 24 . In einen solchen Weltinnenraum, der seine eigene Grenzenlosigkeit als Gefüge von allem mit allem austrägt, soll, um wieder auf die ästhetische Selbstdeklaration von La Mer Sombre zurückzukommen, die Inszenierung ihr Publikum offenbar einbinden. An der Aussage der Schauspielerin Gro Swantje Kohlhof verwundert nicht nur die späte Einsicht in die Uneindeutigkeit künstlerischer Kommunikations- und Erfahrungsangebote, jener zentralen Denkfigur autonomieästhetischer Diskurse der Ambiguität im 20. Jahrhundert, die nunmehr als strategisches Argument ins Kleid avantgardistischer, relationaler Progressivität gehüllt wird. Verblüffender ist der Umstand, dass der Eingriff in den skizzierten Erkenntnis- 115 Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung diskurs der Klarheit und Sichtbarkeit zwar deklarativ erfolgt, indem ein freies multimodales Zusammenspiel von taktilen, olfaktorischen und gustatorischen sinnlichen Qualitäten die Subjekte unterhalb der Reflexionsschwelle ansprechen soll. Doch in eigentümlicher Gegenwendigkeit zur proklamierten Uneindeutigkeit der Atmosphäre von La Mer Sombre steht die unverhohlen eindeutige, autoritäre Vorschrift, wie der Abend angemessen zu erfahren sei: Da soll man glaub ich nicht drinsitzen und krampfhaft versuchen, was zu verstehen. Alles, was man versteht, ist schön. Alles, was man nicht versteht, ist ok. Man darf den [Abend] spüren, man darf den riechen, man darf den schmecken. Es interessiert mich nicht, was Leute danach verstanden haben, sondern was sie gefühlt haben. 25 Kohlhofs Reserve gegen eine prosaische Enthüllung von Wahrheit, deren selbstbewusster Akteur einst das souveräne Subjekt des Verstandes war, nobilitiert die „ Selbsttechnik “ 26 des Fühlens, die nicht vom Versuch des Verstehens unterbrochen - und man möchte hinzufügen, verfälscht werden soll - zur einzig passenden ästhetischen Einstellung. Die Argumentation gerät dadurch so paradox wie holistisch: Die markant aufgerufene Praktik der Subjektivierung sichert sich über den Imperativ zum unmittelbaren Gefühl, das jegliche Operation der kritischen Distanzierung abstreifen soll, gegen eine fragende, intellektualisierende Perspektive radikal ab. Jede, die sich von ihrem puren Affiziertsein forttreiben lässt und für Momente reflektierend in ihr Gefühl eingreift, hat demnach schlicht nicht ‚ verstanden ‘ , dass es nur um ’ s Fühlen geht. Dem traditionellen auf Verstandesleistung basierenden philosophischen Subjektdiskurs soll durch ein neues, nunmehr vollständig atmosphärisch in Umwelt eingebundenes Subjekt offenbar kurzerhand der Garaus gemacht werden. Dafür transgrediert der Begriff der Atmosphäre, jenes komplizierte Konzept des ‚ Und ‘ und ‚ Zwischen ‘ , mit Paul Roquet in ein neoliberales Ambiente des Selbst, das „ self-creation “ 27 als vollständige Absorption von Umwelt betreibt. Theater wird mit La Mer Sombre zum ästhetischen Medium einer „ ambient subjectivation “ 28 , die die „ key technique of contemporary self-care “ 29 als vollständige Einlassung zelebriert. Die fühlende Einpassung in die vorgegebene Stimmung soll wohl dafür sorgen, dass die ästhetische Erfahrung in ein quasimystisches Einssein mit der Umgebung umschlagen kann. Eine reflexive Distanzierung zur Atmosphäre, mit der sich das Subjekt heuristisch und erkennend von seiner Umwelt trennt, wird deshalb nicht toleriert. Vielmehr passt sich das Ambiente idealiter mir als Rezipientin an. Auf diese Weise gerät die immersive Erfahrungsmetapher des ‚ Meer-seins ‘ sogar zu einer Metonymie für ein pluralistisches, environmentales ‚ Mehrals-Subjekt-Sein ‘ . Relationale Tilgungen von Unterschieden Mit einer Intervention in die hegemoniale anthropozentrische, insbesondere androzentrische philosophische Teilung in erkennendes Subjekt und erkanntes Objekt forcieren relationale Epistemologien im interdisziplinären geistes-, kultur- und medienwissenschaftlichen Umfeld ein apriorisches dynamisches Beziehungsdenken. In Reaktion auf den erdgeschichtlichen Zustand des Anthropozäns vollziehen Theorieprogramme, die ein ökologisches Denken für sich beanspruchen, zugleich mit der Abkehr von humaner, subjektivistischer Zentralität eine konzeptuelle Nichtung der Polarität zwischen „ vibrant life (us, beings) “ und „ dull matter (it, things) “ 30 . Im Zentrum der posthumanistischen Kritik an der Zentralität des humanen Subjekts steht die 116 Johanna Zorn Überzeugung eines humanen Eingebundensein in nicht-humane Umwelten, eines dynamischen Teilhabens an unterschiedlichen materiellen Kulturen und Teilseins der Welt der Dinge, Cyborgs und Mikroorganismen. Nicht-humanes Leben und nicht-humane Apparate besitzen demnach selbst eine Form von Agency. Der Mensch ist aus dieser Perspektive nicht mehr Effekt von diskursiven Praxen, die auf sprachlichen (symbolischen) Operationen beruhen, wie es poststrukturalistische Denkimpulse vorgaben, sondern durch materielle Affektionen verflochten mit seinen Umwelten. Agency ist keine Eigenschaft, die bestehenden Materialitäten aus dem humanen Standpunkt heraus zugesprochen wird, sondern beschreibt ein konkretes Tun, eine performative Praxis, die aus der Konfrontation unterschiedlicher Handlungsträger*innen emergiert, wie es Bruno Latour mit seiner Akteur-Netzwerk-Theorie vorgezeichnet hat. 31 Da keine statischen Einheiten mit spezifischen Wesensmerkmalen existieren, signifiziert der fortwährende Prozess wechselseitiger Modulation durch affektive Verknüpfungen einen dynamischen, notwendig offenen Modus des Werdens, dem Virtualität (lat. ‚ virtus ‘ , Wirkkraft) zukommt. Intramaterielles Werden wiederum realisiert sich nicht als distinktes Etwas - wird niemals abgeschlossen sein - , sondern knüpft in seiner virtuellen Dimension Gefüge, die nicht mehr in Ebenen aufteilbar und hierarchisch rubrizierbar sind (etwa vom Menschen nach unten bis zur Mikrobe), sondern im Gefolge Deleuzes und Guattaris als dislozierende Bewegungsmodalitäten wirken, die unterdessen „ das Denken selbst nomadisch “ 32 werden lassen. Entsprechend viel Sympathie entwickeln theoretische Ansätze eines relationalen, gestaltlosen Werdens für amorphe Lebewesen, Amöben, Pilze oder Korallen, für vielgliedrige Tiere wie Spinnen und Quallen. In der Radikalisierung von Bruno Latours zentralem Interaktionsbegriff hin zum Konzept einer fundamentalen Verschränkung qua „ intra-action “ , die Karen Barad als „ mutual constitution of entangled agencies “ 33 beschreibt, ist zugleich mit der Erosion von vorgängigen Entitäten, die miteinander in Beziehung treten könnten, die relationale Ausweitung vitaler Qualitäten verbunden, deren jeweilige ‚ Ichs ‘ sich gegenseitig durchdringen, nicht mehr jedoch von einer außenstehenden humanen Subjektivität distinkt ermittelt werden können. Die dahinter liegende Idee einer ‚ Flat Ontology ‘ - ein Begriff, den Roy Bhaskar im Programm seines kritischen Realismus zuerst als pejorative Bezeichnung eingebracht hat 34 - wendet die „ undifferentiated experience “ 35 nun zum positiven Kriterium einer environmentalen Verwobenheit sämtlicher Materialitäten. Diese Verwobenheit artikuliert eine antisubjektive, nichthumane, vordiskursive und vor allem gegensatzlose Hyperontologie, die perspektivisch selbst das hierarchische Prinzip der ‚ Verantwortungfür ‘ in ein inklusives Miteinander transzendiert. Die Denkfiguren der Situiertheit und des Sich-verwandt-machens 36 , der Intra-Aktionen 37 , der dynamisch lebendigen Materie 38 , aber auch des superontologischen Ansatzes von Hyperobjekten 39 bürgen für die Transversalität neumaterialistischen Denkens, die zugleich zum methodischen Problem wird: Um zum normativen Appell zu gelangen, dass wir als humane Wesen nicht mehr ‚ von außen erkennen ‘ sollen, ist schließlich eine ganze Menge an distinkter Erkenntnisleistung nötig. Die Pathologie der Atmosphäre in SIGNAs Die Ruhe Die kapitalistische Dimension von ökologischer „ self-mediation “ 40 koppelt den Kontakt mit dem eigenen Selbst an die Suche nach dem Einssein mit der Umwelt. Diese 117 Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung Selbstmediation ist durch Apparaturen oder Trainings käuflich zu erwerben und zeigt ihre Überreizung in jüngerer Zeit durch betont flache Wellnesstrends wie der Technik des ‚ Bäume Umarmens ‘ oder ‚ Waldbadens ‘ . Aus der warenförmigen Zurichtung von intensivem Naturerleben ergeht nicht nur das Versprechen, das Stresshormon Cortisol zu senken oder ganzheitliche Gesundheitsvorsorge durch Harmonisierung mit der Umwelt zu betreiben. Deutlich wird vor allem, dass eine zeitgenössisch achtsame Selbstsorge ( ‚ epimeleia heautou ‘ ) 41 die Begegnung mit der Natur idealiter als fühlende Selbstbefestigung im berühmten Einklang mit ihr zu praktizieren hat. Das dänisch-österreichische Theater- Kollektiv SIGNA, das Besucher*innen und Darsteller*innen ihrer akribisch durchgestalteten Performance-Installationen in obskure, mysteriöse Parallelwelten ein- und zu temporären Gesellschaften zusammenschließt, hat dieses Wellnessprogramm jüngst ins Groteske überspitzt und das zentrale Verkaufsargument einer ‚ Selbstbegegnung-als-Naturbegegnung ‘ zum intrikaten Spiel um Loslösung und Annäherung umgeformt: ‚ Wald werden ‘ sollten all diejenigen, die sich ab November 2021 über einen Zeitraum von fünfeinhalb Stunden in das vom Ensemble bewohnte, ansonsten leerstehende ehemalige Paketpostamt Hamburg Altona begaben, um die vom Schauspielhaus Hamburg produzierte Produktion Die Ruhe zu erleben. Die „ flight from nature “ 42 , die die römische Theaterarchitektur mit ihrem Einschluss in den gebauten Raum für die Geschichte des europäischen Theaters über Jahrhunderte hinweg besiegelte, weicht hier einem symbolisch ostentativen Einbruch der Natur, den zeitgenössische Theaterästhetiken insgesamt auffallend häufig zelebrieren, indem sie Ortsspezifik über den urbanen Raum hinaus vermehrt auch an Gärten, Parks und Wäldern binden. Die thematische Projektion intensiven und inklusiven Naturerfahrens in die performative Installation gerät dabei zur Überaffirmation eines In-Seins, die die Aussicht auf eine Praxis des Sich-verwandt-machens als pseudoreligiöse und psychotische Pathologie der Atmosphäre, als vollständiges ‚ Einswerden ‘ ausstellt. In einer Zeit, in der das Interaktions- und Einlassungsgebot im immersiven Setting durch die pandemischen Distanzierungspraktiken seltsam aus der Zeit gefallen ist, mache ich mich mit 29 weiteren Besucher*innen, denen etwa ebenso viele Performer*innen gegenüberstehen, auf den Weg in das ‚ Erholungsinstitut Hamburg ‘ , wie es das zugrunde liegende Narrativ verheißt. Beim Einlass, wo ich auf Menschen in grauen Jogginganzügen treffe, die mit Ästen in der Hand durch die spärlich ausgeleuchteten Flure streifen, muss ich angeben, ob ich Raucherin oder Nichtraucherin bin. Ich komme in einen Raum, in dem ich gemeinsam mit allen anderen Besucher*innen meine Verwandlung zur Patientin durchmachen soll. Zu diesem Zweck liegen wir zugedeckt und mit geschlossenen Augen auf Matratzen am Boden, während eine körperlose Stimme uns zur Therapie einlädt. Uns wird die Rolle von erholungsbedürftigen Präparand*innen nahegelegt, die in diesem Regenerationszentrum nunmehr darauf vorbereitet werden, loszulassen und Ruhe zu finden: Ich befinde mich also in einem Kuraufenthalt, der mich das ‚ Wald werden ‘ lehrt. Mit dem Sehnsuchtsort Natur, dem hochgradig symbolisch und mythisch aufgeladenen Wald als miniaturhaftem Spiegel des zyklischen Organismus und Elixier des Lebens, dessen Zerstörung keineswegs nur symbolisch für die drohende Klimakatastrophe steht, wird das fundamentale Verwandlungsgeschehen zunächst als Heilsversprechen ausgegeben. Zu Beginn erfahren wir, dass es tatsächlich eine rätselhafte Störung des ökologischen Gleichgewichts war, die die Verantwortlichen dereinst dazu veranlasste, die 118 Johanna Zorn Behandlungsmethoden des Instituts zu ändern. Insassen und Therapeut*innen folgten nämlich vor einiger Zeit dem Ruf der Aale in die Natur, als diese eines Tages aus dem Teich des Institutsgeländes davon schwammen. Die Unruhe der Tiere, die von der syrischen Baruch-Apokalypse, wo „ die wilden Tiere [ … ] aus dem Walde kommen “ (syr Bar 73.6), bis hin zu Lars von Triers Melancholia (2011) zum festen topologischen Bestand drohender apokalyptischer Szenarien gehört, fungiert als Mythos für den erforderlichen Einstellungswechsel. Seitdem, so besagt es das Narrativ der sensiblen Umweltverbundenheit in Die Ruhe weiter, lebt das Klinikpersonal gemeinsam mit Tieren im Fasanenwald in der Waldzweisamkeit, die die letzte Lebensphase vor dem entscheidenden Schritt in die Waldeinsamkeit markiert. Vom Trauma der Dislozierung scheinen unterdessen alle Anwesenden nach wie vor gezeichnet zu sein. Die Insassen des Sanatoriums, Therapeut*innen wie Patient*innen, strahlen paradoxerweise alles andere als Ruhe und Enthobenheit aus, sondern sind verstrickt in das schmerzhafte Verwandlungsgeschehen, scheinen selbst nicht zum letzten Schritt in die Ruhe bereit zu sein. Die Selbstauskunft, ob man rauche oder nicht, erfüllt die gleichermaßen pragmatische wie machtvolle Funktion einer Aufteilung in Gruppen. Im grauen Jogginganzug folge ich mit weiteren vier Personen unserem Bezugswanderer, Kaspar, der, wie alle anderen Bezugswanderer auch, ehemaliger Patient einer psychiatrischen Heilanstalt ist. Er trägt uns auf, Fürsorge für ihn zu übernehmen, schwört uns auf den unbedingten Zusammenhalt der Gruppe ein, deren Gleichgewicht nur allzu leicht gestört werden könne. Auf der Reise in den Wald spielen sich dann tatsächlich kleinere und größere Dramen ab, die das Selbstverständnis der Gruppe Prüfungen unterziehen und zugleich die gegenseitige Obhut als Gruppendynamik nach außen absichern. Im Verlauf dieses Zusammenseins gerate ich in unterschiedlichste Gefühlslagen. Ob der Einlassung meiner Gruppe empfinde ich über die Dauer der Aufführung vielfach Scham, aber ebenso Ver- und Bewunderung über die Bereitschaft zur Hingabe an diese Welt mit ihren Regeln. Ich spüre aggressiv gefärbte Stimmungen zwischen mir und manchen Performer*innen. Und ich ärgere mich manchmal leise, dass ich distanzierter bleibe, als es meine Mitstreiter*innen zu tun scheinen. Wir beginnen unseren Heilungsweg, der uns auf zwei Etagen durch unterschiedliche Stationen zur Waldwerdung führen soll. Durch die heruntergekommenen Gänge, die wir passieren, wandern seltsame, mitunter furchteinflößende Gestalten. Wir begegnen immer wieder anderen Gruppen, deren Wege einer je eigenen Dramaturgie folgen. Überall sind Häufen von Erde aufgeschüttet. Es riecht modrig. Die erste Anwendung, die wir zur Vorbereitung unserer Ankunft bei uns selbst durchmachen, ist eine Gedenkarbeit an diejenigen, die uns bereits vorausgegangen sind. In einer Art Museum bewahren Glaskästen Erinnerungsstücke von zu Wald Gewordenen als Beglaubigungen ihres Eingegangenseins auf. Ein nächster Raum ist bevölkert von großen Puppen. Befragt auf meine größte Angst muss ich eine der Puppen auswählen, ihr, unter Anleitung eines