eJournals

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
Narr Verlag Tübingen
0120
2025
351-2 Balme
Band 35 Heft 1+2 enthält das Themenheft: Performances of Belonging. Verflechtungen von Theater, Gesellschaft und Moderne herausgegeben von Anke Charton und Theresa Eisele begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Berenika Szymanski-Düll (München) Schriftleitung: Johanna Zorn (München) in Verbindung mit Wolf-Dieter Ernst (Bayreuth), Doris Kolesch (Berlin), Peter Marx (Köln), Evelyn Annuß (Wien), Martin Puchner (Cambridge, Mass.), Kati Röttger (Amsterdam), Gerald Siegmund (Gießen), Meike Wagner (München) und Matthias Warstat (Berlin) FORUM MODERNES THEATER erscheint zweimal jährlich. Das Jahresabonnement kostet € 75,-, das Einzelheft € 45,-, das Doppelheft € 90,- (jeweils zzgl. Postgebühren).Vorzugspreis für private Leser € 60,- (zzgl. Postgebühren/ Lieferung und Rechnung an Privatadresse), sofern Sie dem Verlag schriftlich mitteilen, dass Sie die Zeitschrift ausschließlich für den persönlichen Gebrauch beziehen. Erfolgt keine Abbestellung bis zum 15. November, so verlängert sich das Abonnement automatisch um ein Jahr. Bibliotheken bieten wir zusätzlich ein kombiniertes Print- & Online-Abonnement an. Bitte kontaktieren Sie den Verlag. Publikationssprachen: Deutsch, Englisch Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Gewähr übernommen. Die Richtlinien für die Eingabe von Manuskripten können unter https: / / files.narr.digital/ Dateien/ stylesheetfmth.pdf abgerufen werden. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. www.forum-modernes-theater.de Anschrift der Schriftleitung: PD Dr. Johanna Zorn Ludwig-Maximilians-Universität Institut für Theaterwissenschaft Georgenstraße 11 80799 München fmt@lrz.uni-muenchen.de Rezensionsexemplare bitte senden an: Prof. Dr.Wolf-Dieter Ernst Theaterwissenschaft GW1 Zimmer 2.18 Universitätsstr. 30 95447 Bayreuth W.Ernst@uni-bayreuth.de Anschrift des Verlags: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Inhalt Berenika Szymanski-Düll (München) Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Aufsätze Nadja Rothenburger (Bern) „ Wer bin ich eigentlich? “ - Auto_Choreo_Grafie in Barbara Lubichs Tanzdokumentation Im Umbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Eva Döhne (Frankfurt am Main) Ins Licht getauchte Körper und gespiegelte Blicke. Gob Squads Creation (Pictures for Dorian) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Patrick Aprent (Vienna/ Munich), Magret Berger (Vienna/ St. Pölten) Female Theatre Managers in ‘ Peripheral Spaces ’ . Re-Mapping the 19 th -Century Habsburg Monarchy Theatre Landscape . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Stefan Hölscher (Bochum) Geschichte und die Krise der dramatischen Form: Handlungsfäden und Handlungsgewebe zwischen Hauptmanns Die Weber (1892), Brecht, Szondi und Polleschs Passing (2020) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Matthias Mansky (Salzburg) Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Themenheft: Performances of Belonging. Verflechtungen von Theater, Gesellschaft und Moderne Anke Charton, Theresa Eisele (Wien) Editorial - Performances of Belonging. Verflechtungen von Theater, Gesellschaft und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Aufsätze Anna Sacher (Wien) Performative Zugehörigkeiten. Levke Harders ’ ‚ doing belonging ‘ in Justitia! Identity Cases (2022) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Barbara Babic´ (Leipzig) Longing to Belong: Performing Habsburg Loyalty across Zara, Vienna, and Zagreb c. 1814 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Lisa Niederwimmer (Wien) „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ Konstruktionen von Gemeinschaft in Carl Elmars Liebe zum Volke (1850) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Friederike Oberkrome, Lotte Schüßler (Berlin) Die Frauenbewegung in Kulturbild und Sozialdrama. Inszenierungen der Teilhabe kurz vor 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Marion Linhardt (Bayreuth) „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? Die Zugehörigkeiten der Grete Wiesenthal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Julia Ostwald (Wien) Denaturalisiertes Atmen: Lígia Lewis ’ Still not Still (2021) im Spiegel respirativer Zugehörigkeiten des frühen modernen Tanzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Rezensionen Noémie Ndiaye. Scripts of Blackness. Early Modern Performance Culture and the Making of Race. (Peter W. Marx) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Theresa Schütz. Theater der Vereinnahmung. Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (Eva Döhne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Frank Schmitz. Spiel-Räume der Demokratie. Theaterbau in der Bundesrepublik Deutschland 1949 - 1975 (Marie-Charlott Schube) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Autor: innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Umschlagabbildung: Brüder Kohn KG (B. K. W. I.) (Verlag), Emil Mayer (Fotograf), “ Wien - Praterleben. Aussenseiter ” [Außenseiter], um 1908, Wien Museum Inv.-Nr. 143813, CC0 (https: / / sammlung.wienmuseum.at/ objekt/ 242493/ ) © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, im Magnettonverfahren oder ähnlichem Weg bleiben vorbehalten. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Jede im Bereich eines gewerblichen Unternehmens hergestellte oder benützte Kopie dient gewerblichen Zwecken gem. § 54 (2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft, Goethestraße 49, 80336 München, von der die einzelnen Zahlungsmodalitäten zu erfragen sind. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 0930-5874 ISBN 978-3-381-12621-7 (Print) ISBN 978-3-381-12622-4 (ePDF) Editorial Berenika Szymanski-Düll (München) Wir leben in einer Zeit multipler Krisen: Klimawandel, gesellschaftliche und politische Polarisierungen, Kriege, wirtschaftliche Unsicherheiten, zerbrechende Koalitionen und Naturkatastrophen. Täglich erreicht uns eine Flut von beunruhigenden Nachrichten, die Gefühle der Ohnmacht und Resignation hervorrufen. Inmitten dieser angespannten und oft bedrückenden Realität wird deutlich, wie wichtig Räume der Reflexion und Begegnung sind. Gerade hier wird die Relevanz des Theaters einmal mehr spürbar. In seiner einzigartigen Kraft zur Vergegenwärtigung, zum Dialog und zur kreativen Auseinandersetzung ermöglicht uns das Theater, uns mit den Themen und Herausforderungen unserer Zeit auf einer ästhetischen Ebene kollektiv auseinanderzusetzen, Perspektiven zu wechseln, Empathie zu entwickeln, kritisches Denken zu fördern. Theater ist nicht nur ein Medium der Unterhaltung, es ist zugleich - und das macht ein Blick in seine Geschichte immer wieder deutlich - eine lebendige Plattform für politische und soziale Auseinandersetzungen. Theater ist also ein Ort, der uns kollektiv fordert und zugleich verbindet. Leider gerät diese wertvolle Funktion des Theaters in der krisengebeutelten Zeit immer wieder aus dem Blick und das Bewusstsein für die gesellschaftliche Relevanz von Kunst und Kultur scheint mancherorts zu bröckeln. Die gegenwärtigen Kürzungen im Kulturetat sind dabei ein alarmierendes Signal. Sie zeugen einerseits von einer Unterschätzung der Rolle von Kunst und Kultur als essenzielle Bestandteile einer lebendigen Demokratie und einer mündigen Gesellschaft. Andererseits führen sie uns die Furcht vor dem Potential des Theaters als Raum für gesellschaftliche Kritik vor Augen. Denn Theater fordert Machtstrukturen heraus. Das zeigen nicht nur zahlreiche Beispiele aus der Geschichte, sondern auch einige beunruhigende Debatten, die im Zuge des zunehmenden politischen Rechtsrucks in Europa entflammen, oder auch aktuelle Reaktionen autoritär regierter Staaten, die kritische Stimmen durch Einschränkungen der künstlerischen Freiheit zum Schweigen zu bringen versuchen, Theaterschaffende zur Selbstzensur drängen und die Vielfalt der Meinungen und künstlerischer Ausdrucksformen der Konformität und der Anpassung zum Opfer fallen lassen. Die wissenschaftlichen Beiträge dieser Doppelausgabe von Forum Modernes Theater greifen zahlreiche Fragen und vielfältigen Aspekte auf, die sich aus den komplexen Verschränkungen von Theater und Gesellschaft ergeben. Nadja Rothenburger stellt Barbara Lubichs Tanzdokumentation Im Umbruch (2020) in den Mittelpunkt ihres Beitrags und untersucht, unter Bezugnahme des Begriffs ‚ Auto_Choreo_Grafie ‘ , wie die Tänzer: innen Daniela Lehmann, Fine Kwiatkowski und Cindy Hammer durch und mit dem Film in einem sozialen und künstlerischen Beziehungsgeflecht situiert werden, wobei die Erfahrung des politischen Mauerfalls von 1989, wie Rothenburger herausarbeitet, zum verbindenden Moment zwischen den Tänzerinnen wird. Eva Döhne analysiert in ihrem Beitrag Creation (Pictures for Dorian) des Kollektivs Gob Squad und fragt in diesem Kontext nach den Mechanismen des Sehens: Inwiefern muss die Lust zu sehen und die Lust sich zu zeigen stets ineinander verschränkt gedacht werden? Und inwiefern ist die Verschränkung Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 5 - 6. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0001 des Sehens über den Blick grundlegend mit der Konstitution des Subjekts verbunden? Patrick Aprent und Magret Berger hingegen entführen uns in die Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts und stellen ausgewählte Theaterleiterinnen ins Zentrum ihrer Untersuchung. Diese Frauen leisteten einen wesentlichen Beitrag zum Theater- und Kulturleben ihrer Zeit, wurden aber, so die beiden Autor: innen, in der späteren Theatergeschichtsschreibung marginalisiert. Stefan Hölschers Beitrag fragt in Rückgriff auf Peter Szondi, inwiefern sich in René Polleschs Passing. It ’ s so easy, was schwer zu machen ist (2020) eine Problematik manifestiert, die auf das Verhältnis von ‚ sozialer Wirklichkeit ‘ und deren Verfremdung im epischen Theater zurückgeht. Der Beitrag von Matthias Mansky hingegen fokussiert Herbert Fritschs Inszenierung von Ferdinand Raimunds Die gefesselte Phantasie am Wiener Burgtheater (2023), die - wie der Autor herausarbeitet - die traditionsbeladenen Inbilder österreichischer Kultur torpediert. Neben den Einzelbeiträgen freuen wir uns, Ihnen auch in dieser Ausgabe ein Themenheft präsentieren zu können, das mit Performances of Belonging betitelt ist und von Anke Charton und Theresa Eisele von der Universität Wien kuratiert wurde. In Rückgriff auf das Beloning-Konzept der Histotikerin Levke Harders stellt es den heute gesellschaftlich virulenten Begriff der ‚ Zugehörigkeit ‘ in den Mittelpunkt des Interesses und fragt - in historischer wie zeitgenössischer Perspektive - , wie performative und theatrale Praktiken an der (Neu-) Ordnung sozialer Strukturen der europäischen Moderne mitwirken und Nicht-/ Zugehörigkeiten aushandeln. Berenika Szymanski-Düll, November 2024 6 Berenika Szymanski-Düll „ Wer bin ich eigentlich? “ 1 - Auto_Choreo_Grafie in Barbara Lubichs Tanzdokumentation Im Umbruch Nadja Rothenburger (Bern) Anhand ausgewählter Filmbeispiele der Tanzdokumentation Im Umbruch (2020) skizziert der Beitrag den Begriff der Auto_Choreo_Grafie als künstlerisches Verfahren und tanzhistoriografische Analysekategorie. Der mit autobiografischen Konzepten verflochtene Begriff bezeichnet im Beitrag die Schnittstelle zwischen den Wissensfeldern von Choreografie und Autobiografie und ermöglicht die Annäherung an eine quellenkritische DDR-bezogene Tanzgeschichtsschreibung. Der Beitrag verfolgt dieses Erkenntnisinteresse angelehnt an die Dramaturgie des Films Im Umbruch, der die Umbruchserzählungen und Selbstentwürfe der drei Tänzerinnen Cindy Hammer, Fine Kwiatkowski und Daniela Lehmann thematisiert. Dabei springt der Film zwischen den Jahren 1980 bis 2019 sowie den Perspektiven der Tänzerinnen verschiedenen Alters. Die filmisch vermittelten Selbstentwürfe werden als tanzhistoriografische Konstellationen verstanden, die sowohl produktionsals auch rezeptionsästhetische Wirkmomente hervorbringen. Anhand einzelner Filmsequenzen diskutiert der Artikel diese Selbstentwürfe, die mit verschiedenen Materialien und Zeitschichten operieren, wobei die geteilte Erfahrung des Mauerfalls ein verbindendes Moment zwischen den Tänzerinnen darstellt. Dies macht den Film als kollektive Autobiografie beziehungsweise Auto_Choreo_Grafie lesbar. Tänzerische Selbstentwürfe und der Film Im Umbruch In der Tanzdokumentation Im Umbruch (2020) schildert die Dresdner Tänzerin Daniela Lehmann eine Kindheitserinnerung, die sich beim Turmspringtraining der Kinder- und Jugendsportförderung der DDR zuträgt. Über ihre Trainerin berichtet Lehmann: Und sie zeigt mir beide Hände mit ‘ ner vollen Zehn, was bedeutete, ich muss vom 10- Meter-Turm springen. Und sie stand dann oben mit mir zusammen, hat mich an beiden Händen gefasst. . . mit ihren beiden Händen (. . .) hing da schon da und sie hat dann (. . .) plötzlich (. . .) losgelassen. Dann bin ich nach Hause und ich weiß noch, dass ich irgendwie meinen Eltern gesagt hab ’ , ich will da nicht mehr hin. 2 Bemerkenswert an dieser Schilderung ist, wie sich Lehmann hier erinnert. Die Tänzerin blickt aus erwachsener Perspektive auf den Vorfall zurück, bei dem sie als Kind trotz ihres Unbehagens vom 10-Meter-Turm springen soll. Sie memoriert den damit verbundenen Bewegungsablauf und ist durch dieses körpervermittelte Wissen in der Lage, einen Zugang zu ihrer Erinnerung zu legen: Dass die Trainerin für sie entscheidet, auf den 10-Meter-Turm zu klettern; wie Lehmann mit ihr auf der Plattform steht; dass die Trainerin sie an den Händen festhält und sie ihr Gewicht nach unten hin verlagert ( ‚ hing schon da ‘ ), etc. Der besagte Bewegungsablauf hat sich ihr eingeprägt und führt wie ein roter Faden durch die Erzählung. Der damit verknüpfte Schreck, also der Vertrauensbruch zwischen Trainerin und der siebenjährigen Sportlerin, wird von Lehmann jedoch nur angedeutet. Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 7 - 22. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0002 Dieser ist in der Schilderung mit einem merkwürdigen Ineinanderfließen der beiden assoziiert, denn kurz bevor Lehmann beschreibt, wie sie unfreiwillig von der 10- Meter-Plattform fällt, lösen sich ihre Hände erzählerisch in denen der Trainerin auf: „ hat mich an beiden Händen gefasst (. . .) mit ihren beiden Händen “ . 3 Und sie unterlässt das Wort ‚ Ich ‘ im Satz: „ hing da schon und sie hat dann (. . .) plötzlich (. . .) losgelassen “ 4 , heißt es. Der Interviewausschnitt Lehmanns gibt jedoch nicht nur - so werde ich im Folgenden argumentieren - ihre individuelle Erinnerung wieder, sondern ist sowohl von kollektiven Narrativen durchzogen als auch vom Gesprächskontext mitgestaltet. Dieser Kontext umfasst u. a. die Filmproduktion (z. B. Filmschnitt und Dramaturgie) sowie die soziohistorische DDR-Forschung der Regisseurin und Tänzerin Barbara Lubich. 5 Die im vorliegenden Beitrag untersuchten tänzerischen Selbstentwürfe wurden folglich von den inhaltlichen Setzungen der Regie mitkonstituiert. Die zitierten Filmausschnitte sind demnach von den künstlerischen Praktiken der Protagonistinnen zu unterscheiden, die für sich betrachtet andere, eigenständige Untersuchungsfragen aufwerfen. Für diesen Beitrag interessiert mich, wie die Tänzerinnen durch und mit dem Film in einem sozialen und künstlerischen Beziehungsgeflecht situiert werden. Die leitende These hierzu lautet, dass sich die Tanzdokumentation mit ihren Protagonistinnen Daniela Lehmann (*1979), Fine Kwiatkowski (*1956), Cindy Hammer (*1989) und Barbara Lubich (*1977) als eine mögliche kollektive Autobiografie lesen lässt, wobei ich diese Annahme mittels des tanzhistoriografischen Begriffs der Auto_Choreo_Grafie verdichte. Ausgewählte künstlerische und lebensweltliche Umbrüche der Protagonistinnen fungieren im Film als thematische Konstellationen mittels derer ein Ausschnitt der 1989 unterbrochenen DDR-bezogenen Tanzdokumentation und Geschichtsschreibung 6 in Augenschein genommen werden kann. Dies evoziert den Rückgriff auf Selbstzeugnisse und andere dokumentarische Verfahren (vgl. Abb. 1), woraus sich die weiterführende Fragestellung ergibt, wie die besprochenen Filmszenen Selbstentwürfe an- und umordnen und auf welche Weise lebensgeschichtliche Topoi dabei herangezogen werden. Ich untersuche also autobiografisch grundierte Setzungen des Films Im Umbruch auf ihre Wissensproduktion und hinsichtlich der jeweiligen (berufsbezogenen) Selbstkonstitution der Tänzerinnen. Um dieses Argument zu stützen, entwickle ich den Begriff Auto_Choreo_Grafie exemplarisch anhand des Films, weil er die Wissensfelder Autobiografie und Choreografie diskursstiftend miteinander verschränkt. Mit diesem Fokus arbeite ich heraus, dass die Selbstentwürfe und Umbruchserzählungen der Protagonistinnen von tanzbezogenem Wissen über autobiografische Selbstkonstitutionen durchzogen sind. Auto_Bio_Grafie und Auto_Choreo_Grafie sind folglich miteinander verschränkt, weshalb auch die vorliegenden Fragestellungen nicht immer trennscharf zwischen Rezeptions- und Produktionsästhetik unterscheiden. Mit der Tanzwissenschaftlerin Bojana Cvejic´ argumentiere ich vielmehr entlang dieses Problems, welches ein produktives Oszillieren zwischen den Perspektiven des Erzeugens, Performens und Beiwohnens erfordert. 7 Auto_Bio_Grafie als tanzhistoriografische Methode Mit dem Begriffskompositum „ Auto_Bio_ Grafie “ 8 untersucht die Tanzwissenschaftlerin Christina Thurner mit Blick auf die Choreografien Hunter von Meg Stuart (2014) und Autobiography von Wayne 8 Nadja Rothenburger McGregor (2017) „ die Reflexion des (eigenen) Lebens über den Körper “ , dessen Verhältnis „ zur Kunst des Choreografischen “ bzw. „ umgekehrt, wie die Kunst des Choreografischen zum (eigenen) verkörperten Leben in Relation gesetzt wird. “ 9 Bei der Engführung von Choreografie und Autobiografie entstehen Formen des Auto-, Bio- und Choreografischen, 10 die Thurner mit Bernhard Siegert als Ordnungs- und Repräsentationssysteme versteht sowie als raum-zeitliche Kulturtechniken liest. 11 Das ‚ (Er-)Schreiben ‘ dieser choreografischen wie lebensgeschichtlichen Ordnungs- und Repräsentationssysteme umfasst vielfältige mediale Spielarten, die Thurner als tänzerisch-autobiografische Performances auf ihr performatives Potenzial untersucht - ein Verständnis, auf das auch ich im Folgenden zurückgreife. 12 Dieses Erkenntnisinteresse erfordert es, kritisch mit den vorgefundenen Materialien umzugehen und dort getroffene (Selbst-) Aussagen gegebenenfalls zu überprüfen, vor allem aber quellenspezifisch einzuordnen, d. h. (Selbst-)Bezeichnung und Provenienz der Materialien zu beachten. Obwohl dabei der ‚ Wahrheitsgehalt ‘ einzelner Aussagen unbedingt berücksichtigt werden muss, ist das Eruieren von Faktizität/ Fiktion für meine Fragestellung doch zweitrangig. Vielmehr geht es mir hier um Darstellungsmodi und deren Wirkweisen; und mit ihnen um die Frage, welche künstlerischen Praktiken Tänzer: innen 13 im Umgang mit dem Wissensfeld Autobiografie entwickeln. Um dieses Erkenntnisinteresse zu verfolgen, ziehe ich die Begriffe autós, bíos, graph ḗ und chorós/ choreía heran, weil sie es ermöglichen, die im Film vorliegenden Selbstentwürfe differenzierter zu reflektieren und hinsichtlich gegenwärtiger (tanz-)historiografischer Diskurse präziser zu verorten. Zudem stütze ich mich auf Thesen von Gabriele Brandstetter 14 und Gerald Siegmund, 15 die für ihre tanzwissenschaftliche Theoriebildung u. a. Subjektkonstitutionen in künstlerischen Praktiken untersuchen. Siegmunds Überlegungen folgend, gehe ich von einem gespaltenen Selbst aus, dessen Abb: 1: Im Umbruch (Dresden 2020), montierte Filmstills © VG Bild-Kunst, Bonn 2024 9 „ Wer bin ich eigentlich? “ vermeintliches Zentrum abwesend ist und das mit tänzerischen Mitteln stets neu an- und umgeordnet beziehungsweise durch diese Umordnungen überhaupt erst aufscheint. 16 Es erfolgt im choreografischen Sinne eine prozesshafte Selbst-Anordnung, wobei dieses Umordnen performativ genutzt wird, um oftmals selbstreflexiv die verwendeten Eigen- und Fremdbilder ins Verhältnis zu überindividuellen Umbruchszählungen zu setzen. Tanzkünstlerische Auto_Choreo_Grafien Das für Im Umbruch konstitutive Verständnis von Choreografie begreift dieselbe als aus den Tanzkünsten heraus entstandene, von Machtverhältnissen durchzogene, ordnungsstiftende Prinzipien, 17 die An- und Umordnungen in Raum-Zeit-Geflechten bedingen und zugleich hervorbringen. Bei diesem Choreografieverständnis muss nicht notwendigerweise mit tänzerischen Bewegungen operiert werden, vielmehr verlagert sich das Choreografische in das bewegtbewegliche ‚ Schreiben ‘ selbst und kann daher auch nicht-menschliche Entitäten betreffen. 18 Damit entfaltet der Begriff „ die Organisation, Gestaltung und Analyse von Bewegung in Raum und Zeit “ 19 , wie die Tanzwissenschaftlerinnen Yvonne Hardt und Anette Hartmann in ihrem Lexikoneintrag „ Choreografie “ feststellen. 20 Siegmund vertieft dieses Verständnis mit Rückgriff auf psychoanalytische Theoriebildung: „ Choreografie ist der körperliche Umgang mit der performativ anwesend gemachten Abwesenheit. Sie ist mit anderen Worten Arbeit an der symbolischen Struktur. “ 21 Doch wie gestalten sich diese räumlichen Anordnungen konkret? Und inwiefern wird eine Ver-Ortung von künstlerischen Selbstentwürfen im Film Im Umbruch vorgenommen? Ein Schlaglicht auf die Etymologie zeigt, dass sich das Wortpartikel ‚ Choreo ‘ in Choreografie aus dem Griechischen ableitet und gleichermaßen auf den Chortanz (choreía) sowie den Tanzplatz (chorós) referieren kann. 22 Mittels seiner konkreten Verknüpfung von Bewegung und Raum, enthält der Begriff also sowohl räumliche als auch zeitlich-bewegte Dimensionen, wobei choreía eher auf die erfolgte künstlerische Darbietung, u. a. den Reigen abhebt, während sich chorós auf den tatsächlichen Tanzplatz, die tanzende Gruppe und die einzelnen Chortänzerinnen beziehen kann. 23 Daraus folgt, dass chorós und choreía zusammen gedacht und in Verbindung mit konkreten Raum- Zeit-Gefügen betrachtet werden müssen. Bíos stammt ebenfalls aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie Leben, Lebensführung, Lebensunterhalt oder auch Vermögen. 24 Aus der Relation zwischen bíos und chorós/ choreía ergeben sich demnach Fragen nach dem Verhältnis eines eigenzeitlichen 25 Als-ob der Kunst, den Lebens- und Selbstperformances und deren Verhältnis zu alltagspraktischen Belangen - denn das gelebte Leben ist mitunter von Zufällen bestimmt, sodass ein Werdegang zwar präskriptiv betrachtet, jedoch rückblickend deskriptiv stets weiter- und umgeschrieben werden muss. Das Spannungsfeld von bíos und chorós/ choreía ist um autós - selbst - zu ergänzen, wobei die Bewegungen des An- und Umordnens als Graph ē , Schreiben, verstanden werden können. Mittels der an- und umordnenden Referenz auf eigene und/ oder fremdbestimmte Selbstentwürfe entstehen selbstbestimmte künstlerische Verfahrensweisen, welche die vielschichtige Angewiesenheit auf andere anerkennen und mit dieser produktiv operieren. Eine solche bewegt-bewegliche und raum-zeitliche Ver-Ortung unternimmt die Regisseurin Lubich, ihrerseits Tänzerin, Videokünstlerin, Soziologin und Historikerin, gleich zu Beginn des Films: Die zunächst 10 Nadja Rothenburger bildlose Leinwand ist mit Tondokumenten von 1989 unterlegt, die sich als charakteristisches, oftmals zitiertes Zeitdokument entpuppen. Obwohl nur für wenige Sekunden Menschenstimmen und diffuser Beifall zu hören sind, gibt sich das akustische Zitat erstaunlich schnell als Zeugnis der Maueröffnungen zu erkennen. Die Stimme Lubichs nimmt die Zuschauenden sodann mit hinein in ihr Erleben der damaligen Geschehnisse: „ Als die Berliner Mauer fiel, war ich ein Kind und sah die Bilder im Fernsehen. “ 26 Das medial vermittelte historische Ereignis führt die Zuschauenden zu Lubichs eigener Geschichte und situiert diese örtlich und zeitlich: „ Ende der 90er Jahre zog ich von Italien nach Deutschland. “ 27 Das thematische Vorzeichen insinuiert, dass der Film eine Art kollektives Ich porträtiert, das sich um den Mauerfall und Lubichs Ankommen im Deutschland der 1990er Jahre anordnet. Genau wie bei den drei anderen Tänzerinnen, wird Lubichs Perspektive auf die Geschehnisse durch die Zäsur des Mauerfalls gedacht. Von dort aus werden auf der Bildebene weitere Verbindungen zu den anderen Tänzerinnen gezogen: „ Das Deutschsprechen fiel mir schwer, aber durch das Tanzen lernte ich Leute kennen. “ 28 So kommentiert die Regisseurin, woraufhin Lubich und Lehmann als Tänzerinnen in einem Bühnentanzstück zu sehen sind oder eine Gesprächssituation mit Kwiatkowski gezeigt wird. 29 „ Ich begann über Tanz und Gesellschaft zu forschen. “ , heißt es weiter, „ Und meine Kamera war immer dabei. “ 30 Die Tänzerinnen Cindy Hammer, Daniela Lehmann und Fine Kwiatkowski werden namentlich genannt und mit jeweils signifikanten Bewegungssequenzen vorgestellt, die als Spuren im Filmverlauf wiederholt auftauchen werden. Gemäß der zuvor ausgeführten Begriffe chorós/ choreía fungiert das Filmintro sowie Im Umbruch selbst als Ort, an dem das Aufeinandertreffen der Tänzerinnen insze- Abb. 2: Fine Kwiatkowski (links oben), Daniela Lehman (rechts) und Cindy Hammer in Im Umbruch (Dresden 2020), Still aus dem Filmintro © VG Bild-Kunst, Bonn 2024 11 „ Wer bin ich eigentlich? “ niert und aufgeführt wird. Hinzu kommen die Vorführungen in Programmkinos bzw. die Filmpremiere im Festspielhaus Dresden Hellerau, die nach Möglichkeit von einem Podiumsgespräch mit zwei bis drei der im Film porträtierten Künstlerinnen flankiert sind. Dies unterstreicht die performativen Effekte des Films, in dem ähnlich wie auf einem Tanzplatz, Selbstentwürfe entstehen und verworfen werden. 31 Dieser filmische Tanzplatz, chorós, ist fortwährend im Umbruch begriffen - und damit in Bewegung. Den szenisch montierten Materialien sowie dem Filmproduktionsprozess selbst kommt eine ähnliche Funktion zu: Die Vorarbeiten und die im Film dokumentierten Bewegungsfolgen (als assoziative und konkrete Querverbindungen zwischen den Protagonistinnen) repräsentieren in dieser Lesart choreía, den aufgeführten Tanz. Bíos, Leben, findet sich ebenso in einigen Elementen des Films, der sich eng an zeitgenössische Dokumentationspraktiken anlehnt und in der Selbstbeschreibung Lubichs als tänzerischer Dokumentarfilm bezeichnet wird. 32 Das derart gesponnene Beziehungsgeflecht erweitert den Blick also nicht nur auf historische Fotos, Super 8-Aufnahmen der 1980er Jahre sowie aktuelle Tanzvideos der Tänzerinnen, sondern wirft auch Schlaglichter auf die Regisseurin und die Filmproduktion, sowie die real auftretenden Personen beziehungsweise deren Tanzverständnis. Um diese These zu unterfüttern, stütze ich mich auf die Überlegungen der Slawistin und Literaturwissenschaftlerin Sylvia Sasse, die mit Philip Auslander zeigt, „ dass jede Form der Dokumentation selbst performativ ist, im extremen Fall, die Performance überhaupt erst hervorbringt. “ 33 Dies, so argumentiere ich, ist beim Film Im Umbruch (2020) der Fall, der die Geschicke der Tänzerinnen verschiedenen Alters und Herkunft montiert beziehungsweise zueinander ins Verhältnis setzt. Schließlich handelt es sich um Tänzerinnen, die aufgrund der brüchigen deutsch-deutschen (Tanz-)Geschichtsschreibung kaum voneinander wüssten. Der Annahme folgend, dass jede Dokumentation bereits in sich performativ ist, präzisiert Sasse Auslanders Begriff und konzipiert in ihrer Forschung über Geheimdienstakten einen dokumentarischen Akt, der „ doppelt performativ zu lesen “ 34 sei. Laut Sasse bergen Geheimdienstakten als Dokumente über sogenannte politisch auffällige Künstler: innen weniger relevante Informationen über sie selbst und deren Tätigkeiten, als dass sie Aussagen darüber zulassen, wer hier wie und zu welchem Zweck mehr oder weniger versteckt mitgehört, beobachtet oder fotografiert hat. Das Dokument konstituiert demnach „ zugleich das Geschehen als auch denjenigen, der dokumentiert, in seiner Rolle als Dokumentator “ 35 und ist in diesem Sinne „ autoperformativ “ 36 . Rückbezogen auf den Film Im Umbruch bedeutet dies, dass das performative Potenzial von dokumentarischen Materialien nicht nur berücksichtigt, sondern gezielt eingesetzt und choreografiert wird. Freilich ist dabei die Rolle Lubichs nicht mit der eines Geheimdienstes vergleichbar, diese Parallele, die allein deswegen nicht haltbar ist, weil Lubich sich als Tänzerin, Regisseurin und Forscherin vorstellt und ihre Anliegen transparent in das Filmskript einschreibt, möchte ich keinesfalls ziehen. Dennoch denke ich, dass das Konzept der Autoperformanz insofern für meine Theoriebildung gewinnbringend ist, als dass ich mit ihm das diskursstiftende Moment des Films für die untersuchten Aussageformationen präziser zu fassen bekomme. Die künstlerisch-tänzerischen Produktionsverhältnisse und Wirkweisen werden von den Protagonistinnen aufgegriffen, thematisiert, zuweilen umgedeutet und in ihrer Potenzialität aufgeführt. Auffassungen über das jeweilige Selbst werden dabei immer wieder aufs 12 Nadja Rothenburger Neue benannt, reflektiert und kontextualisiert, was manchmal nur durch Auslassungen oder Verweise auf einen diesbezüglich empfundenen Mangel gelingt. Der Begriff Auto_Choreo_Grafie meint demzufolge die bewegt-bewegliche Analyse, Anordnung und Gestaltung eines oder mehrerer Selbst in Raum und Zeit, die wiederum auf die eigenen oder auch fremden autobiografischen Perspektivierungen - Auto_Bio_ Grafien - zitat- und anekdotenhaft Bezug nehmen. Die derart hervorgebrachten Spuren sind wiederum im Wechselverhältnis zu den jeweiligen Selbstentwürfen der Tänzerinnen zu denken. Auto_Choreo_Grafie und Tanzgeschichtsschreibung Lehmanns Schilderungen werden im Film bildlich um Einstellungen von ihr und ihrer etwa zweijährigen Tochter ergänzt: Mehrere Szenen zeigen die beiden zusammen in Bewegung, bei wackligen Gehversuchen, autofahrend, wie Lehmann das Kind zur Schule begleitet oder durch unwegsames Gelände auf den Armen trägt. Der Kontrast zwischen der erzählten Kindheitserfahrung Lehmanns - die einen Vertrauensbruch beschreibt - und den später folgenden Filmbildern, die den liebevollen Umgang mit ihrer Tochter zeigen, erweitern ihre ersten Schilderungen: Mittels der filmischen Montage verschiedener Zeitebenen werden neue Handlungsspielräume und Bedeutungsebenen aufgezeigt. Die Montage von Materialien und damit verbundene Sprünge zwischen den Zeitschichten sind auch im Hinblick auf das Verhältnis der Tänzerinnen untereinander von Interesse: Aufgrund der Überblendungen und teils parallel ablaufenden Szenen (vgl. Abb. 2) entsteht ein Beziehungsgefüge, das nicht nur verschiedene alltägliche und künstlerische Momentaufnahmen miteinander verbindet, sondern zugleich auf die Lücken im Wissenstransfer zwischen den Beteiligten verweist. Die Tänzerin und Choreografin Cindy Hammer beschreibt diese Lücken als anhaltendes, diffuses Unbehagen: Es gab ganz, ganz viele Momente in meinem Leben, bei denen ich mich echt so ‘ n bisschen fehl am Platz gefühlt habe, manchmal auch so in diesem Land, wo ich so dachte, mir sind andere viel, viel näher. Und was soll das eigentlich, warum ist das so? Und ich glaube, so mit diesen ganzen Fragen kam eben auch nochmal eine andere Art Auseinandersetzung mit meiner Biografie und mit der meiner Familie. 37 Diesem Unbehagen Hammers wird im Film nicht auf individueller Ebene nachgegangen, sondern es wird vielmehr aufgrund der szenischen Montagen in einem breiteren Kontext komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse und der damit verbundenen Dokumentation von deutsch-deutscher Geschichte verortet. Die im wiedervereinten Deutschland diffus empfundene soziale und kulturelle Ungleichheit kann durch die Bezugnahme auf andere distanzierter betrachtet und konkreter benannt werden. Durch die Arbeit am Film ergeben sich für die Beteiligten Gelegenheiten, persönliche und überindividuelle auto-/ biografische Momente zu reflektieren und ins Verhältnis zu jenen der anderen Tänzerinnen zu setzen. Dies geschieht im Rahmen der Podiumsgespräche der Vorführungen, aber auch im Film selbst, wenn Hammer und Lehmann beim Tanzkongress in Dresden (2019) gemeinsam auf einer Elbfähre unter Anleitung des in San Francisco ansässigen Choreografen Keith Hennessy eine Bewegungsphrase erlernen. Oder, wenn Kwiatkowski und Lehmann bei einem Aufeinandertreffen vor dem Hellerauer Festspielhaus filmisch eingefangen werden (vgl. Abb. 3) 38 - eine Szene, die nicht nur das Kennenlernen der beiden 13 „ Wer bin ich eigentlich? “ nachzeichnet, sondern auch auf schwelende Konflikte um die deutsch-deutsche Historisierung der Tanzmoderne verweist. 39 Diese Gemengelage untersuchte Lubich aus soziologischer und historischer Perspektive in ihrer Studie über Das Kreativsubjekt in der DDR. 40 Darin zeigt sie, inwiefern die DDR-Kulturpolitik einen widersprüchlichen Umgang mit der Tanzmoderne pflegt. 41 Dies führt zu Spannungen, die sie u. a. anhand einer Werkstatt junger Theaterschaffender in Potsdam 1987 exemplarisch darlegt. 42 Die dort von jüngeren Choreograf: innen angestrebten Erneuerungen werden von bereits etablierten Tanzschaffenden als subjektivistisch und unreif abgetan. Deren Einwände dienen vermutlich als Vorwand, um eine (tanzhistorische) Auseinandersetzung mit den ideologischen Spuren der Tanzmoderne in der DDR zu unterbinden. 43 Diese Dynamiken zeigen sich ab den 1950er Jahren sowohl in der BRD als auch in der DDR in unterschiedlichen Ausformungen und haben eine anhaltende Diskrepanz in der Diskursivierung der Tanzmoderne zur Folge. 44 Das von Hammer im Filminterview beschriebene Befremden schildert sie aus persönlicher Sicht und wird von ihr selbst nicht im Hinblick auf einen spezifischen Kontext verortet. Gleichwohl legen der Filmschnitt und Lubichs Studie nahe, dass Hammers Unbehagen auch auf überindividueller Ebene angesiedelt und tanzhistorisch betrachtet werden könnte. Die Tanzwissenschaftlerin Marion Kant bemerkt entsprechend zur Auseinandersetzung mit der Tanzmoderne: This [. . .] demonstrated several aspects of the tradition of modern German dance, above all, its continued cultivation of an ‘ apolitical ’ art, first defined by Mary Wigman as absolute dance in 1921. The purity of such art justified the refusal to revisit the Nazi past, to rethink or even reposition the ideology that fed modern dance in Germany. Thus the integrity of dance depended on its protection from interference by any nonartist and bureaucrat, and particularly by the politically engaged citizen. 45 Abb. 3: Fine Kwiatkowski & Daniela Lehmann beim Tanzkongress 2019 vor dem Festspielhaus Dresden Hellerau, Filmstill Im Umbruch © VG Bild-Kunst, Bonn 2024 14 Nadja Rothenburger Tanzpädagogische und ästhetische Ansätze der Tanzmoderne werden in der DDR paradoxerweise zwar von einzelnen Tänzerinnen aufgegriffen und weitergeführt, deren Geschichte, ihre Kompatibilität mit der Reformbewegung, der Idee vom ‚ Neuen Menschen ‘ , dem Nationalsozialismus und der deutsch-deutschen Tanzgeschichtsschreibung bleiben jedoch weitgehend unangetastet. 46 Aus tanzwissenschaftlicher Perspektive spricht diese Gemengelage für eine konstellative Historiografie, die Diskontinuitäten und Gleichzeitigkeiten von ästhetischen Phänomenen sowie gesellschaftlichen Verhältnissen berücksichtigen kann. Eine solche Tanz-Geschichts-Schreibung 47 zeitigt besonders dann Synergieeffekte mit dem Begriff Auto_Choreo_Grafie, wenn die Künstlerinnen selbst den Bezug zu Lebensentwürfen herstellen: Der Einbezug dokumentarischen Materials, sei es nun ästhetisiert oder beiläufig entstanden, kann dann wiederum eine oftmals in nationalstaatlichen Begrifflichkeiten konstituierte Geschichtsschreibung (beziehungsweise deren Abwesenheit im Falle der DDR) ausdifferenzieren oder konterkarieren. Dies betrifft insbesondere länderübergreifende Phänomene, wie etwa Politiken und Ereignisse des Eisernen Vorhangs oder damit verknüpfte Migrationsbewegungen, die meist nur in der Zusammenschau mehrerer involvierter Staaten erfasst und verstanden werden können. Demzufolge vertiefen autobiografisch perspektivierte Lesarten monoperspektivische historische Narrative; setzen ihnen etwas entgegen oder relativieren diese, da Auslassungen und Leerstellen sichtbar werden. Bei der Einordnung ihrer Entfremdung vollzieht Hammer zunächst ähnliche biografischen Reflexionen wie sie Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey als symptomatisch für gegenwärtige gesellschaftliche Individuationen herausarbeiten. 48 Amlinger und Nachtwey analysieren das Spannungsfeld, in dem sich Individuen westlicher europäischer Gesellschaften befinden in der Linie der Kritischen Theorie u. a. mit Adorno/ Horkheimers Dialektik der Aufklärung. 49 Sie konstatieren eine hohe Bereitschaft zur Leistungsfähigkeit und -erfassung, 50 die konträr dazu mit einer wachsenden Angewiesenheit auf gesellschaftliche Institutionen einhergeht. Dies kreiere ein zunehmendes Frustrationspotenzial, das den „ kreativen Selbstverwirklicher “ 51 auf das vermeintlich eigene Scheitern zurückwirft, woraufhin unerfüllte Erwartungen und Wünsche in einer trotzig-regressiven Geste erstarren können. Die von Amlinger/ Nachtwey beschriebene Entfremdung von Vergesellschaftung geht dabei oftmals mit einer Selbstzentriertheit einher: Anstatt sich mit anderen zu solidarisieren und beispielsweise für bessere Arbeitsbedingungen oder ökologisch nachhaltigeres Wirtschaften einzutreten, wird die latente Erschöpfung therapeutisch oder mit Selbstmanagement angegangen. 52 Das im Film formulierte Erkenntnisinteresse spricht - wie am Beispiel Hammers gezeigt - von ebendiesem Navigieren zwischen eigenen und fremden Erwartungen. Dies, weil sich mittels einer biografischen Reflexion zwar Fragen präziser stellen lassen, einige der Antworten aber vermutlich in der historischen Gewordenheit gesellschaftlicher Zusammenhänge zu finden sind. Die von Lubich montierten Filmszenen der von Hammer mitbegründeten Go Plastic Company verdeutlichen mit ihren Stücken, dass die (auto-)biografische Auseinandersetzung der Tänzerin nur einen Bruchteil einer weitaus komplexeren künstlerischen Praxis ausmacht, die mit gestalterischen Mitteln gesellschaftliche Ordnungen zu erschließen sucht. Das gelingt eindrücklich, beispielsweise wenn zehn nicht-weiße Tänzerinnen eine Bowlingbahn für sich einnehmen, 53 einen der wenigen Orte gemeinschaftlicher Erfahrung im postsozialistischen Deutschland und zugleich Ausdruck eines bestimmten 15 „ Wer bin ich eigentlich? “ soziokulturellen Kontexts. Diese Geste lässt erahnen, welche Vielfalt an Geschichten dort zu finden sein könnte. 54 Bezüglich der Verschränkung der Begriffe Auto_Bio_Grafie und Auto_Choreo_Grafie bedeutet dies, dass in beiden Komposita das Wort ‚ Auto ‘ auf die Selbstentwürfe der jeweiligen Künstler: innen hinweist, die in Verschränkung mit mehrheitsgesellschaftlichen historischen Narrativen zu denken sind. Manfred Schneider perspektiviert demzufolge Autobiografie als kulturelles Gefüge und argumentiert, dass die Vorbedingungen und Wirkmechanismen einer solchen „ culture of autobiography “ 55 wissenschaftlich zu bestimmen seien. 56 Der Sozialwissenschaftler Carsten Heinze betont zudem, dass zeitgeschichtlich dominante Narrative, nationalstaatlich grundierte Geschichtsschreibung und persönliche beziehungsweise autobiografische begründete Erzählinteressen einander informieren und als multiperspektivisch operierende „ (auto-) biografische Intervention “ 57 fungieren können. Aus diesem Blickwinkel wird (Auto-) Biografisches zum Aushandlungsort von mehrheitsgesellschaftlicher und individueller Geschichtsschreibung. Mit Schneider diskutiere ich Auto_Choreo_Grafien also nicht hinsichtlich einer Verortung bzw. Definition als Gattung, sondern frage nach den Funktionen und Wirkmechanismen, die sie entfalten, indem ich komplexe künstlerische Praktiken untersuche. Die im Film aufgeworfenen autobiografischen Topoi konstituieren sich demzufolge in verschiedenen Medien und werden interdiskursiv wiederholt. Wobei interdiskursive Bewegungen mit der Tanzwissenschaftlerin Constanze Schellow nicht Interdisziplinarität meint, sondern Abgrenzungs- und Legitimationsdiskurse der Tanzkunst und der Tanzwissenschaft gegenüber verwandten Disziplinen wie z. B. der Theaterwissenschaft und den Performance Studies beziehungsweise anderen Künsten. 58 Die Tänzerinnen-Perspektive, aus der diese Auto_Choreo_Grafien entstehen, muss dabei insofern berücksichtigt werden, als dass mit dieser immer auch eine berufliche beziehungsweise berufspolitische Positionierung erfolgt, die ich als eine Verortung im Feld der Tanzkunst sowie der Tanzkunst im Gefüge der Künste verstehe. Dementsprechend bemerkt die Theaterwissenschaftlerin Annemarie Matzke über ihre eigene Biografie als Performerin, dass „ auf der Bühne [. . .] eine Reflexion über die Bedingungen, Verfahren und Voraussetzungen der Professionalisierung als Darstellerin “ 59 zunehmend stattfindet. Und weiter: „ Professionalisierungsprozesse wurden nicht nur benannt, sondern auch szenisch verhandelt und zur Aufführung gebracht. “ 60 Ähnliche Feststellungen finden sich in der tanzwissenschaftlichen Forschung, z. B. über Jérôme Bels (auto-)biografische Tänzerportraits. 61 Besagten künstlerischen Herangehensweisen ist also ein selbstreflexives wissenskonstituierendes Moment eingeschrieben, das die Tanzwissenschaft dazu auffordert, sie als eigenständige Theoriebildung zu begreifen und ihnen zugleich mit einer entsprechenden Theoriebildung zu begegnen. „ Ja, wer bin ich eigentlich? “ 62 - Möglichkeiten und Beschränkungen Autobiografische Bezüge und die damit einhergehenden Dynamiken und Situierungen sind konstitutiv für Im Umbruch. Der Film schreibt dabei seinerseits konstellative Tanzgeschichte, indem er beispielsweise Sequenzen über Fine Kwiatkowski mit jenen verschränkt, die von Lehmann und Hammer handeln. Zudem werden in einigen Szenen auf der Bildebene Fotos, Aufführungs- und Probenmitschnitte von Kwiatkowski aus den 1980er Jahren mit Gesprächen, Mails und Telefonaten der Gegenwart überblendet, wodurch deutlich wird, dass sich verschie- 16 Nadja Rothenburger dene Zeitschichten überlagern, durchdringen und unterbrechen. Die auf Ton- und Bildebene unterschiedlich adressierten Zeitschichten zeigen Kwiatkowski mal aus heutiger Sicht zurückblickend, mal tanzend in einem Experimentalfilm von Christine Schlegel aus den 1990er Jahren. Dann wieder schildert Kwiatkowski auf der Tonspur Ereignisse der 1980er Jahre, während der Bildschnitt Eindrücke von Improvisationen, Proben und Installationen versammelt. Unabhängig davon, welche der Zeitschichten adressiert wird, finden sich stets alltägliche Erlebnisse, Tätigkeiten und Stimmungen neben besonders intensiven Erinnerungen und Ereignissen wieder. Dieses Montageverfahren ordnet unterschiedlichste Materialien in Konstellationen an, die mit dem Bilderfluss als Bewegungsfolgen zur Aufführung gebracht werden. Dies inszeniert die Tänzerinnen ihrerseits als berichtende und damit eigenständige Akteure - ein Umstand, der gleichermaßen für die Regisseurin Barbara Lubich gilt, die teils langjährige persönliche und berufliche Beziehungen zu den Protagonistinnen pflegt, welche implizit in den Film einfließen. Von Lubich auf die Umbrüche in ihrem Werdegang befragt, beschreibt Kwiatkowski beispielsweise den Weggang damaliger Kolleg: innen als prägendes Erlebnis und ergänzt mit dieser Erinnerung prägnante politische zeithistorische Ereignisse um eine Alltagsgeschichte des Weggehens und Bleibens: Das ist für mich viel einschneidender gewesen als die Perestroika. Also Helge, wir wollten gerad ’ anfangen zu arbeiten - weg. Christine, wir waren mitten in der Arbeit - weg. Lutz, mitten in der Arbeit - weg. 63 Im darauffolgenden filmisch montierten Gespräch mit der Videokünstlerin Christine Schlegel, weist Kwiatkowski schließlich auch auf das Für und Wider einer (auto-)biografisch verengten Lesart ihrer künstlerischen Praxis hin: Ich möchte einfach nicht immer über diese DDR definiert werden. Alles, was danach kommt, spielt überhaupt keine Rolle mehr und wenn ich mir so einen Film [anschaue, NR], der einfach mitgeschnitten wurde, das hat sicherlich eine Gaudi, Spaß gemacht, damals als wir das machten. Betrachte ich das heute, möchte ich darüber nicht mehr definiert werden. Ich bin ein anderer geworden und es ist eine sehr vergängliche Kunst, der Tanz. 64 Anhand dieser Aussage wird deutlich, welche Probleme eine (auto-)biografische Perspektivierung für die Tanzgeschichtsschreibung aufwirft. Diese droht das künstlerische Schaffen der Tänzerinnen auf ihren Werdegang zu verkürzen. Ihre Arbeiten erscheinen dann nur zugänglich und von Interesse, wenn sie auf bestimmte gesellschaftliche Veränderungen reagieren und sich deutlich auf sie beziehen. Dies birgt die Gefahr, künstlerische Erzeugnisse für politische und historiografische Zwecke in Dienst zu nehmen. Zudem befinden sich die Protagonistinnen an äußerst unterschiedlichen Stationen ihrer Lebenswege beziehungsweise ihres beruflichen Werdegangs, was dazu führt, dass sie verschiedene Sprech-, Erzähl- und Darstellungsweisen bezüglich ihrer Selbstentwürfe wählen. An anderer Stelle nimmt Kwiatkowski erneut dezidiert Bezug auf diese autobiografische Verkürzung, die sich ihr zudem als Abwertungserfahrung eingeprägt hat: Im Westen eine DDR-Exotin zu sein, das fand ich sehr unangenehm. [. . .] Das ist für mich echt schwierig gewesen. [. . .] Ich hab ‘ mir vor ein paar Jahren wirklich ins Gedächtnis, ins Gefühl zurückrufen müssen: Ich bin jetzt so und so alt, ich habe schon 30 Jahre getanzt, und habe in den 30 Jahren so viele Arbeiten gemacht, auch Stücke, Themen bearbeitet. [. . .] Und ich war mit meinen Partnern, mit denen ich zusammen diese Arbeiten gemacht habe, einfach gut. Und ich hab ‘ das vergessen. [. . .] Und als ich mir das bewusst gemacht 17 „ Wer bin ich eigentlich? “ habe, da habe ich gedacht: Ja, wer bin ich eigentlich? Das habe ich nicht nötig. Und wenn mich keiner haben will, dann will mich keiner haben, da habe ich mich selbst. 65 Zwar wird ihre künstlerische Praxis auch in der Tanzdokumentation zunächst auf bestimmte Zeiten und Bezüge verengt, zugleich vertieft der Film jedoch das Verständnis für ihre künstlerischen Entscheidungen. Indem ihre tanzkünstlerischen Zeugnisse und (teils persönlichen) Erzählungen, mit denen von Lehmann und Hammer montiert werden, erschließen sich dem Publikum ihre Belange vielschichtiger und umfassender. Zudem können Phänomene wie das von Kwiatkowski beschriebene deutsch-deutsche Weggehen/ Bleiben für eine multiperspektivische Geschichtsschreibung erfasst und gewichtet werden. Mittels einer zwar (auto-)biografisch perspektivierten, aber transregional konstellierten Tanzgeschichtsschreibung können die beschriebenen Umbruchserfahrungen über längere Zeiträume betrachtet und in Verschränkung mit politischen Ereignissen gedacht werden. Fazit Die autochoreografischen Verfahren von Im Umbruch wurden im Beitrag konzeptionell und tanzwissenschaftlich als auch wirk- und produktionsästhetisch betrachtet. Es wurde gezeigt, dass die Filmdramaturgie mit einem Verständnis von Choreografie als Organisationsprinzip operiert, das in gegenwärtigen tanzwissenschaftlichen Diskursen u. a. mit Begriffen wie ‚ Erweiterte Choreografie ‘ diskutiert und erforscht wird. In diesem Verständnis lassen sich die künstlerischen und lebensgeschichtlichen Selbstentwürfe der porträtierten Tänzerinnen als mit ihren künstlerischen Praktiken verschränkt betrachten - ein Umstand, den der vorliegende Beitrag mittels der Begriffe chorós/ choreía und bíos zu veranschaulichen suchte. Einige DDR-bezogene tanzkünstlerische Ansätze, die aufgrund einer fragmentarischen deutsch-deutschen Geschichtsschreibung in den bisher etablierten tanzhistoriografischen Narrativen nicht vorkommen, werden im Film Im Umbruch mithilfe von Selbstzeugnissen sichtbar gemacht. Zudem können Brüche, Sprünge und Lücken im tänzerischen Wissenstransfer - wie hier beispielhaft anhand eines Diskursgeschehens der deutsch-deutschen Tanzmoderne skizziert - präziser benannt werden. Der Beitrag verwies zudem auf die Widersprüche eines (auto-)biografisch perspektivierten (tanzhistoriografischen) Vorgehens, indem er die Kehrseiten einer möglicherweise verkürzten, biografisch zentrierten Lesart benannte. Dies betrifft insbesondere die Reduzierung der Tänzerinnen auf Erfahrungen und Werke, die in die Zeit der DDR fallen und/ oder explizit auf sie Bezug nehmen. Eine Aufwertung ihrer künstlerischen Praktiken, die sich allein auf die damaligen Lebensumstände beruft, würde den eigenständigen Herangehensweisen und den individuellen tänzerischen Auseinandersetzungen der Protagonistinnen nicht gerecht, die sich im Film deutlich voneinander abheben. Ich schlage also vor, Im Umbruch als Auto_Choreo_Grafie zu lesen, weil der Film weder die Biografien der Tänzerinnen konventionell erzählt noch eine allgemeingültige Tänzerinnen-Biografie konstruiert. Vielmehr arbeitet die Filmdramaturgie mit Topoi, die in den Selbstentwürfen aller vier Protagonistinnen (Lubich als Regisseurin und Tänzerin eingeschlossen) thematisiert werden. Die An- und Umordnung dieser Topoi mithilfe von vier verschiedenen Perspektiven lädt dazu ein, sie überindividuell zu betrachten. Dramaturgie, Produktionsästhetik und Aufführungspraxis des Films bilden ein Beziehungsgeflecht, das verschiedene Tanzverständnisse, Zeitschich- 18 Nadja Rothenburger ten, Materialien und Ereignisse in einer tanzhistoriografischen Konstellation zueinander ins Verhältnis setzt. Diese Konstellation ermöglicht es, das performative Potenzial der verwendeten Materialien für die produktive Reformulierung bereits bekannter Fragestellungen rund um den Mauerfall und die Historisierung von DDRbzw. deutsch-deutscher Tanzkunst auszuloten und ausgiebiger zu nutzen. Weiterführend wäre für derlei konstellative tanzhistoriografische Vorgehensweisen zudem die dezidierte Berücksichtigung sozialer Mobilität von Interesse, da mit ihr Fragen der Herkunft und Ausbildung vertiefend betrachtet werden könnten. Anmerkungen 1 Fine Kwiatkowski stellt an einer Stelle des Films fest: „ Ja, wer bin ich eigentlich? Das habe ich nicht nötig. Und wenn mich keiner haben will, dann will mich keiner haben, da habe ich mich selbst. “ IM UMBRUCH. Go. Stay. Dance (Tanzdokumentation, Dresden 2020, R: Barbara Lubich), Min. 00: 46: 50. 2 Sprechpausen in den Filminterviews habe ich in der Transkription mit drei Auslassungspunkten in Klammern markiert. Ebd. Min. 00: 04: 20. 3 Ebd. Min. 00: 04: 20. 4 Ebd. Min. 00: 04: 20. 5 Vgl. Barbara Lubich, Das Kreativsubjekt in der DDR. Performative Kunst im Kontext, Bd. 12, Göttingen 2014. 6 Vgl. u. a. Jens Richard Giersdorf, „ Dance Studies in the International Academy: Genealogy of a Disciplinary Formation “ , Dance Research Journal 41/ 1 (2009), S. 23 - 44. 7 Vgl. Bojana Cvejic´, „ Problem as a choreographic and philosophical kind of thought “ , in: Martin Randy / Gerald Siegmund / Rebekah J. Kowal (Hg.), The Oxford Handbook of Dance and Politics, Oxford 2017, S. 199 - 220, hier S. 212. 8 Christina Thurner, „ Choreo-Graphie als Auto-Bio-Graphie. Kulturtechniken, die Leben ,schreiben ‘“ , in: Sabine Huschka, / Gerald Siegmund (Hg.), Choreografie als Kulturtechnik. Neue Perspektiven, Berlin 2022, S. 253 - 268. 9 Ebd., S. 254 - 255. 10 Ähnliche Ansätze finden sich bei Johanna Hilari et al., „ Auto_Bio_Graphical Urgencies. Vier tanzwissenschaftliche Perspektiven “ , in: Doris Kolesch et al. (Hg.), Matters of Urgency. 15. Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, Berlin 2024, S. 471 - 486. Eine Betrachtung des damit verknüpften Aspekts der sozialen Mobilität unternehme ich zudem in meiner Dissertation Auto_ Choreo_Grafie (in Vorbereitung). 11 Vgl. Thurner „ Choreo-Graphie als Auto- Bio-Graphie “ , S. 254. 12 Hier lohnt sich auch ein Blick in den französischsprachigen Raum, wo ähnliche Fragen unter Berücksichtigung soziologischer Forschung bereits eingängig diskutiert wurden. Vgl. u. a. Eva Blome / Philipp Lammers / Sarah Seidel (Hg.), Autosoziobiographie. Poetik und Politik, Berlin 2022. Sowie Gregor Schuhen, „ Erfolgsmodell Autosoziobiografie? , “ in: Lendemains 45, 180 (2020), S. 51 - 63. 13 Da ich die Verschränkung von Autobiografie, Autorschaft und Choreografie untersuche, verwende ich im Text beide Begrifflichkeiten: Choreografin und Tänzerin. Beide Wissensfelder betrachte ich aus der Perspektive des europäischen, transatlantischen Bühnentanzes, bei dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zuge der Tanzmoderne eine signifikante Umdeutung des Autorschaftsverständnisses vonstatten geht, die dazu führt, dass der Choreografiebegriff zwar aufgewertet, aber zum Teil diffus verwendet wird. Vgl. u. a. Anna Leon, Expanded Choreographies - Choreographic Histories. Trans-Historical Perspectives Beyond Dance and Human Bodies in Motion, Bielefeld 2022, S. 30 - 31. 14 Vgl. Gabriele Brandstetter, „ Xavier Le Roy: Product of Circumstances (1998/ 1999) “ , in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Handbook of Autobiography / Autofiction, Bd. 3, Berlin/ Boston 2019, S. 2064 - 2073. 19 „ Wer bin ich eigentlich? “ 15 Vgl. Gerald Siegmund, Abwesenheit: Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2015. 16 Gerald Siegmund, Theater- und Tanzperformance zur Einführung, Hamburg 2020, S. 65 und S. 209. 17 Vgl. Gerald Siegmund, „ Choreographie und Gesetz. Zur Notwendigkeit des Widerstands “ , in: Nicole Haitzinger / Karin Fenböck (Hg.), Denkfiguren. Performatives zwischen Bewegen, schreiben und erfinden. Für Claudia Jeschke, München 2010, S. 118 - 129. 18 Dies veranschaulicht beispielsweise die Choreografin Mette Ingvartsen eindrücklich, indem sie in ihrer fünfteiligen Serie evaporated landscapes, The Extra Sensorial Garden, The Light Forest, Speculations, The Artificial Nature Project (2009 bis 2012, Groß- und Kleinschreibung der Titel entspricht den Vorgaben auf Ingvartsens Internetauftritt) nahezu ausschließlich Dinge auf der Bühne choreografiert. 19 Yvonne Hardt, Annette Hartmann, „ Choreographie “ , in: Annette Hartmann / Monika Woitas (Hg.), Das grosse Tanz Lexikon: Tanzkulturen, Epochen, Personen, Werke, Laaber 2016, S. 150 - 152. 20 Ebd. 21 Siegmund, „ Choreographie und Gesetz “ , S. 129. 22 Vgl. Ulrike Wörner: „ Chorea “ , in: Hartmann / Woitas (Hg.), Das grosse Tanz Lexikon, S. 148 - 149. 23 Mit bestem Dank an den Kultur- und Islamwissenschaftler Frank Lange, der mir mit wertvollen Hinweisen hinsichtlich der Übertragungen aus dem Griechischen ins Deutsche zur Seite stand. Vgl. Hjalmar Frisk, Griechisches etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1991, S. 1112. 24 Vgl. ebd., S. 237. 25 Vgl. Helmut Hühn / Michael Gamper (Hg.), Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft, Hannover 2014. 26 IM UMBRUCH. Go. Stay. Dance, Min. 00: 00: 00 - 00: 03: 08. 