Arztes, als meinem anderen Ich meine Gefühle offenbaren, um mich mir selbst zu widmen. Peinlich daran ist weniger die Entblößung als vielmehr das stereotype Reenactment einer psychotherapeutischen Situation. Es folgen Stationen, in denen ich gemeinsam mit meiner Gruppe Gummiaale gegen eine Wand werfe, dabei ‚ Verwandlung! ‘ rufe und, wie noch einige Male mehr am Abend, billigen Schnaps trinke; so auch im Speisesaal, in dem ich die dazu servierte Suppe ablehne, um mich dem aufdringlichen Gespräch mit einer der 119 Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung Sängerinnen, die zuvor aufgetreten ist, konzentrierter stellen zu können. Ein anderes Mal befinde ich mich mitten in einem Kreis von Menschen. Ich soll mich seelisch fallen lassen. Eine Riesenschnecke lasse ich auch über meine Arme gleiten, sie soll beruhigende Wirkung haben. Der dunkle Wald, in den wir auf unserer Reise kommen, offenbart schließlich den Horror der fundamentalen Verwandlung: Da ist Ewald, der sich schon in die Waldeinsamkeit aufgemacht hat, um dort, zum kreatürlichen Wesen des Übergangs geraten, furchtbare Qualen auf seinem Weg zur Waldwerdung zu erleiden. Zurückgelassen aus der Waldzweisamkeit hat er Sandra, die mir und zwei anderen Präparand*innen ihren Schmerz des Verlustes zuvor eindringlich geschildert hat und dennoch an ihrem Weg festhält. Spätestens hier wird die paradoxe Programmatik, die Die Ruhe prägt, explizit spürbar: Das Waldwerden, das die Erlösung des übersättigten, depressiven Menschen verspricht, ist in Wahrheit die Kehrseite von relationalem, leiblich betroffenem, affektiv angesprochenem Sein-inder-Welt. Das als Waldwerden proklamierte Umweltwerden bedeutet nichts weniger als die Tilgung von Bindungen, d. h. von allen Verhältnismäßigkeiten, die ein Zwischen- Sein überhaupt erst konstituieren. Die letzte Verwandlung ist deshalb auch in diesem ironisch als Wellnessinstitut getarnten Horrorszenario nichts anderes als das Verlassen des humanen-nichthumanen Weltinnenraums: das Sterben. Die vorletzte Station des Abends, zu der sich alle Anwesenden, Performer*innen wie Besucher*innen, im Speisesaal versammeln, kommentiert diese Trennungsgewalt aus dem Geist der Einswerdung. In einem grausamen, nur schwer erträglichen, von Gesang grundierten, kollektivierenden Ritual, mit dem das Waldwerden abermals als Zielpunkt unsere Daseins beschworen wird, leistet Ewald Widerstand, löst sich aus der Gruppendynamik. Er allein weiß offensichtlich vom Grauen der Waldeinsamkeit, diesem letzten Zustand eines Lebens in Umgebung. Doch sein Schmerz findet in der gewaltförmigen Sekte, deren Teil ich auch ohne aktive Beteiligung nolens volens bin, keine Resonanz. Mein Begleitwanderer hält diesen Riss in der Gemeinschaft nicht aus. Wir folgen ihm ein letztes Mal in das Zimmer, in dem unsere Bekanntschaft begann. Er gräbt sich zur Beruhigung in die Erde ein, die dort aufgeschüttet ist und bittet uns, ihn niemals zu vergessen, vor allem aber, ihn zu besuchen, wenn er irgendwann einmal Wald geworden sein wird. Mit diesem pathetischen Aufruf, der mehr Menetekel als flehende Einforderung eines Andenkens unter Lebenden ist, werden wir schließlich in die Nacht entlassen. SIGNA arbeitet in Die Ruhe mit jenen bekannten Erfolgsstrategien, durch die das Kollektiv der deutschsprachigen Theaterlandschaft in den letzten Jahren zu einem regelrechten Immersions-Boom verhalf: Verknappung des Publikums, aus der die triumphierende Gewissheit hervorgeht, dass ich zu den wenigen gehöre, die dabei waren; Adressierung einer Fangemeinde, die den Einschluss in fiktive Welten aktiv sucht; peinlich genaue Durchgestaltung der performativ-installativen Settings; die unentrinnbare Aufforderung zur Teilnahme, aber auch das intrikate Spiel mit Einlassung und Distanzierung, mit Einschwörung und Antagonisierung, das aus an- und übergriffigen Akten entsteht; der ästhetische Code, der ein Sprechen über eine spezifische SIG- NA-Arbeit fast nur durch eine geteilte Erfahrung ermöglicht, zumindest nur schwer an jene zu vermitteln ist, die mit Performances des Kollektivs noch nie in Berührung gekommen sind. Das unzureichend affirmativ als immersives Theater bezeichnete und jüngst von Theresa Schütz als „ Theater der Vereinnahmung “ 43 differenzierte Programm einer aufdringlichen At- 120 Johanna Zorn mosphäre gerät hier allerdings vollends thematisch. Denn Die Ruhe reflektiert über die Aufforderung des Einswerdens nichts weniger als eine maßlose Mimesis, die sich selbst invertiert. Der Aufruf zum Waldwerden führt, wie der folgende Gedankengang zeigen soll, nicht nur die Pathologie der Atmosphäre vor Augen, sondern zugleich auch die Paradoxie einer jeglichen Homomorphie. Entlebendigendes Gleichsein Mit seinem 1935 erschienenen Aufsatz „ Mimese und legendäre Psychasthenie “ liefert der französische Philosoph Roger Caillois einen Beitrag zur Tier-Umwelt-Mimese, für die die französische Sprache, im Unterschied zur Tier-Tier-Mimesis der Mimikry, den Begriff des ‚ mimétisme ‘ bereithält. Während Mimikry eine „ Ästhetik der Verwandlung “ 44 benennt, ist die Mimese mit Peter Geble insofern eine „ Ästhetik der Verschwindens “ 45 , als dass ihr Zielpunkt in der Einpassung in die Umwelt liegt. Für diese maßlose, sich über ihre konstitutive Relationalität selbst hinaustreibende Mimesis im Tier-Umweltreich, die Caillois als „ Gleichheitsmimese “ 46 bezeichnet, nennt der Philosoph eine Vielzahl an Beispielen. Im Rückgriff auf biologische Einsichten und entgegen der gängigen Meinung, wonach diese organische „ Angleichung an die Umgebung “ 47 , die Tiere als Kieselsteine, Schleim oder Flechten erscheinen lässt, der Immunisierung gegenüber Feinden und einem Überleben dient, sieht Caillois einen Zwang am Werk. Für das Verständnis der ins Extrem der Defiguration übersteigerten zwanghaften Mimese entscheidend ist, dass in ihr Homomorphie, Kontaktmagie und Psychose (Caillois bezeichnet letztere als legendäre Psychasthenie 48 ) in eins fallen. Allen drei Phänomenen ist nämlich gemein, dass sie die Trennung von Organismus und Umgebung einreißen: die morphologische Mimese in der physiologischen Anpassung an den Raum, die Kontaktmagie durch die Übertragung vom Ding auf das Symbol, das gleichermaßen als Beschwörungsobjekt fungiert, und die Psychose durch eine geistige Dislokation, die Betroffene als Zerstreuung im Raum erfahren. Die Umgebung, so die bewusstseinstheoretische Konsequenz, verschlingt den Organismus regelrecht, setzt sich an seine Stelle: „ ist gleich “ 49 . In diesem Gleich-Sein zwischen Organismus und Umwelt verwandelt sich der Trieb zur Selbsterhaltung in den „ Trieb zur Selbstaufgabe “ 50 . Denn „ [d]as Leben weicht um eine Stufe zurück “ 51 , wenn die „ Herausforderung durch den Raum “ 52 zu dessen Besessenheit wird. Die dem Text vorangestellte Mahnung, dass das Spielen eines Gespenstes dazu führen könne, selbst ein Gespenst zu werden, verschlüsselt die zentrale These Caillois ’ , wonach man in der exzessiven Verbindung mit der Umgebung tatsächlich zu verschwinden droht. Den Umschlag von Ökologie in eine quasi-mystische Situation des Einsseins, die Caillois mit seiner Analyse des ‚ mimétisme ‘ andeutet, verhandelt Die Ruhe im Setting der performativen Installation. Die Ausfaserung in den Raum, das Verlangen, die Umgebung so weit zu durchdringen, dass man sich in sie hineingibt - ‚ zur Umwelt wird ‘ - , führt nicht nur das virtuelle philosophische Konzept des Werdens ad absurdum, sondern brächte zugleich den Tod. Die hier thematisierte Praxis des ‚ Kon-figurierens ‘ , d. h. das Gestaltwerden in und mit der Umwelt soll der intrikaten ökologischen Idee nach in radikale ‚ Defiguration ‘ münden. Während Gestaltwerden auf das Aufrechterhalten eines Zwischen, auf eine Figur der Differenz angewiesen ist, 53 weicht das Komponieren (lat. ‚ componere ‘ , zusammenstellen, erbauen) in der ästhetischen Funktionalisierung des Waldwerdens tatsächlich jenem differenzlosen Zustand des ‚ Zusam- 121 Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung mengestelltseins ‘ , den Donna Haraway in ihrer Ökologie zum sympoietischen Vorgang des Kompostierens verklärt. 54 Aus dieser Perspektive exerziert die Arbeit die Schattenseite einer Theatralisierung relationaler ökologischer Positionen durch. Die im Waldwerden proklamierte Tilgung des Gefühls, „ sich von seiner Umgebung abzuheben “ 55 , die sich in der Atmosphäre einer Flat Ontology zugunsten einer Intensität der Umgebung zeigt, wird zum schmerzlichen Prozess des Abschneidens von Ver-Bindung, des Verlusts von Interesse, von Vitalität. Da sich in SIGNAs Produktion der geforderte Zustand, Umwelt zu werden, selbstredend nicht einstellen, sondern nur in Aussicht gestellt werden kann, artikuliert die Arbeit einen Kommentar zu relationalen Epistemologien, der ambivalent bleibt: Die strategische Kalkulation mit einer intensiven Umgebung, die die teilnehmenden Publika vereinnahmt, generiert Einschluss in eine Welt, in der die Ichlosigkeit als fühlende Verbindung mit Umwelt nunmehr im Zeichen einer neuen ökologischen Selbstbefestigung steht. Komplizierte Verhältnisse In ihrer Affektökologie macht die Medienwissenschaftlerin Marie-Luise Angerer die Ichlosigkeit zur Voraussetzung für ein Erleben von intensiven Milieus als „ eines durch Selbstaffizierung emergierenden emotionalen Selbst “ 56 . Sie greift damit implizit auf das Bild der ‚ unio mystica ‘ zurück. Aus dem Bedürfnis, die erhabene Dimension der göttlichen Ubiquität in das Innere des glaubenden Menschen einzulagern, hat die mittelalterliche Mystik Praktiken des Versenkens in den Glauben definiert, die Gott als Zielpunkt der Hingabe vorsehen und die individuelle Selbstaufhebung zur Voraussetzung einer geistigen Vereinigung deklarieren. So ruft der Prediger Johannes Tauler die Gläubigen dazu auf, ‚ Christus in ihren Herzen wohnen zu lassen ‘ ( „ Und gebe uch Christum ze wonende in úwerm herzen “ 57 ). Das mystische Ideal der Immersion, des Eintauchens in die göttliche Grenzenlosigkeit, das er darin zum Ausdruck bringt, soll idealiter einen Prozess der Enträumlichung und -zeitlichung auslösen. Die forcierte Ichlosigkeit tilgt in letzter Konsequenz die distinkten Pole von Ich und Gott und löst stattdessen einen wechselseitigen Prozess aus, der die Positionen desjenigen, der eintaucht und den- oder dasjenige, in das eingetaucht wird, ununterscheidbar werden lässt. Derart reziprok ergießen sich Ich und Gott ebenso in der Arie „ Ich will dir mein Herze schenken “ aus Bachs Matthäuspassion (BWV 244), in der es heißt: „ Senke dich, mein Heil, hinein! / Ich will mich in dir versenken “ . Entgegen der Anschmiegsamkeit environmentaler Theoriesettings an die virulenten ökologischen Herausforderungen der Gegenwart im Umfeld des New Materialism ereignet sich Kritik an der Zentralität des Humanen allerdings nicht durch eine Tilgung seiner Grenzmarkierung ‚ in der Welt ‘ . Das Denken jenseits des Menschlichen in einem atmosphärisch ergossenen Zwischen, in menschlich-nichtmenschlichen Netzwerkstrukturen oder apriorisch relationalen Hyperorganismen kann ohne die Benennung dieses Jenseits nicht konfiguriert werden. Wenn Hermann Broch etwa die Redefigur: „‚ Ich bin die Welt, weil sie in mich eingegangen ist ‘“ 58 der Position: „‚ Ich habe die Welt, weil sie mir unterjocht ist ‘“ 59 in seiner Massenwahntheorie (1948) als zwei verschiedene „ Bewußtwerdungsmöglichkeiten “ 60 menschlicher Individuen über die Einbindung in und die Gebundenheit an ihre Lebensumwelten diametral gegenüberstellt, pointiert er zu Recht die gewaltsame Dynamik der Einverleibung, die im Willen zur erkennenden Kontrolle über die Welt liegt. Der von der Umwelt sich bedroht fühlende 122 Johanna Zorn Mensch - so Brochs durchaus ökologisch anschlussfähiger analytischer Befund zum Ausbruch „ ekstatischen Massenwahnes “ 61 - wehrt nämlich „ die Angst vor der Außen- Unerforschlichkeit “ 62 , die in Wahrheit eine Projektion der Unergründlichkeit im Inneren ist, ab, indem er „ irgendeinen Gefahrenquell, dem er sich widersetzen kann, in der Fremdheitssphäre der Außenwelt lokalisier[t] “ 63 . Während sich im ersten Typus des in die Welt eingegangenen Ichs nun mit Broch das Individuum „ der Ur-Angst seiner Seele wahrhaft bewusst “ 64 wird, zeigt sich im zweiten, dem possessiven Weltaneignungstypus dessen Versuch, „ seine Angst von sich abzuschütteln und sie nach außen zu verlegen, um sie solcherart dort symbolisch in die Gewalt zu bekommen “ 65 . Es ist nicht schwer zu erkennen, welcher der beiden Positionen Broch den reflexiven Vorzug gibt. Allein, die Aussage, wonach die Welt in mich eingegangen ist, bleibt insofern eigentümlich unreflektiert, als dass dieses Eingehen schon von einem Riss zwischen mir und der Welt durchzogen sein muss. Der Ort, von dem aus ich bekennen kann, dass meine Angst mich leitet, geht aus der räumlichen Auflösung des Ich- Gefühls erst hervor. Eine Lösung der Angst bringt die Verlagerung nach außen selbstverständlich keine, vielmehr stiftet sie die Grundlage dessen, was ich als Angst benennen kann und steht in einem fortwährenden Austauschprozess mit dem Bewusstsein über Einschluss und Austritt. Die Trennung von Innen und Außen diskursiv werden zu lassen, um sich der Verbindung mit der Umwelt bewusst werden zu können, sie also reflexiv zu erleben, bedarf schlechthin der spekulativen Figur der gemeinsam geteilten Grenze. Dass die Zerrissenheit sowohl im Innen selbst als auch zwischen all den Dingen im Außen erst aus der Verbindung mit ihnen hervorgeht; dass die Diskrepanz zugleich aber die notwendige Grenze stiftet, die ich übertreten und auflösen möchte, vermittelt die österreichische Künstlerin Maria Lassnig mit ihren sogenannten ‚ Körperempfindungen ‘ . In Ihrem Selbstportrait Innerhalb + Außerhalb (1985), das wie jedes Selbstportrait immer auch Alloportrait ist, setzt sie die Ruptur bildlich in Szene. Sie malt sich innerhalb und außerhalb der Leinwand, teilt und verdoppelt sich in eine sehende und gesehene, darstellende und dargestellte Figur. Sie fügt der Leinwand, auf der sie als malendes Subjekt eine Aussage über ihr Verhältnis zur Welt tätigt, eine weitere Leinwand innerhalb des Bildes hinzu und vertieft durch diese weitere Ebene die komplizierte Konstellation von Innen und Außen. Die Schichtung, die eine Überschreitung der Sphären bildlich vorantreibt und sich an der Umkehrung von Innen und Außen versucht, verweist geradezu überdeutlich auf die Unmöglichkeit der Verschmelzung, sofern Verschmelzung bedeutet, keine Unterschiede mehr zu erfahren: eins zu werden. (Abb. 2). Abb. 2: Das Selbstporträt kombiniert unterschiedliche Perspektiven auf den gemalten Körper, der zugleich über den Bildraum hinausgeht. 