27 Ebd. Min. 00: 00: 00 - 00: 03: 08. 28 Ebd. Min. 00: 00: 00 - 00: 03: 08. 29 Ebd. Min. 00: 00: 23. 30 Ebd. Min. 00: 00: 00 - 00: 03: 08. 31 Ich sehe den Film zur Premiere am 15.05.2022 im Festspielhaus Dresden Hellerau, in deren Rahmen ebenfalls eine Podiumsdiskussion mit allen Protagonistinnen stattfand. Dankenswerterweise gewährte mir Barbara Lubich im Anschluss Zugang zu einer Filmaufnahme, die eine genaue Auswertung einzelner Szenen ermöglichte. 32 „ IM UMBRUCH. Go. Stay. Dance. “ , Tanzdokumentation, Hechtfilm, 2020, https: / / w ww.hechtfilm.de/ projekte/ im-umbruch/ (Zugriff am 22.03.2022). 33 Sylvia Sasse, „‚ Inoffiziell wurde bekannt. . . ‘ Die Doppel-Performance der Dokumente “ , in: Kata Krasznahorkai / Sylvia Sasse (Hg.), Artists & Agents: Performancekunst und Geheimdienste, Leipzig 2019, S. 146 - 160, hier S. 153. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 154. 37 IM UMBRUCH. Go. Stay. Dance, Min. 00: 15: 45. 38 Das Gespräch (Min. 00: 32: 18 - 00: 33: 22) handelt u. a. von den Vornamen der beiden Tänzerinnen und wie sich diese zu (Fremd-)Zuschreibungen verhalten - ein autobiografischer Topos, der insbesondere im deutsch-deutschen Diskurs starke Assoziationen hinsichtlich Herkunft und sozialem Status weckt und daher eine eigenständige Betrachtung verdient. 39 Der eigene Name wird mit Peter Widmer immer von und durch gesellschaftliche Verhältnisse hervorgebracht, weil durch ihn die reale, imaginäre und symbolische Ordnung mit dem eigenen Selbstverständnis verschränkt wird. Vgl. Peter Widmer, Der Eigenname und seine Buchstaben. Psychoanalytische und andere Untersuchungen, Bielefeld 2010, S. 42. 40 Vgl. Lubich, Das Kreativsubjekt in der DDR. 41 Vgl. ebd. insbesondere Kapitel 3 bis 6. 42 Ebd., S. 381 - 413. 43 Ebd., S. 381 - 413. 44 Aufschlussreich hierfür ist auch der Beitrag von Jens Giersdorf, „ Is It OK to Dance on Graves? Modernism and Socialist Realism 20 Nadja Rothenburger Revisited “ , in, The Oxford Handbook of Dance and Politics, S. 603 - 626; sowie ein Interview zwischen Janez Jan š a und Franz Anton Cramer, vgl. „ Vertikal und horizontal unendlich. Ein Gespräch über zeitgenössische Geschichte in Ost und West zwischen Franz Anton Cramer und Janez Jan š a, in: Tanzjournal 05 (2009), S. 15 - 24. 45 Marion Kant, „ Was bleibt? The Politics of East German Dance “ , in: Susan Manning / Lucia Ruprecht (Hg.), New German Dance Studies, Urbana 2012, S. 130 - 146, hier S. 133. 46 Neben Kant setzten sich meines Wissens u. a. Gabriele Brandstetter, Alexander Schwan sowie Susan Manning und Lucia Ruprecht kritisch mit derlei (Dis-)Kontinuitäten auseinander. Vgl. u. a. Gabriele Brandstetter, „ Ausdruckstanz “ , in: Diethart Kerbs / Jürgen Reulecke (Hg.), Lebensreform. Handbuch der deutschen Alternativbewegungen 1880 - 1933, Wuppertal 1998, S. 451 - 463; Susan Manning / Lucia Ruprecht (Hg.), New German dance studies, Urbana 2012; Susan Manning, Ecstasy and the Demon: Feminism and Nationalism in the Dances of Mary Wigman, Minneapolis 2006; Alexander Schwan, „ Expression, Ekstase und Spiritualität. Paul Tillichs Theologie der Kunst und Mary Wigmans Absoluter Tanz “ , in: Thom Hecht / Dagmar Ellen Fischer (Hg.), Tanz, Bewegung & Spiritualität, Leipzig 2009, S. 214 - 226. 47 Vgl. Christina Thurner, „ Zeitschichten, -sprünge und -klüfte. Methodologisches zur Tanz-Geschichts-Schreibung “ , Inventur der Tanzmoderne. Geschichtstheoretische Überlegungen zur tanzwissenschaftlichen Forschung. Forum Modernes Theater 23/ 1 (2008), S. 13 - 18. 48 Vgl. Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Berlin 2022, S. 69 - 70. 49 Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 2008. 50 Vgl. ebd., S. 77. 51 Vgl. ebd., S. 58. 52 Vgl. ebd., S. 87. 53 Vgl. Go Plastic Company u. a.: We ’ re Used to Being Darker 2021, https: / / www.goplastic company.de/ were-used-to-being-darker/ (Zugriff am 19.01.2023). 54 Für die Theaterwissenschaft liegt nunmehr mit dem Band Theaterwissenschaft postkolonial/ dekolonial ein erstes Kompendium vor, das sich systematisch mit entsprechend neu perspektivierten Methoden, Fragestellungen und Arbeitsweisen auseinandersetzt. Vgl. Azadeh Sharifi / Lisa Skwirblies (Hg.), Theaterwissenschaft postkolonial/ dekolonial: Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2022. Für die DDR-Forschung sei diesbezüglich stellvertretend für eine erweiterte deutschdeutsche Geschichtsschreibung auch auf den Sammelband von Lydia Lierke und Massimo Perinelli hingewiesen, Vgl. Lydia Lierke / Massimo Perinelli (Hg.), Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, Berlin 2020. 55 Manfred Schneider, „ 1.5 Discourse Analysis “ , in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Handbook of Autobiography / Autofiction, Bd. 1, Berlin/ Boston 2019, S. 45 - 53, hier S. 46. 56 Vgl. ebd., S. 46 - 49. 57 Carsten Heinze, „‚ Das Private wird politisch ‘ - interdisziplinäre Perspektiven auf autobiografisches Schreiben im Horizont von Erinnerungskulturen und Zeitgeschichte “ , in: Forum Qualitative Sozialforschung 12/ 2 (31.05.2011), https: / / www.qualitative-re search.net/ index.php/ fqs/ article/ view/ 1681 (Zugriff am 24.01.2022). 58 Vgl. Constanze Schellow, Diskurs-Choreographien. Zur Produktivität des ‚ Nicht ‘ für die zeitgenössische Tanzwissenschaft, München 2016. 59 Annemarie Matzke, „ Sich Selbst Professionalisieren - Zur Figur des Performancekünstlers im gegenwärtigen Theater “ , in: Jens Roselt / Stefan Krankenhagen (Hg.), De-/ Professionalisierung in den Künsten und Medien. Formen, Figuren und Verfahren einer Kultur des Selbermachens, Berlin 2018, S. 107 - 125, hier S. 108. 60 Ebd. 61 Vgl. Christina Thurner, „ Die Stimme erhoben: ‚ Ich ‘ -Sagen und Autorschaft in den 21 „ Wer bin ich eigentlich? “ Tänzerporträts von Jérôme Bel “ , in: Anne- May Krüger / Leo Dick (Hg.), Performing Voice Vokalität im Fokus angewandter Interpretationsforschung, Büdingen 2019, S. 209 - 215; Julia Wehren, Körper als Archiv in Bewegung. Choreografie als historiografische Praxis, Bielefeld 2016. 62 IM UMBRUCH. Go. Stay. Dance, Min. 00: 46: 50. 63 Ebd. Min. 00: 23: 05. 64 Ebd. Min. 00: 25: 47 - 26: 17. 65 Ebd. Min. 00: 45: 15 - 47: 45. 22 Nadja Rothenburger Ins Licht getauchte Körper und gespiegelte Blicke. Gob Squads Creation (Pictures for Dorian) Eva Döhne (Frankfurt am Main) Creation (Pictures for Dorian) von Gob Squad ist eine Performance, die mit den rahmenden Mechanismen perspektivischen Sehens auf der Bühne spielt. Gob Squad verschränken das Begehren derjenigen, die auf der Bühne stehen, mit denjenigen, die ihnen dabei zuschauen, und enttarnen dabei spielerisch die Regime normierender Blicke. Im Beitrag wird erarbeitet, inwiefern An- und Zuschauen in der Performance stets als eine doppeldeutige Angelegenheit vorgeführt wird: als Normierung des Blicks, aber auch als Chance, Blickregime kritisch zu reflektieren. Die Bühne der Performance wird als ein Möglichkeitsraum inszeniert, um Vielheiten von Körpern, Identitäten, Geschichten, Träumen und Wünschen vorzuführen und sichtbar zu machen. Anhand theoretischer Überlegungen über den Blick und detaillierter Szenenbeschreibungen wird diskutiert, inwiefern die Normierungsmechanismen des Blicks verhandelbar sind. Einleitung Wenn du magst, dass man dich anschaut, und ich dich anschaue, können wir eine Beziehung zueinander aufbauen, die uns beiden gefällt. 1 Das britisch-deutsche Performancekollektiv Gob Squad widmet sich mit Creation (Pictures for Dorian) 2 einem Klassiker der Weltliteratur. Zusammen mit sechs eingeladenen „ guests who had or aspire to have a life on stage “ 3 , die sie je nach Aufführungsort lokal casten, durchbrechen, ironisieren und parodieren sie die Bedingungen der Sichtbarkeit. Sie verhandeln Fragen der Subjektivierung, der Positionierung und der immer auch drohenden Objektifizierung durch den Blick des Anderen auf der Bühne. Zu- und Anschauen wird als doppeldeutige Angelegenheit vorgeführt: als Normierung des Blicks und gleichzeitig als möglicher Widerstand gegen die Repräsentation von Außen. 4 Das Schauen als Begehren nach Anerkennung, das Schauen als die Aufnahme einer Beziehung und das Schauen als narzisstischer Trieb werden in der Performance mit einer Verhandlung der Sichtbarkeit auf einer zentral ausgerichteten Bühne verknüpft. Im folgenden Beitrag wird diskutiert, inwiefern die Lust zu sehen und die Lust sich zu zeigen stets ineinander verschränkt gedacht werden müssen und inwiefern die Verschränkung des Sehens über den Blick grundlegend mit der Konstitution des Subjekts verbunden ist. Dazu wird kurz auf die zur Zeit ihres Erscheinens skandalöse Romanvorlage von Oscar Wilde verwiesen, vor allem auf die Spiegelbildmetaphorik, die stilistische Überformung des Romans und die Szenen im Theater. Anschließend werden das Spielprinzip und der Aufbau der Performance, die produktionstechnischen Methoden und wichtige inhaltliche Motive benannt. In theoretischer Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Auge und Blick werden danach die ineinander verschränkten Seiten des Sehens erläutert, um diese mit der von Kaja Silverman formulierten Kritik am Primat des männlichen Blicks (male gaze) und Stuart Halls Analyse des Reprä- Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 23 - 38. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0003 sentationsregimes zu verbinden und weiterführend mit den Strategien der Performancearbeit zu diskutieren. Um die Strategien der Performance nachzuvollziehen, werden ausgewählte Szenen der Arbeit beschrieben, in denen die Kategorien Alter, Klasse, Race, Sex und Gender spielerisch vorgeführt und im Zusammenspiel von Präsentation, Begehren und Blick befragt werden. Anhand dieser Szenenbeschreibungen soll über die zu theoretisierende Verbindung zwischen Sehen, Momenten der Identifizierung und Zuschreibung auf einer zentralperspektivisch ausgerichteten Theaterbühne nachgedacht werden. Dabei wird auch untersucht, ob der produktionstechnisch behauptete Anspruch, die Konstitutionsbedingungen des Blicks zu decodieren, tatsächlich aufgeht. Deutlich wird in jedem Fall, dass die Performance den Anstoß gibt, die eigene Position und die durch diese Position ausgehenden Blickregime kritisch zu reflektieren. Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray In Oscar Wildes Roman The Picture of Dorian Gray 5 wird die Geschichte des Dorian Gray, „ a wealthy young man, with aristocratic connections, who magically retains the eternal beauty captured in his portrait “ 6 , erzählt. Beeinflusst von Lord Henry Wottons ausschweifenden und hedonistischen Ansichten, formuliert Dorian beim Anblick seines von dem Maler Basil Hallward erstellten Portraits den Wunsch nach ewiger Jugend. Getrieben von narzisstischer Gier verfällt er der Angst, seine jugendliche Schönheit zu verlieren. Lange bleibt Dorian äußerlich makellos. Stattdessen altert das Portrait und nimmt Zeichen seiner verwerflichen Taten in Form von mehr und mehr grotesken und verzerrten Gesichtszügen auf. Die Konstruktion und der Wunsch nach ewiger Schönheit erscheinen bei Wilde als eine trügerische Vorstellung der Wirklichkeit, die einen hohen moralischen Preis fordert. Die Figur des Dorian steht für die Gefahren absoluter Selbstliebe, die in Hass gegenüber allen anderen umschlägt. Während den Leser: innen die Doppeldeutigkeit Dorians als Figur und Abbild erkennbar wird, bleibt das Geheimnis für die anderen Figuren im Buch als Rätsel bis zum Schluss bestehen. Über sein makelloses Aussehen wird sich gewundert und spekuliert. Für ihn wird das Geheimnis seiner ewigen Jugend zum Überlebensgarant. In dem Moment, wo Basil Hallward das Portrait zu Gesicht bekommt und dessen Verfall entdeckt, bringt Dorian ihn um. Wenige Szenen später beendet auch Dorian sein Leben, indem er sein Portrait zerstört. Schon Wildes Roman lässt sich somit als ironisches und selbstreferentielles Spiel zwischen dem Künstler Wild und seinem Werk lesen; ein Motiv, das die Performer: innen von Gob Squad auf der Produktions- und Spielebene aufnehmen. Zur Zeit seines Erscheinens wurde die Handlung des Romans von vielen Seiten als Skandal bezeichnet. Wilde selbst wurde nach der Veröffentlichung zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Als skandalös wurden die ausführlichen Beschreibungen der homoerotischen Leidenschaften und die engen Beziehungsgeflechte zwischen den ‚ Männer ‘ figuren gewertet. Die homosexuell begehrenden Blicke des Malers Basil Hallward auf Dorian sind von Anfang an erotisch aufgeladen. Lord Henry und etliche Personen im Roman bewundern und begehren Dorians makellose Jugendlichkeit. Auch die stilistisch ästhetizistische Verfasstheit des Romas habe zu zahlreichen kontroversen Diskussionen geführt und zeige, laut Joseph Bristow, dass sich der Text sowohl sprachlich, als auch auf der Interpretationsebene nicht ganz einfach einordnen lasse. 7 Im Text gibt es vereinzelte Szenen und Kapitel, in denen große Zeitsprünge 24 Eva Döhne durch die Erzählperspektive zusammengefasst werden. Von dieser vermittelnden erzählenden Instanz werden ebenfalls ausführlich Umgebung, Kostüme, Geräusche, Moden, sowie gesellschaftliche und philosophische Ansichten der gehobenen Londoner Gesellschaft im späten 19. Jahrhundert beschrieben. Auktorial wird das Leben der Upperclass, aber auch das großstädtische Elend der Zeit beschrieben. Susan Sontag charakterisiert Wildes Schreibstil als Vorreiter der Camp-Ästhetik, die sie wie folgt beschreibt: „ Camp is a certain mode of aestheticism. It is one way of seeing the world as an aesthetic phenomenon. That way, the way of Camp, is not in terms of beauty, but in terms of the degree of artifice, of stylization. “ 8 Wilde habe mit „ the equivalence of all objects “ 9 in seinem Schreibstil ein wichtiges Element der Camp-Ästhetik vorweggenommen. Ebenfalls betont Sontag einen Zusammenhang zwischen der Darstellung von Homosexualität und Camp, wenn sie schreibt: „ [E]ven tough homosexuals have been its vanguard, Camp taste is much more than homosexual taste. “ 10 Der Roman lässt sich durch die häufige stilistische Überhöhung des Sprechens und der Umgebungsbeschreibungen auf der Handlungsebene als Spiel der Verstellung lesen und bleibt oft mehrdeutig. Im vierten Kapitel will Dorian beispielsweise seinen Freunden Basil und Lord Henry die Schauspielkunst seiner frisch Verlobten Sibyl Vane zeigen. Ihr Aussehen wird pathetisch und romantisierend geschildert, von ihrer Darstellungsweise der Julia aus Romeo und Julia sind die drei ‚ Männer ‘ jedoch heftig enttäuscht. Sibyl begründet im Anschluss das von Dorian und Lord Henry als misslungene Darstellung aufgefasste Spiel damit, dass sie durch Dorians Liebe das wahre Leben gepackt hätte und sie sich nicht mehr länger verstellen wolle. Sie habe bewusst schlecht gespielt, um wahrhaftig zu sein. Dorian, rasend vor Enttäuschung, beteuert, er habe die spielende, darstellende Sibyl geliebt und nicht die Person oder ihren Charakter hinter ihren Rollen. Am Morgen nach dieser Szene in der Garderobe ereilt Dorian die Nachricht, dass Sibyl sich das Leben genommen habe. Dorian fühlt sich nur kurzzeitig verantwortlich für ihren Tod und geht am Abend direkt wieder ins Theater. Sibyl Vane fällt Dorians Selbstsucht und Verblendung zum Opfer. Dass sie nicht mehr spielt, bringt ihr den Tod. Als sie sich unverstellt zeigen will, verliert sie die Anerkennung und Liebe Dorians und erntet Zynismus und abwertende Zurufe vom Publikum. Sibyl ist damit eine ‚ Frauen ‘ figur, die sowohl durch ihre sexuelle und geschlechtliche Identität, als auch durch ihre Tätigkeit als Schauspielerin bedroht ist. Die Vorlage des Romans eröffnet damit eine Diskussion über sexuelle und geschlechtliche Identifizierungen, die von Gob Squad in die Gegenwart geholt wird. 11 Spätestens ab den Szenen im Theater im vierten und fünften Kapitel des Romans lesen sich die Schilderungen über Dorians Leben, seine Figur und Identität als Inszenierung, die von Trug, Täuschung, Wünschen und Sehnsüchten durchzogen ist. Dorian ist eine Figur, die ihre Künstlichkeit und unrealistische Makellosigkeit gegenüber dem Portrait erkennt und diese gezielt einsetzt. Er manipuliert seine Mitmenschen durch sein Aussehen und kostet die Wirkungen seiner äußerlichen Makellosigkeit und Jugendlichkeit - im Text immer wieder als ‚ Schönheit ‘ beschrieben - in vollen Zügen aus. Wildes Text entlehnen Gob Squad prägnante Passagen, Aphorismen und Bonmots, atmosphärische Umgebungsbeschreibungen, opulente Kostümierungen, die Untersuchung der Dreiecksbeziehung zwischen Künstler: in, Betrachter: in und Kunstobjekt, darüber hinaus zentrale Motive wie die Befragung von Kunst als schöner Schein, 25 Ins Licht getauchte Körper und gespiegelte Blicke. Gob Squads Creation (Pictures for Dorian) Spiegel und Schatten als Projektionen zwischen Original und Abbild, die Darstellung sexueller, geschlechtlicher, sozialer Identität und die Sehnsucht nach ewiger Schönheit, Jugend und Unvergänglichkeit. Die Selbstreferentialität und permanente Doppeldeutigkeit der Darstellung, die als wesentliche Merkmale der konzeptionellen Anlage des Textes von Wilde bezeichnet werden können, bilden das tragende Prinzip der Performance. Der Rahmen für dieses Spiel der Selbstreferentialität bildet jedoch nicht das Schreiben, wie bei Wilde, sondern die Darstellung auf einer Bühne. Gob Squads Spielprinzip der Selbst- und Fremdbetrachtung Zu Beginn sitzt der Performer Sean Patton, Gründungsmitglied des seit 1994 bestehenden Kollektivs Gob Squad, mit locker überschlagenen Beinen, einem Notizblock und Stift in der Hand, an der Bühnenkante und bittet eine Person aus dem Publikum, den Kopf still zu halten. 12 Noch ist der Publikumsraum stark ausgeleuchtet. Während Sean zum Publikum spricht, drapiert die Gob Squad Performerin Sharon Smith derweil mit großer Ernsthaftigkeit Blumen und Zweige an einem hohen Stehpult mit Arbeitslampe im hinteren Bereich des Bühnenraums. Davor befindet sich ein kleines, schwarzes, rundförmiges Podest. Der schwarze Bühnenboden und der hinten hängende schwarze Stoff, der später als Leinwand gebraucht wird, markieren die klassische Black Box. Rechts und links stehen Kameras auf fahrbaren Stativen, eine davon ist mit einem schwarzen Stoff abgehangen, die andere gut erkennbar. Auf der rechten Seite ist ein aus Holz gebauter, großer fahrbarer Rahmen erkennbar. Durch die späteren Einsätze von Holzrahmen, Spiegelbildern, Glanzpapierfolien und Videoprojektionen verdoppeln Gob Squad die Rahmungen der Bühne und stellen damit die Bedingungen von Sichtbarkeit und Blickregimen aus. Sean zitiert Wilde: „ Drawing is a record of a moment of looking. “ 13 Dabei fertigt er eine schnelle Zeichnung an, die er einer ausgewählten Person im Publikum reicht. Die gesamte Performance ist englischsprachig. Sein Sprechen klingt unverstellt und persönlich - als ob er mir als Zuschauerin direkt gegenüberstünde und die Tatsache, dass er zu 200 Leuten von der Bühne aus spricht, ganz und gar keine Veränderung seiner Sprechhaltung bewirken würde. Die Art und Weise der direkten Ansprache an die Personen im Publikum mit „ you “ in einer eher beiläufigen, flapsigen und wenig aufgeladenen Sprechhaltung praktizieren die Performer: innen von Gob Squad die gesamte Performance über. Dazu passt auch, dass alle Performer: innen nur mit ihren Vornamen, die sie auch im Leben außerhalb der Bühne tragen, vorgestellt werden. 14 In der Anfangsszene verweist Sean auf die Dreiecksbeziehung bei der Betrachtung der Bühnensituation: „ You, looking at Sharon and Sharon is looking at the flowers. “ Sharon berichtet, dass es sich bei dem Drapieren der Blumen um japanische Ikebana Kunst handele, eine Kunstfertigkeit des Blumenarrangements. 15 Sie betont: „ Nature is simply a pose. “ , worauf Sean antwortet: „ Oh my god, Oscar Wilde quote, straight in there, within three minutes, thanks great, well done. “ Es scheint eine selbstauferlegte Aufgabe der Performer: innen zu sein, Zitate aus Wildes Text in den live auf der Bühne gesprochenen Text einzubauen, wodurch oft selbstironische Momente entstehen. Mit weißen Papierschildern, auf denen die Buchstaben A, B, C gedruckt sind, übersetzt Sean die Frage der Blickrichtung, wie sie schon bei Wilde Thema ist, für die Bühnensituation. Sean klebt die Schilder an Sharon, die Künstlerin (A), an das Ikebana Arrangement als Kunstwerk und Objekt (B) und an 26 Eva Döhne das Publikum als Betrachter: in (C). Objekt des Begehrens, Subjekthaftigkeit der Künstler: innen und die Außenperspektive des Publikums werden spielerisch ineinander verschränkt und dabei in ihrer Positionierung entblößt. Durch die direkte Ansprache wird schnell klar, dass ich als Zuschauerin in meiner Positionierung und der Art und Weise meiner Betrachtung sehr direkt angesprochen bin. Mein Blick als weiße 16 cis- Frau 17 , die beim Betrachten der Performance Ende 20 ist, steht in seiner Konstituierung zur Debatte und beeinflusst die Sicht auf die Arbeit und das Schreiben darüber ganz maßgeblich. In jeder Stadt, in der die Performance aufgeführt wird, castet Gob Squad sechs Gastperformer: innen. Das Skript der Performance sieht drei Rollen für Performer: innen von Gob Squad und sechs Rollen für Gäste vor. Die Aufführungen unterscheiden sich damit lokal voneinander, da die Besetzungen different sind, die größten Teile des Scripts jedoch höchstwahrscheinlich gleich bleiben. 18 Mit diesem sehr flexiblen Besetzungsprinzip zeigt sich, dass die eigentlich immer schon unmögliche Behauptung vermeintlich unendlich wiederholbarer Theateraufführungen aufgehoben und vielmehr das Durchspielen einer technisch durchstrukturierten Komposition vorgeführt wird, die je nach Ort, Zeit und Cast unterschiedlich ist. Dieses Spielprinzip bietet eine klare Struktur und schafft zugleich Freiräume für je andere Aufführungen und Spielmöglichkeiten. Das Prinzip symbolisiert die von Gob Squad praktizierte kollektive Autor: innenschaft, die Bastian Trost, Mitglied des Kollektivs, wie folgt beschreibt: Meistens entwickeln und proben wir mit bis zu zehn Leuten, die Vorstellungen spielen allerdings nur vier oder fünf. Die wiederum wechseln in der Besetzung. Nie spielt eine oder einer die Rolle einzig und allein. Das verhilft uns zu einmaligen Konstellationen, auf die die Zuschauer*innen nur an diesem einen Abend treffen. Das ist die Kraft, die wir haben wollen, auch im Vergleich zu anderen Medien. Performance hat, gerade wenn man vom Theater kommt, die größere Kraft des Augenblicks. 19 In der hier zu beschreibenden Londoner Performance holt Bastian die Gäste auf die Bühne, indem er sie mit „ we have some bodies here, we organized ourselves some locally sourced material “ ankündigt. Als „ Objets trouvés “ und „ lebende Objekte “ bezeichnet er die darauf einlaufenden Londoner Gäste Claudia Boulton, Christina Brown, Lieve Carchon, Stuart Feather, Amelie Roch und Michael Narouei. Alle tragen weiße Unterwäsche und Nylonkopfhauben. Auch sie treten auf der Bühne mit ihren Vornamen, die sie außerhalb des Theaters tragen, auf. „ We all have or had a live on stage. We are ready to be objectified, we would like to be adored [. . .] “ , kommentiert Bastian, indem er sich, wie schon Sharon und Sean in schwarz gekleidet, zwischen die Gäste in einer Reihe an der Bühnenkante aufstellt. Die zu sehenden Körper differenzieren sich untereinander im Hinblick auf Sex, Gender, Race, Ability, Alter und Körperfülle. In den folgenden Szenen stehen die Gäste meist Modell und präsentieren Standbilder. Dazu werden sie oft opulent mit Blumenschmuck, Blumenkränzen, Seidentextilien, Mänteln, Accessoires wie Federboa, Tüll und Kronen geschmückt und im Scheinwerferlicht positioniert. Sie werden auf Podeste gestellt und bekommen von den Gob Squad Perfomer: innen konkrete Anweisungen zur Körperhaltung und zur Mimik, wie beispielsweise: „ Do a beautiful pose “ . Und sie bekommen Anweisungen zu ihrer Sprechhaltung und ihrer Kostümierung. Teilweise wirken die konkreten Anweisungen, die Gob Squad ihren Gästen geben, wie das Durchspielen von Lehrein- 27 Ins Licht getauchte Körper und gespiegelte Blicke. Gob Squads Creation (Pictures for Dorian) heiten in Performance- und Schauspieltechniken. Die Bilder werden oft vor oder hinter Holzrahmen oder mit Spiegeln inszeniert und damit gedoppelt und gebrochen. Diese Bilder werden von Gob Squad Creations genannt. Sie werden live abgefilmt und auf die hintere Bühnenwand projiziert. Durch sehr gezielt und oft emotional eingesetzte Musik werden die Bilder dann als Videoprojektionen auf die Leinwand gescreent, womit das Bühnengeschehen nochmals verdoppelt wird. Die Betitelung der Bilder als Videobilder, meist mit Zitaten von Wilde, stellen das zuvor noch bewegliche Bild auf der Bühne dem starren Titel und dem gerahmten Standbild auf der Videoleinwand gegenüber. Der Einsatz der Mittel bewirkt eine Atmosphäre der Ver- und Enthüllung, der Erscheinung und des Verschwindens. Die vielfachen Rahmungen durch Video, gebaute und gescreente Rahmen, Folien und Spiegel lassen sich als Apparaturen beschreiben, an denen Blicke wirken. Es sind dabei die Blicke von uns als Zuschauer: innen und die Blicke von Gob Squad, die ihre Pictures zu Creations machen und das Herstellen der Bilder vorführen und ausstellen. Immer wieder kommentieren die Performer: innen von Gob Squad die Szenenanordnungen, eigene Texte und Bilder mit von Wilde formulierten Aphorismen, Bonmots und Zitaten. Nach für sie klaren, den Zuschauenden jedoch nicht immer erkennbaren Spielregeln, moderieren sie einzelne Szenenaufbauten und lenken die Szenen und das Geschehen durch Fragen oder Handlungsanweisungen. Dabei bleibt oft unklar, welche Handlungen und Texte spontan und improvisiert sind und wieviel der Performance tatsächlich gescriptet und durch eine fest vorgegebene Struktur gerahmt ist. 20 Mit der im Hintergrund mehrmals auf die Leinwand projizierten Frage „ Is this your best work? “ referieren Gob Squad nicht nur auf ihre eigenen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte im Performancegeschäft, sondern projizieren die Fragen über Verfall und Zeit ebenfalls auf die eingeladenen Gäste und deren Erfahrungen mit dem Bühnenleben. Gob Squad inszenieren sich als diejenigen, die die Show dramaturgisch konzipieren und technisch am Laufen halten. Sie tragen schwarze Kleidung und vermummen nach den ersten 20 Minuten Körper und Gesichter bis auf eine Auslassung für die Augen. Wenn sie fortan die Herstellung der Pictures moderieren, zeigen sie ihre Gesichter. Wenn sie dabei die Requisiten auf- und abbauen und die Kamera bedienen, vermummen sie sich. Dabei werden sie nicht eins mit dem Hintergrund der Bühne, sondern werden vor dem schwarzen Hintergrund selbst schwarz. Es ließe sich auch sagen, sie tarnen sich, anstatt sich anzupassen. 21 Sie treten als Performer: innen, als Bühnentechniker: innen und Filmemacher: innen auf und führen damit ganz beiläufig die allzu häufige Unsichtbarkeit der technischen Abläufe bei Theateraufführungen vor. Auch hier versuchen sie Unsichtbarkeit sichtbar zu machen. Zuletzt decken Bastian, Sean und Sharon ihre Gäste mit milchig durchsichtigen Plastikplanen ab, die durch das sie gezielt anstrahlende Licht zu einer Installation werden. An dieser Stelle werden die vormals lebendigen Objekte zu leblosen Skulpturen. Die Show neigt sich dem Ende zu. Die Gob Squad Performer: innen wenden sich dem Ikebana Arrangement zu und wundern sich: „ The young ones are falling apart. “ Die letzte Szene übernimmt die älteste Gastperformerin Lieve, die eine alte Lieblingsrolle, die sie für die Queen höchstpersönlich gespielt habe, nachstellt. Dabei spielt sie im hinteren Teil der Bühne, beinahe für sich selbst. Ist sie noch sichtbar, oder nicht schon längst vergessen und unsichtbar? 