123 Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung Problematisch an der ästhetischen Einpassung relationaler ökologischer Theorien, wie sie La Mer Sombre rhetorisch vollzieht und wie sie SIGNAs Die Ruhe ambivalent performativ zelebriert, ist also, um die Kritik zu verdeutlichen, keineswegs die gebotene Dezentrierung subjektiver Erhabenheit, die sich als objektive Instanz absolut setzt, jene Position also, die Donna Haraway pointiert als den „ Blick von Nirgendwo “ 66 bezeichnet hat. Paradox ist vielmehr die ästhetische Affirmation eines perspektivischen Verzichts auf Distanzierungsfähigkeit im Denken über die Welt, insofern diese Erkennenvon als hierarchische Operation durch Erleben-in, gar durch vollständiges Umschlossen-sein ersetzen wollte, um so an einer flachen Praxis der Vernetzung zu arbeiten, die unterschiedliche Ebenen nicht mehr zulässt. Würde ich die Erlebensstrukturen in meiner Umwelt, die mich auf der Gefühlsebene umfassend affizieren und mir sagen, dass ich immer in eine konkrete Situation eingebunden, mit ihr untrennbar verbunden bin, tatsächlich absolut setzen, bliebe mir jenseits meines In-seins nichts mehr, was ich betrachten, über das ich urteilen könnte. Um mein Unwohlsein in meiner Umgebung artikulieren zu können, muss ich aber aus ihr heraustreten. Denn die schmerzliche Erfahrung, dass meine Theoriebildung über die Welt immer damit einhergeht, dass ich sie mir vor-stelle, dass ich Umwelt für einen kurzen Moment in Welt auflöse, sie zu einem Ausschnitt verkürze, den ich in manchen Fällen sogar absolut setze und mich darüber spekulativ erhebe, kann ich schwerlich dadurch kompensieren, dass ich mich einig mit ihr ‚ fühle ‘ . Stattdessen eröffnet die Aufmerksamkeit und Sensibilität für die Ungeheuerlichkeit dieser situativen Verkürzung und Ausschnitthaftigkeit erst jenes endlose Spiel des Widerstreits, das unterschiedliche Perspektiven hervorbringt, die nicht ‚ ich allein ‘ in eine Totale überführen kann, die mir aber umgekehrt erst eine kritische Durchdringung meines Denkens qua Dialogizität mit Anderen ermöglicht. Es ist ein distribuiertes Spiel, das die Lust am Weiterdenken, an der Wiederaufnahme von Fallengelassenem und Nichtgedachtem vital hält, weil sie auf Leerstellen, Widersprüche und Verwerfungen stößt, statt sie im Alleingang zu tilgen - auch im ästhetischen Erleben von Atmosphäre. Abbildungen: Abb. 1: P ı nar Karabulut (R.), La Mer Sombre, Münchner Kammerspiele 2022, © Krafft Angerer/ Münchner Kammerspiele. Abb. 2: Maria Lassnig, Innerhalb + Außerhalb, 1985, Öl auf Leinwand, 125x100 cm, Wien, Maria Lassnig Sitftung, zit. in: Peter Assmann (et al.), Maria Lassnig. Die Zeichnung, Salzburg, Wien 2022, S. 103. Anmerkungen 1 Vgl. das entsprechende Kapitel in Donna J. Haraway, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham/ London 2016, S. 30 - 57. 2 Vgl. die entsprechende Formulierung Romain Rollands vom „ sentiment ‚ océanique ‘“ in seinem Brief an Sigmund Freud vom 5. Dezember 1927, in dem er die „ sensation religieuse “ als „ le fait simple et direct de la sensation de ‚ l'éternel ‘ (qui peut très bien n ’ être pas éternel, mais simplement sans bornes perceptibles, et comme océanique) “ beschreibt: Romain Rolland, Un beau visage à tous sens. Choix de lettres de Romain Rolland (1886 - 1944), Paris 1967, S. 264 - 266, hier S. 265. 3 Trailer, „‚ La mer sombre ‘ in den Münchner Kammerspielen “ , https: / / www.muenchen.tv/ mediathek/ video/ la-mer-sombre-in-den-mu enchner-kammerspielen/ [Zugriff am 06.10. 2022]. 124 Johanna Zorn 4 Walter Benjamin, „ Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Dritte Fassung, 1939] “ , in: Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. I. 2, Frankfurt a. M. 1991, S. 471 - 508, hier S. 479. 5 Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995, S. 26. 6 René Descartes, Meditationes de prima philosophia [1641], hg. C. Sigmund Barach, Wien 1866, S. 10 - 18 (II). 7 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [1781/ 1787], hg. Raymund Schmidt, Hamburg 1956, S. 20 [= „ Vorrede zur zweiten Ausgabe “ ]. 8 Marion Poschmann, „ Taxonomie “ , in: Dies., Geistersehen, Frankfurt a. M. 2021, S. 35. 9 Vgl. exemplarisch die häufige Verwendung der Formulierung, mit der Augustinus in seinen Confessiones um seinen Glauben ringt: Augustinus, Confessiones. Bekenntnisse, übers. von Wilhelm Thimme, Zürich 2004; zur Begriffsgeschichte vgl. grundlegend Erich Köhler, „ Je ne sais quoi “ , in: Joachim Ritter et al. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel 1976, Sp. 640 - 644. 10 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (= Nachdruck der „ Berliner Ausgabe “ , Bd. 10), München 1979, S. 356. 11 Lautréamont, Les Chants de Maldoror, in: Lautréamont, Germain Nouveau, Œ vres complètes, hg. Pierre-Olivier Walzer. Paris 1970, S. 41 - 252, hier S. 105. 12 Louis-Sébastien Mercier, Néologie, ou Vocabulaire de Mots Nouveaux, Bd. 2, Paris 1801, S. 230. 13 Alexander Gottlieb Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „ Aesthetica “ (1750/ 58), Lateinisch/ Deutsch, hg. und übers. von Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1988, S. 2 (§ 1). 14 Ebd., S. 4 (§ 7). 15 Ebd., S. 2 (§ 1). 16 Allan Kaprow, „ Minutes of meeting with Allan Kaprow, 2 November, 1959 “ , Judson Memorial Church Archive, New York. Zit. in: Julie H. Reiss, From Margin to Center. The Spaces of Installation Art, Cambridge, Massachusetts/ London 1999, S. 24. 17 Vgl. Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, Dijon 2002. 18 Vgl. B. Joseph Pine II, James H. Gilmore, The Experience Economy, Boston 2011. 19 Vgl. grundlegend Patricia Ticineto Clough/ Jean Heally (Hg.), The Affective Turn. Theorizing the Social, Durham 2007; Sara Ahmed, „ Affective Economies, “ in: Social Text 22.2 (2004), S. 117 - 139. 20 Hermann Schmitz, Atmosphären, München 2016, S. 9. 21 Böhme, Atmosphäre, S. 33. 22 Ebd. 23 Schmitz, Atmosphären, S. 9. 24 Rainer Maria Rilke, „ Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen “ [1914], in: Ders., Die Gedichte. Frankfurt a. M. 2006, S. 618 - 619, hier S. 619. 25 Trailer, „‚ La mer sombre ‘ in den Münchner Kammerspielen “ . 26 Vgl. hierzu Foucaults grundlegende Darlegung von „ Selbsttechniken “ als „‚ Künste der Existenz ‘ [ … ], mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewissen Stilkriterien entspricht “ ; Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2 [1984], übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1986, S. 18. 27 Paul Roquet, Ambient Media. Japanese Atmosphere of Self, Minneapolis, London 2016, S. 5. 28 Ebd., S. 4. 29 Ebd., S. 5. 30 Jane Bennett, Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham/ London 2010, S. vii. 31 Vgl. grundlegend Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2007. 32 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus [1980], übers. von Gabriele Ricke und Ronald Vouillé, Berlin 1992, S. 40. 125 Meer sollst du sein, und Wald werden Über eine neue Ästhetik der Einswerdung 33 Karen Barad: ,Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham 2007, S. 34. 34 Vgl. Roy Bhaskar: A Realist Theory of Science [1975], London/ New York 2008; sowie die weiterführende Bezugnahme durch Ray Brassier, „ Deleveling: Against ‚ Flat Ontologies ‘“ , in: Channa van Dijk et al. (Hg.), Onder invloed - Wijsgerig festival Drift - 2014, Amsterdam 2015, S. 64 - 80. 35 Bhaskar, A Realist Theory, S. 57. 36 Vgl. Haraway, Staying with the Trouble. 37 Vgl. Karen Barad, „ Posthumanist Performativity: Toward an understanding of how matter comes into matter “ , in: Signs. Journal of Women in Culture and Society, 28/ 3 (2003), S. 802 - 831. 38 Vgl. Bennett, Vibrant Matter. 39 Vgl. Timothy Morton, Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World, Minneapolis/ London 2013. 40 Roquet, Ambient Media, S. 5. 41 Vgl. Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a. M. 2009, S. 16 - 19. 42 David Wiles, A Short History of Western Performance Space, Cambridge 2003, S. 40. 43 Vgl. Theresa Schütz, Theater der Vereinnahmung. Publikumsinvolvierung im immersiven Theater, Berlin 2022. 44 Peter Geble, „ Der Mimese-Komplex “ , in: ilinx, 2 (2011), S. 185 - 195, hier S. 188. 45 Ebd. 46 Roger Caillois, „ Mimese und legendäre Psychasthenie “ , in: Ders., Méduse & Cie, Berlin 2007, S. 25 - 43, hier S. 29. 47 Ebd., S. 35. 48 Vgl. ebd., S. 36. 49 Ebd., S. 37. 50 Ebd. S. 39 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Vgl. hierzu grundlegend Erich Auerbach, „ Figura “ [1938], in: Friedrich Balke/ Hanna Engelmaier (Hg.), Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des „ Figura “ -Aufsatzes von Erich Auerbach, Paderborn 2016, S. 121 - 188. 54 Vgl. Haraway, Staying with the Trouble, S. 32. 55 Ebd., S. 36. 56 Marie-Luise Angerer, Affektökologie: Intensive Milieus und zufällige Begegnungen, Lüneburg 2017, S. 45. 57 Johannes Tauler, „ Predigt 67 “ , in: Die Predigten Taulers. Aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. Ferdinand Vetter, Berlin 1910, Nachdruck Dublin/ Zürich 1968, S. 364 - 372, hier S. 366. 58 Hermann Broch, Massenwahntheorie. Beiträge zu einer Psychologie der Politik, in: Ders., Kommentierte Werkausgabe. Bd. 12, hg. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1979, S. 25. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 24. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 25. 65 Ebd. 66 Donna Haraway, „ Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive “ , in: Dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten Cyborgs und Frauen, hg. Carmen Hammer und Immanuel Stie, Frankfurt a. M./ New York 1995, S. 73 - 97, hier S. 80. 126 Johanna Zorn Agora abbauen. Theater als metökische Konstellation Julia Stenzel (Mainz) Der Beitrag unternimmt eine dekonstruktive Lektüre von ‚ Agora ‘ als eines Grundbegriffs politischer Theorie und politischen Theaters. Statt als exklusiver Raum politischer Repräsentation wird ‚ Agora ‘ so als Sammelplatz beschreibbar, an dem Weisen und Akteur*innen des Zusammenlebens immer wieder neu in Frage stehen. In der Relektüre von ‚ Agora ‘ wird ausgehend von einer ‚ environmental performance ‘ der iranischen Theatermacherin Azadeh Ganjeh, Unpermitted Whispers, ein Konzept der metökischen Konstellation als einer theatralen Strategie zur Pluralisierung der Agora entwickelt. Es folgt eine Untersuchung des in Essen- Stoppenberg situierten Solorollenspiels Achtmal Blinzeln (Anna Kpok), die die Räume des Spiels mit einem Modell von Agora als Ort des Handels, des Handelns und des Aushandelns von Szenologien des Erscheinens, des Sprechens und der Repräsentation konfrontiert. Der Ansatz tritt entsprechend in Dialog mit Theater und Performance, die über Erscheinungsräume nachdenken; über deren Diskursethiken, institutionelle Ästhetiken und ihre materialen Verortungen in der Stadt; mithin auch über (Un)Möglichkeiten von Demokratie. I. Begegnungskanten Agora abbauen: Dieses Vorhaben kann irritieren. Abbauen kann man Kohle, Erz und Sand; Agora ist keine Substanz und sie ist nicht unzählbar, das Wort, auch das griechische, verlangt nach einem Artikel, um genau zu sein: einem bestimmten Artikel. Die Agora, das ist der politische Erscheinungsraum der Polis Athen, 1 der zugleich für eine Urszene von politischer Öffentlichkeit steht: für eine Theatrokratie, die sich vom dystopischen Verständnis Platons absetzt, 2 in der vielmehr das öffentliche Auf- und Hervortreten Einzelner in der versammelten Menge, ihr Sprechen als Bürger vor Bürgern und für Bürger die Stadt als sozialen Raum konstituiert und am Laufen hält. Damit ist die Agora zugleich der Ort für Repräsentation; für Vorstellung und Darstellung, Stellvertretung und Fürsprache; der Raum der Volksversammlung, des Gottesdienstes und auch des Theaters. 3 Diesseits dieser monolithischen Attischen Urszene ist die Agora zunächst eines: Der zentrale Sammelplatz und der Markt des antiken Athen. Dennoch verbindet sich mit dem Konzept ‚ Agora ‘ in der nachantiken politischen Philosophie - und auch für die moderne Theaterwissenschaft - ein Modell politischer Erscheinungsräume, das, im Sinne Hannah Arendts, von einem Modell der utopischen Polis Athen her gedacht ist. Formen von Theater, die sich im Verhältnis zur Stadt und ihren Öffentlichkeiten, zu Zentren und Peripherien denken, sehen sich mit dieser utopischen Agora und gelegentlich auch mit deren Kritik konfrontiert: materiell, in Architekturen der Repräsentation oder ihren posturbanen Resten, institutionell, in der Frage, wie man sich zu den Räumen der Repräsentation (darunter das Theaterhaus, das Parlamentsgebäude und die Räume des Sakralen) verhalte. Und auch ideologisch, in der Forderung, politisch zu sein in der Stadt, als Teil der Stadt; demokratische Figuren des Sichversammelns performativ zu modellieren und auf die Probe zu stellen. Mich beschäftigen in diesem Beitrag theatrale Formate, die sich aus einer solchen Forum Modernes Theater, 34/ 1, 127 - 141. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0011 Position des In-Frage-Stehens von Theater, Polis und Agora (und von deren Relation) gekonnt in ein Abseits spielen und die sich, das möchte ich zeigen, als Modi eines Abbauens von Agora ansprechen lassen. Die Metapher des Abbaus kann sich in diesem Sinne auf die nicht immer sorgfältige, mal spielerische, mal brachiale Lektüre urbaner infrastruktureller Logiken beziehen. Abbau wäre dann zu verstehen als Rückbau und Bergung von Ideologemen und Beschreibungspotentialen, die in ihnen verbaut sind. Eine Theaterarbeit, die in diesem Sinne Agora abbaut, kann Praxen und Techniken der Ausbeutung von Agora als semantischer Ressource transparent machen, ist doch die theoretische Aneignung der Agora in der Moderne, in Historiographien und Archäologien der Appropriation, auch als gewaltsamer Akt der Herstellung von hegemonialer Identität zu beschreiben: Sie materialisiert sich nicht nur in den kolonialen Umbauten von Athen im 19. Jahrhundert, 4 sondern auch in der Emphase, mit der die Architekturen zentraleuropäischer Städte bereits seit dem 18. Jahrhundert auf agora-förmige Zentren der Repräsentation bezogen sind und die noch (neo-)koloniale Stadtarchitekturen außerhalb Europas voraussetzen. Sie zeigt sich darüber hinaus in einer begriffshistorischen Singularisierung und Vereindeutigung, die nicht nur die funktionellen und semantischen Schichten der attischen Agora invisibilisiert, sondern auch die Pluralität von Agorai im Mittelmeer- und westasiatischen Raum aus dem semantischen Gedächtnis des Begriffs tilgt. Wo und wie also baut Theater Agora ab, und welche Agora stellt es her - wenn überhaupt eine? Ich nähere mich diesen Fragen entlang zweier Projekte, die Theater und Stadt in je unterschiedlicher Weise konstellieren: Zunächst konkretisiere ich meine Überlegungen an Azadeh Ganjehs ﻧ ﺠ ﻮ ﺍ ﻫ ﺎ ﯼ ﺑ ﯽ ﺍ ﺟ ﺎ ﺯ ﻩ (Unpermitted Whispers; 2010/ 2013), einer ‚ environmental performance ‘ in Teheran, konzipiert und erstmals realisiert im Schatten der Grünen Bewegung nach der Wiederwahl Ahmadinedschads 2009, deren Rechtmäßigkeit von der Opposition und von weiten Teilen der iranischen Bevölkerung massiv in Zweifel gezogen wurde. 5 Das zweite Zentrum meiner Überlegungen bildet dann das Solorollenspiel Achtmal Blinzeln, das die kollektive Kunstproduzentin Anna Kpok im Rahmen der Ruhrtriennale 2021 entwickelt hat. In diesen Jahren waren erstmals Theaterkollektive eingeladen, die Zuwege der Spielorte zu inszenieren und sich so zur notorischen ‚ ruhrbanen ‘ Konstellation zu verhalten. 