28 Eva Döhne Theoretische Überlegungen zum Blick Die Behauptung von Auge und Blick als zwei voneinander getrennte Bereiche des Sehens verbindet Ulrike Haß mit den Anfängen der Zentralperspektive im Theater im 16. und 17. Jahrhundert. 22 Jacques Lacan folgend kritisiert sie eine klare Trennung von Auge und Blick und unterstreicht deren Verschränkung. 23 Sie entwickelt die Überlegung, dass die Art und Weise des Sehens und damit sowohl die Sichtbarkeit als auch die Sagbarkeit unmittelbar mit der Entwicklung neuzeitlicher und moderner Bühnenformen zusammenhänge. Die Umbrüche der Neuzeit hätten sich auf die Annahme gestützt, dass die Weltform im Ganzen unter die sichtbaren Dinge falle und damit eine Entwicklung des Sehens erzwang, „ das mit einer nur mehr sich im Sichtbaren bedingenden Welt befaßt ist. “ 24 Sehen erschöpfe sich jedoch weder in Sichtbarkeit noch in Sagbarkeit und könne sowohl nicht Gesehenes als auch nicht Gesagtes mit sich bringen. Die Zentralperspektive symbolisiert Haß folgend eine Eingrenzung der Sichtbarkeit und damit auch der Sagbarkeit, bei der die eigentliche Verschränkung von Auge und Blick vergessen werde. 25 Auch Silverman bezieht sich auf die bei Lacan genannte dreidimensionale Anordnung des Sichtbaren und unterscheidet im Englischen die Begriffe gaze, screen und look. 26 Mit dem englischsprachigen ‚ look ‘ könne das individuelle Sehen und somit der Blick eines Individuums in einer konkreten Situation beschrieben werden. 27 Wohingegen ‚ gaze ‘ in der deutschen Übersetzung entweder nicht übersetzt oder als Blickregime bezeichnet wird und so ideologische Wirkungsmechanismen des Blicks, bedingt durch den ‚ screen ‘ , betont. 28 Silverman übersetzt dazu Lacans Begriff ‚ écran ‘ mit ‚ screen ‘ . Wenn sie behauptet „ [. . .] by screen he in fact means the image or group of images through which identity is constituted [. . .] “ 29 verleiht sie dem Begriff einen ideologischen Status. Sie verweist auf die historische und kulturelle Position des Screens, wenn sie ihn als „ [. . .] culturally generated image or repertoire of images through which subjects are not only constituted, but differentiated in relation to class, race, sexuality [. . .] “ 30 charakterisiert und betont, dass der Screen die visuellen Normierungen sozialer Kontexte an dem Punkt des Blickregimes zeige. Stuart Hall verwendet in Das Spektakel des ‚ Anderen ‘ bei seiner Analyse der Repräsentation der Differenz race ebenfalls den Begriff des Regimes, wenn er schreibt: „ [D]as gesamte Repertoire an Bildern und visuellen Effekten, durch das ‚ Differenz ‘ in einem beliebigen historischen Moment repräsentiert wird, wird als Repräsentationsregime bezeichnet. “ 31 Nach Silverman bestätige und unterstütze das Blickregime Identität über den Screen, sei jedoch nicht für die Annahme einer Identität verantwortlich. Der Screen sei entscheidend „ [. . .] for the way in which the inhabitants of that society experience the gaze ’ s effects, and for much of the seeming particularity of that society ’ s visual regime. “ 32 Blickregime wirken nach Silverman über die Apparatur des Screens auf sozial und gesellschaftliche Kontexte. Materialisierungen von verkörperten Bildern wie Gesten, Posen, Verhaltensweisen, Mimiken, Schönheitsidealen und Bilderreportoirs ereignen sich demzufolge durch die ideologische Apparatur des Screens. Kurz: Das Blickregime bestätigt innerhalb der diagrammatischen Verschränkung diese Form der Materialisierung von Licht über das Begehren auf das Gegenüber. Das heißt, diejenigen Phänomene, die sich über Licht materialisieren und sichtbar werden, werden laut Silverman über den Screen ideologisch normiert. Dies habe zur Folge, dass nur ganz bestimmte Vorstellungen von Körper(bildern) innerhalb je spezifischer historischer Kontexte und in- 29 Ins Licht getauchte Körper und gespiegelte Blicke. Gob Squads Creation (Pictures for Dorian) nerhalb je spezifischer sexueller Ordnungen sichtbar werden. 33 Mit Hall lässt sich daran anschließen, dass nicht nur Körper, sondern Darstellungen von Differenz im Allgemeinen durch eben jene Normierung der Repräsentation ideologisch sichtbar sind. 34 Silverman beschreibt den Screen neben seiner ideologischen Komponente auch als eine mögliche Waffe für das Subjekt, das um sein eigenes Vorgestelltsein wisse. 35 Damit betont sie die subversive Kraft des Screens für Anliegen, die die ideologischen Bilder aufbrechen und decodieren möchten. Den Gedanken, die Vorstellung des Vorgestelltseins zu erkennen, übernimmt sie direkt von Lacan, der erläutert, dass sich das Subjekt als Vorstellung wahrnehmen und diese Vorstellung wiederrum wie eine Maske benutzen könne. 36 Das Subjekt könne sehen, wie es angeblickt wird und könne das Gesehenwerden und damit den Blick durch die Maske spielerisch zurückwerfen. Das Subjekt bei Lacan begehrt zurückzublicken und begehrt zu sehen. Haß konstatiert, dass es nicht darum gehe, dass das Subjekt der Vorstellung seinen Blick auf ein konkretes Gegenüber zurückwerfe, was mit Silverman als ‚ look ‘ zu beschreiben wäre. Der begehrende Blick zurück gelte „ einem Blick hinter dem Blick “ 37 . Vom Tableau zurück zum Licht blickend zeige sich das Begehren des Subjekts in dem diagrammatischen Zusammenhang, das stets auf ein Objekt gerichtet sei. In diesem Moment gleiche das begehrende Subjekt einem belichteten Bild, so Haß. 38 Das Bild bleibt also eine Projektion und damit jede bildliche Repräsentation durchzogen von projektivem Begehren. Auch wenn das vorgestellte Subjekt sein Gesehenwerden durch das Blickregime über sein Begehren wahrnehmen kann, sieht das Subjekt letztlich nur die Projektion seiner selbst im Screen. Das Subjekt kann die Vorstellung seines Vorgestelltseins erkennen, das wirkliche Sein der Vorstellung jedoch nicht ergründen, da es dort stets weitere Imaginationen und Projektionen zu erkennen gibt. Laut Silverman könne das Subjekt jedoch das aus dieser Situation hervortretende Wissen für eine radikale Denaturierung des Bildes verwenden, indem es das eigene Bild maskieren, tarnen und verkleiden könne. Damit kann das Subjekt der Repräsentation, das eine Vorstellung seines Vorgestelltseins hat, den Screen für subversive Strategien verwenden. Es ist diese Chance, die Silverman stark macht. Mit Rückgriff auf diese Theorien lässt sich herausarbeiten, inwiefern Subjekte im Bereich des perspektivischen Sehens primär durch die Rahmung von kulturell intelligiblen Bildern erscheinen, mit diesen imaginierten Bildern jedoch auch spielen können. Denn über die doppelte Struktur des Schautriebs des Subjekts in Sehen und Gesehenwerden ist eine Distanzierung des Subjekts der Repräsentation von dessen imaginiertem Bild potenziell möglich. 39 Wenn der Screen als Symbol für die Gespaltenheit des Selbst anerkannt wird, ergeben sich damit auch unsichtbare Verbindungen zu den Bildern, die nicht erscheinen können. Diese Distanzierung, als Vorstellung des Vorgestelltseins, bildet auch die Grundlage der Kritik des strukturell männlichen, weißen, heteronormativen Blickregimes. Silverman fordert: Feminism must consequently demand more than the return of specularity and exhibitionism to the male subject. What must be demonstrated over and over again is that all subjects, male or female, rely for their identity upon the repertoire of culturally available images, and upon a gaze which, radically exceeding the libidinally vulnerable look, is not theirs to deploy. 40 Sichtbarkeit kann somit stets verschränkt, einerseits vom Subjekt der Repräsentation, andererseits vom Blick ausgehend, betrachtet werden. Das Subjekt begehrt in der Suche 30 Eva Döhne nach Anerkennung den Blick des Gegenübers im Sinne eines Blicks hinter dem Blick. Das Regime des Blicks gehört niemals demjenigen Subjekt, das betrachtet, wirkt sich jedoch fundamental auf das aus, was es betrachten kann. Damit gehört der gaze, vermittelt über die Apparatur des Screens, nicht dem Subjekt, sondern dem Bereich der Ideologie an. Bevor die Überwindung sowohl des perspektivischen als auch des rassifizierenden, sexualisierten und geschlechtlich codierten Sehens möglich scheint, bleibt es demnach wichtig, überhaupt wahrzunehmen, wie oft sichtbare Subjektformationen in der geometralen Perspektive und damit besonders in zentralperspektivisch ausgerichteten Bühnendarstellungen durch die Wirkung des Blick normiert werden. 41 Einzelne Szenen. Subjekte der Repräsentation im Spiegelkabinett der Bühne Mit Amelies Szene beginnt eine Intensivierung der Spiegelmetaphorik, szenisch, atmosphärisch und inhaltlich. Es geht nicht mehr nur um die Künstler: innen, die die ‚ Pictures ‘ , ihr Werk und ihre Performance kreieren und die Gäste als Objekte gebrauchen, sondern nach und nach werden Szenen gebaut, in denen die Gäste als Subjekte der Repräsentation, sich selbst anblickend, vorgestellt werden. Nah an den vorangegangenen theoretischen Überlegungen zeigt sich hier eine doppelte Interpretation der Sichtbarkeit von Subjekten: Einerseits zeigen sich die Gäste als den Blicken des Publikums ausgesetzt, andererseits begehren sie eben genau die anerkennenden Blicke und die Aufmerksamkeit. 42 Es kann davon gesprochen werden, dass sie sich ihres Vorgestelltseins auf der Bühne bewusst zu sein scheinen. Damit werden sie von Gob Squad nicht nur als lebendiges Material und damit Objekte des Blicks, sondern auch als Subjekte der Repräsentation inszeniert. 43 Es erklingen seichte Klavierklänge und die Gastperformerin Amelie bekommt auf der rechten Seite der Bühne von Sean die Anweisung, sich hinzusetzen und sich vorzustellen, dass es Schmetterlinge regne. Durch die Klaviermusik und die gezielte Beleuchtung von Amelie durch die transportablen Scheinwerfer wird diese Szene zum Zentrum des Blicks im Trubel des sonstigen Bühnengeschehens, wo noch immer Modelle auf- und abgebaut werden. Die Musik stoppt und Sean gibt ihr weitere Anweisungen. Sie solle erst sagen: „ I don ’ t feel that “ , und später dann: „ I feel that. “ Amelie wiederholt die Sätze. Dem Publikum dreht sie den Rücken zu. Sie wird mit einer opulenten Rosenkrone, einem weißen Stehkragen und einem Stoffüberwurf mit Rosen bekleidet und ihr Gesicht wird als Portrait auf die Videoleinwand übertragen. 44 Bastian bringt einen großen Spiegel auf die Bühne. Dann bitten die beiden Amelie, ihr Spiegelbild und ihr Gesicht, das sie selbst anblickt, zu beschreiben. 45 Amelie betrachtet ihr Spiegelbild, das die Zuschauenden auch als Videoprojektion sehen, und beschreibt sich mit: „ It is very pale, very small eyes and a big nose in the middle, my dad ‘ s big nose in the middle. “ Darauf bittet Sean sie: „ Give us your best selfie face. “ und blickt sich konzentriert im Spiegel an. Sean bittet sie, ihren Kopf nach rechts und ihn dann ganz langsam wieder zurück zu drehen, um ihren eigenen Blick zu treffen. Anschließend solle sie dies mit einem bestätigenden Lächeln kommentieren und sagen: „ It ’ s the first time that I am conscious of my youth, I am conscious of the fact that one day I will lose it. “ Amelie folgt der Vorgabe und wiederholt den Text und die Bewegung. Sie betrachtet sich im Spiegel und erblickt zugleich ihre Bild-Werdung auf der Videoleinwand. Sean bezeichnet das Arrangement als seine „ Creation “ . Er habe das Portrait auf der Videoleinwand von Amelie als Künstler gemacht und sie sei die Betrachterin ihres eigenen Portraits. Dann formuliert Sean den 31 Ins Licht getauchte Körper und gespiegelte Blicke. Gob Squads Creation (Pictures for Dorian) Wunsch, seine Kreation in eine Cloud zu laden. Doch Amelie widerspricht. Sie erzählt von ihrem Unwohlsein speziell gegenüber männlichen Blicken. Daraufhin Sean: „ 200 people are looking at you in this room, at your eyes, your lips, your nose. Are you happy to take the gaze? “ Amelie antwortet, ja, sie fühle sich gut damit. Die Bühne sei für sie ein sicherer Ort. Allerdings fühle sie sich durch Seans Blick verunsichert. Die Situation wirkt für einen kurzen Moment verletzlich, da Amelie ihren weiblich gelesenen Körper auf der Bühne zeigt und zugleich von ihren Ängsten redet, angeschaut zu werden. Ich sehe sie dreifach. Als Amelie, die Performerin mit Bühnenerfahrung, als Amelie, die Frau, die sich vor dem male gaze fürchtet und als Amelie, die sich selbst im Spiegel anblickt und die Bühne als sicheren Ort definiert. Amelie zeigt sich, indem sie sich selbst im Spiegel anblickt. Ich als Betrachterin blicke zurück. Amelie scheint sich dem Gesehenwerden bewusst. Sie beschreibt das Gesehenwerden auf der Bühne durch das Publikum als weniger unangenehm als das Angeblicktwerden durch einen männlichen Blick wie den von Sean. Die Spannung zwischen der gezeigten Intimität, ihrer Positionalität und einer potenziell schützenden Rahmung auf der Bühne wird explizit durch den Einsatz der Livekamera und die Einrahmung des Screens verstärkt. Amelie ist weder eine noch zwei, sondern mindestens drei oder mehr. 46 Doch bietet ihr die Bühne tatsächlich Schutz? Kann sie dem Regime des male gaze entkommen oder wird diese Behauptung in der Inszenierung bloß aufgestellt? Gob Squad inszenieren die titelgebenden Kreationen durch die vielfachen Rahmungen als potentiell schützend. Das Regime des Blicks und damit die Bedingungen von Sichtbarkeit verändern sie dadurch nicht. Sie führen die Normierung vielmehr vor. In einer anderen Aufstellung stehen wieder alle gemeinsam vorne am Bühnenrand und sagen: „ Look at us, we need your attention. “ Sharon zieht sich nackt aus, wodurch sie meine Aufmerksamkeit erhält. Sofort karikiert sie selbst das Klischee eines weiblich nackten Körpers auf der Bühne, da sie dies nur tue, um Blicke zu generieren. Wie kann Sharon diesem Blick entkommen? Wie lässt sich darunter spielen und wie darunter existieren, wenn das, was Wirklichkeit genannt wird, auch immer schon von Inszenierungen und normierter Sichtbarkeit durchzogen bleibt? Wenn Luce Irigaray von der Zur-Schau-Stellung als Schrecken schreibt, meint sie, dass das weibliche Geschlecht nicht gesehen werden könne, solange Repräsentation durch einen männlichen Blick strukturiert sei. 47 Auch Sharons Szene befragt diese Bedingungen und benennt die Rahmung der Schauordnung. Eine andere Möglichkeit von Sichtbarkeit eröffnet sich jedoch auch hier nicht, da sie mit der Ausstellung ihres nackten weiblichen Körpers bei aller Selbstkritik voyeuristische und sexualisierte Blickregime des male gaze trotz allem bedient. In einer weiteren Szene spricht die Gastperformerin Christina, die noch am Anfang ihrer Bühnenkarriere stehe, über ihre Angst vor primär weißen Blicken. Mit einem langen, floral gemusterten Kopftuch posiert sie halbliegend, den Zuschauer: innen den Rücken zugewandt vor einer spiegelnden Wand, durch die sie Bastian und die Gastperformerin Lieve anblicken. Bastian fragt: „ Is there any image you would like to erase in the future, an image of you? “ Ruhig schaut sie Bastian an und spricht ins Mikrofon: There have been times in my life where I have wanted to erase being a black working class queer women, but actually what I want to erase is the system that I have to navigate through on a daily basis, a system who serves people who look like you, white people. I would also erase the fear that I feel specifically social anxiety. 32 Eva Döhne In dieser kurzen Passage erwähnt sie nicht nur ihre Verletzlichkeit als Schwarze und queere Frau aus der Arbeiter: innenklasse. Sie spricht auch über ihren Wunsch, das System der weißen Privilegierung ausradieren zu wollen. Durch Christinas Auftreten und ihr Sprechen wird der weiße Blick als eine Form von „ racialization “ nach Sara Ahmed 48 erkennbar und zugleich in dessen strukturell männlicher, westlicher und kolonialer Ideologie kritisiert. Indem sie Bastian adressiert, aber auch das Publikum über die Kamera anschaut und das hegemoniale Weißsein der Mehrheit im Raum und die damit verbundene Privilegierung anspricht, verweist Christina neben der sexualisierenden, geschlechtlichen und sozialen Identifizierung ihres Körpers vor allem auch auf die rassifizierende Normierung der Repräsentation, wie sie auch Hall beschreibt. 49 Hall unterscheidet in seiner Analyse der rassifizierenden Repräsentationsregime drei mögliche Gegenstrategien, wobei er die beiden Strategien a) der Aneignung negativer Stereotype sowie b) der positiven Gegenentwürfe zugunsten des Ansatzes kritisiert, c) immer noch durch „ das Auge der Repräsentation “ 50 zu gehen. Darunter lässt sich eine Strategie der Repräsentation beschreiben, die die dominanten Regime und damit auch die Konstituierung des Blicks nicht umgeht oder Gegendarstellungen behauptet. Halls Kritik lässt eine Strategie der Repräsentation zu, die die gesellschaftlich, historisch normierten Muster anspricht und diese damit durch die Repräsentation selbst konfrontiert. Christina benennt, indem sie sich als „ black working class queer women “ bezeichnet, auch die Mehrfachidentifizierung ihrer Selbst und betont damit Ambivalenzen, wenn sie sich sowohl als queer als auch als woman beschreibt. Doch macht die Aufzählung der Differenzen bereits eine Decodierung des Repräsentationsregimes aus? Kann ich aus meiner Positionierung heraus Christinas Wünsche und Ängste wirklich sehen und begreifen, oder aber erscheinen ihre persönliche Geschichte und ihre Körperlichkeit immer nur eingeordnet in die Register des ideologisch aufgeladenen Sichtbaren? Schützt der Einsatz der Kamera, indem die künstliche und gerahmte Fixierung des Gesehenen gezeigt wird, oder aber ermöglicht diese Art des Sehens Christinas Darstellung uneindeutig werden zu lassen und ihre Forderung ernst zu nehmen? Die Inszenierung nimmt beide Fragen auf, allein schon, weil Christinas Perspektive einen Raum bekommt. Dennoch wird zugleich gezeigt, dass die Privilegierung des strukturell weißen, heteronormativen, cis-männlichen Blicks andauert. 51 Durch die Form der Ausstellung und der beinahe schablonenhaften Benennung ihrer Identitätskategorien wird sie erneut als Objekt der Anschauung inszeniert. Die alleinige Benennung und Ausstellung ihrer Position verändert damit weder die sie anschauende Perspektive, noch das System des Repräsentationsregimes. Die Form der durch die Kamera gespiegelten Repräsentation von Christinas Position unterbindet dabei das normierte Repräsentationsregime der Blicke nicht, sondern verweist - auch durch den opulenten Blumenschmuck - auf die Stereotypisierung einer exotischen Darstellung von Christina als Andere. Letztlich ist es nicht entscheidend, ob Amelies, Christinas oder auch Sharons Szenen gescriptet, fiktiv, improvisiert, oder biografisch fundiert sind. Es ist nicht von Interesse, ob die erzählten Geschichten, Sorgen, Sehnsüchte und Ängste tatsächlich passiert sind, oder nur scheinbar vorgespielt und damit inszeniert werden. Weder die Körperdarstellungen und -bildnisse, noch das Spiel der Performer: innen lassen sich in Eindeutigkeit auflösen. Gob Squad zeigen die Sehnsucht angeblickt zu werden als Begehren nach Anerkennung. Sie präsentieren ins Licht getauchte Körper, die die 33 Ins Licht getauchte Körper und gespiegelte Blicke. Gob Squads Creation (Pictures for Dorian) Bedingtheit des An- und Zuschauens ausstellen. Die Körperdarstellungen und Subjektivierungsweisen können dabei nicht losgelöst von der Illusion der Bühne und der Normierung des Blicks gedacht werden, sondern exponieren die normierte Betrachtung als Teil einer Illusion beim Zuschauen, die hartnäckig wirkt. Die Bühne wird als ein Spiegelkabinett inszeniert, das Bilder produziert, verwirft, neu zusammensetzt und dieses Spiel unendlich fortsetzt. Damit gelingt es, diejenigen Momente, die oft als ‚ Wirklichkeit ‘ bezeichnet werden, als Momente erscheinen zu lassen, die immer schon von Inszenierungen durchzogen und von ihrem illusorischen Charakter nicht zu trennen sind. Über die Lust zu sehen und die Lust sich zu zeigen „ Who are you looking at? “ , wird das Publikum wiederholend gefragt. Alle Performer: innen werden sowohl als Schauende als auch als Angeschaute gezeigt. Die Lust zu sehen verbindet sich durch den begehrenden Blick mit der Lust sich zu zeigen. Durch die vielen Screens aus Videobildern und Rahmungen entsteht eine Form des Sehens, das die Eingrenzung der Sichtbarkeit betont und damit die Sehordnung in Form einer Beziehungsarbeit zwischen Performer: innen und Publikum selbst zeigt. Das bei Wilde noch primär homoerotische Begehren wird von Gob Squad mit Fragen der Identität und mit der Produktion von Kunst verbunden. Schon die Blicke auf Dorians Portrait gehören nicht Dorian, wirken sich aber fundamental darauf aus, was er und wie er sich wahrnimmt. Dorian wird zu einer von Narzissmus und Gier getriebenen Figur, die ihr Spiegelbild vergöttert. Nicht nur Homosexualität, sondern jede Form der Identifizierung zeigt sich dadurch als ambivalenter Prozess. 52 Indem Gob Squad die vorgestellten Körper und Geschichten im Rampenlicht der Bühne verhandeln, erweitern sie die bei Wilde noch primär cis-männlich homosexuelle Identifikation in eine generelle Frage an Prozesse ambivalenter Identifizierung und Sichtbarkeit von Differenz. Ausgehend von der Figur des Dorian führen sie in der Performance fluide und größtenteils uneindeutige Begehrensstrukturen vor. So bezeichnet sich Christina als Schwarz, als queer und als working class woman und Claudia als weiblich, als Frau und als Drag, Bastian als schwul und weiblich und Sharon als weiblich, Frau und Mutter. Die Wirkungsmacht von identifikatorischen Bildern einer primär weißen und heterosexuellen Matrix in Bezug auf Alter, Körper, Ability, Klasse Race, Sex und Gender stehen in der Performance zur Debatte. Durch die Involvierung der sechs Gäste zeigt sich das Begehren nach Aufmerksamkeit und die Leidenschaft für die Illusionierung der Performancebühne nicht nur als spezifische Sehnsucht nach ewiger Jugend oder ewiger Unversehrtheit, wie dies in Wildes Roman anklingt, sondern auch als ein Zugeständnis an den anatomischen Verfall der Körper und damit an die Kategorie des Alters. Statt Identifizierungen einheitlicher Gestalten ohne körperliche Mängel, wie es das Portrait von Dorian suggeriert (diese Wunschmomente werden durchaus auf der Bühne ausgesprochen) sehe ich Körper, die alt und gezeichnet sind, noch jung und unerfahren oder sich eindeutigen geschlechtlichen Einordnungen innerhalb eines binären heterosexuellen Geschlechterverhältnisses entziehen. Die Aufführung ist die In-Szene-Setzung einer alternativen Zur- Schau-Stellung der Körper und der gelebten Erfahrungen, Wünsche, Geschichten, Träume und Sehnsüchte. Die Bühne ist nicht der Ort, an dem Gob Squad Abgeschlossenheit und Präsenz vorführen. Die Bühne ist bei ihnen ein Ort, der die flackernden Ränder 34 Eva Döhne im Moment der Gestaltwerdung und damit auch im Moment einer jeden Identifikation antippt. Gob Squad versuchen, die Bilder beweglich zu halten, statt sie zu definieren und zu objektivieren. „ To define is to limit “ , sagt Sharon immer wieder leise murmelnd, kaum hörbar, vor sich hin. Mit dieser Methode bewegen sie sich auf dem schmalen Grat, ihre Gäste, auch als Diversity Cast zu lesende Gruppe, nicht permanent zu Objekten zu degradieren. Die Performer: innen von Gob Squad behaupten, sich selbst als in die Jahre gekommene Personen auf der Bühne zu betrachten und sowohl das Vorgestelltsein, als auch das Gesehenwerden zu reflektieren. „ I ’ ve always done more looking than being looked at “ , erzählt Sean. Er deutet an, dass das selbstreferentielle Spiel und die Umschichtung der darstellerischen Leistungen auf sogenannte Gäste mit Bühnenerfahrungen auch als ein Schutz vor den Blicken des Publikums verstanden werden kann. Sie inszenieren sich als Subjekte der Repräsentation und als Objekte des Blicks zugleich, die um ihr eigenes Vorgestelltsein wissen. In dieser Bewusstwerdung liegt laut Silverman das subversive Potential und die Möglichkeit des Spiels mit der Maskerade. 53 Dieses Spiel nehmen Gob Squad auf. Spielerisch werfen sie den Blick zurück. Nicht nur unmittelbar an das Publikum, sondern stattdessen versuchen sie, über den Einsatz der Livevideokamera und Rahmungen den Blick hinter dem Blick und damit das äußere Gerüst des Blickes auszustellen. Sie als Performer: innen offenbaren im selbstreferentiellen Spiel die Vorstellung ihres Vorgestelltseins. Gob Squad führen die Konstituierung der Repräsentation vor und versuchen die Blickrichtungen spielerisch zu unterlaufen; entkommen können sie den Mustern jedoch nicht. Mit Bezug auf Hall lässt sich summieren, dass die Inszenierungen der Differenzen der Gäste „ durch das Auge der Repräsentation “ sichtbar sind und insgesamt im Repräsentationsregime der zentral ausgerichteten Performancebühne und der immer schon normierten Blickrichtung und Blickkonstituierung verharren. Die Arbeit lotet im Exponieren der Unsichtbarkeit die verkürzte Interpretation und die zum Definieren und Benennen drängende Praxis der Identitätsannahme der Körper und Geschichten aus. Die Arbeit bleibt eine Bearbeitung von Grenzen, eine Verhandlung, die die Gefahr der Selbstauflösung mit sich bringt, da sie sich von der Annahme autonomer Subjekte in der Darstellung verabschiedet. Die Subjekte bleiben dabei einer sie permanent eingrenzenden Darstellung unterworfen, auch wenn sie die Repräsentationsregime teilweise ausstellen. Die Ordnungsmerkmale der Bühne beginnen zu schillern und zeigen sich kurzzeitig. Creation (Pictures for Dorian) ist eine Performance, die ihre Gestalt sucht, ihre Produktion und ihre Repräsentation zeigt und zugleich diejenigen, die als Repräsentierte erscheinen, in ihrem behaupteten Sein, aber auch in ihrem Nicht-Sein ausstellt. Was bleibt, ist die Idee, dass die Bühne zu einem Möglichkeitsraum wird, die Diversität der Körper, der Identitäten, der Geschichten vorzuführen, auszustellen und dadurch - wenn auch nur verschleiert, gespiegelt, projiziert - verfügbar zu machen. Anmerkungen 1 Eve Kosofsky Sedgwick / Adam Frank (Hg.), Shame and its Sister. A Silvan Tomiks Reader, Durham, London 1995, S. 3 übers. und zit. nach: „ Das Kollektiv und das Publikum “ , in: Aenne Quiñones (Hg.), Gob Squad - What are you looking at? Postdramatisches Theater in Portraits. Bd. 1, Berlin 2020, S. 54 - 101, hier S. 55. 2 Gob Squad, Creation (Pictures for Dorian) (UA: 02.05.2018, Hebbel am Ufer Berlin). Meine Seherfahrungen beziehen sich auf 35 Ins Licht getauchte Körper und gespiegelte Blicke. Gob Squads Creation (Pictures for Dorian) einen Performancebesuch während der Wiesbaden Biennale 2018 und eine Videosichtung der Londoner Performance. 3 https: / / www.gobsquad.com/ projects/ creati on-pictures-for-dorian, [Zugriff am 25.01. 2023]. 4 Vgl. dazu die Einteilung des Schautriebs von Freud in Schauen, Beschautwerden und Sich Zeigen. Sigmund Freud, „ Triebe und Triebschicksale “ (1915), in: Ders., Studienausgabe, Bd. 5, Frankfurt a. M. 2000, S. 92 f. 5 Vgl. Oscar Wilde, The Complete Works of Oscar Wilde, Vol. 3, The Picture of Dorian Gray, the 1890 and 1891 Texts, hg. v. Joseph Bristow, New York 2005. Die Seitenzahlen von Zitaten, die sich direkt auf den Text beziehen, werden fortan in runden Klammern genannt. 6 Bristow, „ Introduction “ , in: Wilde, Dorian, S. xi - lx, hier S. xi. 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. Susan Sontag, Notes on ‘ Camp ’ , London 2018, S. 4. 