6 Ganjehs Performance findet im geschlossenen, jedoch mobilen Raum eines Taxis statt. Anna Kpoks Spiel lädt zu einer kurzen Straßenbahnfahrt und zu einem Spaziergang durch den Ortsteil Stoppenberg ein, der zwischen Essener Hauptbahnhof und PACT Zollverein verläuft, wobei Start- und Zielort austauschbar sind. Beide Projekte verleiten also zu Wegen durch die Stadt, die unmögliche, verbotene, utopische, zuweilen auch postapokalyptische urbane Sammelstellen verbinden; und beide durchkreuzen Gegenden, die auf je unterschiedliche Weise auf den Hunger industrieller Ökonomien nach fossiler Energie bezogen sind: Die Geschichte Stoppenbergs ist mit dem Steinkohlebergbau verbunden, der zur spezifischen Urbanisierung des Ruhrgebiets und mittelbar zur Ausbildung eigenständiger politischer Strukturen beigetragen hat. Vergleichbar sind beide Konstellationen auf einer Ebene urbaner Strukturierung durch ökonomische und kulturhegemoniale, stets aber machtförmige Prozesse. Den Iran erreichen im Fahrwasser neo-kolonialer Ökonomien der Erdölförderung Europäische Modelle von Stadt und von Theater. Beide Projekte verhandeln urbane Relikte der fossilen Ära. Wie nun aber stehen die Agora der Attischen theatralen Demokratie und die Erscheinungsräume einer Persischen Theo- 128 Julia Stenzel kratie zueinander? Wie lässt sich das postindustrielle, polyzentrische Gebiet Ruhr auf die saubere, weiße Mitte des klassischen Athen beziehen (denn in der institutionellen Ästhetik der Agora hat das Winckelmannsche Ideal erstaunlicherweise Bestand)? Mein Beitrag gliedert sich in sechs Abschnitte: Nach dieser kurzen Einführung frage ich zunächst nach dem Ort der Agora und beginne eine Relektüre dieses Grundbegriffs der politischen Theorie und des politischen Theaters. Ausgehend von Ganjehs Taxi-Situationen entwickle ich das Konzept der metökischen Konstellation als einer theatralen Strategie zur Pluralisierung der Agora und frage dann nach den Räumen, die Anna Kpoks Spiel auf- und abzubauen einlädt. Meine Lektüre erklärt diese Räume nicht; sie konfrontiert sie mit einem Modell von Agora als einem ( ‚ dem ‘ ) Ort des Handels und des Handelns; auch des Aushandelns von Szenologien des Erscheinens, des Sprechens und der Repräsentation. II. Wo ist die Agora? Jakob Burckhardts um 1900 postum erschienene Griechische Culturgeschichte nennt die Agora das Lebensorgan der Stadt: „ Der eigentliche Mittelpunkt einer Polis aber war die Agora, der Platz. [ … ] an ihr waren Prytaneion, Buleuterion, Gerichtslocal, einer oder mehrere Tempel gelegen; dabei diente sie noch für Volksversammlungen und Spiele. “ 7 Agorai in diesem Sinne gab es in allen griechischen Handelszentren, im Mittelmeerraum und in Westasien. Burckhardt benennt die Doppelbödigkeit der Agora mit Verweis auf Aristoteles, der im Buch über die Politik für die ideale Polis zwei Agorai vorsieht: Eine soll den Politai vorbehalten sein, den Vollbürgern, die andere dem Verkauf von Waren; die erste sollte bei der Akropolis, die andere nahe dem für Handel und Ökonomie wichtigen Hafen der Stadt liegen. 8 An der Agora als Versammlungs- und Sprechstelle der Freien jedoch hat ein Großteil der Bevölkerung nicht teil - Frauen, Kinder, Sklaven, Fremde. 9 Doch die Etymologie des Wortes macht eine andere, eine mehrdimensionale, bewegliche Agora denkbar, an der die aristotelische Teilung scheitert. Um dies vorzuführen, entfalte ich den Handlungsaspekt des Wortstamms ‚ agor* ‘ , um nach den Praxen hinter der Agora der Moderne zu fragen. ‚ Agoreuein ‘ ( ἀγορεύειν ), das heißt: In der Versammlung und überhaupt: öffentlich reden. Auch andere Ableitungen von ‚ agora ‘ beziehen sich auf die Praxis der öffentlichen Rede - ‚ agoretes ‘ ist der Redner, ‚ isegoria ‘ das gleiche Rederecht der Gleichen. Aber ‚ἀγορεύειν‘ heißt zuerst und allgemeiner: ‚ Versammlung tun ‘ , sich in der Versammlung betätigen und kollektiv Versammlung sein. ‚ Agoreuein ‘ als Praxis konkretisiert die Agora als Ort der politischen Szene; und in diesem Sinne verweist das Verb auf die Mitanwesenden, die dem (immer männlichen, immer athenischen) Redner seinen Platz einräumen. In der Frühzeit der attischen Polis fand auf der Agora all das statt, was alle anging: Theater, religiöse Feste, Agones. 10 Und wenn andere Versammlungspraxen längst in eigene Räume ausgewandert sind - das Theater an den Südhang der Akropolis, die Volksversammlung auf den Hügel Pnyx - , bleibt die Agora, die ja eigentlich einmal eine Art Mehrzweckhalle darstellte, der Marktplatz: ‚ ta agorasmata ‘ sind die Waren, ‚ agorazesthai ‘ heißt einkaufen und wer einkauft ‚ ho agorastes ‘ . Sie bleibt aber auch: eine Wegkreuzung, die in die Fremde weist, ein Kreuzungspunkt von Infrastrukturen. Denn auf der Agora begegnet man nicht nur Bürgern als Bürger, sondern denen aus der Stadt als einer vom Land, denen aus der Fremde als einer von hier. Sie ist der Ort des Austauschs von Waren, Meinungen, Gerüchten und Neuigkeiten, offiziellen und inoffiziellen; die Sammelstel- 129 Agora abbauen. Theater als metökische Konstellation le, die die Polis zur Polis macht. So ist sie in mehrfacher Hinsicht „ das eigentliche Lebensorgan der Stadt “ 11 , wie es Burckhardt formuliert, der Platz, an dem sich die Wege kreuzen und an den sich die Stadt anlagern kann; Orientierungspunkt für alle, die sich in der Stadt und auf die Stadt zu bewegen. ‚ Horos eimi tes agoras ‘ : ich bin die Grenze der Agora. Steine mit dieser Aufschrift markieren als materielle Wächter Stellen für Auf- und Abtritte im Zentrum der Stadt. 12 Die fortgesetzte Neuerfindung der Attischen Polis als theatrokratischer Gründungsort einer Europäischen Moderne ist mit Inanspruchnahmen verbunden, die sich auf das Konstrukt der Antike als ein ‚ nächstes Fremdes ‘ richten. Sie beginnen nicht erst mit der Einsetzung Ottos von Wittelsbach als Otto I. von Griechenland und Leopold von Klenzes in den 1830er Jahren vorgelegten Plänen für ein neues Athen, und sie enden nicht mit dem Aufschrei angesichts weitreichender Umbauten an der Akropolis 2020. 13 ‚ Agoreuein ‘ benennt immer auch die Inanspruchnahme der Agora als Erscheinungsraum des Politischen, für den das griechische Wort bis heute zu stehen kommt. In ihm ist die Wegkreuzung ausgestrichen; von der Sphäre des Handelns führt scheinbar kein Weg zur Stelle des Handels: der ‚ agorastes ‘ kann nicht erscheinen, ebenso wenig wie die Rede der Ausgeschlossenen, die als Geschwätz zum Verstummen gebracht wird, wenn die Volksversammlung zusammentritt. Ein Theater, das nach den Schichten der Agora fragt, macht neben der Utopie eines universellen Erscheinungsraums die Voraussetzungen des Erscheinens wahrnehmbar (und ist damit politisch im Sinne von Jacques Rancière). Ein solches Theater des Abbaus von Agora ist immer ortsspezifisch, auch wenn es im geschlossenen Schauspielhaus stattfindet: Es nimmt Raum für eine Zeit in Anspruch, definiert diesen Raum, überblendet und überschreibt ihn, wird aber nicht opak auf das, was da schon war. Es macht sichtbar, dass es den leeren Raum nicht gibt, bleibt transparent auf das Geschwätz auf dem Markt ebenso wie auf die Stimme der Demagogie, auf die Architektur der Repräsentation ebenso wie auf die Verkaufsstände der Handel Treibenden. Ein solches Theater ist bezogen auf die Topologien des Raums, den es bespielt, aber auch auf seine Infrastrukturen, seine politischen und seine ökonomischen Gelingensbedingungen. Es tritt auf mit dem Anspruch der performativen Erkundung, Öffnung und Pluralisierung der Agora - ihres Abbaus im doppelten Sinne von Dekonstruktion und Extraktion. ‚ Horos eimi tes agoras ‘ , spricht dieses Theater, ‚ ich bin die Grenze der Agora ‘ . Ich komme zum zweiten Argumentationsschritt, mit einem Theater, dessen Außenhaut zunächst die Karosserie eines Taxis zu sein scheint. Unpermitted Whispers (Najv ā h ā y-i B ī -ij ā zih) von Azadeh Ganjeh. III. Agora in Bewegung: Azadeh Ganjeh, Unpermitted Whispers Der iranische Regisseur und Theaterkritiker Amin Azimi schlägt vor, Theater im Iran solle die Attische Theatrokratie als Gründungserzählung des Europäischen Theaters auch zu seiner Geschichte machen; und er begründet dies im Modell einer pluralen Demokratie: „ Theatre in Greek form and context could be an arena for various and multiple voices to have a face-to-face encounter. “ Dissens und Disagreement könnten auf diesem Wege - so Azimi weiter - im iranischen Theater einen Ort finden, denn „ [a]rt in Iran has never had a critical edge; it has been either panegyric or decorative. “ 14 Gegen die Behauptung, Theater im Iran sei immer eine politikfreie Zone gewesen, wäre einiges einzuwenden. Doch dass im Phan- 130 Julia Stenzel tasma einer Gleichursprünglichkeit von Theater und Demokratie die Attische Polis zum Gründungsort einer Iranischen Theatermoderne werden könne, diese Vorstellung kommt nicht von ungefähr. Sie steht im Zusammenhang mit einem Streiten um Erscheinungsräume: Das iranische Ministerium für Kultur und islamische Führung behauptet einen ‚ persisch-islamischen Identitätskomplex ‘ , der sich auch künstlerisch zu manifestieren habe und dem die Forderung nach Säkularisierung mit den Mitteln Europäischen Theaters gegenübersteht. Wie der Theaterwissenschaftler, Künstler und Aktivist Amir-Reza Mirsajadi gezeigt hat, 15 schreibt noch Stephen Greenblatt am orientalistischen Narrativ mit. In einem 2014 publizierten Bericht vom First Iranian Shakespeare Congress figuriert der Shakespeare-Forscher als ‚ occidental white saviour ‘ , der Shakespeare zur Chiffre für die Befreiung des Iran verklärt. 16 Diese komplementären Figuren der Orientalisierung unterschlagen freilich die Pluralität des Theaters im Iran. Schon in der Antike ist der westasiatische Raum ein Feld der Interferenz und Konkurrenz von Zivilisationen, Sprachen, Religionen. Shakespeare findet bereits im mittleren 19. Jahrhundert Eingang in lokale Erzähl- und Aufführungstraditionen: Neben The Taming of the Shrew und Hamlet ist auch Othello populär. 17 Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhundert gilt dann, mit einer philologisch domestizierten Rezeption, als „ Iranian Age of Shakespeare “ 18 - und ist zugleich die Zeit der Anglo-Persian Oil Company (APOC), die später in British Petroleum Company (BP) umbenannt wurde und bekanntlich bis heute besteht. 19 Unpermitted Whispers wurde 2010 erstmals realisiert und orientiert sich an Augusto Boals Modell eines Theatre of the Oppressed: 20 Es untersucht die partikulare und punktuelle Öffentlichkeit eines Sammeltaxis (Rahi) (Abb. 1). Rahis sind zentrale Akteure im Teheraner Stadtverkehr. Sie lassen Fahrgäste an bestimmten Orten oder auf Zuruf zusteigen, bedienen festgelegte Routen, oft auch ins Umland, und ergänzen so das rudimentäre U-Bahn- und Bus-Netz der Stadt. Im Fahrgäst*innenraum ist vom Fahrer gut sichtbar ein Schild anzubringen, das den Zusteigenden jegliche politische Diskussion untersagt; tatsächlich jedoch sind Taxis Orte para-anonymer Kommunikation und situativer Komplizenschaft, der Gerüchte und des informellen Wissens, Erscheinungsraum der Subalternen und Ort der Voyeure (Abb. 2). 21 In einem Café nahe der Universität Teheran warten die Zuschauenden auf ihr Taxi-Theater; sie werden dort neben dem schweigsamen Fahrer auf drei Shakespeare- Figuren treffen - Katerina, Ophelia und Desdemona. Deren Zu- und Aussteigen Abb. 1: Plakat zu Unpermitted Whispers. Courtesy Pedram Harbi, Harbi Studio, 2013. 131 Agora abbauen. Theater als metökische Konstellation gliedert die etwa 45-minütige Fahrt in drei Episoden, die unmögliche, verbotene oder vergangene Versammlungen aufrufen. Die Figuren haben statt fester Rollentexte fiktionale Biographien; was zur Sprache kommt, ergibt sich aus dem je spezifischen Setting, den Reaktionen der Mitfahrenden als ‚ spectactors ‘ (Boal), ihren Fragen und Antworten, ihrem Schweigen. Die Studentin Katerina ist auf dem Weg ins Theater. Ihrem Mann gegenüber behauptet sie, den Schrein in der Imamzadeh-Saleh-Moschee ( ﺍ ﻣ ﺎ ﻣ ﺰ ﺍ ﺩ ﻩ ﺻ ﺎ ﻟ ﺢ ) zu besuchen. Telefonisch bittet sie ihre Schwester um ein Alibi. Beim Aussteigen lässt sie in Eile ihr Handy zurück, und kurze Zeit später klingelt das Telefon. Es kommt zu einem Gespräch zwischen Taxifahrer und Ehemann. Anders als in Shakespeares The Taming of the Shrew erfährt Katerina Sympathie und Unterstützung; der Fahrer deckt sie, ein Fahrgast trägt ihr das vergessene Handy hinterher. Ophelia, die zweite Figur, ist die Verlobte eines Studenten, der seit 2009 verschollen ist - seit dem Jahr der Proteste gegen das mutmaßlich gefälschte Ergebnis der Präsidentschaftswahlen also, das dem Amtsinhaber Mahmud Ahmadinedschad die Stimmenmehrheit einräumte. Amin ist sein Name, nicht Hamlet; er ist kein Königssohn, sondern einer von vielen. Sie überlebt ihn als aus der Zeit gefallene Reisende. Die Tage und Nächte verbringt sie an den Orten der Protestchöre, auf den Straßen und im Taxi. Desdemona, die dritte, hingegen kommt aus einer Küstenstadt im Norden des Landes; sie lässt sich von Klinik zu Klinik fahren, auf der Suche nach ihrem gewalttätigen Ehemann, der vom Balkon gestürzt sei. Die genauen Umstände bleiben unklar, doch im Gesprächsverlauf stellt sich heraus, dass Desdemona einige Monate in Haft verbracht hat. Unter dem Vorwand, der Frau aus der Fremde helfen zu wollen, bittet der Fahrer die übrigen Fahrgäst*innen auszusteigen. Die Ränder der Aufführung sind unscharf. Beginnt sie beim Warten aufs Taxi? Beim Einsteigen? Als Katerina sich auf die Rückbank quetscht und zu telefonieren beginnt? Endet sie mit der Bitte des Fahrers Abb. 2: Ein Blick ins Innere des Taxis. Screenshot. 132 Julia Stenzel auszusteigen, irgendwo in den Straßen der Stadt? Zurück zu Hause, im Hotel? Tatsächlich hat auch die Zensur irritiert, wie sich die Aufführung dem Dispositiv Theater und damit gängigen Kontrollmechanismen entzieht: Ein Taxi als Aufführungsort, mit Spielenden, deren Auftritte anderswo stattfinden als die Abtritte? Ist das Theater - und wenn nicht, was dann? Perspektiviert als gefüllter, aber aufnahmebereiter Raum lässt sich das Taxitheater als Agora im Abbau fassen. Es dezentriert die Dispositive der Repräsentation, bringt sie in Schieflage und zum Kollabieren. Es ist, erstens, Infrastruktur der Begegnung, Wegkreuzung, temporäre Sammelstelle von Personen, die nichts weiter gemeinsam haben als eine Passage durch die Stadt. Es ist, zweitens, Teil eines Marktes der Mobilitäten; einer distribuierten und asynchronen Agora. Mit dem, was hier verkauft wird - die Strecke von hier nach dort - , wird die Ausdehnung der Megalopolis Teheran überschau- und bewältigbar. Doch dieses Taxi ist kein Nichtort im Sinne Augés. Es ist vielmehr ein Raum, der in Verbindung steht mit dem Rauschen der Stadt: Dem Verkehrsnetz wie dem Rhizom der Gerüchte, des Geredes, der anonymen Tragödien und Komödien, der Propaganda und des Protests. 