9 Ebd., S. 28. 10 Ebd., S. 31. 11 Bei Wilde zeigt sich damit die teilweise auch bei Judith Butler und bell hooks diskutierte Annahme, ob und wie weit cis-männliche Homosexualität mit Frauenfeindlichkeit zusammenhängen. Vgl. Judith Butler, Körper von Gewicht, Frankfurt a. M. 1997, S. 180 ff. Vgl. bell hooks, „ Is Paris Burning? “ , in: Sisters of the Yam column, 06 (1999). 12 1994 gründeten Johanna Freiburg, Alex Large, Sean Patten, Liane Sommers, Berit Stumpf und Sarah Thom das Performance Kollektiv Gob Squad als Zusammenschluss von Student: innen der Nottingham Trent University und des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft. Vgl. Aenne Quiñones, „ Be Part of Something Bigger “ , in: Dies. (Hg.), What are you looking at? , S. 22 - 53, hier S. 27. 13 Alle Zitate entstammen der Mitschrift zur Performance von Eva Döhne. 14 Um bei den vielen genannten Namen den Überblick zu behalten, habe auch ich mich dazu entschieden, die Perfomer: innen bei ihren Vornamen zu nennen. 15 Die gesamte Anfangsszene der Performance, das Motiv der Blumenkunst und die später leicht melancholisch klingende Musik im Hintergrund erinnern an die Beschreibung von Basil Hallwards Studio am Beginn des ersten Kapitels bei Wilde, wo es heißt: „ The studio was filled with the rich odor of roses, and when the light summer wind stirred amidst the trees of the garden there came through the open door the heavy scent of the lilac, or the more delicate perfume of the pink-flowering thorn. “ Wilde, Dorian Gray, S. 3. 16 Weiß wird hier markiert, um darauf aufmerksam zu machen, dass es häufig als unmarkiert und neutral verstanden wird. 17 Die Schreibweise von Frau wird kursiviert, um auf die sozial konstruierte und historisch manifestierte Position im binären Denken zu verweisen, die mit der kategorialen Bezeichnung einhergeht. 18 Diese Besetzungstrategien nutzen Gob Squad seit der Produktion Room Service (Help Me Make It Trough The Night) in 2003 regelmäßig. Vgl. Nina Tecklenburg, Performing Stories. Erzählen in Theater und Performance, Bielefeld 2014, S. 17. Zu beachten ist auch, dass seit Gob Squads Performance Kitchen immer wieder In-Ear- Kopfhörer zum Einsatz kommen, die die konkreten Verhaltensweisen auf der Bühne oder den Text vorgeben. Vgl: Fred Dalmasso, „ Ethics of play in earpiece performances by Nature Theater of Oklahoma and Gob Squad “ , in: Performance Philosophy 1 (2017), S. 233 - 245. 19 Quiñones, What are you looking at? , S. 36. 20 Vgl. ebd, S. 37. 21 Dieser Gedanke erinnert an Lacans Ausführung zur Mimikry, wenn er mit Bezug auf Roger Callois über das Krustentierchen Caprella schreibt. Vgl. Jacques Lacan, „ Linie und Licht “ , in: Ders.: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XI (1964): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, übers. v. Norbert Haas, Weinheim/ Berlin 1987, S. 97 - 111, hier S. 104. 22 Haß betont, dass durch Keplers Theorie des Netzhautbildes und dessen Bestätigung durch Descartes das innerweltlich definierte 36 Eva Döhne Auge zum Leitmodell der visuellen Kultur geworden sei und, dass seither historisch zwei voneinander zu trennende Systematiken des Blickes vorhanden seien, „ die sich im Aspekt ihrer Sagbarkeit unterscheiden. “ Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, Bielefeld 2005, S. 16. 23 Die Verschränkung von Auge und Blick erarbeitet Lacan anhand von drei Diagrammen in Jacques Lacan, „ Die Spaltung von Auge und Blick “ , in: Ders., Die vier Grundbegriffe, S. 73 - 84. 24 Haß, Drama, S. 21. 25 Ebd. 26 Kaja Silverman, The Threshold of the Visible World, New York 1996, S. 163 ff. Psychoanalytische Überlegungen zur Blickbeziehung und der Konstitution von Subjektivität haben sich innerhalb feministischer Theorie als zentraler Bezugspunkt erwiesen und wurden vielfach weiter ausgearbeitet. Vgl. Laura Mulvey, „ Visuelle Lust und narratives Kino “ , in: Liliane Weissberg (Hg.), Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a. M. 1994, S. 48 - 65. 27 Silverman, The Treshold, S. 163 f. 28 Der Begriff des Regimes steht dabei in großer Nähe zu den Theorien Michel Foucaults. Dieser arbeitet heraus, dass historische Anordnungen von Macht, Wissen und Begehren als grundlegend für spezifische Wahrnehmungsmuster und spezifische Konventionen des Blicks zu beschreiben sind, die wiederrum dazu beitragen, die sie konstituierenden Machtformationen zu stabilisieren. Bei Foucault ist der Blick „ gleichzeitig Instrument und Effekt gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsstrukturen “ und historisch in den je spezifischen Kontext eingebunden und veränderbar. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1977, S. 49 ff. 29 Silverman, The Treshold, S. 150. 30 Ebd. 31 Stuart Hall, „ Das Spektakel des Anderen “ , in: Ders., Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hamburg 2004, S. 108 - 166, hier S. 115. Hall betont, dass seine Überlegungen über die Repräsentation von race sich auch auf die Repräsentation der Differenzen Geschlecht, Sexualität, Klasse und Behinderung übertragen lassen. Vgl. ebd., S. 108. 32 Ebd., S. 135. 33 Mit diesen Gedanken steht Silverman in großer Nähe zu Butler, die ebenfalls betont, dass normierte Erscheinungen des Körpers als materialisierte Effekte von diskursiven Anordnungen, die sich historisch und sozial ausdifferenzieren, zu fassen sind. Vgl. Butler, Bodies that Matter, S. 52. 34 Vgl. Hall, „ Spektakel “ , S. 108 f. 35 Kaja Silverman, Male Subjectivity at the Margins, New York 1992, S. 149. 36 In der Vorlesung „ Was ist ein Bild? “ betont Lacan, dass das menschliche Subjekt nicht vollkommen in der Welt des Gesehenwerdens verharre. Das menschliche Subjekt könne erahnen, dass es durch das Bild im Schirm angeblickt werde. Vgl. Jacques Lacan, „ Was ist ein Bild? “ , in: Ders., Die vier Grundbegriffe, S. 112 - 128. 37 Haß, Drama, S. 77. 38 Vgl. ebd. 39 Silverman, Male Subjectivity, S. 150. 40 Ebd., S. 153. 41 Haß betont, dass seit der neuplatonischen Auslegung der Philosophie in der Renaissance die von Platon im Höhlengleichnis etablierte Metapher des Schattens durch den Spiegel als Abbild des Inneren und der Seele ersetzt wurde. Damit einher gehe die Behauptung, Sichtbarkeit könne allumfassend dargestellt werden. Der Spiegel gelte als Metapher für die Eingrenzung des Sehens als Sichtbarkeit. Vgl. Haß, Drama, S. 20. 42 Vgl. Lacan, „ Die Spaltung von Auge und Blick “ , in: Ders., Die vier Grundbegriffe, S. 73 - 84. Vgl. zum theatertheoretischen Bezug Haß, Drama, S. 16. 43 Vgl. für theaterwissenschaftliche Überlegungen zum Blick Gerald Siegmund, „ Körper, Heterotopie und der begehrende Blick. William Forsythes Preisgabe des Fluchtpunkts “ , in: Gabriele Brandstetter / Birgit Wiens (Hg.), Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias: Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater, Berlin 37 Ins Licht getauchte Körper und gespiegelte Blicke. Gob Squads Creation (Pictures for Dorian) 2010, S. 130 - 152. Adam Czirak, Partizipation der Blicke. Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance, Bielefeld 2012. 44 Auch Dorians Erscheinung wird bei Wilde von der Figur des Lord Henry mit Rosenmetaphern beschrieben wird. Wilde, Dorian, S. 21. 45 Die Szene erinnert an die Passage bei Wilde, in der Dorian das gemalte Portrait, das zu diesem frühen Zeitpunkt im Roman wie ein Spiegelbild seiner Erscheinung beschrieben wird, zum ersten Mal betrachtet. Wilde, Dorian, S. 28 - 29. 46 Seit Anfang 2000 sind selbstproduzierte Videobilder zentraler Bestandteil vieler Performances von Gob Squad. Vgl. Quiñones, What are you looking at? , S. 48. 47 Vgl. Luce Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1979, S. 25. 48 Vgl. Sara Ahmed, „ Racialized bodies “ , in: Marie Evans / Elli Lee (Hg.), Real Bodies. A Sociological Introduction, New York 2002, S. 46 - 63. 49 Vgl. Hall, Spektakel, S. 165. 50 Hall, Spektakel, S. 163. 51 Vgl. bell hooks, „ The oppositional gaze. Black Female Spectators “ , in: Dies., black looks. Race and Representation, New York 2014, S. 115 - 131, hier S. 115 f. 52 Vgl. Butler, Körper, S. 179 f. 53 Vgl. Silverman, Male Subjectivity, S. 135 ff. 38 Eva Döhne Female Theatre Managers in ‘ Peripheral Spaces ’ . Re-Mapping the 19 th -Century Habsburg Monarchy Theatre Landscape Patrick Aprent (Vienna/ Munich), Magret Berger (Vienna/ St. Pölten) This article focuses on female theatre managers in the nineteenth-century Habsburg Monarchy, specifically within the territory of present-day Austria. Combining qualitative and quantitative research and utilising methods from geography and the digital humanities, it aims to reintroduce the many women who led theatres and thereby made substantial contributions to the theatrical and cultural life of their time, but who have been excluded or inaccurately represented in later theatre history writing. By analysing the content of around 230 theatre almanacs, this article illustrates the gender relations of the historical theatre landscape and demonstrates that women disproportionately often occupied ‘ peripheral spaces ’ , leading theatre ventures in the suburbs, on smaller provincial stages and in travelling theatres. Introduction The professional activity of female theatre managers (in German ‘ Theaterdirektorinnen ’ ) in the late Habsburg Monarchy has received little attention and remains a desideratum in academia. 1 This absence within scholarship is problematic as in the theatre landscape of Austria today - one of the Monarchy ’ s successor-states - gender inequality still prevails with regard to leadership positions at major venues. The gap of knowledge hinders opportunities for broad public debates with only a few - though important - activist interventions of theatre practitioners remaining as lone voices for change. One such initiative was the project “ DIE Spielplan ” , demonstrating the male dominance on renowned Austrian stages and specifically pointing to the low number of women in leadership roles and the absence of women ’ s plays in the repertoires. 2 Such initiatives highlight how the theatre sphere still is a male-dominated space, where women are affected by discrimination, reflected in their access to, practice and representation in leading positions. The lack of visibility of female theatre leaders in the present public consciousness is so profound that one could ask whether there were any female theatre managers at all in the past. However, as we will demonstrate in this article, there were in fact more than one hundred women whose contributions to the field of theatre management have been overlooked and whose names remain unknown to this day. In the nineteenth century, Germanspeaking theatre reached almost everywhere in the Habsburg Empire, one of the largest states in Europe in 1900. Against all odds, ‘ female theatre managers ’ , 3 responsible for the artistic and operational concerns of theatres, were indeed active throughout the century. Just as Tracy C. Davis proclaimed for the British stage in the same era, “ in every corner [. . .], every kind of neighbourhood, and every sized town, burgh, and city, women ran this industry ” . 4 The aim of this article is therefore to reintroduce knowledge about the many women in the late Habsburg Monarchy who led theatres and thereby made substantial contributions to the theatrical and cultural life Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 39 - 54. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0004 of their time. To shed light on their practice, we introduce a methodology that combines qualitative research with quantitative methods from geography and the digital humanities and utilises so far rarely used theatre almanacs as source materials to re-map nineteenth-century theatre. This approach draws an extended picture of the theatre landscape and includes marginalised practices usually omitted from theatre historiography such as female theatre managers. Collating information on these women allows us to investigate the gender relations at the time and identify the spaces they occupied. It also highlights their peripheral position on various levels, geographically, socially and in theatre literature, due to processes of exclusion, marginalisation and distortion in normative knowledge production. All of this will be linked to international feminist theatre historiography and its findings. In several small-scale studies we conducted in recent years, we have gained initial insights into the practice of female theatre management and thereby demonstrate that source materials - even though often disparate and dispersed - certainly exist. Through our micro-historical work on Anna Blumlacher (1823 - 1907), Marie Arthur (1835 - 1888) and - carried out by our colleague Claudia Mayerhofer - Alexandrine von Schönerer (1850 - 1919), we have been able to learn about women ’ s paths into management, their social environments, contemporary reception, and gender-based obstacles. 5 Blumlacher, Arthur and von Schönerer were active in the same period but situated within very different socio-economic, professional and personal environments. Indicating that female theatre managers were present everywhere, in the metropolis as well as in the periphery, these three qualitative case studies give a representative view of the social and geographical spectrum of female theatre management, therefore making a comparative analysis a valuable starting point for our study. Until recent research, 6 Alexandrine von Schönerer had not received much attention in theatre history, although she was one of the most successful and enduring managers of the prestigious Viennese theatre, the Theater an der Wien. Coming from a wealthy and highly respected family, she had the financial means to buy the theatre in 1884. Although she was involved in artistic and business decisions from the beginning, she leased the premises to other managers until 1889, when she took over management of her own stage for eleven successful years. Schönerer ’ s position not only in Vienna, the political and cultural capital of the Monarchy, but at the centre of the Viennese theatre-scene, was rather exceptional for female theatre managers at the time. This also meant that all her actions and decisions were scrutinised by the public, amplifying the gender-based challenges in the profession in some instances. Theatre manager and actress Marie Arthur, however, is a paradigmatic example for the concealed long-term involvement in theatre management within family-structures. 7 She is representative of how women ’ s careers in theatre management would - by official accounts - typically begin: in most cases, they inherited a theatre company from their husband or from a family member upon their death. Such an incident would bring to light the skills, experience, and leadership competence that they had accumulated by their continuous involvement in all leading roles of family-run businesses over many years. Marie Arthur was part of a theatre family, co-managing the family operation, but always staying in the shadow of her husband Karl Arthur. Following his death, she officially took on the role of theatre manager and led the theatre operation to 40 Patrick Aprent / Magret Berger even bigger stages in cities such as Znojmo/ Znaim (CZ) and Celje/ Cilli (SI). Another case study is Anna Blumlacher with a career lasting over 80 years. 8 She was engaged as an actress at around 45 theatres all over the Habsburg Monarchy, changing location and theatre practically every year. Beginning in the 1880s, she managed a travelling theatre company for almost 25 years in the Habsburg crown land of Styria, where she staged theatrical performances at dozens of different places. Blumlacher ’ s itinerary illustrates the mobile life and practice of the so-called ‘ provincial theatres ’ , which included permanent theatres in provincial cities as well as a form of itinerant theatre practice reaching even the smallest towns in peripheral locations. While all three women were visible during their active time as influential contributors to the theatrical and cultural life, the question is what different mechanisms of marginalisation or exclusion caused them to fade into obscurity. Reintroducing our protagonists as well as the many other female managers is an important corrective to prevailing theatre history narratives, in which they - among many other theatre forms, practices and people - lack any representation. With our microhistories as starting points, our intent in this article is the documentation of female theatre management on a broader scale. Our particular focus is on analysing which socio-geographic spaces they occupied within the theatre landscape, as we identify a definite trend that female theatre managers were most likely to work in what could be termed ‘ peripheral spaces ’ : Rather than managing the biggest stages of the time, evidence from cases such as Anna Blumlacher, Marie Arthur and others suggest that that the majority of women held leading positions at smaller venues, in travelling theatre companies or in more remote areas, where they were oftentimes perceived differently than in the metropolitan centres of the theatrical landscape. Peripheral spaces, we hypothesise, opened up opportunities for female managers with fewer barriers to entry. However, operating the smallest theatre stages on the margins often meant precarious working and living conditions with limited prospects of promotion. Analysing these spaces and conditions thoroughly is highly significant for our understanding of nineteenth-century theatre and female managers as main contributors therein. At the same time, it might point us to continuities and persistent inequalities that women face in the culture and arts sector today, demonstrating the relevance of this topic. Re-Mapping Nineteenth-Century Theatre and its Marginalised Practices In order to create a more inclusive topography of nineteenth-century theatre, we have identified theatre almanacs as a promising source material, as they aim to capture the full theatre landscape beyond narrow foci or selection criteria. In Women and Playwriting in Nineteenth-Century Britain, Tracy C. Davis and Ellen Donkin point out that female playwrights have a very solid presence in the annals and calendars of the stage 9 because, as Jacky Bratton notes at a later point, “ the calendar makers[ ’ ] [. . .] objective is simply completeness ” 10 . The same is true of female theatre managers and the many smaller theatre ventures that have tended to escape the attention of historians, but which suddenly emerge “ simply by adjusting the lens to a different focal length ” 11 . However, rather than tracing a few individuals via the almanacs, we aspire to use these materials in a more systematic way, that is as an assembled data corpus. Drawing on the concept of a ‘ macroscope ’ , 12 we combine our qualitative research with digital quantitative methods blending 41 Female Theatre Managers in ‘ Peripheral Spaces ’ macroand micro perspectives. Our microhistorical case studies serve as the starting point but shall be contextualised on a much larger scale in order to compare the itinerary of our protagonists with that of all other theatre managers recorded in around 230 editions of nineteenth-century theatre almanacs which we will introduce as source and data collection in the following section. Using Geographical Information Systems mapping and statistics, we explore the almanac data, starting with the creation of a map of all places with professional theatre. We will then quantify how many theatre managers worked at each place. This number renders the theatre activity and centrality of places and therefore provides - to a certain degree - an understanding of central or peripheral spaces within the nineteenthcentury theatre landscape. In other words, it visualises a whole network of theatres and theatre places and reflects what position in the hierarchy a place held. Finally, visualising the gender relations of this topography via maps and diagrams, we illustrate the spaces female theatre managers occupied therein and review emerging patterns and characteristics on the basis of the specific practice of our case examples. There were a number of theatre almanacs in the nineteenth century that documented the German-speaking theatre of the time. Although they were published in a variety of formats, they were often interchangeably referred to as ‘ almanacs ’ , ‘ journals ’ or ‘ calendars ’ . In contrast to those documenting only one particular stage, the type that serves as our material basis is defined by Paul S. Ulrich as ‘ universal theatre almanacs ’ ( ‘ Universale Theater-Almanache ’ ), 13 which Fig. 1: A mapping of the gender ratio of theatre managers at the respective places, with the size of the symbols corresponding to the total numbers of managers. © Patrick Aprent 42 Patrick Aprent / Magret Berger periodically cover - with unlimited geographical scope - German-speaking theatre in its entire global reach. The main section of these almanacs included a directory, containing information on a vast range of theatres and their locations, the names of theatre managers and each associated ensemble and personnel. Besides the uniformly-structured documentation of theatres, other sections of the almanacs included biographies, adverts, play texts, and obituaries among other information. The overarching purpose of these almanacs, such as the Deutscher Bühnen-Almanach, was to provide as complete a picture as possible of the German-speaking theatre landscape. While this aspiration could not be fulfilled, and the almanacs have several limitations, 14 they still represent unparalleled material to gain a macro-perspective on nineteenthcentury theatre that includes female managers and other marginalised theatre practices. The data set used in our analysis is based on data compilations with a geographical focus on Austria by Paul Ulrich and includes the content of around 230 almanac issues covering the years from 1830 to 1914 with fragmented entries from earlier years. 15 Within the borders of present-day Austria, there were 292 places staging professional theatre in the nineteenth century, based on Fig. 2: Graph visualising the average ratio of female managers in proportion to the total number of managers of each theatre place. © Patrick Aprent 43 Female Theatre Managers in ‘ Peripheral Spaces ’ our extensive analysis of all almanac records. Projecting all these locations on a map presents a picture of nineteenth-century theatre that was of vast extent and reached far beyond the well-known metropolis of Vienna. About 750 theatre managers can be traced in the almanacs. Of these, 67 were female managers, which equals 8.4 % women to 91.6 % men. Linking them to their respective workplaces adds another facet to the theatre landscape and allows us to analyse the gender relations in theatre management. Figure 1 is a mapping of all theatre places within the borders of present-day Austria. The size of the circles represents the number of managers at each place, highlighting Austria ’ s larger cities and major theatre places at a glance. The pie chart outlines the gender ratio in theatre management at every single place. While the vast range of smaller places need further explanation, it is immediately apparent that the numbers for all major cities account for a male dominance in theatre management. The graph in Figure 2 clearly shows this pattern. The number of theatre managers per place are visualised on the vertical axis with grey bars, while places with similar numbers are grouped into four categories. As we will further elaborate, this forms a ranking of places and illustrates how centrally or peripherally they were positioned in the theatre landscape. The average ratio of female managers for each category of places is also outlined and runs inversely to the ranking of places accumulating the most power and prestige. This highlights a clear difference regarding gender. While female theatre managers were exceptions in places with major theatre stages and represented only 7 % of all managers there, their percentage rises to 29 % for smaller cities and peripheral places, where primarily travelling theatres operated. With 332 theatre managers documented in the almanacs, almost half of all managers worked in Vienna, the definitive centre of the Habsburg Monarchy. Among those, 22 female managers are recorded, resulting in a gender ratio of 7 % female to 93 % male. Very few women, such as Alexandrine von Schönerer or Caroline Völkel-Strampfer (ca. 1820 - after 1882) at the Ring-Theater, were able to assert themselves in managing positions at prestigious venues in Vienna. The majority, however, led smaller stages such as Pauline Czerniawski-Löwe (? - 1911) at the Rudolfsheimer Volkstheater. 16 Besides Vienna, there were other places of relevance for nineteenth-century theatre, which had longstanding theatre traditions as well as theatre buildings. Such places include Graz and Innsbruck as major provincial cities of the Habsburg crown lands, but also Krems, Steyr and Leoben, cities of rather local importance. Similar to Vienna, women were exceptions in these locations and represented on average only 7 % of the theatre managers. Looking beyond these few well-known theatre places, a remarkable shift in the gender relations can be observed at middle-sized and smaller places. A string of places, predominantly smaller cities such as Villach, Bregenz or Grein were all of similar size, political and economic importance, and also of a similar status in the theatre landscape. Most of these places maintained permanent or at least semi-permanent theatre stages and were visited by 5 to 23 different managers in the nineteenth century. Although they could not sustain a theatre company for a whole theatre season, usually lasting from September/ October to Palm Sunday, these places still provided stable conditions for certain periods. 17 In these places, the number of female theatre managers is considerably higher with around 15 % on average. The aforementioned Marie Arthur is just one example who leased such venues with their practice being similar to that of bigger provincial theatres. The ratio of female managers for this group of places 44 Patrick Aprent / Magret Berger would be even higher, were it not for several well-known spa towns and summer resorts. It can be seen that the famous summer stages in places like Bad Gleichenberg, Bad Ischl and Baden bei Wien replicated the gender relations of the larger cities, as prominent theatre managers would relocate their theatre operations to follow their bourgeois audience to the countryside over the summer. Going another step further, it is remarkable that beyond Vienna, other major cities, and dozens of smaller cities, there were another 250 places in Austria where professional theatre was performed in the nineteenth century. These places represent peripheral spaces in the theatre context and were often small towns in geographically remote areas or located in the suburban area of major cities. They almost never had a dedicated theatre building and were visited infrequently by professional travelling theatre operations which played on temporary stages such as taverns, rooms in clubhouses and community halls. This form of itinerant theatre practice is often overlooked in the standard literature of theatre history but was common for most theatre professionals in the period and reached even the smallest towns of the Empire. 18 Importantly, a significant rise to 29 % of women managing such theatre operations on average highlights that these peripheral spaces might have provided opportunities for them. Despite the precarious circumstances of their endeavours, the structural obstacles and societal gender roles might have been less of an impediment to accessing and working in these spaces than in the theatre-centres of the time. We identified almost 30 women in the category leading smaller travelling theatre operations. Anna Blumlacher and Anna Lazary (1819 - 1902), of whom some knowledge has been accumulated in recent years, are both paradigmatic examples of this practice, successfully leading their companies for decades, the latter even for 42 years. 19 Reflecting on our hypothesis, the analysis of almanacs attests to a clear trend that women more frequently managed theatres in peripheral spaces of the nineteenthcentury theatre landscape, regardless of whether they consciously chose to utilise these spaces of opportunity or because they were forced to do so because they were blocked from accessing bigger stages. This illustrates a striking male dominance at the prestigious theatre places and stages, while almost a third of the smallest theatrical businesses in peripheral spaces were managed by women. Given the obvious difference in working conditions for female managers, how are peripheral spaces defined in the context of our analysis? Although the concept of centre and periphery is widely problematised, it is probably helpful for a description of the theatrical landscape under discussion to think of it as a more complex system that is an interrelated socio-geographical space, with distinctive characteristics on either end of the spectrum, all gradations in between as well as all kinds of anomalies and exceptions. Our analysis focussed on the number of theatre managers in each place, therefore representing the theatrical activity and centrality of all places. High numbers, such as Vienna with 332, indicate a place with several theatres which have been in operation for a long time and were extensively documented, possibly as it was where the almanac was published or due to the importance of the place within the theatre landscape. Low numbers, on the other hand, depict a place with little and infrequent theatrical activity, and potentially incomplete documentation. This approach gives an idea of how centrally or peripherally these places were positioned in the nineteenth-century theatre topography. However, peripheral spaces were not necessarily 45 Female Theatre Managers in ‘ Peripheral Spaces ’ confined to small towns far from Vienna. These spaces, as they appear in our analysis, were first and foremost socio-cultural spaces within the nineteenth-century theatre world, and only peripheral in a geographical sense in a second place. Above all peripheral spaces represent positions within the network of theatres, with a few prestigious ones at the top of a hierarchy and many more forming the wider surroundings. The fact that geographically remote places usually account for peripheral spaces is therefore a frequent correlation, as usually only centrally positioned major cities accommodated prestigious venues. The spa towns already mentioned, however, demonstrate that this correlation could be reversed. Following their familiar audience to their summer destination, managers and personnel from renowned theatres reproduced the whole social environment in geographically remote areas, including the gender relations of the most prestigious theatres. At the same time, there were many smaller stages on the outskirts of Vienna managed by rather unknown managers, including many women. Female Managers in ‘ Peripheral Spaces ’ As our analysis has shown, in places with high centrality, which are often the location of the most renowned stages and where most of the cultural and economic capital congregates, a considerable male dominance in theatre management can be observed. In contrast to these centres of male power were peripheral spaces in which female managers were concentrated. In Habsburg ’ s Germanspeaking theatre landscape, Vienna was the definite centre with its prominent venues, playwrights, agents, and actors that were of great cultural, economic and political importance. The renowned Viennese stages were also the focus of bourgeois attention, extensively followed in media coverage and strictly observed in relation to bourgeois values. We can therefore assume that, comparable to London, where “ neither theatre ownership nor management were genderneutral activities ” 20 , gender-based discrimination might occur and transgressions against women ’ s intended role in society might be more likely to be sanctioned than in smaller provincial towns, thus limiting access to leadership positions to exceptional occurrences. Outside of Vienna, but part of a network inextricably linked with the metropolis, were a few larger and a vast number of smaller theatre places: the practice of the socalled ‘ provincial theatres ’ . Many of these theatre places were sometimes in difficultto-reach areas with limited infrastructure, a smaller pool of audiences and less or no entertainment on offer. They were also located outside of society ’ s attention and ignored by contemporary theatre commentators and historians because of their perceived artistic deficiency. Evidently, these varying structural conditions of spaces impacted the practice of female theatre managers in different ways. Preliminary comparative studies on our protagonists have shown that von Schönerer, who managed one of the most prestigious theatres in Vienna, faced administrative restrictions and gender-based discrimination in media representation. Although she invested considerable capital to buy the Theater an der Wien, she was not able to manage the theatre independently at first, as her concession included the requirement to have a male representative for technical and security matters. 21 However, the archival accounts on Blumlacher ’ s applications for concessions to stage theatrical performances show no such constraints. 22 A similar difference is noticeable in contemporary media reporting. Surprisingly, as Blumlacher ’ s travelling theatre company operated only in smaller cities and towns, she and her com- 46 Patrick Aprent / Magret Berger pany were the subject of more than 100 articles in local newspapers with mostly favourable commentary on her efforts. In their composition and choice of words, these commentaries are comparable to those made on male competitors, with no indication that gender was a reference point in the reporting. The media coverage on von Schönerer was mainly neutral as well but in some instances her gender was referenced in provocative comments, while other articles made stereotypical attributions. 23 Even though this suggests noticeable differences in the relation of space and gender depending on where female managers worked, the management of Blumlacher and of von Schönerer was not suppressed because of their gender. Once in these positions, they were visible in the public and were mostly received similarly to their male counterparts, with media commentary focusing on the common evaluation criteria of theatre management such as choice of personnel, the set design or programme. In order to contextualise the high number of women who, similarly to Blumlacher, led small theatre companies in peripheral spaces, it is therefore important to reflect on the accessibility of particular spaces in the theatre landscape by focussing on women ’ s pathways into management, their practice and scope for action as managers and whether they had further career opportunities. Notwithstanding if women inherited, bought, or founded theatre companies, managing the most renowned stages was an exception. In the centres of cultural, economic and political power, we assume that structural disadvantages and society ’ s gender norms had the greatest impact, resulting in almost insurmountable obstacles. As our analysis illustrates, some of the smaller permanent provincial theatres provided better preconditions, but it was specifically peripheral spaces that offered a market with less or no competition and fewer gender-based obstacles, and typically only these environments were accessible to women. A major factor that helped women into management might have been the longer existence of family-run theatre businesses in these areas, which facilitated their involvement in leadership and the passing on of businesses to women, as was typical in the eighteenth and early nineteenth century. 24 Closely linked to the issue of accessibility is the examination of upward mobility and career opportunities for female managers. Although Blumlacher ’ s practice altered during more than two decades of theatre management, the area and type of places she visited remained unchanged. The fact that her application to lease the permanent theatre in Pettau/ Ptuj (SI) for the autumn season 1893 was rejected by local authorities could be seen as an indicator that her attempt to ascend to a larger stage was denied, if it was not for a second application from a renowned male competitor which was also rejected. 25 Marie Arthur ’ s example might prove the opposite, showing that female managers were mobile and had chances to rise within the theatre hierarchy. As we know from preliminary biographical research, 26 her husband Karl Arthur organised summer theatres in spa towns from the late 1860s onwards, in which Marie Arthur was heavily involved. After Karl presumably died in 1886, Marie eventually took over the theatre operation. It is particularly noteworthy that after stepping out of the shadow of her husband, her activity was no longer limited to summer theatre or smaller stages but shifted towards bigger venues. After managing theatres such as Bruck/ Mur and Cilli, she stepped up to manage the theatre of Znaim, one of the bigger provincial stages of the Monarchy. To do so, she reportedly turned down another approved application to manage the theatre of Krems. Marie Arthur ’ s sudden death at the age of 53 during her time in Znaim put an end to a 47 Female Theatre Managers in ‘ Peripheral Spaces ’ promising career, as many related reports point out her great entrepreneurial competence and leadership qualities. Even if Arthur ’ s short-lived career is an indication, further evidence is needed to shed light on career trajectories and clarify whether peripheral spaces could provide the starting point for female managers to ascend to the bigger stages of the metropolis, similarly to actors or civil servants. The factual basis for future research is the overall pattern that peripheral spaces were more conducive to female theatre management, which corresponds to findings from various international contexts, as Tracy Davis has summarised. 27 What unites Blumlacher, Arthur and von Schönerer, despite their different environments, backgrounds, and practices, is their visibility and the relatively neutral reception they received during their lifetimes. However, gender as a social category was of greater importance in the process of history writing. In later literature where von Schönerer is mentioned, her depiction is often subject to gender bias, with clear deviations from the portrayal of male manager contemporaries. 28 More often though, female managers were excluded entirely from theatre history. The intentional concealment and omission or re-attribution of their achievements to a male partner, usually their husbands, was one method that led to their absence. Otherwise, the disregard and marginalisation of other practices such as provincial and travelling theatres led specifically to the omission of women who disproportionately often occupied exactly these peripheral spaces. Almanacs, we anticipated, might be a material basis to uncover these marginalised practices, which calls for their critical evaluation. In this respect, almanacs proved to be promising material but are not a genderneutral source. Even though their aim was a complete documentation of the theatre landscape, historical, patriarchal power structures are still inscribed in the production of almanacs. Consequently, female managers are more likely to be excluded than male managers for several reasons. Especially earlier almanac versions would at times not include first names or gender-signifying pronouns and thus, in the editing process of almanacs as well as in today ’ s reception, a genderless name might more likely be assigned to the male gender. Secondly, the frequent concealed involvement of women in leadership roles is extremely hard to verify, even though we can identify clear patterns suggesting this, such as directors ’ wives being listed as cashiers in the almanacs. Finally, professional theatre in peripheral spaces - disproportionately often carried out by women - was covered far less extensively. Reflecting on the travelling theatre company of Blumlacher in remote geographical areas let us assume that these marginalised practices are still underrepresented to a considerable extent, and the estimated number of female managers might be significantly higher. Our constantly increasing list of female theatre managers within present-day Austria is evidence of this. We were able to identify 50 women in addition to the 67 from the almanacs by tirelessly searching through the Habsburg state ’ s administrative records in local archives. Feminist Theatre Historiography and Innovative Methodologies - An Outlook Feminist theatre historiography is still rarely considered in the German-speaking research landscape. It is therefore hardly surprising that our knowledge of nineteenthcentury theatre of the Habsburg Monarchy primarily depicts and reproduces a dominant male perspective. To “ rethink histor- 48 Patrick Aprent / Magret Berger iography through a feminist lens ” 29 is therefore an important step to question these structures of power constituting the exclusion or distorted representation of female theatre managers as well as other marginalised practices. Further studies can thereby draw on the pioneering work of feminist scholars, such as the thorough and multilayered research of Jacky Bratton and Tracy Davis. Yet already our preliminary findings show remarkable similarities to international contexts, demonstrating that peripheral spaces were more conducive to female management, while cultural and political centres were pervaded by male-dominance. 30 The fact that these patterns not only stretch out through geographical space, accounting for several nineteenth-century theatre contexts, but unfortunately also through time, has been highlighted by Ireland ’ s recent “ WakingTheFeminists ” movement. Starting in around 2014, theatre practitioners and researchers in collaboration have pointed out how gender inequality in Ireland ’ s theatre sphere prevails to the present day, presenting evidence, for example, that at Ireland ’ s most renowned stages, those receiving most state funding, the fewest women were involved in leading roles. 31 In German-speaking areas, the patterns are similar, even though comprehensive studies have so far only been published for Germany 32 and are in preparation for Switzerland. It is peripheral spaces, like the OFFtheatre scene, where women mainly hold leading positions yet often face precarious working conditions. Access to the most renowned stages, however, is still made difficult, so that women only rarely appear as managers there. These conditions are only gradually being problematised in academia and above all by people from within the theatre scene, but the established power structures are extremely resistant to propositions for more diversity and equality. Yet, as the situation in Ireland ’ s theatre scene has proved, research and knowledge are key to raising awareness and initiating public debates, hopefully leading to sustainable change and improved conditions in the long term. A critical examination of processes of theatre history writing is as fundamental to moving forward as investigating the practices of female theatre managers in more detail and learning about specific strategies they developed to assert themselves in a male-dominated environment. A precondition to all that is, however, simply revealing their names and their wide-ranging contribution to theatre and society, not only as managers but in a variety of leading roles, from managers and directors to playwrights, acting teachers, agents, theatre owners, set designers, or lessees. Tracy Davis and Ellen Donkin declared “ the first order of business is adjusting the lens so that theatrical activity by women snaps into focus ” 33 . With the methodology we explored in this article, we aspire to take this first step, making these women visible again, and to encourage reflection on how novel approaches, such as including digital methods from geography and the digital humanities, can become a means to systematically uncover marginalised practices and offer counterpoints to male-centred depictions of theatre history. Re-mapping the theatre topography based on theatre almanacs revealed at a glance the work of 67 female managers, most of whom were active in peripheral spaces and are unknown to this day. Inspired by Tracy Davis ’ extensive list of 350 women in leading positions on the British stage 34 , the names we uncovered are also important connecting points for future research. However, the fact that the number of female managers on our list has been growing rapidly since we consulted further material beyond the almanacs, shows that further research is required and that what is more important than our particular methodology is the overarch- 49 Female Theatre Managers in ‘ Peripheral Spaces ’ ing objective to reintroduce these women and to critically assess the entanglement of knowledge production and power with all the means at our disposal. While they were relatively visible and appreciated as theatre managers during their lifetime, the research on our protagonists highlights specific mechanisms of history writing that discredit or exclude them: the inclusion but distorted depiction; the intentional omission or re-attribution of their contribution to a male partner; or being overlooked in conjunction with the marginalisation of other practices, such as provincial and travelling theatres. Jacky Bratton has outlined the importance for a meticulous examination and contextualisation of history writing to understand women ’ s absence or misrepresentation in formative theatre histories, leading also to the point that “ research today constantly turns up women whose contribution to theatre was substantial, innovative and decisive, but whose stories were not remembered or were inaccurately recorded ” 35 . Women ’ s concealed involvement in theatre leadership thus deserves specific attention. As can be seen in the almanacs, the most common path into management for women was inheritance, where they seamlessly took over all tasks and responsibilities. As Davis has written, this proves “ the structure of joint utility that may have operated in many businesses credited to husbands ” 36 , with the only official account of their contribution prior to them taking over the business often being the almanac record listing them as cashiers. At the same time, the frequent constellation of cashier=wife / manager=husband in the almanacs points us to dozens of other cases where wives at least participated in theatre management. In this regard, it is worthwhile to examine women ’ s roles in ‘ theatre families ’ in general, which for us appears to be as ambivalent as female managers ’ situation in peripheral spaces: on the one hand, family-structures made it easier for women to take over any management functions, but on the other hand, their labour was often exploited without recognition or the opportunity to build an independent career. In addition, this might help to deconstruct the myth of single great-manstories, as seen in several examples from the history of science demonstrating how great scientific discoveries were often a collective achievement of married couples or families, but with the entire achievement attributed to the male family head. 37 All these important steps will not only critique, contrast and expand our knowledge of nineteenth-century theatre and help us to appreciate women ’ s manifold contribution therein, but also provide a historic perspective and a basis for discourses on current challenges in society in a broader context. Anmerkungen 1 Until now, no systematic research on female theatre managers in German-speaking theatre has been initiated, while in the international context feminist scholars have laid important groundwork on, for example, the United Kingdom: See among others Tracy C. Davis, “ Female managers, lessees and proprietors of the British stage (to 1914). ” in: Nineteenth Century Theatre and Film 28, no. 2 (2000), pp. 115 - 144. Jacky Bratton, The Making of the West End Stage. Marriage, Management and the Mapping of Gender in London, 1830 - 1870, Cambridge 2011. Kerry Powell, Women and Victorian Theatre, Cambridge 1997. Studies on the contemporary context remain equally scarce; there is only one study for Germany and a comprehensive study for Switzerland in preparation: See Gabriele Schulz, “ Zahlen - Daten - Fakten: Geschlechterverhältnisse im Kultur- und Medienbereich. ” in: Gabriele Schulz / Carolin Ries / Olaf Zimmermann (ed.), Frauen in Kultur und Medien. Ein Überblick über aktuelle Tendenzen, Entwicklungen und Lösungsvorschläge, Berlin 2016, pp. 27 - 361. 50 Patrick Aprent / Magret Berger However, a few ‘ female principals ’ ( ‘ Prinzipalinnen ’ ) from the eighteenth century are well-known, and numerous publications exist on Friederike Caroline Neuber (1697 - 1760) and Karoline Schulze-Kummerfeld (1742 - 1815): See among others Marion Schulz, “ Friederica Carolina Neuberin - Schauspielerin, Prinzipalin, Bühnenreformerin. Vorreiterin und Unternehmerin des Theaterwesens im 18. Jahrhundert. ” in: Schriften des Neuberin-Museums Reichenbach 45, Reichenbach im Vogtland 2019. Claudia Ulbrich, Gudrun Emberger (eds.), Karoline Kummerfeld. Die Selbstzeugnisse (1782 und 1793), vol. 1, Wien / Köln / Weimar 2020. While nineteenth-century female authors have been explored in Austria ’ s literary studies and general research exists on female entrepreneurship in the field of (women ’ s) history and gender studies, women in the sphere of theatre have predominantly been the subject of critical work with a focus on their role as actresses: See among others Renate Möhrmann, Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst, Frankfurt am Main 1989. Yet among the many famous actresses featured in such publications, some also managed prominent theatres - a fact that is rarely acknowledged in such studies. Apart from a few brief entries in biographical encyclopaedias, women as theatre managers are visible mostly in the field of local histories. Such works aimed for a comprehensive presentation of a town ’ s, region ’ s or theatre venue ’ s history, thereby in principle listing or commenting on all theatre managers - male and female - of a specific place: See among many others Anton Bauer, 150 Jahre Theater an der Wien, Zürich / Wien 1952. Cornelius Mitterer, “ Peripherie-Kultur. Das Rudolfsheimer-Volkstheater und die Metropolisierung Wiens. Mit einer erstmaligen Repertoire-Zusammenstellung im Anhang ” in: Nestroyana. Blätter der Internationalen Nestroy-Gesellschaft 39, no. 1/ 2 (2019), pp. 80 - 111. 2 See Bérénice Hebenstreit, Michael Isenberg, “ Von wegen Vielfalt: So ungleich sind Österreichs Theater. ” Mosaik, blog entry, 2018, www.mosaik-blog.at/ theater-oesterreich-un gleich-geschlecht-frauen-maenner/ [Accessed 9.8.2024]. On the topic, see also Kathrin Schwiering, THEATER.MACHER.INNEN - Wie gleichberechtigt ist das Theater? Television documentary for 3sat, 37 min, 2020. 3 We use the term female theatre managers to translate the German terminology ‘ Theaterdirektorin ’ , which was used in contemporary reporting and in the theatre almanacs but could be misleading in the English translation ‘ director ’ , because it insufficiently indicates the entrepreneurial side of leading a theatre. In research on the British and American Theatre “ women (theatre) managers ” and “ manageress ” are other terms used. See Jane K. Curry, Nineteenth-century American Women Theatre Managers, Westport 1994. Tracy C. Davis, The Economics of the British Stage, 1800 - 1914, Cambridge 2000, p. 273. 4 Davis, “ Female managers, lessees and proprietors of the British stage (to 1914) ” , p. 115. 5 See Patrick Aprent, Magret Berger, “ Ambulantes Theater in den Habsburgischen Provinzen. Die Reisende Gesellschaft der Anna Blumlacher in der Steiermark ” in: Nestroyana. Blätter der Internationalen Nestroy-Gesellschaft 40, no. 3/ 4 (2020), pp. 222 - 245. Patrick Aprent, Claudia Mayerhofer, “ Theaterunternehmerinnen im 19. Jahrhundert. ” , fernetzt - Junges Forschungsnetzwerk Frauen- und Geschlechtergeschichte, blog entry, 2020, https: / / www.univie.ac.at/ fer netzt/ 20200615/ [Accessed 9.8.2024]. Patrick Aprent, Anna Blumlacher. Ein Beitrag zur Theatertopographie im 19. Jahrhundert, Unpublished thesis, University of Vienna, 2015. Magret Berger, “ Die Theaterdirektorin Marie Arthur (1835 - 1888) als ein Beispiel für die Praxis einer ‚ Theaterfamilie ‘ in den Provinzen der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert “ in: Rural History Yearbook 19 (2023). [in preparation] Claudia Mayerhofer, Theaterdirektorinnen im 19. Jahrhundert. Einfluss und Rezeption am Beispiel von Alexandrine von Schönerer (1850 - 1919), Unpublished thesis, University of Vienna. [in progress] 51 Female Theatre Managers in ‘ Peripheral Spaces ’ 6 See Mayerhofer, Theaterdirektorinnen im 19. Jahrhundert. Aprent, Mayerhofer, “ Theaterunternehmerinnen im 19. Jahrhundert. ” 7 See Berger, “ Die Theaterdirektorin Marie Arthur (1835 - 1888) als ein Beispiel für die Praxis einer ‚ Theaterfamilie ‘ in den Provinzen der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert “ . 8 See Aprent, Anna Blumlacher. Aprent, Berger, “ Ambulantes Theater in den Habsburgischen Provinzen. ” . Aprent, Mayerhofer, “ Theaterunternehmerinnen im 19. Jahrhundert. ” . 9 See Tracy C. Davis, Ellen Donkin, “ Introduction. ” in: Tracy C. Davis / Ellen Donkin (ed.), Women and Playwriting in Nineteenth-Century Britain, Cambridge 1999, pp. 1 - 14, here p. 1. 10 Jacky Bratton, “ Jane Scott the writer manager. ” in: Tracy C. Davis / Ellen Donkin (ed.), Women and Playwriting in Nineteenth-Century Britain, Cambridge 1999, pp. 77 - 98, here p. 78. 11 Davis, Donkin, “ Introduction. ” , p. 4. 