22 Ganjehs Projekt realisiert die Partikularität der Geschichten in anachronistischen und fragmentierenden Aneignungen von Shakespeare, in einer Dramaturgie von ‚ bricolage ‘ und ‚ sampling ‘ . IV. Metökische Konstellation Desdemona, die Frau aus dem Küstenort Babolsár, sucht also ihren Othello, der möglicherweise gar nicht mehr lebt. Im Suchen vertritt sie ihr eigenes Recht zu überleben, ohne Mann und Familie. In ihrer Geschichte sind zwei Wege durch die Stadt miteinander verwoben. Die mäandernde Suche in den Kliniken Teherans und der Weg zum Bazar, den sie daheim täglich - per Sammeltaxi - mit anderen Frauen aus ihrem Ort zurückgelegt hat: Sie hat dort eingelegtes Gemüse verkauft. Ihr Mann hat sie verprügelt, weil sie durch einen Zufall neben dem Fahrer saß, danach kam es zum verhängnisvollen Sturz. Ob es in Teheran einen Bazar gebe, fragt sie; und ob sie dort hausgemachte saure Gurken verkaufen könne - dann wolle sie hier bleiben. „‚ Tis agoreuein bouletai ‘ - wer will hervortreten und sprechen auf der Agora? “ , fragt der Herold, der in Athen die Volksversammlung eröffnet. „ Can the subaltern speak? “ , könnte man zurückfragen und damit Gayatri Chakravorty Spivaks folgenreichen Essay zu den Ausschlussmechanismen politischer Repräsentation aufrufen. 23 Doch statt in den politischen Erscheinungsraum der Agora einzutreten, ja ihn durch ihr Auftreten zu aktualisieren und den Markt des Warentauschs, des heterogenen Stimmengewirrs und des unerlaubten Raunens auszusetzen, statt ihre Geschichte als Wahrheit zu vertreten, fragt Desdemona nach einer Agora, die ich metökische Konstellation nennen will: Metöken heißen in Athen bekanntlich jene Einwohner*innen, die in die Ökonomie der Stadt eingebunden sind, ohne Bürgerrecht zu besitzen; sie sind Teil der Bevölkerung, aber anteilslos an Demos und Polis. Eine solche metökische Konstellation generiert eine kontingente Weg-Kreuzung von Interessen, deren Partikularität unvorhersehbar ist und ohne intentionalen Akt irgendwann ein gemeinsames Sprechen hervorbringen könnte. So ist die mobile Agora des Taxis eine der Flüchtenden, Entkommenen und Überlebenden. Eine Agora mithin, die nicht Gleichheit behauptet, sondern Ungleichheit sichtbar hervortreten lässt; die die Bedingungen dieses Hervortretens zu ihrem Gegenstand macht und die Kontingenz ihrer eigenen Ränder zur Schau stellt. 133 Agora abbauen. Theater als metökische Konstellation Eine ganz andere Form der metökischen Konstellation entwirft zehn Jahre später Anna Kpoks Solorollenspiel, das das Motiv eines Multiversums in Essen-Stoppenberg materialisiert. Von Dimension zu Dimension gelangt die Spielerin unter Einsatz einer spezifischen initialen Körpertechnik: Achtmal Blinzeln. V. Den Möglichkeitssinn wecken: Anna Kpok, Achtmal Blinzeln Anna Kpok ist „ eine kollektive Kunstproduzentin aus Bochum, die seit 2009 u. a. ortsspezifische Kunstformen in den Bereichen Game-Theater, Performance und Installation entwickelt. Anna bildet interaktive (Spiel)Räume, die alle Beteiligten miteinander erschaffen und teilen. “ 24 So lautet die knappe Selbstvorstellung des Kollektivs, dessen ‚ solo roleplaying book ‘ ich als ein Instrument beschreiben möchte, das den Erscheinungsraum eines monolithischen Theaters der Agora abbaut und an seiner statt - an seiner Stätte - metökische Konstellationen evoziert, die sich als nomadische Interspeziesrelationen konkretisieren. Achtmal blinzeln schlägt zwei alternative Startpunkte vor: PACT Zollverein und den Essener Hauptbahnhof. In der hier realisierten Version steigt die Spielerin am Essener Hauptbahnhof in die Straßenbahn 107, die sie in Essen-Stoppenberg verlässt, um gehend die Gegend zu erschließen. Anders als in Unpermitted Whispers gibt es keine Darsteller*innen, die physisch, im Gespräch, mit der Spielerin interagieren könnten. Stattdessen begleitet sie ein Dimensionsreiselesebuch, aus dem zuweilen eine Figur, Anna, zuweilen eine beobachtend dokumentierende Erzählinstanz, zuweilen das Buch selbst spricht. Es fordert zu diskontinuierlichen, nicht-linearen Wegen zwischen Essener Hauptbahnhof und PACT Zollverein auf, die als Reisen zwischen verschiedenen Dimensionen erzählt werden. Wie in den Gamebooks der 1980er Jahre entwickelt sich das Narrativ der Reise in einer Abfolge kontingenter Entscheidungen und Fortschreibungen der Lesenden, die über den Weg durchs Buch - und durch Stoppenberg - bestimmen. Jede Entscheidung zum Vor- oder Zurückblättern - mitunter durchaus zum linearen Weiterlesen gegen die Anweisungen - ruft in einem Gestus nicht des ‚ als ob ‘ sondern des ‚ was wäre wenn ‘ alternative Stadträume auf. Auch die zeit-räumliche Konjunktion, das Phantasma des ‚ vademecum ‘ , wird mit der Disjunktion von Schreiben und Lektüre konfrontiert: Aus der Vergangenheit des Geschriebenwerdens an einem anderen Ort spricht das Buch in die Gegenwart des Lesens und des Gehens durch die Stadt, als dessen Dokument es sich zugleich gibt. Es bietet heraustrennbare Postkarten an, die beschriftet und verschickt werden können, Raum für Notizen, Platzhaltertexte, die zu Akten des Fingierens auffordern, Zeugnisse anderer - fiktiver? - Dimensionsreisender. Das Dimensionsreiselesebuch, das sich in Dramaturgie und Motivik bis in einzelne Formulierungen an Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht (1979) abarbeitet, spielt mit Momenten fiktionaler Immersion. Es gibt spezifische Körpertechniken vor, Techniken zur Irrealisierung und imaginativen Überblendung der durchstreiften Gegend: das titelgebende Blinzeln etwa, oder die Herstellung einer Oszillation zwischen Nah- und Fernsicht, wenn über die Kante des Buchs hinweg und unter fortgesetzter Lektüre die Umgebung beobachtet werden soll. Vor allem aber evoziert es kinästhetische, olfaktorische oder akustische Irritationen, die als Hinweise auf Dimensionsknoten gelten sollen und in deren Wahrnehmung sich Optionen des Übertritts materialisieren: Ein ungewöhnliches Vibrieren der Straßenbahn wird suggeriert, ein an- und abschwellendes Rau- 134 Julia Stenzel schen, der fremdartige Geruch eines Steins. Die Erzählstimmen verorten sich selbst mal in einer unbestimmten Nahdistanz zur Dimensionsreisenden, mal in ihrem rechten Ohr, mal im Buch, das sie in Händen hält, immer aber in den wechselnden Konstellationen, die Text, Raum und Spielerin eingehen. Die Haltestellen der Dimensionsreise figurieren Entscheidungen und die Orte des Entscheidens: Sie geben sich als Weggabelungen, zugleich auch als Dokumente stattgehabter Entscheidungen, mit Folgen für die Spielerin, die bereiste Gegend, gar in planetarischer Hinsicht. Topologisch fungieren sie als Begegnungskanten: In der Fiktion der Dimensionsreise erscheint hier der euklidische Raum als anfällig, seine Grenzen als durchlässig - die Dimensionsfototapete wird fadenscheinig, heißt es. So erscheinen Praktiken von Assemblage und Kollektivierung an Sammelstellen verschiedenen Typs, darunter Hotels, Wohneinheiten und Friedhöfe; eine Kirche, ein heiliger Baum und ein Rathaus. Der Text fingiert Vergemeinschaftungspraxen, gouvernementale und biopolitische Maßnahmen; so evoziert er eine kosmopolitisch engagierte Republik Ruhr oder eine Gesellschaft der Marser*innen in einer Welt diesseits - oder jenseits - von Kohleförderung und Schwerindustrie. Er etabliert einen Modus des ‚ what-if (not) ‘ , SF im Sinne Donna Haraways: Die Welten des Dimensionsreiselesebuchs „ are not containers; they are patternings, risky comakings, speculative fabulations. “ 25 Sie suggerieren ein Universum von ‚ possible histories ‘ , und das Buch zeigt diese in fingierten Bildern und Dokumenten, die Orte der Versammlung markieren und Fragen nach Möglichkeiten des Erscheinenwollens, Erscheinenkönnens und Erscheinenlassens evozieren. Statt eine Vielzahl möglicher Wege durch Stoppenberg in extenso aufzufalten, was ein langwieriges Unterfangen wäre, dessen totalisierender Anspruch dem Projekt zuwiderliefe, nehme ich zwei exemplarische Haltestellen auf der Reise genauer in den Blick; beide ergeben sich aus einer Spaltung des Weges als ein entweder/ oder: Einer der Wege führt vom Büdchen auf dem Parkplatz, der, sagt Anna, zuweilen auch Marktplatz ist, zum Rathaus Stoppenberg. Vorbei an der Eckkneipe, die, wie schon das Büdchen, Ruhrpott-Klischees aufruft - „ [d]ie ganzen schwarz-weißen Serien über das Ruhrgebiet “ 26 - , leitet Anna zu einem historistischen Backsteinbau mit Vorplatz, dessen Geschichte auf einer Infotafel nachzulesen ist (Abb. 3). Das Buch bildet die Tafel ab - aber es ändert die Geschichtsverhältnisse: 27 Eine Koalition der Anteilslosen besetzt nach dem Kapp-Putsch 1920 das Rathaus Stoppenberg. Sie siegt und gründet die Räterepublik Ruhr mit dem Rätehaus als ihrem politischen Zentrum. Als die Republik durch Zuzüge stetig wächst, wird auf dem Vorplatz eine „ Agora “ 28 als Versammlungsort angelegt, die seit 2021 auch die virtuelle Teilnahme an den Ratssitzungen erlaubt - dies alles in der fingierten Paralleldimension, versteht sich. Diese Agora gibt sich als Raum der Isegorie im Sinne gleichberechtigter Rede, als ein Raum zugleich, der sich Logiken der Schließung verweigert: Es gibt kein Volk der Ruhr-Republik, das die einen ein-, die anderen ausschlösse. Die „ Menschen, die zur Bevölkerung gehören möchten “ 29 , haben durch ihre Entscheidung volle Bürger*innenrechte und -pflichten. Allerdings führen auch andere Wege in die Republik Ruhr: Der Vorplatz der Nikolauskirche wird zum „ Platz der Entscheidung für den Pakt des Glaubens an die Zukunft “ ; eine Inschrift der Zentrale für politische Aufklärung Progressia erläutert seine Geschichte. 30 „ Wahrscheinlich denkst Du: Kirche “ , 31 konstatiert der Text. Die utopische Isegorie wird als Dystopie ‚ gleichgerichteter Rede ‘ lesbar, bezeichnet sie doch eine Rede, die jene nicht mitmeint, die sich 135 Agora abbauen. Theater als metökische Konstellation nicht einem gemeinsamen Sinn zuordnen. Die als offen behauptete Agora beginnt sich zu schließen. Wer ist überhaupt der Rat der Fünfzig; wie legitimiert sich die Progressia der Räterepublik? Die Agora der Räterepublik Ruhr ist freilich in einer noch viel grundsätzlicheren Hinsicht geschlossen und hegemonial. Sie rekapituliert die Geschichte des 20. Jahrhunderts, das zum postkapitalistischen Zeitalter wird, sie entwirft eine klassenlose Gesellschaft. Doch diese Gesellschaft und ihre Kollektive sind weiterhin anthropozentrisch und anthropoperspektivisch. Folgt man vom Büdchen auf dem Parkplatz kommend dem anderen möglichen Weg, vorbei an Rathaus und Vorplatz, zeigt das Buch die getippte Nachricht eines Kollektivs, das sich die Marser*innen nennt, und wie die Fiktion der Räterepublik Ruhr macht sich auch dieses spekulative Experiment ein historiographisches Moment zunutze. 32 Denn auch die Marser*innen sind nicht die Erfindung von Anna Kpok: Bereits Tacitus berichtet von den Marsi als einer Ethnie, die zur Zeit der römischen Feldzüge in Zentraleuropa Abb. 3: Rätehaus Stoppenberg. Anna Kpok: Achtmal Blinzeln, S. 28 f. 136 Julia Stenzel zwischen den Flüssen Rhein, Ruhr und Lippe siedelte. Möglicherweise wurden sie um das Jahr 14 bei Stoppenberg von Römischen Legionen vernichtet. In der Fiktion der Dimensionsreiseführerin Anna bewohnen die Marser*innen das Ruhrgebiet bis heute, allerdings in einer spezifischen Form metökischer Konstellation: Sie leben in speziesübergreifenden Symbiosen und kommunizieren über Mycelsysteme planetarischen Ausmaßes (Abb. 4). Abb. 4: Wohnstätten der Marser*innen: „ Hängezelte - In Gruppenbis Einzelzelten findet jedes Wesen in der gewünschten Umgebung einen Schlafort. Einige sind geteilt, andere in Besitz bestimmter Personen. “ Anna Kpok, Achtmal Blinzeln, S. 39. Die Marser*innen unterscheiden weder zwischen Menschen und nicht-menschlichen Anderen, noch zwischen Bürger*innen und Fremden. Ihre Leitdifferenz ist die zwischen den Bleibenden und den „ reisenden Sporen “ 33 , denen von den Bleibenden für die Zeit ihres Aufenthalts Fürsorge und Teilhabe gewährt wird; dafür werden die Reisenden um Gemeinschaftsarbeit gebeten. Die Dimensionsreisende befindet sich am Versammlungsort der Marser*innen, der allen offen steht und an dem alle fünf Tage über Fragen des Zusammenlebens beraten wird. 34 Anders als im Falle der Republik Ruhr, deren Möglichkeitsraum in sichtlich fingierten Relikten und in Kontrafakturen begehbarer Entscheidungsorte konkret wird, ist die Spielerin in der Dimension der Marser*innen auf Berichte anderer Dimensionsreisender, auf Nachrichten der Marser*innen und auf Bilder verwiesen, die sich einer historischen und topographischen Zuordnung verweigern. Sie figurieren das Kollektiv der Marser*innen als eine dynamische biotechnologische Konstellation aus Organismen, Dingen und Kommunikationen (Abb. 5). Exemplarisch sei das Bild eines Mycelkommunikators genannt: Ein Aufriss der neogotischen Nikolauskirche in Stoppenberg scheint von einer Art Schimmel durchzogen, der die Zeichnung überwuchert, die Linien verwischt, sie stellenweise unkenntlich macht. 35 Überhaupt ist es die Lebensform der Pilze, die für den Entwurf der Marser*innen- Dimension Modell steht; ein Modell, das Science Fiction, posthumanistisches Denken, aber auch Technik- und Ingenieurswissenschaften, Biotechnologie und Kognitionswissenschaft nicht erst neuerdings interessiert. 