12 The concept of a macroscope was introduced to humanities scholars by historian Tim Hitchcock in 2014, highlighting the potential to enhance in-depth qualitative research with emerging digital methods and infrastructures. Hitchcock thereby builds on the work of computer scientist Katy Börner, who conceived the macroscope as a novel digital tool to analyse and visualise ever-growing complex data-sets by blending different methods and levels of scope. See Tim Hitchcock, “ Big Data, Small Data and Meaning ” , Historyonics, blog entry, 2014, http: / / historyonics.blogspot.com/ 2014/ [Accessed 9.8.2024]. Tim Hitchcock, William J. Turkel, “ The Old Bailey Proceedings, 1674 - 1913. Text Mining for Evidence of Court Behavior. ” in: Law and History Review 34, no. 4 (2016), pp. 929 - 955, doi: https: / / doi.org/ 10.1017/ S0738248016000304. Katy Börner, “ Plug-and-Play Macroscopes. ” in: Communications of the ACM 54, no. 3 (2011), pp. 60 - 69, doi: https: / / doi.org/ 10.11 45/ 1897852.1897871. 13 See Paul S. Ulrich, Wiener Theater (1752 - 1918). Dokumentation zu Topographie und Repertoire anhand von universalen Theateralmanachen und lokalen Theaterjournalen mit einem Überblick zu Zeitungen mit Theaterreferaten und deren Referenten, Wien 2018, pp. XXX - XXXI. 14 The in-depth qualitative research on our protagonists allowed us to examine the almanac-content for accuracy and completeness in more detail and revealed an agreement of around 66 % with the detailed itineraries we compiled by utilising other source materials. Limitations of almanacs include that i) occasional misspelling or the sole mentioning of surnames without a pronoun complicates the identification or disambiguation of persons and their gender; ii) the further away theatre operations were located from the place of publication, the more sporadically they are documented in the almanac; iii) travelling theatre was only featured to a greater extent in later editions; whereas iv) other entertainment formats with theatrical activities, such as music halls and varietés, were excluded and only a later published almanac format, the so-called ‘ Artisten-Kalender ’ , provides information on a variety of other marginalised theatre forms. Almanacs, therefore, have their gaps and errors, while source-specific constraints such as the once-a-year distribution made it impossible to keep up with the dynamic theatre conditions, with the published content capturing only the beginning of a restless theatre season in which personnel constantly changed. See also Ulrich, Wiener Theater (1752 - 1918), pp. XXX - XXXI. 15 The data set includes, among others, the three longest published almanacs, the Almanach für Freunde der Schauspielkunst (later Deutscher Bühnen-Almanach) from 1836 - 1893, Ferdinand Roeder ’ s Theater-Kalender from 1858 - 1879 and the Almanach der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (later Neuer Theater-Almanach and Deutsches Bühnenjahrbuch) from 1873 to the present. Ulrich ’ s compilations gather all almanac-information on Vienna ’ s and Austria ’ s theatres and theatre managers. The digitised compilations were restructured semi-automatically into two data 52 Patrick Aprent / Magret Berger sets: the first lists all managers alphabetically with their gender added on; the second compiles all mentioned places and adds how many female and male managers worked at each place as well as adding the geo coordinates and a geonames-ID to the places. The second data table consists of these columns: geonames-ID - place - lat - lon - SumMan - SumFemMan - %Male- Man - %FemMan. Concerning this data material, the following aspects have to be considered: i) For the purposes of this paper, we have focused on what are today ’ s Austrian territorial borders, even though these were of marginal importance in the historical context as German-speaking theatre was a far-reaching network encompassing all of Central Europe; ii) we have not considered specific time periods or forms of theatre such as differentiating between the regular theatre season and summer theatre; iii) the dataset and Ulrich ’ s database are not critically curated but a mere recording of the almanac content, with all inaccuracies of the source material remaining in place. Our only curatorial intervention was to review around 30 theatre managers whose allocation of gender was unclear from the almanac entries and specify gender where it was possible while excluding 10 names where it was unfeasible. For the data basis, see Ulrich, Wiener Theater (1752 - 1918). Paul S. Ulrich, Itinerare der Direktoren in Österreich 1775 - 1918 [unpublished manuscript, available at the Don Juan Archive Vienna]. 16 See also Mitterer, “ Peripherie-Kultur ” , p. 105. Christian K. Fastl, “ Friedrich Strampfer ” , Österreichisches Biographisches Lexikon (ÖBL), 2009, http: / / www.biogra phien.ac.at/ oebl/ oebl_S/ Strampfer_Frie drich_1823_1890.xml [Accessed 19.8.2024]. 17 For the theatre in Grein, see Karl Hohensinner, Ein Theater, vier Jahrhunderte. Stadttheater Grein, Grein 2022. 18 See Peter Schmitt, Schauspieler und Theaterbetrieb. Studien zur Sozialgeschichte des Schauspielerstandes im deutschsprachigen Raum 1700 - 1900, Tübingen 1990, p. 19. Aprent, Berger, “ Ambulantes Theater in den Habsburgischen Provinzen ” . 19 See Aprent, Anna Blumlacher. Aprent, Berger, “ Ambulantes Theater in den Habsburgischen Provinzen ” . Aprent, Mayerhofer, “ Theaterunternehmerinnen im 19. Jahrhundert. ” . Miroslav Luká š , “ Lazary Anna. ” , Tschechische Theaterenzyklopädie ( č eská divadelní encyklopedie), 2019, http: / / encyklope die.idu.cz/ index.php? option=com_content& view=article&id=5150: lazary-anna&Itemi d=277&lang=de [Accessed 5.8.2024]. 20 Davis, The Economics of the British Stage, p. 275. 21 See Aprent, Mayerhofer, “ Theaterunternehmerinnen im 19. Jahrhundert. ” . 22 Ibid. 23 Ibid. 24 See also Davis, The Economics of the British Stage, pp. 300 - 301. 25 See Aprent, Mayerhofer, “ Theaterunternehmerinnen im 19. Jahrhundert. ” . 26 See Berger, “ Die Theaterdirektorin Marie Arthur (1835 - 1888) als ein Beispiel für die Praxis einer ‚ Theaterfamilie ‘ in den Provinzen der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert ” . 27 See Davis, The Economics of the British Stage, pp. 273 - 274. 28 See Mayerhofer, Theaterdirektorinnen im 19. Jahrhundert. For such a representation of von Schönerer, see Rudolf Holzer, Die Wiener Vorstadtbühnen. Alexander Girardi und das Theater an der Wien, Wien 1951. 29 Charlotte Canning, “ Feminist Performance as Feminist Historiography. ” in: Theatre Survey 45, no. 2 (2004), pp. 227 - 233, here p. 228, doi: https: / / doi.org/ 10.1017/ S004055 7404000183. 30 See Davis, The Economics of the British Stage, pp. 273 - 274. 31 See Brenda Donohue, Ciara O ’ Dowd, Tanya Dean, Ciara Murphy, Kathleen Cawley, Kate Harris, gender counts. An analysis of gender in Irish theatre 2006 - 2015, 2017, www.arts council.ie/ uploadedFiles/ Main_Site/ Con tent/ About_Us/ Gender_Counts_WakingThe Feminists_2017.pdf [Accessed on 10.08. 2024]. 32 See Schulz, “ Zahlen - Daten - Fakten: Geschlechterverhältnisse im Kultur- und Medienbereich. ” . 53 Female Theatre Managers in ‘ Peripheral Spaces ’ 33 Davis, Donkin, “ Introduction. ” , p. 5. 34 See Davis, “ Female managers, lessees and proprietors of the British stage (to 1914) ” . 35 Jacky Bratton, New Readings in Theatre History, Cambridge 2003, pp. 14 - 15. 36 Davis, The Economics of the British Stage, p. 274. 37 See Sandra Klos, Doris A. Corradini, Brigitte Mazohl, “ Störfall Gender. Weibliche Mitglieder - wissenschaftliche Mitarbeiterinnen - Förderpolitik - Forschungsperspektiven. ” in: Johannes Feichtinger / Brigitte Mazohl (ed.), Die Österreichische Akademie der Wissenschaft 1847 - 2022. Eine neue Akademiegeschichte, vol. III, Wien 2022, pp. 63 - 175. 54 Patrick Aprent / Magret Berger Geschichte und die Krise der dramatischen Form: Handlungsfäden und Handlungsgewebe zwischen Hauptmanns Die Weber (1892), Brecht, Szondi und Polleschs Passing (2020) Stefan Hölscher (Bochum) Dieser Beitrag beschäftigt sich zunächst mit Peter Szondis Lesart von Gerhart Hauptmanns Die Weber (1892), die auf einem ‚ geschlossenen ‘ Dramenverständnis beruht, das von naturalistischen Theorien der ‚ offenen ‘ Form abweicht, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts formuliert wurden. In einem zweiten Schritt wird dann gefragt, inwiefern sich in René Polleschs Passing. It ’ s so easy, was schwer zu machen ist (2020) eine Problematik manifestiert, die auf das von Szondi beschriebene Verhältnis von ‚ sozialer Wirklichkeit ‘ und deren Verfremdung im epischen Theater zurückgeht. An Polleschs epischem Stück, das sich weniger um soziale Wirklichkeit als um eine verfremdende Reflexion des Theaters auf seine Mittel dreht, lässt sich schließlich zeigen, dass die Weise, in der Szondi dramatische und epische Formen infolge einer ihm zufolge um 1900 aufkommenden historischen Krise in einen Widerspruch zueinander setzt, das Potential von Hauptmanns Drama über den Weber: innenaufstand im schlesischen Eulengebirge von 1844 zur Dramatisierung von Geschichte anhand kleiner Ereignisse, Gesten und Worte ausblendet. 1. Die Weber als zerbröckelnde dramatische Form In seiner Theorie des modernen Dramas (1956) gesteht Szondi Hauptmann zunächst zu, einen „ Zug des Zerbröckelns “ 1 in die dramatische Form eingeführt und sie mit einem sozialen Thema verschränkt zu haben. Zugleich meint er aber, auf formaler Ebene würde eine adäquate Darstellung soziohistorischer Wirklichkeit erst von „ Piscator und Brecht [. . .] auf Kosten der dramatischen Form zum Durchbruch geführt “ 2 . Die Weise, auf die Szondi hinsichtlich einer ihm zufolge um 1900 aufkommenden historischen Krise dramatische und epische Formen in einen Widerspruch zueinander setzt, so meine hier verfolgte These, blendet das Potential von Hauptmanns Stück über den Weber: innenaufstand im schlesischen Eulengebirge von 1844 zur Dramatisierung von Geschichte anhand kleiner Ereignisse, Gesten und Worte aus, womit ein anderes, dramatisches Theater gemeint ist und nicht das von Brecht oder Pollesch. Der erste Akt spielt im Haus des Parchentfabrikanten Dreißiger, bei dessen Expedient Pfeifer Weber: innen ihre Stoffe abliefern, wofür ihnen der Kassierer Neumann einen Hungerlohn auszahlt. Irgendwann fällt ein Junge vor Erschöpfung um. Während der zweite Akt den Fokus auf eine karge Stube verschiebt, wo die verarmte Familie Baumert an Spinnrädern sitzt, bevor Jäger in der Szene erscheint und die Anwesenden mit dem Lied vom Blutgericht zum Aufstand motiviert, zeigt der dritte Akt eine Schenkstube. Hier bezeugen Weber: innen einem Reisenden ihren Unmut und reden sich betrunken in Rage, bis ein Gendarm erscheint und Alkohol bestellt. Der vierte Akt wird durch die längere Ausmalung der opulenten Privaträume Dreißigers eingeleitet und führt einen Polizeiverwalter und Pastor Kittelhaus ein, der Dreißiger bezüglich der unruhig werdenden Weber: innen Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 55 - 70. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0005 warnt, aus Schafen könnten noch Wölfe werden. Jäger tritt auf und droht allen, gefolgt von Pfeifer, der als Bote agiert und meint, draußen hätten Weber: innen gerade einen Staatsbeamten verprügelt. Am Ende betritt die Menge das Haus. Der fünfte Akt ist in einer Weber: innenhütte situiert. Hier berichtet Hornig von der Verwüstung des Hauses Dreißigers. Das Stück schließt mit einer Kugel, die das Fenster durchschlägt und den alten Hilse, der nicht am Aufstand teilnehmen wollte, zufällig tötet, während er am Spinnrad Stoff produziert. 2. Szondis Geschichte und die Krise des Dramas Zunächst soll hier Szondis brechtscher Zugriff auf Die Weber rekonstruiert werden, auf Grundlage dessen er die Konfrontation des Dramas mit ‚ sozialer Wirklichkeit ‘ und somit sein „ Problematischwerden “ 3 im späten 19. Jahrhundert aufzeigt. Szondis Lesart von Die Weber will ich daran anknüpfend mit Positionen aus dem Feld des Naturalismus, dem Hauptmann angehörte, kontrastieren und auf die Spezifik der Form der Weber eingehen. Bevor ich auf Polleschs postdramatisches Meta-Theater Passing zu sprechen komme, werde ich anhand von Michael Thalheimers Inszenierung der Weber am Deutschen Theater von 2011 zeigen, inwiefern es in dieser Produktion, wie ich es nennen möchte, eher um die dramatische ‚ Auffächerung von Handlung als Gewebe ‘ denn um die epische ‚ Unterbrechung von Handlung als Faden und Fabel ‘ geht, auf die Szondi hinauswill, wenn er epische gegenüber dramatischen Formen privilegiert. Ich schreibe dabei als Theaterwissenschaftler, der Szondis wirkmächtige literaturwissenschaftliche Dissertationsschrift im Hinblick auf deren Bedeutung für das eigene Feld liest: Während eines langen Sommers der Theorie übernahmen Wirth und Lehmann, bei denen Pollesch später studierte, Szondis Theorie des Theaters, ohne die kein postdramatisches Theater denkbar wäre. 4 Hauptmanns Die Weber bezeichne ich als offenes Gewebe, weil die fünf Akte, aus denen sie bestehen, von keinem kohärenten Handlungsfaden durchlaufen werden, sondern in ihrer episodischen Qualität Orte und soziale Milieus lose miteinander verknüpfen. Conrad Alberti, einer der wichtigsten Theoretiker des Naturalismus, meint um 1900, Milieus beruhten in ihrer „ einfachsten Stufe “ 5 darauf, Menschen aus dem zu erklären, was außer ihnen ist. 6 Davon handeln Die Weber meines Erachtens auch strukturell. „ Von der Möglichkeit des Dialogs hängt die Möglichkeit des Dramas ab “ 7 , beschreibt Szondi in seinem ebenso für Wirths Vom Dialog zum Diskurs. Versuch einer Synthese der nachbrechtschen Theaterkonzepte (1980) wie für Lehmanns Postdramatisches Theater (1999) folgenreichen Text die ‚ Krise des Dramas ‘ . Diese würde erst im 20. Jahrhundert vom epischen Theater gelöst. Die Weber ordnet er den ‚ Rettungsversuchen ‘ des Dramas und nicht den ‚ Lösungsversuchen ‘ seiner Krise zu, indem er Hauptmann durch die Brille Brechts liest, der in seinen Anmerkungen zum Volksstück (1940) naturalistische Darstellungsweisen immerhin als Dampfschiffe bezeichnet und vom ‚ klassischen ‘ Drama, dessen gehobenen Stil er mit einem Segelschiff verglich, abgehoben hatte. 8 Szondi zufolge lassen die Dramen Henrik Ibsens und August Strindbergs ‚ klassische ‘ Handlung stocken, indem sie die Psychen bürgerlicher Protagonist: innen ausleuchten, während Hauptmanns soziale Dramen untere Gesellschaftsschichten und politisch-ökonomische Verhältnisse thematisieren. Für Szondi nimmt die Handlung der Weber zwar „ Aufnahmen späterer Phonogrammarchive “ 9 vorweg. Ihr Thema jedoch, der kurze Aufstand schlesischer Weber: innen von 1844, verlange eine epische 56 Stefan Hölscher Form, die Hauptmann nicht erreiche. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt Szondi, der sich nur am Rande mit Inszenierungen befasst, das Drama, dessen Widerspruch zwischen Inhalt und Form für ihn Die Weber auf besondere Weise markieren, „ von der Stelle seiner heutigen Verhinderung aus “ 10 als ‚ Gegenwartsabfolge ‘ . Die dramatische Form setzt sich ihm zufolge ‚ absolut ‘ und lässt weder einem epischen Ich, das in einen Abstand zum Dialog treten könnte, noch denjenigen Platz, die sich „ schweigend, mit zurückgebundenen Händen, gelähmt vom Eindruck einer zweiten Welt “ 11 mit einer illusionistischen Bühnenhandlung identifizieren: ihren Zuschauer: innen, dem Publikum. Laut Szondi schließt das Drama mit kritischer Distanz gleichsam soziohistorische Wirklichkeit aus, die erst Piscator und Brecht angemessen darstellen würden, indem sie dialogische Aktualität episch unterbrächen. Hierbei stimmen seine Überlegungen mit denjenigen Walter Benjamins überein, der in seinen Versuchen über Brecht (1955) über die Geste als Mittel der Unterbrechung von Handlung bemerkt: „ Gesten erhalten wir um so mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen. Für das epische Theater steht daher die Unterbrechung der Handlung im Vordergrunde. “ 12 Szondi versteht dramatische Formen nicht wie Manfred Pfister rund 20 Jahre nach ihm als ‚ offene ‘ Formen und in Bezug auf Aufführungstexte. 13 Anhand von Dramentexten will er das Drama episch überwinden und den in sich geschlossenen Handlungszusammenhang mit einem konkreten ‚ Außen ‘ konfrontieren. Für Szondi ist der Dialog ebenso Träger der Handlung wie Möglichkeitsbedingung des Dramas. Dessen Schauplatz, die Guckkastenbühne, unterbinde jede Distanzierung, „ [d]ie Rampe, die sie beleuchtet, bezweckt den Anschein, als spende das dramatische Spiel auf der Bühne sich selber das Licht. “ 14 In den Webern sieht er ein Werk, das diese Form ‚ thematisch ‘ relativiere, sie aber nicht ‚ formal ‘ überwinde, weil es politisch-ökonomische Zustände dialogisch darstelle, ohne in eine verfremdende Distanz zu ihnen zu treten. 3. Der Widerspruch zwischen epischem Inhalt und dramatischer Form „ Das ‚ soziale Drama ‘ ist deshalb epischen Wesens und ein Widerspruch in sich “ 15 , fasst Szondi seine Lesart von Hauptmanns Werk zusammen. Seine Theorie des modernen Dramas, die Inszenierungen lediglich dann thematisiert, wenn sie auf Piscators politische Revuen und Brechts Theater der V-Effekte seit den 1920er Jahren zu sprechen kommt, läuft auf die „ Inthronisierung des wissenschaftlichen Prinzips “ 16 als ‚ demonstratives ‘ Darstellungsverfahren hinaus. „ Die Geschehnisse dürfen sich nicht unmerklich folgen, sondern man muß mit dem Urteil dazwischen kommen können “ 17 , fordert er mit einem Zitat aus Brechts Kleinem Organon für das Theater (1949). Die hier thematisierte Distanz zu dramatischer Aktualität wird Jahrzehnte später auch in Polleschs Theater zu finden sein, zumindest für jene Zuschauer: innen im Publikum, die dessen Referenzketten zu lesen wissen. Szondi zufolge stützt sich die in polemischer Weise von ihm so genannte „ Alleinherrschaft des Dialogs “ 18 in aristotelischer Tradition auf ein Verständnis von Handlung als ‚ Faden ‘ und ‚ Fabel ‘ , die sich lösungsorientiert in Raum und Zeit entfalten. Demgegenüber vollziehe sich mit der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert ein Stilwandel, der später zur „ Formwerdung der thematischen Epik aus dem Inneren der dramatischen Form heraus “ 19 und, wie er aus Piscators Das politische Theater (1929) zitiert, zur „ Schaffung einer Verbindung zwischen der Bühnen- 57 Geschichte und die Krise der dramatischen Form handlung und den großen historisch wirksamen Kräften “ 20 führe. Gegen Szondis Lesart lässt sich einwenden, ihr Potential liege gerade darin, jene kleinen Ereignisse, Gesten und Worte, die soziohistorische Milieus konstituieren, zu dramatisieren, ohne deren ‚ großen ‘ Zusammenhang, was Szondi an Piscator wie Brecht schätzt, „ mit dem Gestus des politischen Redners “ 21 zu erklären. Insofern korrespondieren Die Weber mit Benjamins Überlegungen zu Brecht, obwohl sie Handlung nicht in dessen Sinne demonstrieren, sondern in ihre nebensächlichen Details hinein auffächern. Die Fähigkeit, „ [a]us kleinsten Elementen der Verhaltensweisen zu konstruieren, was in der aristotelischen Dramaturgie ‚ handeln ‘ genannt wird “ 22 , gesteht Benjamin allein Brecht zu. Demgegenüber will ich jetzt zunächst zeigen, inwiefern Szondis Postulierung eines Widerspruchs zwischen epischem Inhalt und dramatischer Form von einem Dramenverständnis abweicht, wie es Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext naturalistischer Strömungen vertreten wurde. Diesbezüglich schlage ich vor, ein Konzept von Handlung als primär zeitliche Entwicklung und Lösung eines Handlungsfadens von einem Konzept von Handlung als räumlich ausgedehntem Handlungsgewebe zu unterscheiden. 4. Die naturalistischen Weber und ihr Handlungsgewebe In seiner Form entspricht Die Weber der Forderung Albertis, der Naturalismus solle die Welt wie auf Fotografien dokumentieren. 23 „ Kunst = Natur - x “ 24 , fasst Arno Holz das naturalistische Anliegen zusammen und meint damit, um sich, wie beim Blick durch ein Fenster, künstlerisch soziohistorischer Wirklichkeit anzunähern, müssten ‚ eigene ‘ Standpunkte - das X - in den Hintergrund treten. Ein solches zugleich aufgefächertes und ausschnitthaftes Verständnis von Handlung, für das bereits vor Brecht ‚ Gänge ‘ wichtiger werden als ‚ Ausgänge ‘ und aus dem heraus Pfister 1977 für ein ‚ offenes ‘ Dramenkonzept plädiert, in dem sich Handlung „ nicht mehr als geschlossenes, hierarchisiertes Ganzes präsentiert, sondern als Ensemble von Einzelsequenzen, die relativ unabhängig und isoliert voneinander sind “ 25 , findet Szondi 1956 erst im epischen Theater, das Handlung verfremde, so „ daß die Knoten auffällig werden “ 26 . Solche Knoten finden sich jedoch bereits Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Feld des Naturalismus. „ Es gibt nichts an sich Episches. Es gibt nichts an sich Dramatisches “ 27 , ruft Max Halbe 1889 in seinem Berliner Brief aus und fügt dem hinzu: Es ist an der Zeit, daß auch das Drama sein gutes Recht fordere, sich frei nach allen Richtungen auszuleben, seine Gliedmaßen unbeengt, ledig jeder Regelzwangsjacke zu strecken und zu dehnen. 28 Die Weber, will ich im Kontext naturalistischer Theorien gegen Szondis Lesart und im Hinblick auf Polleschs Passing einwenden, ist ein solches offenes Gewebe. Das Stück, dessen Urfassung Hauptmann im schlesischen Dialekt verfasste und unter dem Titel De Waber veröffentlichte, ist kein Lehrstück. Es entgrenzt jedoch die Dramenform, indem es sie ins Episodische hinein ausfransen lässt. Bereits Wilhelm Bölsche beschreibt in der Freien Bühne 1892 De Waber als „ Drama ohne einen durch alle Akte durchgehenden Helden “ 29 . Hauptmann hätte, wie er weiter unten im selben Artikel schreibt, „ überwältigt von der Anziehungskraft des Stoffes “ 30 , eine Form der Darstellung gewählt, „ die dem Einzelfall gerecht wurde “ 31 . Als räumlich aufgefächertes Handlungsgewebe verbindet Hauptmanns Text Anspielungen auf Zeitzeugnisse zur Not schlesischer Weber: innen 58 Stefan Hölscher mit Referenzen auf Namen historischer Personen, 32 die er entlang penibler Inszenierungsanweisungen und detailversessener Beschreibungen kleiner Ereignisse, Gesten und Worte konstelliert, ohne einem mit der Zeit gelösten Handlungsfaden zu folgen, der in Brechts Überlegungen zur Fabel in der Kritik steht: „ Die Auslegung der Fabel und ihre Vermittlung durch geeignete Verfremdungen ist das Hauptgeschäft des Theaters. “ 33 Anders als durch Szondis Verständnis von Verfremdung wie auch in Polleschs Passing setzt Die Weber nicht nur inhaltlich, sondern auch formal um, was Christian von Ehrenfels 1891 vom Naturalismus fordert, nämlich das „ Wiederaufsuchen des verlorenen Kontakts “ 34 des Dramas zu soziohistorischer Wirklichkeit. „ [D]ie zerrissenen, unvollendeten Sätze werden bühnenfähig, der Dialekt tritt in seine Rechte “ 35 , lobt er im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Hauptmanns Drama. 5. Brechtsche Zugriffe auf den Kontext der Weber um 1900 Szondis Lesart der Weber geht bedauerlicherweise nicht näher auf jene Aspekte von Hauptmanns Inszenierungsvorlage ein, die von einem brechtschen Zugriff abweichen. Jeder der fünf Akte beginnt mit detailversessenen Beschreibungen unterschiedlicher Orte. Insgesamt ist der Text durch zwischen die Figurenrede geschobene Beschreibungen gekennzeichnet, die in ihrer prosaischen Qualität sowohl mögliche Bühnenfassungen herausfordern als auch eine rein deskriptive Funktion haben. So heißt es etwa zu Beginn des ersten Aktes: „ Es ist ein schwüler Tag Ende Mai. Die Uhr zeigt zwölf. “ 36 Jeder der fünf Akte führt unvermittelt neue Figuren ein, blendet andere plötzlich aus und verheddert sich in scheinbar nebensächliche Details. Obwohl Hauptmanns Drama den Weber: innenaufstand von 1844 behandelt, ist das große Ereignis, wie auch Szondi hervorhebt, in ihm Referenzpunkt, ohne sich aus der Handlung heraus zu entwickeln. Das Handlungsgewebe der Weber wird mal vom ‚ Lumpenproletariat ‘ , dann vom Bürgertum und der Kirche, der Polizei und weiteren Milieus getragen, die Geschichte aktualisieren, ohne ihre Spannungen dialogisch lösen zu können. Obwohl das Stück aus fünf Akten besteht, vollzieht es vermittels seiner räumlich aufgefächerten Form, was Szondi erst durch epische Demonstration erreicht sieht: Die Darstellung eines soziohistorischen Konflikts. Die ein- und ausgeblendeten Figuren folgen keinem einheitlichen Handlungsfaden, der auf den Aufstand als Lösung eines Konflikts hin gestrickt wäre. Eugen Zabel, ein dem Naturalismus nicht wohl gesonnener Kritiker, wirft dem Drama deshalb einen „ Mangel an klar gegliederter, fortschreitender Handlung “ 37 vor. „ Das Stück bewegt sich nicht vorwärts, es rotiert um dieselbe Achse, wie eine Drehscheibe, auf der immer andere Gruppen sichtbar werden “ 38 , moniert er mit Blick auf eine Aufführung am Deutschen Theater von 1893 und bedient sich dabei einer topologischen Metapher. Zabel sieht in Die Weber „ ein[en] verwirrende[n], von der Hauptsache ablenkende[n] Bilderbogen “ 39 , der ihm das Gefühl vermittelt, daß in einem Album ein Blatt nach dem anderen umgelegt wird. Anstatt das Interesse des Publikums wenigen Personen ungetheilt zuzuwenden, greift Hauptmann aus der Masse bald Diesen, bald Jenen heraus, wer ihm gerade in den Wurf kommt und stellt ihn in den Vordergrund. 40 Zabels Vorwurf lautet, dass Hauptmann „ sich in die Ausmalung des Zuständlichen verliert, daß er immer mehr kleine und überflüssige Charakterzüge zusammenträgt und darüber vergißt, wozu die Figuren eigentlich da sind. Drama heißt Hand- 59 Geschichte und die Krise der dramatischen Form lung. “ 41 Anders als vorige Kritiker des Naturalismus, die Hauptmann den Bruch mit Konventionen vorwerfen, sieht Szondi rund ein halbes Jahrhundert später, dass Die Weber den „ Widerspruch zwischen epischer Thematik und nicht aufgegebener dramatischer Form “ 42 nicht lösen habe können, da sich der gesellschaftliche Zustand, in dem sie sich befinden, „ jenseits des Zwiegesprächs “ 43 abspiele. Hauptmann habe demnach überhaupt die letzten deutschen Dramen geschrieben, die noch Dramen seien. Wie Pollesch viele Jahre nach ihm adressiert Szondi dabei vor allem Brecht-Fans. 44 Im Kontext der von mir hier so bezeichneten naturalistischen Auffächerung von Handlungsfäden in Handlungsgewebe lassen sich Die Weber auch anders lesen. Obwohl sie neben den Dramen Georg Büchners unter anderem von Heinrich Heines Gedicht Die schlesischen Weber (1844) inspiriert sind und Käthe Kollwitz zu einem Zyklus an Radierungen inspiriert haben, verfolgt Hauptmann, anders als Piscator und Brecht, aber auch anders als später Szondi und Pollesch, kein dezidiert politisches Programm. Sein Text ist aus von ihm über Jahre hinweg in Notiz-Kalender eingeklebten dokumentarischen Materialien wie Chroniken und Zeitungsberichten sowie Gesprächen mit Augenzeug: innen auf einer Studienreise zum Ort des historischen Geschehens in Peterswaldau und Langenbielau heraus entstanden. Auf persönliche Begegnungen in einer dortigen Weber: innenhütte zurückblickend schreibt er später: „ Ich habe in meinem Drama ‚ Die Weber ‘ in der letzten Tiefe, die es in dieser Hütte erreichte, nichts enthüllt. “ 45 Hauptmann versteht sein Werk weder als „ Revolutionsdrama “ 46 noch als „ Märtyrertragödie “ 47 , wie es Szondi nahelegt, sondern - unter Zurücknahme eines ‚ eigenen ‘ Standpunktes - als Konstellation von Momentaufnahmen. Er will keine ‚ Tiefe ‘ , sondern soziohistorische Wirklichkeit ‚ auf ihrer Oberfläche ‘ darstellen. „ Ich habe die Komplexe dieser Wirklichkeit zugrunde zu legen und nicht eine künstlich eingezwungene Handlung, die Lüge ist, weil sie nirgend im Leben geschieht [. . .] “ 48 , notiert er retrospektiv im Jahre 1906. Diesbezüglich wendet Hans Schwab-Felisch ge- Abb. 1: Michael Thalheimers Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Die Weber am Deutschen Theater (2011). © Arno Declair / Deutsches Theater Berlin. 