36 Abb. 5: Mycelkommunikator. Anna Kpok: Achtmal Blinzeln, S. 40. Die bereisbaren Dimensionen sind für einen ersten Blick bessere mögliche Welten: Welten der Selbstbestimmung und reziproken Fürsorge, der Kollektivität und Diversität; techno-progressive, ökologische oder soziale Utopien. Anna Kpok etabliert als Erzählstimme eine Haltung des „ spekulativen “ 37 und „ kritischen Fabulierens “ 38 , aus der heraus die Subjekte der Geschichte pluralisiert, Hegemonien verkehrt oder abgebaut werden 137 Agora abbauen. Theater als metökische Konstellation können. Auf der Grundlage soziologischer, historiographischer oder ökologischer Recherchen werden alternative Vergangenheiten, Gegenwarten oder Zukünfte des Zusammenlebens entworfen. Sie laden dazu ein, erlebte und geschichtliche Zeit nicht nur linear (als Chronos), sondern auch zyklisch und umkehrbar (als Aion) zu verstehen; 39 sie evozieren Donna Haraways Vorstellung des symbiotischen, speziesübergreifenden „ making kin “ 40 als Zukunft - oder alternative Gegenwart - der Menschen, die als „ Reisende “ und „ Sporen “ oder als „ Bleibende “ in die Wirklichkeit von Zoë eingelassen sind. 41 Doch auf den Wegen durch Stoppenberg begegnen diese spekulativen Text-Experimente und Fiktionen immer wieder auch als postapokalyptische, allzu menschliche Abgründe des Menschlichen: Gibt die Nachricht der Marser*innen den Hinweis auf aus dem Ruder gelaufene biologische Experimente, auf Laborunfälle und von Menschen gezüchtete zerstörerische Schimmelkolonien? Ist der alles durchziehende Mycelkommunikator ein Äquivalent zu den Infrastrukturen und Extraktionswunden des fossilen Zeitalters, die das Ruhrgebiet unterirdisch wie oberirdisch durchziehen? - Unter der denkmalgeschützten Nikolaikirche verläuft ein Stollen der Zeche Zollverein. Das Gebäude ist durch bergbauinduzierte Schiebe- (2,5 m in den letzten 100 Jahren) und Senkungsprozesse (12 m) ständigen Belastungen unterworfen und war zeitweilig akut einsturzgefährdet. Die Wucherung der Pilzfäden ließe sich als alternative Form des Abbaus lesen - nicht als Kollateralschaden der fossilen Extraktionsindustrien, sondern des Metabolismus von Medien globaler Kommunikation. Ob als utopische Vorstellung von der Möglichkeit anderer Welten, ob als Erzählung von Dimensionen des Scheiterns und von der Unmöglichkeit des Entscheidens: Die Szenologie der fingierten Agorai schreibt sich in den Stadtraum ein, perforiert die Grenzen seiner Erscheinungsräume, gräbt sich wie eine Tätowierung in ihre Haut. Ihr Auftritt ist selbst ein Akt des „ wilden Erscheinens “ 42 , das die Logiken und Hegemonien der Öffentlichkeit stört, indem sie sich parasitär an sie anlagert: Sie setzt die Lesbarkeit der Stadt voraus, um sie zu irritieren und andere Städte, andere Lesbarkeiten zu erzeugen. VI. Agorazesthai - Agora abbauen Ausgehend von meinem Vorschlag, das Modell der Agora als Erscheinungsraum zu pluralisieren, habe ich mich zwei theaterkünstlerischen Projekten genähert, zwischen deren Realisierung zehn Jahre liegen. Beide Projekte sind auf die Frage nach Theater, Stadt und Öffentlichkeit bezogen; und beide rechnen mit beiläufigen, versehentlichen, akzidentiellen Formen des Erscheinens; mit dem Gossip auf dem Markt diesseits der Frage des Herolds, wer hervortreten und sprechen wolle. Denn diese Frage, die die Agora als Erscheinungsraum des Politischen aktualisiert und Isegorie garantiert, so eine Urszene von Demokratie figuriert, bringt zugleich das Markttreiben zum Verstummen. Sie setzt die Ausschließungsformen der Polis ins Recht; aus ihr ergibt sich die Teilung der Agora und die Teilung der Stadt. Doch die Agora als Erscheinungsraum des Politischen, als Ort der Repräsentation und des Sprechens-Für steht auf schwankendem Boden und auf tönernen Füßen: Anna Kpoks Solorollenspiel leitet dazu an, andere Modelle von Öffentlichkeit und zugehörige Orte abseits eines diskursethisch idealisierten Zentrums - eines Anthropo- Zentrums - zu imaginieren. Ganjehs Taxitheater gibt sich als eine Szene des Abwesenden; die Figuren treten als Bot*innen auf und berichten von Ausschließungen und Auslöschungen. In meiner Perspektive lässt sich das als punktuelle Verwirklichung einer 138 Julia Stenzel unmöglichen Agora in einer metökischen Konstellation lesen. Diese Agora ist nicht der Platz vor dem Palast, den die Tragödie kennt und auf dem nur Menschen und vielleicht noch Gött*innen zur Sprache kommen; sie ist der Ort, an dem die menschlichen wie nicht-menschlichen Figuren der Archaia, der Alten Komödie, zusammentreffen, den sie um-, ab- und als Wolkenkuckucksheim der Vögel nachbauen; um den sie streiten und zu dem sie immer wieder zurückkehren: Der Ort, an dem um die Demokratie gestritten wird, ihre Berechtigung, ihre Notwendigkeit und ihre Aporien anhaltend in Frage stehen. Der hier skizzierte Ansatz tritt in Dialog mit Theater und Kunst, die sich nicht so sehr als Erscheinungsraum denken, sondern vielmehr über (politische) Erscheinungsräume nachdenken; über deren Diskursethiken, institutionelle Ästhetiken und ihre materialen Verortungen in der Stadt. Insofern ist der Vorschlag eine Einladung zum Abbau: als experimentelles Aussetzen und Bearbeiten von basalen Kategorien sozialen, ökologischen und ökonomischen Miteinanders und den Grundbegriffen, die diese zugleich erzeugen und voraussetzen. Ein Aussetzen, das, wie punktuell auch immer, einen geteilten Schau- und Aushandlungs-Ort herstellt. Der Abbau, der hier in Frage steht, kann sich aber auch als ein Arbeitenlassen von spekulativen Experimenten realisieren, deren Metabolismus aus historisch zementierten Grundbegriffen neue Heuristiken erzeugen kann. Anmerkungen 1 So die theoriehistorisch folgenreiche Einschätzung von Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben [1958], München 2015, S. 251. 2 Platon, Nomoi (Gesetze), Buch I - III, in: Ders., Werke: Übersetzung und Kommentar, Bd. 9.2, hg. Ernst Heitsch und Carl Werner Müller, übers. und komm. Klaus Schöpsdau, Göttingen 1994, 701 a; Vgl. Samuel Weber, „ Theatrokratie, oder: Die Unterbrechung überleben “ , in: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie 1/ 1 (2015), S. 215 - 242. 3 Die Frage, ob Theater und Agora topologisch zur Deckung kommen können, interessiert die politische Theorie wie die Theaterforschung immer wieder. Programmatisch pointiert Nicole Loraux: „ The theatre of Dionysos is not in the agora “ , Nicole Loraux, The Mourning Voice. An Essay on Greek Tragedy, Ithaca u. a. 2002, S. 14. Für eine Verortung des frühen attischen Theaters auf der Agora argumentiert aus archäologischer Perspektive schon Frank Kolb, Agora und Theater, Volks- und Festversammlung, Berlin 1981. 4 Denis Roubien, Creating Modern Athens: A Capital Between East and West, London 2017. 5 Vgl. zu Ganjehs Arbeit und ihrem historischen Kontext grundlegend Marjan Moosavi, Ambivalent (En)counters in the Iranian Dissident Theatre from 1990 to Present, Diss., Toronto 2020, S. 247 - 261. 6 Zu diesem ‚ Wege ‘ -Projekt, das Aljoscha Begrich initiiert hat und das 2022 weitergeführt wurde: Aljoscha Begrich, „ Begegnungskanten. Vom Erleben des Ruhrgebiets und dem Erleben des zusammenhangslosen Raumes “ , in: Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2021, S. 14 - 142; vgl. auch ders. et al., „ Begegnungskanten II “ , in: Festivalkatalog der Ruhrtriennale 2022, S. 217 - 220. Karten, Audiotracks und auch die englische Übersetzung des Dimensionsreiselesebuchs von Anna Kpok sind weiterhin online abrufbar, https: / / www.ruhrtriennale.de/ en/ program me/ wege/ 87, [Zugriff am 20.11.2022]. 7 Jacob Burckhard, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19: Griechische Culturgeschichte (1903/ 06), aus dem Nachlass, hg. Leonhard Burckhardt, Barbara von Reibnitz und Jürgen von Ungern-Sternberg, München 2002, S. 52. 8 Aristoteles unterscheidet die eigentliche, die freie Agora von der ‚ Kaufagora ‘ ( ἥ τῶν ὠνίων ἀγορὰ ), Aristot. pol. 7, 1331 a 32 - 35; 139 Agora abbauen. Theater als metökische Konstellation b 1 - 3. Vgl. Mauro Moggi, „ L ’ agora in Aristotele “ , in: Carmine Ampolo (Hg.), Agora greca e agorai di Sicilia, Pisa 2012, S. 19 - 31. 9 Burckhard, Griechische Kulturgeschichte, S. 52. 10 Vgl. Kolb, Agora und Theater. 11 Burckhard, Griechische Kulturgeschichte, S. 52. 12 Jan Stenger: „‚ Ich bin die Grenze der Agora. ‘ Zum kognitiven Stadtbild der Athener in klassischer Zeit “ , in: Natalie N. May/ Ulrike Steinert (Hg.), The Fabric of Cities. Aspects of Urbanism, Urban Topography and Society in Mesopotamia, Greece and Rome, New York 2013, S. 203 - 228. 13 Exemplarisch ist der programmatische Kommentar von Mikela Chartoulari, „ Einebnung des Akropolis-Hügels: Chronik eines angekündigten Verbrechens “ , in: artlog. net, 17.05.2021, https: / / www.artlog.net/ de/ n otebook/ einebnung-des-akropolis-huegels-c hronik-eines-angekuendigten-verbrechens [Zugriff am 20.11.2022]. 14 Marjan Moosavi, „ Iranian Theatre, Its Discontinuity and Discontent: An Interview with Amin Azimi “ , in: The Theatre Times (06.09.2017), https: / / thetheatretimes.com/ ir anian-theatre-discontinuity-discontent-inter view-amin-azimi-part-ii/ [Zugriff am 11.10. 2022]. 15 Ali-Reza Mirsajadi, „ Reading Hamlet in Tehran. Neoliberalism and the Politics of Politicizing “ , in: Theatre Journal 72 (2020), S. 39 - 60, hier S. 41. 16 Greenblatt spart nicht mit orientalistischen Metaphern; so berichtet er von seinem ‚ Jugendtraum ‘ einer Reise in den Iran und nennt Shakespeare „ the magic carpet that had carried me to Iran “ , Stephen Greenblatt, „ Shakespeare in Tehran “ , in: New York Review of Books [02.04.2015], https: / / www.ny books.com/ articles/ 2015/ 04/ 02/ shakespearein-tehran/ . Die Veröffentlichung hat kontroverse Debatten und durchaus auch Entrüstung ausgelöst. Vgl. Mirsajadi, „ Reading Hamlet in Tehran “ , S. 4. 17 Zur Shakespeare-Rezeption im Iran vgl. grundlegend Azadeh Ganjeh, Performing Hamlet in Modern Iran (1900 - 2012), Diss. Bern 2017; Mirsajadi, „ Reading Hamlet in Tehran “ . 18 Vgl. Habib Mousavi, Babak Rajabi, „ The Bard Goes to the East: Shakespeare in Iran “ , in: Maryam Beyad/ Ali Salimi (Hg.), Cultureblind Shakespeare: Multiculturalism and Diversity, Newcastle upon Tyne 2016, S. 124. 19 Ganjeh, Performing Hamlet in Modern Iran, S. V. 20 Augusto Boal, Theater of the Oppressed, New York 1993. 21 Mit dieser Funktion des Taxis arbeitet auch der Film Taxi (engl. Taxi Teheran) des iranischen Regisseurs Jafar Pahani (2015), in dem der regimekritische Regisseur sich als Fahrer mit den Zusteigenden unterhält und die Gespräche mit einer am Armaturenbrett angebrachten Kamera aufzeichnet. Für ein ausführliches Gespräch über die spezifische Öffentlichkeit der Rahis während eines Workshops an der LMU München (13.07.2022) danke ich Azadeh Ganjeh und Meehrnoosh Esmaeilimatin. 22 Ex post ließe es sich als strukturelle Präfiguration der aktuellen Revolte begreifen, in der das Aufstehen und Hervortreten Einzelner ein Kollektiv erscheinen lässt. Vgl. den Artikel der anonymen iranischen Autorin ‚ L ‘ , https: / / harasswatch.com/ news/ 2049/ ﺯ ﻧ ﺎ ﻥ ﺩ ﺭ ﺁ ﯾ ﻨ ﻪ ﺗ ﺎ ﺭ ﯾ ﺦ ﺧ ﻮ ﺩ , dt. Übers. von Mostafa Najafi und Roman Seidel: „ Eine figurative feministische Revolution in Iran “ , https: / / philoso phy-in-the-modern-islamic-world.net/ eine-f igurative-feministische-revolution-in-iran/ [Zugriff am 26.11.2022]. 23 Gayatri Chakravorty Spivak, „ Can the Subaltern Speak? “ , in: Cary Nelson/ Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana/ Chicago 1988, S. 271 - 313. 24 https: / / www.annakpok.de/ [Zugriff am 24.11.2022]. 25 Donna Haraway, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham/ London 2016, S. 14. 26 Anna Kpok, Achtmal Blinzeln. Ein Dimensionsreiselesebuch, Bochum 2021, S. 17. 27 Ebd., S. 28 f. 28 Ebd., S. 28. 29 Ebd. 140 Julia Stenzel 30 Ebd., S. 42 f. 31 Ebd., S. 44. 32 Ebd., S. 24. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 40. 36 Vgl. etwa Rosi Braidotti, Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, Frankfurt a. M./ New York 2014; Anna Lowenhaupt Tsing, Der Pilz am Ende der Welt: Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus, Berlin 2018. 37 Haraway, Staying with the Trouble, S. 2 f. 38 Zum Konzept des kritischen Fabulierens vgl. Saidiya Hartman, „ Venus in Two Acts “ , in: Small Axe 12/ 2 (2008), S. 1 - 14, hier S. 2; Isabelle Stengers, Thinking with Whitehead. A Free and Wild Creation of Concepts, Boston 2014. 39 Vgl. Rosi Braidotti, die sich in hier auch explizit auf Deleuze bezieht, „ A Theoretical Framework for the Critical Posthumanities “ , in: Theory, culture, Society, 36/ 6 (2019), S. 31 - 61, hier S. 47. 40 Haraway, Staying with the Trouble, S. 101 - 103. 41 Anna Kpok, Achtmal Blinzeln, S. 24. 42 Juliane Vogel, „ Who ’ s there? Zur Krisenstruktur des Auftritts in Drama und Theater “ , in: Dies./ Christopher Wild (Hg.), Auftreten. Wege auf die Bühne, Berlin 2014, S. 22 - 37, hier S. 23. 141 Agora abbauen. Theater als metökische Konstellation Rezensionen Karin Nissen-Rizvani, Martin Jörg Schäfer (Hg.): TogetherText. Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater. Recherchen 155. Berlin: Theater der Zeit 2020. Das Gegenwartstheater zeichnet eine enorme Vielfalt an Stilen und Tendenzen aus. Trotz der Etablierung des postdramatischen Modells in Praxis und Theorie und der damit einhergehenden Enthierarchisierung der Sprache stützt sich das Gros der szenischen Kunstproduktionen weiterhin auf Texte, darunter auch immer häufiger auf solche, die nicht zu Beginn der Proben vorliegen, sondern von den Beteiligten kollektiv entwickelt oder gar erst während der Aufführung zusammen mit dem Publikum erzeugt werden. Diesem deutlichen Trend widmen sich die Autor*innen des Sammelbandes, der auf eine internationale Tagung zurückgeht, die im Januar 2019 in Hamburg stattfand. Mit dem Titel TogetherText erfand das Professor*innen-Duo Karin Nissen-Rizvani und Martin Jörg Schäfer, das für die Organisation der Tagung sowie die Herausgabe des Bandes zuständig war, eine für das Doppelprojekt treffende Bezeichnung, deren Bedeutungsspektrum im Übrigen in der äußerst plausiblen Einführung erläutert wird. In der scheinbar prätentiösen Fremdbzw. Neuwortschöpfung verbirgt sich letztlich das, was für die neuartige Formen der Textproduktion für Theater und Performance essentiell ist: Kollektivität, Vielstimmigkeit und Transnationalität. Subsumiert werden unter den Begriff allerdings höchst unterschiedliche Textphänomene, und zwar nicht nur solche die in kollektiven Probenprozessen, sondern auch in fiktiv sozialen Räumen unter Beteiligung des Publikums generiert werden, ferner auf Recherchearbeit fundierte oder exophon bzw. (post-)migrantisch vollzogene Stückentwicklungen. Diese Diversität wird in der gesamten Publikation ganz entschieden hervorgehoben, unterschiedliche Formen sehr differenziert ausgelotet, ohne in allzu pauschalisierende epistemologische Modi zu verfallen. Der Wert des Buches ist aber vor allem damit begründet, dass er ein bis dato sehr sparsam beachtetes Forschungsfeld mutig betritt und diese spürbare wissenschaftliche Lücke zumindest partiell schließt. Der Band ist interdisziplinär angelegt, denn die versammelten 16 Beiträge wurden sowohl von Vertreter*innen der Kunst bzw. der Dramaturgie als auch der Wissenschaft verfasst. So gestaltet sich das Buch in seiner Vielstimmigkeit selbst zu einem Quasi-TogetherText, zumal er nicht nur strikte wissenschaftliche Artikel, sondern auch dialogische, essayistische und künstlerisch angehauchte Texte zusammenbringt. Obwohl das Spektrum der voneinander inhaltlich, stilistisch - und teilweise auch qualitativ - sehr divergierenden Beiträgen sehr breit ist, liegt der Gesamtpublikation ein sehr durchdachtes redaktionelles Konzept zugrunde. Nach dem einleitenden Teil, in dem institutionelle und theatergeschichtliche Aspekte verhandelt werden, folgen drei Kapitel, die unterschiedliche Arten der gemeinsamen Texterzeugung fokussieren. Es handelt sich dabei zunächst um Texte, bei deren Entstehung das gesamte Produktionsteam während der Proben beteiligt ist, ferner um Texte, die entweder durch ein unabhängiges Kollektiv oder in der Zusammenarbeit zwischen Regie und Laien bzw. thematisch Beteiligten generiert werden. Während in diesen beiden Fällen das Publikum in den Entstehungsprozess nicht involviert ist, stützt sich die dritte Kategorie gerade auf dessen aktive Beteiligung an der Texterzeugung. Alle drei Tendenzen werden mit konkreten, meist deutschlandzentrierten künstlerischen Beispielen exemplifiziert, wobei besonderes Augenmerk dem Künstlerkollektiv SIGNA gilt, dessen Projekten insgesamt drei Beiträge gewidmet sind. Dieses Ungleichgewicht bzw. die Unvollständigkeit einschlägiger Beispiele bildet einen Schönheitsfehler des Bandes, der letztlich keinesfalls einen Anspruch auf Lückenlosigkeit erhebt. Dies betrifft auch die unterrepräsentierte Verortung des Phänomens in aktuelle internationale Kontexte, was allerdings mit einer ausführlichen Forum Modernes Theater, 34/ 1, 142 - 143. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023 - 0012 Darstellung der internationalen Vorgeschichte des Trends gewissermaßen kompensiert wird. Einer der großen Vorteile des Bandes ergibt sich daraus, dass die Beiträge bemüht sind, Modelle wissenschaftlicher Herangehensweisen an die prozessual erzeugten und oft ephemeren sprachlichen Artefakte zu entwerfen, über Textdokumentation, -autorisation und -analyse zu reflektieren und zumindest ansatzweise ein theoretisches wie methodologisches Instrumentarium zu liefern. Lobenswert ist auch, dass die besprochenen Textphänomene konsequent sowohl mit szenischen als auch gesellschaftlichen Kontexten in Verbindung gesetzt werden. So kreisen die Beiträge nicht nur um exakte künstlerische Inhalte, sondern nehmen rechtliche, wirtschaftliche, institutionelle und nicht zuletzt genderspezifische Aspekte ins Visier. Dies geht mit einer auffallenden Aufgeschlossenheit für gesellschaftliche Differenzierung einher. Die Multiperspektivität der Publikation in theoretisch-analytischer Reflexion korrespondiert gleichsam mit der Heterogenität der gegenwärtiger Lebensentwürfe. In dieser Hinsicht gestaltet sich der Band letztlich zu einem Plädoyer für die prozessual erzeugten Texte als Antidoton zum menschenverachtenden Gebrülle in unserer mediendominierten Realität. Mit dem sehr gut wissenschaftlich fundierten Band, der auf ein deutliches Forschungsdesiderat reagiert, wird im Großen und Ganzen ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der neuen Tendenzen im Gegenwartstheaters vorgelegt. Gerade vor dem Hintergrund des bisher eher bescheidenen Interesses an dem Phänomen und der daraus resultierenden sparsamen Forschungsliteratur avanciert das Buch zu einem relevanten wissenschaftlichen Wegweiser. Die Publikation erschöpft zwar keinesfalls die Problematik, aber die mit ihr initiierte ‚ Neuvermessung ‘ der Sprache im Theater und in der Performance verhilft mit Sicherheit zum Verständnis und zur Etablierung dieser neuen, bislang oft unterschätzten Textformen. Ł ód ź A RTUR P E Ł KA Ulf Otto (Hg.): Algorithmen des Theaters. Ein Arbeitsbuch. Berlin: Alexander Verlag 2020, 326 Seiten. Ein Arbeitsbuch ist ein Buch, das zu einem bestimmten Thema wesentliches Wissen versammelt. In diesem von Ulf Otto herausgegebenen Arbeitsbuch trifft das Thema Technologie - in Gestalt von Algorithmen - auf das Theater, dessen Ästhetik und Arbeitsweisen. 13 Beiträge gehen diesem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven nach. Theatertheoretische und -ästhetische Essays sowie Arbeitsberichte von Theatermacher*innen kommen hier gleichermaßen vor. Sie geben Einblicke in gegenwärtige Theorie und Praxis, in die vielfältigen Arten und Weisen, wie Algorithmen im Theater zur Anwendung kommen. Interessant erscheint mir hierbei, dass Algorithmen neue Formate hervorbringen, die sich weg von einer Stückentwicklung hin zu „ Prinzipien der Spielentwicklung “ (56) bewegen, wie der Arbeitsbericht von Georg Werner treffend beschreibt. Überraschenderweise interessiert sich der erste Beitrag des Bandes aber nicht für das Theater, sondern für eine Inszenierungsgeschichte von Algorithmen in Performances. Martina Leeker gibt hier einen blitzlichtartigen Abriss der Geschichte des Performens von und mit Algorithmen seit den 1960er Jahren und zeigt, wie diese verborgen, vermieden und - in der Gegenwart - verharmlost werden. Nur eine Rekonstruktion dieser Geschichte sowie eine gegenwärtige Standortbestimmung könne, so die Autorin, eine Kritik an der Wirkmacht algorithmischer Gouvernementalität ermöglichen. Sowohl in diesem Beitrag als auch dem gesamten Sammelband wird ersichtlich, dass Algorithmen und Big Data dominante Machtformen unserer Zeit sind. Dem geht der Beitrag von Ulf Otto tiefgründig nach. So skizziert er infolge von Technologisierung einen gesamtgesellschaftlichen Umbruch, der seine Auswirkungen auch im Theater zeigt. Der Autor beschreibt ein Theater der Kontrollgesellschaft, das ein Theater der Disziplinarmacht verabschiedet habe. Sein Referenzbeispiel hierfür ist die Performance Algorithmen von Turbo Pascal. Diese Forum Modernes Theater, 34/ 1, 143 - 145. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0013 143 Rezensionen analysiert er sowohl als Reflexion als auch Bestandteil der Kontrollgesellschaft und kann um dieses Beispiel herum eine grobe, aber interessante These zur Verwobenheit von Theater, Gesellschaft, Macht und Technologie erbringen. Mit den technologischen Veränderungen, die sich auf den Theaterapparat auswirken, kommen auch gängige Methoden der Theaterwissenschaft (Semiotik, Phänomenologie) an ihre Grenzen, wie Ulf Otto überzeugend argumentiert. Diesen Aspekt bedenkt auch der Sammelband mit. Die verschiedenen Arbeitsberichte der Theatermacher*innen des Sammelbandes sind daher notweniger Bestandteil sowohl einer inhaltlichen als auch methodischen Bestandsaufnahme der Transformation von Theater infolge der Technologisierung. Deutlich wird auch, dass ethnographische Methoden geeignet sind, neues Wissen zum Theaterapparat zu genieren. So zeigt der ethnographisch angelegte Beitrag von Anna Königshofer, dass Theaterpraxis vor allem eine Praxis des Organisierens sei, in der Technologie eine zentrale Rolle spielt und als „ gestaltende Akteurin “ (255) auftritt. Ein neues Verständnis von Arbeitsprozessen im Theater wird hier hervorgehoben. Künstlerische und nichtkünstlerische Arbeit haben beide einen ähnlichen Stellenwert, wodurch der Mythos des künstlerischen Schöpfers in Frage gestellt wird. Der Gleichrangigkeit von Technologie und Mensch geht auch der Beitrag von Jessica Hölzl und Jochen Lamb nach. Sie analysieren die Anwendung von Robotik im Figurentheater. Beide erläutern, dass Technologie zu einer eigenständigen Akteurin gerät, die neben und mit den Performer*innen eine handlungsmächtige Materialität in Performances besitzt. Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Anschlussfähigkeit zum Wissensfeld Posthumanismus. Andere Beiträge des Sammelbandes wenden sich der dramaturgischen Verwendungen algorithmischer Modelle im Theater zu, was durchweg überzeugt und spannend zu lesen ist. So spricht Wolf-Dieter Ernst von einem „ algorithmisch orientierten Inszenierungsansatz “ (314) in seiner Betrachtung der Performance My Square Lady von Gob Squad. Zwar kommen Algorithmen in der Inszenierung in Form eines KI- Roboters vor. Allerdings untersucht der Essay die Nähe der von der Gruppe verwendeten Frage- und Kommunikationstechniken zu algorithmischen Regelsätzen. Ähnlich ist der Beitrag von Michael Bachmann gelagert. Er arbeitet die formalen Regeln heraus, die die Dramaturgie von Dries Verhoevens Wanna Play? und Ontroerend Goeds A Game of You bestimmen. Deutlich wird in diesen Beiträgen, dass Algorithmen zu neuen Performanceformaten führen, die auf bestimmten Spiel-Regeln aufbauen. Auch der ausführliche Beitrag von Nina Tecklenburg ist hier einzuordnen und gibt der Debatte zudem neue Akzente. Ihr Beitrag ist vielschichtig, da er eine Theorie der Narration im Theater als Reflexion auf die digitale Kultur erbringt und zusätzlich Einblicke in die Arbeiten ihres Performance- Kollektivs Interrobang gewährt. Sehr anschaulich kann sie hierbei erläutern, dass die Zuschauer*innen zum aktiven Teil der Erzählakte werden und das Narrative mit hervorbringen. Über die Beiträge hinweg wird deutlich, dass die besprochenen Theaterformate neue Weisen der Interaktion mit Zuschauer*innen und Modi der Publikums- Involvierung generieren. Die verschiedenen Arbeitsberichte akzentuieren zudem, welche Überlegungen und Technologien hierfür notwendig sind. Besonders das Format des Spiels wird in allen Beiträgen genannt und zeigt meiner Ansicht nach eine wichtige Neuerung gegenwärtiger Ästhetiken bei der Betrachtung von Theater und Technologie an. Dass Spiele auch in Form von Computerspielen mit performativen Formaten zusammenhängen, unterstreicht der Beitrag von Sascha Förster und Sabine Päsler. Beide analysieren die Londoner Produktion enter wonder.land und die Berliner Arbeit Filoxenia. Gezeigt wird hierbei, dass „ Strukturen, Praktiken und Erfahrungen “ (142) aus dem Bereich der digitalen Kultur in die performativen Künste fließen und dramaturgische Elemente von Open-World- und Explorative Games in sich aufnehmen. Mit diesem breiten Spektrum an Beobachtungen und Analysen zu neuen Formaten, Produktionsbedingungen und Ästhetiken scheint mir dieses Buch eine sehr gute Grundlage in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft für sowohl weitere Forschungen zu Theater und Technologie als auch darüber hinaus abzugeben. Schließlich wird durch die Beiträge hinweg gezeigt, dass Diskurse sowie Praktiken um Technologie und Theater neu zu bestimmende 144 Rezensionen Begrifflichkeiten (z. B. Spiel, Immersion, Narration) einfordern. Zudem heben sie den Grundkern der Theaterwissenschaft als interdisziplinäres Fach deutlich hervor. Was im Sammelband allerdings noch fehlt, ist die Verhandlung von ‚ race ‘ und ‚ disablility ‘ sowie queerfeministische Forschungsperspektiven. Schließlich eröffnen bspw. Arbeiten von Anna Fries, dgtl fmnsm, Hyphen-Labs oder Swoosh Lieu bisher noch ungenannte Aspekte des Ineinanderwirkens von Technologie, Gesellschaft und Theater. Überhaupt bleibt die Frage nach einer Begriffsbestimmung von Theater im Sammelband unbestimmt. Trotz dieser Unbestimmtheit demonstriert das von Ulf Otto herausgegebene Arbeitsbuch sehr anschaulich und durchweg überzeugend, dass Theater in der technologischen Bedingung der Gegenwart sowohl inhaltlich als auch methodisch neu verortet werden muss. Berlin K ARINA R OCKTÄSCHEL Lotte Schüßler: Theaterausstellungen. Spielräume der Geisteswissenschaften um 1900. Göttingen: Wallstein 2022, 289 Seiten. Hartnäckig hält sich das Bild von Geisteswissenschaftler*innen, die für ihre Arbeit einzig ihren Kopf benötigen. Entsprechend subsumierte man die Geschichte der Geisteswissenschaften lange Zeit unter die Geistes- und Ideengeschichte oder erzählte sie entlang der Biografien großer Denker [sic! ] und ehrwürdiger Institutionen. Seit einigen Jahren artikuliert sich allerdings ein Interesse an den institutionellen und materiellen Bedingungen geisteswissenschaftlichen Wissens. In diesem Kontext steht die Dissertation der Theater- und Medienwissenschaftlerin Lotte Schüßler, in der sie nicht nur eine neue Perspektive auf die Fachgeschichte der Theaterwissenschaft eröffnet, sondern Einblick in eine interdisziplinäre, praxis- und medienorientierte Geschichte der Geisteswissenschaften gewährt. Schüßler verlagert dafür den Schauplatz ihres Interesses aus dem Innern der Universitäten in die Hallen von Theaterausstellungen, einer Spielform der Welt- und Großausstellungen, die bekanntermaßen im Zeitraum von 1880 bis in die 1920er Jahre in Europa vielerorts florierten. Innerhalb dieser Ausstellungen, so die Kernüberlegung, konnten Diskurse und Praktiken der Geisteswissenschaften erprobt, in Frage gestellt und vor Fachpublikum sowie einer allgemeineren Öffentlichkeit popularisiert werden. Ausgangspunkt von Schüßlers Erzählung über die Entstehung der Theaterwissenschaft ist dementsprechend nicht die ‚ Entdeckung ‘ der Aufführung. Sie interessiert viel mehr, wie das Wissen über Theater im Zusammenspiel von Medien, Objekten und Praktiken sowie in der Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaften in den im Untertitel als „ Spielräume “ apostrophierten Ausstellungen hergestellt und vermittelt wurde. Der Aufbau des schön gestalteten (Umschlaggestaltung: Max Bartholl) Buchs ist so klar wie einleuchtend. Nach einer kurzen Einführung in historische Tiefendimensionen des Ausstellens von Theater führt jedes der Kapitel durch eine von drei Ausstellungen im deutschsprachigen Raum: Wien 1892, Berlin 1910 und Magdeburg 1927. Die Autorin stellt dabei keine spektakulären Inszenierungen von Wissen vor, sondern fokussiert Medien und deren Gebrauch, die sich „ durch ihre zugleich wissenschaftlichen, populären und pädagogischen Eigenschaften auszeichnen “ (21): Dazu gehören Exponatlisten, Fachsystematiken und Raumpläne (Wien), Ausstellungsberichte und -kataloge (Berlin), Bühnenmodelle, aber auch „ neue Medien “ wie Rundfunk, Film und Grammophon (Magdeburg). Eine diskursive Klammer bilden Überlegungen zu sich wandelnden Konzepten von „ Anschauung “ , die von Ausstellungsmacher*innen und Geisteswissenschaftlern unterschiedlich bewertet wurden: Während in Museums- und Ausstellungsdiskursen schon früh über (medien-)pädagogische Konzepte der Vermittlung qua Anschauung nachgedacht wurde, bewertet Schüßler, insbesondere im diskursgeschichtlich orientierten 2. Kapitel, philosophische Fakultäten demgegenüber vor allem als Orte durchaus elitärer Innerlichkeit. Beleuchtet werden zudem die Verhältnisse von Theaterwissenschaft und anderen geisteswissenschaftlichen Fächern: Geht es im ersten Kapitel um die Musikwissenschaft und im zweiten um die Literaturwissenschaft (ein Klassiker der Fach- Forum Modernes Theater, 34/ 1, 145 - 147. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0014 145 Rezensionen geschiche, den Lotte Schüßler dank ihres Fokus auf Medien und Praktiken des Ausstellens jenseits der Konkurrenz von Theaterwissenschaft und Germanistik erzählen kann), konzentriert sich das dritte Kapitel auf die Beziehung der Theaterwissenschaft zu den im Entstehen begriffenen Wissenschaften der neuen Medien. Auch hier greift die Autorin einen bekannten Topos auf: den Ausschluss dieser neuen Medien aus dem Gegenstandsbereich der Theaterwissenschaft zum Zweck ihrer eigenständigen akademischen Etablierung. Schüßler rezipiert nicht nur Ansätze aus der Fachgeschichtsschreibung, die dies für einige Institute bereits problematisiert haben [1], sondern es zeigt sich auch ein Vorteil ihres gewissermaßen post-institutionellen Wissenschaftsverständnisses: Wissenschaft spielt sich eben nicht nur in der Universität ab; sie wird an unterschiedlichen Orten verhandelt, in Frage gestellt oder weiterentwickelt. Somit fragt die Autorin nicht, welche Wissensbereiche Einfluss auf im engeren Sinne wissenschaftliche Wissensproduktion hatten, sondern die Schauplätze dieser Produktion sind von vornherein deutlich weiter gefasst. Mit dem Verweis auf Ansätze einer wissen(schaft)shistorischen Performanzanalyse [2] geht es ihr ausdrücklich auch um (noch) ungesichertes Wissen oder sich nicht verwirklichende Bestrebungen. Dafür bleibt Schüßler stets nah an den historischen Objekten, Akteur*innen und Praktiken. An einigen Stellen hätte die Analyse der Übergänge zwischen inner- und außerakademischer Wissenschaft sowie deren Genealogien und prekären Beziehungen durch die Präzisierung von Wissens- und Wissenschaftsbegriffen vertieft werden können. Zudem hätten das erweiterte Wissenschaftsverständnis sowie die Untersuchungsgegenstände die stärkere Einbeziehung der bei den drei Ausstellungen unterschiedlich wichtigen Rolle von Theatergewerbe- und -technik zugelassen, z. B. im Hinblick auf die Frage der Wünschbarkeit einer wissenschaftlichen Ausbildung von Seiten unterschiedlicher Professionen sowie die Graubereiche von Wissenschaft, Gewerbe und Technik und die damit verbundenen Transferleistungen und Performanzen. Dies wäre sicherlich gelungen, da eine Stärke der Arbeit gerade darin besteht, Wissensbereiche und -praktiken in die Besprechung eingehen zu lassen, deren Anteil an der Herausbildung eines Wissens vom Theater bisher nicht beachtet wurde, wie etwa die Fertigkeiten und Kenntnisse der Bibliothekswissenschaft und -praxis (Kap. 1). Besonders interessant sind außerdem die Ausführungen zu den Sonderausstellungen in Magdeburg (Kap. 3). Hier argumentiert die Autorin überzeugend für eine (erneute) Historisierung medienbezogener Debatten in der Theaterwissenschaft und versammelt dafür eine Fülle anregender Denkanstöße in Wissen(schaft)sfelder wie Rundfunk- und Filmwissenschaften (in spe), denen vertiefend nachzugehen sich lohnen würde. Aktuelle Debatten um das Verhältnis von Theater und neuesten Medien könnten vor diesem Hintergrund nicht nur hinsichtlich des Gegenstandsverständnis nachvollzogen, sondern in Bezug auf die (historische) Wissenschaftspraxis justiert werden. Schüßlers Ausblick in die Öffnung des Faches bietet dann vielleicht auch Stoff für Diskussionen: Sicherlich ging die Umbenennung von Theaterin medienorientierte Institute einher mit Öffnungen des Faches, die die Autorin nicht erst in den 1960er Jahren situiert, sondern - und das ist eine gelungene Volte des Buches - durch ihren Fokus auf die Spielräume der Magdeburger Ausstellung in die Anfänge der Disziplin einschreibt. Gleichzeitig ließen sich an diese Überlegung aktuelle wissenschaftspolitische Fragen aber auch solche nach institutionellen Eigenheiten anschließen, die vielleicht nicht nur entlang der Unterscheidung in (progressive) Öffnung und (elitäre) Abgrenzung bewertet werden müssen. Das Buch schließt mit einem Ausblick in die Zeit nach dem Boom der Theaterausstellungen und deutet interessante Aspekte des Nachlebens dieser Großprojekte, die unter anderem in die Gründung der FIRT/ IFTR führen, an. Lotte Schüßlers Buch liest sich nicht nur als spannende wissenschaftsgeschichtliche Besprechung des Genres der „ Theaterausstellungen “ und als inspirierende Einleitung in eine interdisziplinäre Geschichte der Theaterwissenschaft, sondern lädt zum Nachdenken über das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften sowie die Modi ihrer Wissensproduktion und -vermittlung jenseits des gelehrten Diskurses ein. [1] Vgl. z. B. Corinna Kirschstein, Theater - Wissen - Historiographie. Studien zu den Anfängen theaterwissenschaftlicher Forsch- 146 Rezensionen ung in Leipzig, Leipzig 2009; Nora Probst, Objekte, die die Welt bedeuten. Carl Niessen und der Denkraum der Theaterwissenschaft, Stuttgart 2023. [2] Vgl. Viktoria Tkaczyk, „ Performativität und Wissen(schaft)sgeschichte “ , in: Klaus W. Hempfer/ Jörg Volbers (Hg.), Theorien des Performativen. Sprache - Wissen - Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2011, S. 115 - 139. Berlin T HEKLA S OPHIE N EU ß 147 Rezensionen Autorinnen und Autoren Silke Felber ist habilitierte Theater- und Kulturwissenschafterin und forscht u. a. zu Dramaturgien der Durchquerung, Ästhetiken des Überdauerns und zur Performativität des Olfaktorischen. Aktuell leitet sie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien das FWF- Projekt Performing Gender in View of the Outbreak. Ihre Habilitationsschrift Travelling Gestures. Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-) Durchquerung erscheint im Frühjahr 2023 bei mdwPress. Susanne Foellmer is Full Professor in Dance Studies at the Centre for Dance Research (C- DaRE), Coventry University, UK. She has researched and published widely on aesthetic theory, materiality, and corporeality in contemporary dance and the Weimar Era, interrelations between dance and ‘ other ’ media, and the criticality of choreography in politics. Nicole Haitzinger ist Professorin für Tanzwissenschaft/ szenische Künste und wissenschaftliche Leitung des transdisziplinären und interuniversitären Doktoratskollegs Wissenschaft und Kunst: Die Künste und ihre öffentliche Wirkung in Salzburg sowie im Leitungsteams des Universitätslehrgangs Kuratieren in den szenischen Künsten. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Resonanzen des Tragischen, die Inszenierung Europas und Moderne als Plural. Aktuell forscht sie zu Border Dancing Across Time. The (Forgotten) Parisian Choreographer Nyota Inyoka, her Œ uvre, and Questions of Choreographing Créolité. Ausgewählte Publikationen: Resonanzen des Tragischen (2015), Dancing Europe. Identities, Languages, Institutions (2022). Sie lebt und arbeitet in Paris und Salzburg. Thekla Sophie Neuß, M. A., ist wissenschaftliche Koordinatorin der Initiative „ Akademisierung der Künste “ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und assoziierte wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin. In ihrem Promotionsprojekt arbeitet sie an einer Wissensgeschichte des Gegenwartstheaters. Artur Pe ł ka, Dr. habil. - Professor am Institut für Germanistik der Universität Ł ód ź , Leiter der Abteilung für Deutschsprachige Medien und Österreichische Kultur, Germanist und Theaterwissenschaftler, Humboldt-Stipendiat. 2017 Habilitation an der Universität Ł ód ź mit der Studie Das Spektakel der Gewalt - die Gewalt des Spektakels Deutschsprachige Theatertexte zwischen 9/ 11 und Flüchtlingsdrama (transcript 2016). Publikations- und Forschungsschwerpunkte: Drama im 20./ 21. Jahrhundert, deutschsprachiges Theater in Polen, österreichische Gegenwartsliteratur, Körperlichkeit und Gewalt, gender- und queer-studies. Julia Prager ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Medienwissenschaft und NdL der TU Dresden. Nach dem Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft an der LFU Innsbruck erfolgte ebendort die Promotion mit einer Arbeit zu Frames of Critique. Kulturwissenschaftliche Handlungsfähigkeit ‚ nach ‘ Judith Butler. Seit 2019 leitet sie das DFG-Netzwerk „ Versammeln. Mediale, räumliche und politische Konstellationen. “ Seit 2022 verfolgt sie ihr Habilitationsprojekt „ Theater der Anderssprachigkeit “ im Rahmen des von ihr gemeinsam mit Lars Koch geleiteten DFG-Projekts „ Theater der Trans-lation. Dynamiken und Konstellationen von Übersetzen und Herabsetzen in Theater und Performance des 21. Jh. “ Tanja Prokic´ ist seit 2021 Vertretungsprofessorin am Institut für Deutsche Philologie an der LMU München. 2021 habilitierte sie sich mit der Arbeit „ Die Literarische Moderne und das Neue Sehen “ . Von 2017 bis 2021 war sie Teilprojektleiterin des Projekts „ Theater der Diskriminierung. Darstellung und Reflexion invektiver Dynamiken in Gegenwartstheater, Performance und Aktionskunst “ im SFB 1285 „ Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung “ an der Forum Modernes Theater, 34/ 1, 148 - 149. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2023-0015 TU Dresden. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Medienästhetik des Digitalen, das Verhältnis von Affekt- und Medientheorie sowie deutsche Literaturgeschichte, speziell des 20. und 21. Jahrhunderts. Karina Rocktäschel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 1171 Affective Societies, wo sie zu „ Spektren der Immersion “ forscht. Im Rahmen des Projektes untersucht sie die Potentiale des Immersiven anhand einer Bandbreite an Bespielen aus der Geschichte der Performance Art (z. B. Senga Nengudi, Coco Fusco) und der Gegenwart (z. B. dgtl fmnsm, Onlinetheater. Live). Ihre Interessen liegen im Bereich von queerfeministischen Performances und Theater sowie deren Theorien und Methoden, in Institutionskritik und neueren Ansätzen der kritischen Phänomenologie. Katja Schneider ist Professorin für Tanzwissenschaft an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK) in Frankfurt. Sie promovierte 1996 in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft mit einer interdisziplinären Arbeit zu dem Theaterautor Johann Christian Krüger und habilitierte sich 2013 mit der Schrift Tanz und Text. Figurationen von Sprache und Bewegung (München 2016) am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München, dem sie auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin angehörte. Zwischen 1992 und 2012 schrieb sie als Kritikerin für Tanz und Performance u. a. für die Süddeutsche Zeitung und berichtete für den Deutschlandfunk, als Redakteurin arbeitete sie für die Fachmagazine tanzdrama, tanzjournal und tanz (1992 - 2012). Julia Stenzel ist seit 2012 Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg- Universität Mainz. Im Sommer 2019 war sie Vertretungsprofessorin für Religion und Gesellschaft am Forum Internationale Wissenschaft der RWU Bonn, von WiSe 2021/ 22 bis SoSe 2022 für Theaterwissenschaft an der LMU München. Sie studierte Dramaturgie, Komparatistik und Germanistik an der LMU München, wo sie 2007 promoviert wurde und sich 2017 habilitierte. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Theater, Religion und Gesellschaft in globaler Perspektive, Theater- und Demokratietheorie; Theatralität der Vormoderne und ihre ‚ moderne ‘ Pluralisierung, Environmental Theatre und Iranisches Gegenwartstheater. Johanna Zorn ist Theater-, und Literaturwissenschaftlerin. Nach dem Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Innsbruck, Aix- Marseille und Zürich erfolgte die Promotion mit der Arbeit Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes (2017) am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München. Seit Oktober 2016 ist sie ebendort als Akademische Rätin a. Z. tätig. Unter dem Arbeitstitel „ Im Maßstab 1 zu 1 - Ästhetische Aporien der Deckungsgleichheit “ arbeitet sie derzeit an ihrem Habilitationsprojekt. Magdalena Zorn ist Professorin für Musikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Im Anschluss an ihre Tätigkeit als Musiktheaterdramaturgin am Theater St. Gallen wurde sie mit der Arbeit Stockhausen unterwegs zu Wagner (Wolke 2016) promoviert. Ihre musikphilosophische Habilitationsschrift erschien unter dem Titel Was ihr hört: Werke, was sie durch uns gewesen sein werden (Edition text +kritik 2021). Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in den Bereichen Musikgeschichte des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, Musiktheater, Musikästhetik und Musikphilosophie. 149 Autorinnen und Autoren Das neue Standardwerk der Theater- und Tanzwissenschaften Theater und Tanz Hochholdinger-Reiterer | Thurner | Wehren [Hrsg.] Handbuch für Wissenschaft und Studium H a n d b u c h Nomos rombach wissenschaft Portofreie Buch-Bestellungen unter nomos-shop.de Alle Preise inkl. Mehrwertsteuer e Library Nomos nomos-elibrary.de Nomos Die Vorstellungen von Theater und Tanz waren und sind ebenso breit wie anschlussfähig. Dies gilt auch für die wissenschaftliche Beschäftigung damit. Im Handbuch geben Expert: innen Einblicke in Geschichte(n), Definitionen und Grundbegriffe, Methoden und Theorien sowie unterschiedliche Arbeitsfelder. Ihre Beiträge reflektieren je den neuesten Stand der Forschung, formulieren historische und aktuelle Positionen und Diskurse, benennen Desiderate und zeigen im Zusammendenken von Theater und Tanz neue und mitunter überraschende Perspektiven auf. Das Buch richtet sich an Wissenschaftler: innen, Studierende, Praktiker: innen und an alle Interessierten, die aktuell und fundiert informiert werden möchten. Theater und Tanz Handbuch für Wissenschaft und Studium Herausgegeben von Prof. Dr. Beate Hochholdinger-Reiterer, Prof. Dr. Christina Thurner und Dr. Julia Wehren 2023, ca. 700 S., geb., ca. 98,- € ISBN 978-3-8487-8475-2 E-Book 978-3-7489-2855-3 (NomosHandbuch) Erscheint ca. August 2023 Inhalt Berenika Szymanski-Düll (München) Editorial ......................................................................................................................................................................... 5 Aufsätze: Nicole Haitzinger (Salzburg) Hanamichi und Mie-Pose: Modern imprägnierte Versatzstücke des japanischen Kabuki in Max Reinhardts frühen Bühnenmodellen und Inszenierungskonzepten ........................................................ 6 Susanne Foellmer (Coventry) Don’t Move! Choreography as a Means of Arranging Protest in Times of Curfew .......................................... 18 Themenheft: Intensive Umgebungen. Zu environmentalen Gefügen ästhetischer Erfahrung Johanna Zorn (München) Editorial - Intensive Umgebungen. Zu environmentalen Gefügen ästhetischer Erfahrung ........................... 35 Aufsätze: Silke Felber (Wien) Compost Turn. Neue Bestattungsprodukte im Spannungsfeld von Ökologie und Atmosphäre .................... 39 Magdalena Zorn (Frankfurt am Main) ABBAs Hologramm-Show. Mit ‚Gestorbenem‘ leben ........................................................................................... 54 Julia Prager (Dresden) Verräumlichung von Oberflächlichkeit. Zur Gestaltung einer Szenosphäre bei Susanne Kennedy (Drei Schwestern, Münchner Kammerspiele, 2019) .............................................................................................. 66 Tanja Prokić (München) Do you get the #vibe? Zur postdigitalen Medienästhetik der Atmosphäre ....................................................... 80 Katja Schneider (Frankfurt am Main) Choreographien in/ der Distanz. Affizierung im Transit ...................................................................................... 97 Johanna Zorn (München) Meer sollst du sein, und Wald werden. Über eine neue Ästhetik der Einswerdung ...................................... 111 Julia Stenzel (Mainz) Agora abbauen. Theater als metökische Konstellation ....................................................................................... 127 Rezensionen: Karin Nissen-Rizvani, Martin Jörg Schäfer (Hg.): TogetherText. Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater (Artur Pełka) ........................................................................................................... 142 Ulf Otto (Hg.): Algorithmen des Theaters. Ein Arbeitsbuch. (Karina Rocktäschel) ......................................... 143 Lotte Schüßler: Theaterausstellungen. Spielräume der Geisteswissenschaften um 1900 (Thekla Sophie Neuß) ............................................................................................................................................. 145 Autorinnen und Autoren ........................................................................................................................................ 148 ISBN 978-3-381-10731-5