60 Stefan Hölscher gen Szondis Theorie eines epischen Ichs, das im „ wissenschaftlichen Blick “ 49 Brechts Gestalt annehme, ein: Die soziale Wirklichkeit unter möglichster Ausschaltung subjektiver Einflüsse im Kunstwerk darzustellen - dies gehört nun einmal [. . .] zu den Zielen der naturalistischen Epoche. 50 6. Thalheimers Inszenierung der Weber am Deutschen Theater (2011) Mit einer kurzen Szene aus der Inszenierung von Hauptmanns Drama durch Thalheimer am Deutschen Theater von 2011 (Abb. 1) möchte ich zu Polleschs von Brecht inspiriertem Meta-Theater Passing überleiten. Anders als bei Pollesch, der das brechtsche Stilmittel der Verfremdung einsetzt, um gemeinsam mit seinen Fans und für ein eingeweihtes Publikum auf die Mittel des Theaters zu reflektieren, geraten bei Thalheimer auf besondere Weise kleine Ereignisse, Gesten und Worte in den Fokus. An einer Stelle zu Beginn des Stücks besteht Bäcker darauf, den ihm zugesagten Lohn in seine Hand gelegt, anstatt ihn vor die Füße geworfen zu bekommen. Dieser Vorgang wird von Thalheimer, der sich, trotz mancher Textstreichung und Abweichung, bezüglich der gestischen Details an Hauptmanns Text hält, nicht durch epische Distanzierung demonstriert, sondern in Form einer Serie dramatischer Momentaufnahmen protokolliert: Dreißiger „ nimmt überhastig dem Kassierer das Geld ab und wirft es auf den Zahltisch, so dass einige Münzen auf die Diele rollen “ 51 , Bäcker „ berührt mit den Fingern der rechten die linke Handfläche “ 52 , der Lehrling „ tut es, legt das Geld in Bäckers Hand “ 53 und so weiter. Anhand Thalheimers Inszenierung dieser Szene will ich kurz erläutern, inwiefern das Potential von Hauptmanns ‚ präepischem ‘ Werk in der dramatischen Spannung besteht, in die es einzelne soziale Milieus zu großen historischen Konflikten setzt, ohne dass diese dialogisch gelöst würden. Obwohl Thalheimer seine Schauspieler: innen in einem von Olaf Altmann minimalistisch abstrahierten Bühnenbild stillstellt und sie frontal ins Publikum sprechen lässt, sind die Gesten Dreißigers, seines Angestellten und des Webers Bäcker, die er in ihren Details nahezu fotografisch einfriert, bereits im Dramentext angelegt. Anstatt sein Publikum der Szene kritisch gegenüberzusetzen, zieht Thalheimer es nahezu immersiv in sie hinein. Theodor Fontane sah um 1900 in Die Weber ein „ Bild von Druck und Gegendruck “ 54 . Weder bei Hauptmann noch bei Thalheimer wird dieses Bild ‚ absolut ‘ ausgeleuchtet. In einer offenen dramatischen Form und nicht durch deren Überwindung qua epischer Demonstration kommt in Thalheimers Inszenierung von Hauptmanns Text politische Ökonomie zur Darstellung, indem die kleinen Ereignisse, Gesten und Worte anvisiert werden, in denen diese sich manifestiert. Szondi zufolge gelingt es erst dem Theater Brechts, gesellschaftlichen Zuständen durch „ hinzeigenden Abstand “ 55 eine ihnen entsprechende Form zu geben. Dieser allzu strenge Gegensatz von Geschichte und dramatischer Form wird den Webern meiner Ansicht nach nicht gerecht. Bei Hauptmanns Dramentext ebenso wie beim Aufführungstext Thalheimers handelt es sich um komplexe Handlungsgewebe, die Geschichte dramatisieren. Thalheimer macht nicht wie der späte Pollesch ein Theater kritischer Distanz. Ebenso wenig lässt sich seine Inszenierung der Weber dem sogenannten postdramatischen Theater zuordnen, wie es Szondis Schüler Lehmann Ende des 20. Jahrhunderts vor allem als nicht länger ‚ literarisches ‘ Theater nach Brecht beschreibt. Thalheimer stellt, wie beim Blick durch ein Kameraobjektiv, die 61 Geschichte und die Krise der dramatischen Form vielen Details in Hauptmanns Text scharf, indem er eine Form findet, die weder nur dramatische noch nur epische Qualitäten aufweist und beide ineinander verschwimmen lässt. Das tat bereits Hauptmann mit seinem in protokollarische Prosa ausfransenden Werk, wenn auch auf andere Weise als später Pollesch, der sich wie Szondi in der Tradition Brechts sieht. 7. Polleschs Passing und die absolut epische Form In Polleschs Passing erklärt die für einen von vielen Momenten aus der Rolle gefallene Kathrin Angerer ihren männlichen Genossen: Wenn Bertolt Brecht seine Gefühle da rauszieht, also aus dem Tauschhandel im Theater, so seine Gefühle da rauszieht. . . Ihr bekommt ein großes Gefühl und habt dafür auch ein großes Gefühl wie . . . Ihr bekommt unsere Gefühle und habt dafür auch ein großes Gefühl. . . Und er sein Theater mit Theorie und Geisteswissenschaften bewegt, dann ist das gar nicht das epische Theater. Nein! Sondern. . . Wir beharren hier auf unserer Präsenz. Wir, wir, wir. . . Ja, wir, wir beharren hier auf unserer Präsenz. Daran ist nicht herumzuschrauben oder herumzuinterpretieren. Die hat soviel Spielraum, und dieser Spielraum ist das proletarische Theater [. . .]. Sie wirkt dabei, als wolle sie ein theatrales Mittel, das Brecht in mehreren seiner Schriften zum Theater (1957) Verfremdung genannt und gegen die Idee von Handlung als ‚ Faden ‘ in Stellung gebracht hat, ebenso auf ihren Ursprung zurückführen wie auf eine neue Metaebene bringen. Die Szene lässt offen, ob sich die entlang der vierten Wand auf der Bühnenrampe befindlichen Schauspieler*innen ans Publikum oder aneinander wenden und ob die ‚ Präsenz ‘ , von der die Rede ist, vielleicht nur konnotiert, dass alle ein bisschen voneinander wegrücken sollen, um nicht allzu dicht gedrängt zu beiden Seiten derjenigen zu sitzen, die hier eine Ansprache über den Begründer des epischen Theaters und dessen Privilegierung von Distanzierung gegenüber Einfühlung hält. Um ‚ kleine ‘ Ereignisse, Gesten und Worte geht es dabei eher weniger. In Passing wirkt das brechtsche Konzept des V-Effekts nicht nur im meistens abgeklärt demonstrativen Spiel der Darsteller: innen nach, sondern auch in Videoprojektionen, Texteinblendungen und Soundtracks von Hollywoodfilmen, die hier allerdings eine Fabel weniger unterbrechen als die Form der Fabel selbst in einen absoluten Kommentar auf sich selbst und eine ununterbrochene Reflexion des Theaters auf seine Mittel verwandeln. Im weiteren Verlauf des zweiten Schritts möchte ich deshalb zeigen, inwiefern Polleschs Inszenierung Brecht zwar explizit mit Brecht denkt, dabei aber wie Szondi feierlich ein Theater betrauert, das es so vielleicht nie gegeben hat. Berücksichtigung in der Argumentation findet dabei die These Wirths, wonach es sich beim epischen Theater seit den Neo-Avantgarden der 1960er Jahre lediglich ‚ formal ‘ um episches Theater handle, da es ohne ‚ inhaltliche ‘ Gesellschaftskritik auskomme. Ganz im Sinne Brechts folgt die Komposition des Sprechtextes, den Pollesch montiert hat, einer nicht-aristotelischen Dramaturgie. Das Wort „ Fertig “ , das zu Beginn, mehrmals innerhalb und zwischen einzelner Szenen und dann wieder am Ende von Passing auf die Bühnenrückwand sowie auf eine über der Rampe heruntergelassene vierte Wand projiziert wird, verkittet die nebeneinander herlaufenden Dialoge und Referenzketten ebenso wie es als dem Stücktitel getreues Motto den Theaterabend zusammenhält. „ Fertig “ ist hier ein Abend, der nun mit dem Publikum geteilt wird. „ Fertig “ ist aber an anderer Stelle auch das Theater insgesamt. „ Fertig “ sind diejenigen, die es 62 Stefan Hölscher produzieren ebenso wie diejenigen, die ihm zuschauen. „ Fertig “ ist, wie Angerer, mit Verweis auf Brecht, an einer Stelle ausruft, was keinen Spielraum hat. Nur der Spielraum der ‚ Präsenz ‘ aller im Theater Versammelten könne ein proletarisches Theater manifestieren, wie es in den 1920er Jahren neben Brecht vor allem Piscator vorschwebte, der in dieser Inszenierung Polleschs von 2020 nachhallt. 8. Fäden, Passings Wenn Brecht in Das moderne Theater ist das epische Theater (1931) davon ausgeht, dass seine Lehrstücke ohne historischen Materialismus nicht zu denken seien und fordert, der epischen müsse es im Gegensatz zur dramatischen Form darum gehen, die Zuschauer: innen zu distanzieren, statt sie affektiv in die Szene hineinzuversetzen, die Spannung auf den Gang statt auf den Ausgang zu legen und Menschen zum Gegenstand eines Experiments zu machen, anstatt sie als in ihrem ‚ Wesen ‘ fixiert dem als Labor gedachten Theater vorauszusetzen, dann tut er dies entgegen der Idee der Einfühlung in eine Bühnenhandlung, wie sie durch die von ihm so genannte aristotelische Dramatik bis hin zum Naturalismus überliefert wurde. 56 Ganz nach historisch materialistischer Idee soll episches Theater Brecht zufolge gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur interpretieren, sondern auch verändern. Dazu muss es sie zunächst verfremden. In Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst (1937) plädiert Brecht für den V-Effekt als Darstellungsmittel, das eine gesellschaftliche Funktion habe und zur „ Historisierung der darzustellenden Vorgänge “ 57 führe. „ Das Interesse des epischen Theaters ist also ein Abb. 2: René Polleschs Passing an den Münchner Kammerspielen (2020). © Münchner Kammerspiele, Thomas Aurin. 63 Geschichte und die Krise der dramatischen Form eminent praktisches. Das menschliche Verhalten wird als veränderlich gezeigt, der Mensch als abhängig von gewissen ökonomisch-politischen Verhältnissen und zugleich als fähig, sie zu verändern “ 58 , verspricht er wiederum in Über die Verwendung von Musik für ein episches Theater (1935). Polleschs Passing, das zu Beginn der durch Covid-19 bedingten Pandemie Premiere hatte, liegt ein weniger verheißungsvoller Ton zugrunde. Das Stück betrauert, dass es dem epischen Theater von Brecht über Castorf bis Pollesch bisher nicht gelungen ist, gesellschaftlich zu wirken, indem es, wie es im Organon heißt, „ die Kämpfe der Klasse mitkämpft. “ 59 Trotz aller Distanznahmen, verfremdender Spielweisen, Zeigetafeln und der Verwandlung von Bühnen in gesellschaftspolitische Kommentarscreens wiederholt sich die Welt weiter wie gehabt. Darum dreht sich Passing für eine Spielfilmlänge von eineinhalb Stunden: Wann immer das Wort „ Fertig “ eingeblendet wird und am Ende, wenn Angerer auf einer Videoprojektion als Penelope am Webstuhl sitzt und - vom Song It goes like it goes, den Jennifer Warnes 1979 als Soundrack für den Hollywood-Film Norma Rae einsang, begleitet - Garn spinnt, während sich die Webstühle auf- und abbewegen, bis das Bild einfriert und Passing mit einer weiteren Referenz, nämlich auf Hauptmanns naturalistisches Drama Die Weber, sein Ende nimmt und wortwörtlich fertig ist. 9. Vom Dialog zum Diskurs Neben Problemen des Theaters im Jahre 2020 beschäftigt Pollesch in seinem Stück die Frage, an wen sich ein ‚ proletarisches ‘ Theater im Sinne Piscators, wenden kann, wenn ihm das Publikum fehlt. Bereits die Zuschauer: innen von Brechts und Piscators Aufführungen gehörten eher zum Bildungsbürgertum als zur proletarischen Klasse. Sich von gesellschaftlichen Zuständen kontemplativ und mit wissenschaftlich geschultem Blick distanzieren zu können, setzte auch damals schon bestimmte Privilegien voraus. Das Proletariat, das sie mobilisieren wollten, saß im besten Fall auf den hinteren Rängen. 60 Brecht hatte wie Pollesch eine eingeschworene Fan-Gemeinde, die dagegen in den vorderen Reihen Platz nahm. Ausgehend von der Annahme eines solchen brechtschen Theaters für ‚ Fans ‘ , stellt Wirth in Vom Dialog zum Diskurs die These auf, das Theater der Neo-Avantgarden der Nachkriegszeit, mit dem Pollesch aufgewachsen ist, führe ‚ Brecht ohne Brecht ‘ weiter. 61 Er skizziert, dass in unterschiedlichen Theaterformen vor allem seit den 1960er Jahren der V-Effekt als demonstratives Spiel aufgegriffen würde, ohne dass entsprechende Darstellungsweisen Modellcharakter für gesellschaftliche Veränderung beanspruchten. Pollesch, ein Studierender Wirths während der frühen 1980er Jahre am 1982 neu gegründeten Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, ist seit dem Ende der 1990er Jahre mit Arbeiten wie Heidi Hoh (1999) und Stadt als Beute (2001) international bekannt geworden. 62 Kennzeichnend für seine Stücke waren damals Qualitäten, die Wirth in seinem Artikel von 1980 einem brechtschen Theater ‚ ohne Brecht ‘ zuschreibt und die u. a. von der Theaterwissenschaft hinlänglich analysiert wurden. 63 Hierbei geht es um die Auflösung des Dialogs in ‚ Soliloge ‘ , Textflächen, die Überforderung der Schauspieler: innen durch die Geschwindigkeit und grammatikalische Komplexität der zu sprechenden Sätze sowie den Konflikt zwischen Körper und Sprache 64 , kurzum: das verfremdende Spiel mit und auf der Grenze zwischen Demonstration und Demonstriertem im Sinne eines ‚ anti-naturalistischen ‘ Spiels. Allerdings waren Polleschs frühe Stücke nie nur reine Lehrstücke. Sie waren ebenso durch ‚ große Gefühle ‘ gekennzeichnet, die 64 Stefan Hölscher Angerer in der oben geschilderten Szene anspricht. Seine Schauspieler: innen drückten, zwar auf formalisierte und funktionale Weise, vor allem Wut aus. Das exzessive Schreien, das die Mimik von Polleschs Darsteller: innen in den frühen 2000er Jahren verzerrte und ihre Stimmbänder an ihre anatomischen Grenzen brachte, verband in seinen ersten Stücken - die zunächst durch Amateur: innen besetzt waren, - das brechtsche Theater der V-Effekte mit Antonin Artauds Vision eines Theaters der Grausamkeit. 65 Sie waren Aufführungen ebenso wie Rituale, die Publikum und Bühne weniger voneinander distanzierten als affektiv miteinander synchronisierten. Zwar folgte Pollesch von Anfang an dem Prinzip der Verfremdung. Anders als Brecht in seinen Schriften zum Theater ging es ihm zu Beginn seiner Karriere jedoch nicht um kritische Distanz, sondern auch um affektive Ansteckung. 10. Theater ohne getauschte Gefühle Im Jahr 2020 lässt Pollesch Angerer den Versammelten erläutern, dass es sich nicht um episches Theater handele, wenn Brecht seine Gefühle aus dem ‚ Tauschhandel ‘ des Theaters herausziehe, und sie darauf hinweisen, dass die gemeinsame ‚ Präsenz ‘ aller einen Spielraum habe, der das proletarische Theater sei. Im Kontrast zu Polleschs frühem Pathos bleiben während Passing jegliche Schreiarien aus. Seine Schauspieler: innen sprechen vollkommen ruhig, so als ob sie nicht mit den gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie in ihren Dialogen behandeln, verwoben wären. Dabei verknotet ein auf unzähligen Ebenen zugleich operierender Webstuhl Geschichten, die ohne Unterlass aufeinander verweisen und sich gegenseitig kommentieren, ohne wie Hauptmanns Dramentext Die Weber ein Handlungsgewebe zu eröffnen. Neben Publikumsansprachen rücken auch melodramatisch gesprochene Texte und wie in jüngeren Film- Abb. 3: René Polleschs Passing an den Münchner Kammerspielen (2020). © Münchner Kammerspiele, Thomas Aurin. 65 Geschichte und die Krise der dramatischen Form arbeiten Polleschs eine von Rainer Werner Fassbinder inspirierte Ästhetik in den Vordergrund. Anstatt seine Schauspieler: innen als ausrastende Textmaschinen einzusetzen, setzt Pollesch in Passing, anders als Hauptmann mit seinem Text und Thalheimer in seiner Inszenierung des Stücks, auf reibungs- und konfliktlos gleitende Übergänge zwischen Szenen. Anders als Polleschs frühe Arbeiten beschwört Passing weder ein revolutionärhysterisches Subjekt der Geschichte noch eine prekarisierte Subjektivität herauf, sondern feiert traurig, dass es ein solches Publikum niemals gegeben hat. Pollesch scheint die Einsicht, dass im epischen Theater viel zu lernen sei, vorausgesetzt, es sei schon viel gelernt worden, auf sein eigenes Œ uvre zu übertragen, indem er V-Effekte nutzt, um intellektuelle Witze ausschließlich für Eingeschworene zu machen. Aus der Wut, die sich in seinen ersten Stücken als ‚ großes ‘ Gefühl manifestierte, scheint mit Zynismus garnierte Resignation geworden zu sein, etwa wenn Kathrin Angerer, die einzige Schauspielerin auf der Bühne, von ihren männlichen Genossen in gegenderter Form gefragt wird, ob sie eine Proletarierin sei, was sie verneint und antwortet, sie sei ‚ divers ‘ . Ansonsten thematisiert Pollesch in einem Netz aus heterogenen Referenzen in Passing auf melancholische Weise, an wen sich episches Theater wendet, wenn es nicht das Proletariat, sondern eine eingeschworene Fangemeinde adressiert, die Wirth nach Szondi und Brecht und vor Pollesch in Vom Dialog zum Diskurs mit Heiner Müllers historischem Pessimismus und den USamerikanischen Neo-Avantgarden der 1960er Jahre assoziiert. Während der Proben haben Pollesch und das Ensemble der Münchner Kammerspiele Donna Haraway gelesen. Das von Nina von Mechow gestaltete Bühnenbild wird jedoch nicht von einem Oktopus, sondern von einer an Zugstangen befestigten Spinne dominiert, die im Verlauf des Abends mehrmals auf den Bühnenboden herabgelassen und wieder in die Obermaschinerie hochgefahren wird, als stünde sie statt der menschlichen Figuren auf der Bühne hinter den dort dargestellten Ereignissen (Abb. 2 u. 3). An einer Stelle heißt es, sie könne Flugblätter drucken. „ Warum kann das Theater nicht wie ein Flugblatt sein? “ , fragt Angerer dann und fordert, „ dass man mit dem Wagen herumfährt und es den Menschen sagt “ , um dann festzustellen: „ Wir können nur mit der Spinne herumfahren. “ Hinter der Spinne befinden sich zwei vertikal aufgerichtete Videoleinwände, die ebenso wie weitere Projektionsflächen im Verlauf des Abends mit vorproduzierten Sequenzen und Live-Aufnahmen bespielt werden und auf denen gleich zu Beginn wie auf einer Zeigetafel „ Fertig “ steht, als wäre hier etwas zu Ende, bevor es begonnen hat. Aufgrund der esoterischen Qualität der Anspielungen und Referenzen ist es jedoch unmöglich zu erkennen, worauf hier gezeigt wird und was hier demonstriert werden soll. Handlungsgewebe werden so zu einem einzigen, immerhin episch und auf kritische Distanz gestrickten, Handlungsfaden. 11. Interpretieren ohne zu verändern Das Theater der V-Effekte, das Szondi gegen Hauptmann und den Naturalismus des späten 19. Jahrhunderts insgesamt in Stellung bringt, spinnt in Polleschs Stück interpretierend herum, ohne soziohistorische Wirklichkeit darzustellen oder gar Gesellschaft zu verändern. Eher dezent verfremden die Schauspieler: innen unterschiedliche Rollen, die sie kontinuierlich ‚ passieren ‘ . Sie operieren nicht wie in Polleschs frühen Stücken als ausrastende Satzschleudern, sondern wechseln zwischen einem unterkühlt melodramatischen Stil und einer kommentierenden Distanzierung zu den vielen verknäulten 66 Stefan Hölscher narrativen Metaebenen der Handlung von Passing. Bevor der Abend mit Penelope am Webstuhl endet, wohnen die Zuschauer: innen zu Beginn einem Dialog über den Begriff des ‚ Passings ‘ bei, der an einem B- Movie-Set in Desert Rock (das wiederum ein Musik-Genre konnotiert) statthat und sich an der Frage aufhängt, warum so schwer ist, was eigentlich leicht zu machen sei: Als etwas oder jemand anderes durchgehen, in eine Rolle schlüpfen, sich den Text von jemandem aneignen, so tun als ob, etwas für jemanden darstellen. Kurzum: Theater zu machen mit den ihm eigenen Mitteln, ob mit oder ohne Gefühle. Später heißt es, Brechts Lehrstücke lebten im B-Movie fort: „ Das proletarische Theater sah aus wie ein B- Movie “ , meint Damian Rebgetz dann mit australisch eingefärbtem Akzent. Anders als Szondi mit seiner Theorie des modernen Dramas wirft Pollesch mit Passing einen traurigen Blick auf das Theater nach und mit Brecht, indem er anhand des V- Effekts die Mittel des Theaters reflektiert. Jede Metaebene geht in diesem um sich selbst kreisenden Theater fortwährend in eine andere über, die wiederum neue Assoziationswege eröffnet. Ob der Titel des Stücks diese Übergänge oder vielleicht auch nur den Münchner Stadtteil Pasing meint bleibt dabei offen. Als dichtes Bedeutungsnetz, das die den Bühnenraum dominierende Spinne kondensiere, beschreibt auch Maximilian Sippenauer in seiner auf Nachkritik.de veröffentlichten Rezension dieses Theater, das hauptsächlich damit befasst ist, sich selbst als Darstellungsapparat zu durchleuchten. Dieses Netz erschließe sich allerdings nur jenen Fans von Brecht und Pollesch, die die Bezüge zu entschlüsseln wissen und die, um ein prägnantes Beispiel zu geben, bereits wissen, dass der dadaistische Bühnenbildner John Heartfield, der im Verlauf des Stücks mit dem fiktiven B-Movie Regisseur Mitch Brenner (dessen Name mit dem der Hauptfigur aus Alfred Hitchcocks Die Vögel von 1963 korrespondiert) kooperiert, Brecht-Vertrauter war und nach dem Krieg der Neo-Avantgarde angehörte: Die Spinne ist zugleich Leitmotiv und Schaltzentrale, von dem aus das Zitat- und Narrativnetz verwaltet wird, das Pollesch und Ensemble für diesen Abend entsponnen haben. Sie symbolisiert das Theater als Ort, darin Geschichten immer weiter gewoben werden, verschiedenste Stränge zusammenlaufen. Dann ist sie wieder Spinnerei, Werkstatt, Fabrik und Epizentrum der proletarischen Bewegung und prekären Kunst. 66 Ein ähnliches Beziehungsproblem mit soziohistorischer Wirklichkeit, so will ich abschließend behaupten, liegt sowohl Brechts Konzept des Lehrstücks als auch Szondis damit zusammenhängendem Zugriff auf das naturalistische Drama um 1900 zugrunde. 12. Das Leben findet nebenan statt Verfremdet werden soll hier zwar etwas, das Szondi „ soziohistorische Wirklichkeit “ 67 nennt. Lesbar ist eine Darstellung der Wirklichkeit durch Distanznahme dabei von Anfang an leider nur für jene, die einen ‚ wissenschaftlichen ‘ Blick einnehmen und die Referenzen des Lehrstücks miteinander verweben können. „ Das Leben findet nebenan statt, auf einer Nebenbühne, in einem Nebentext “ , heißt es an prominenter Stelle in Polleschs Passing. Am Ende, nach dem letzten ‚ Fertig ‘ , bleiben die Zuschauer: innen mit dem Eindruck zurück, Pollesch hätte die brechtsche Straßenszene auf ein neues Metalevel gehoben. Benjamin spricht in seinen Versuchen über Brecht dem epischen Theater die Fähigkeit zu, gesellschaftliche Zustände zu entdecken und meint, dass es diese Zustände nicht einfach wiedergebe, sondern die Unterbrechung die Zustände umgekehrt 67 Geschichte und die Krise der dramatischen Form überhaupt erst aufdecke. 68 Eine solche Dialektik des Stillstands lässt sich in Polleschs Stück von 2020 nicht finden. Hier passieren Gesten in hoher Frequenz und Meta-Kommentare werden zu leeerlaufenden Wortspielen. Die vielen Metaebenen von Passing entwickeln sich entlang einer Signifikantenkette, der ihr Signifikat, d. h. so etwas wie eine gesellschaftliche Wirklichkeit außerhalb des Theaters, längst abhandengekommen ist. So wird Passing am Ende zu einem Abgesang auf das epische Theater als Mittel für gesellschaftliche Veränderung. Entgegen Benjamins Hoffnungen hinsichtlich des V- Effekts unterbricht in Polleschs Stück das Montierte nicht „ den Zusammenhang, in welchen es montiert ist. “ 69 Vielmehr bleibt die Inszenierung über eine Spielfilmlänge hinweg ihrem Titel insofern treu, als dass sie eine Konstellation von Kontexten zeigt, die zwar interpretierbar, aber nicht ‚ wirklich ‘ veränderbar ist. Die Arbeiten Polleschs seien dadurch gekennzeichnet, so Annemarie Matzke in Theorien auf die Bühne schmeißen. René Polleschs Lehrstück-Theater (2012), „ dass hier Fragmente und Zitate aus politischen, philosophischen oder soziologischen Theorien auftauchen und mit Fragen der Alltagswirklichkeit der Schauspieler: innen verknüpft werden. “ 70 An dieser Alltagswirklichkeit geht Passing ebenso vorüber wie am Bezug auf etwas, das nicht Theater von und für Fans ist. „ Das Ereignis hat stattgefunden. Hier findet die Wiederholung statt “ 71 , schreibt Brecht in seinem oft zitierten Aufsatz Die Straßenszene von 1940, während er davon ausgeht, Theater könne Gesellschaft transformieren. In Polleschs Produktion von 2020 hingegen hat es den Anschein, Theater finde ohne Publikum statt. Ein tragischerer Unfall ist nur schwer denkbar. Becht wieder mit Brecht? Ja, aber wessen ‚ Präsenz ‘ steht in diesem Tauschhandel dann auf dem Spiel? Hauptmann und den Naturalismus wiederzuentdecken hingegen könnte zu anderen Öffnungen von Handlungsfäden auf Handlungswebe hinführen: hinsichtlich von Geschichte und der noch immer nicht gelösten Krise der dramatischen Form dann aber eher durch protokollarische Treue zu so etwas wie gesellschaftlicher Wirklichkeit als Handlungsgewebe als durch die ‚ epische ‘ Verfremdung von Handlungsfäden. Im Leben nebenan, das andere, weiter- und tiefergehendere Reflexionen erfordert als theatrale Selbstreflexionen. Wofür neben Brecht und Pollesch auch Hauptmann wieder gelesen und gespielt werden könnte. Ob nun als Drama kleiner Ereignisse, Worte und Gesten oder schlicht als inszenierte Prosa. Anmerkungen 1 Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas (1880 - 1950), Frankfurt a. M. 1963, S. 86. 2 Ebd., S. 115. 3 Ebd., S. 12. 4 Vgl. Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 bis 1990, Berlin 2016. 5 Conrad Alberti, „ Natur und Kunst. Beiträge zur Untersuchung ihres gegenseitigen Verhältnisses “ , in: Theo Meyer (Hg.), Theorie des Naturalismus, Stuttgart 1973, S. 152 - 166, hier S. 163. 6 Vgl. ebd. Zur Bedeutung des Milieu-Begriffs für Hauptmanns Stück Vor Sonnenaufgang (1889) vgl. Sebastian Kirsch, „‚ Where the Sun Does Not Reach, There the Doctor Will Appear ‘ . Environmentalization in Gerhart Hauptmann ’ s ‚ Before Daybreak ‘“ , in: Mathias Denecke / Holger Kuhn / Milan Stürmer (Hg.), Liquidity, Flows, Circulation. The Cultural Logic of Environmentalization, Berlin 2022. Zum Verhältnis von Moderne und Milieu vgl. exemplarisch Christina Wessely / Florian Huber (Hg.), Milieu. Umgebungen des Lebendigen in der Moderne, München 2017. 7 Szondi, Theorie des modernen Dramas, S. 19. 68 Stefan Hölscher 8 Vgl. Bertolt Brecht, „ Anmerkungen zum Volksstück “ , in: Ders., Schriften zum Theater, Frankfurt a. M. 1957, S. 115 - 123, hier S. 117 f. 9 Szondi, Theorie des modernen Dramas, S. 71. 10 Ebd., S. 13. 11 Ebd., S. 15 f. 12 Walter Benjamin, Versuche über Brecht, Frankfurt a. M. 1971, S. 19. 13 Vgl. Manfred Pfister, Das Drama, München 1977, S. 35. 14 Szondi, Theorie des modernen Dramas, S. 16. 15 Ebd., S. 64. 16 Ebd., S. 115. 17 Ebd., S. 120. 18 Ebd., S. 15. 19 Ebd., S. 154. 20 Ebd., S. 111. 21 Ebd., S. 115. 22 Benjamin, Versuche über Brecht, S. 116. 23 Vgl. Alberti, „ Natur und Kunst “ , S. 166. 24 Arno Holz, „ Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze “ , in: Theo Meyer (Hg.), Theorie des Naturalismus, Stuttgart 1973, S. 168 - 174, hier S. 172. 25 Pfister, Das Drama, S. 323. 26 Szondi, Theorie des modernen Dramas, S. 120. 27 Max Halbe, „ Berliner Brief “ , in: Meyer, Theorie des Naturalismus, S. 269 - 273, hier S. 269. 28 Ebd. 29 Wilhelm Bölsche, „ Gerhart Haupmanns Webertragödie “ , in: Theo Meyer (Hg.), Theorie des Naturalismus, Stuttgart 1973, S. 280 - 281, hier S. 280 30 Ebd., S. 281 31 Ebd. 32 So verweist etwa Dreißiger auf die Brüder Ernst Friedrich und August Zwanziger, deren Wohnhaus und Fabrikgebäude 1844 von den Aufständischen verwüstet wurden. 33 Bertolt Brecht, „ Kleines Organon für das Theater “ , in: Ders., Schriften zum Theater, Frankfurt a. M. 1957, S. 128 - 173, hier S. 169. 34 Christian von Ehrenfels, „ Wahrheit und Irrtum im Naturalismus “ , in: Theo Meyer (Hg.), Theorie des Naturalismus, S. 277 - 280, hier S. 279. 35 Ebd.. 36 Gerhart Hauptmann, Die Weber, Stuttgart 2022, S. 9. 37 Eugen Zabel, „ Theaterkritik “ , in: Hans Schwab-Felisch (Hg.), Gerhart Hauptmann. Die Weber. Dichtung und Wirklichkeit, Frankfurt a. M./ Berlin 1986, S. 211 - 212, hier S. 212. 38 Ebd., S. 213. 39 Ebd., S. 188. 40 Ebd., S. 189. 41 Ebd., S. 187. 42 Szondi, Theorie des modernen Dramas, S. 72. 43 Ebd., S. 69. 44 Vgl. ebd., S. 83. 45 Gerhart Hauptmann, „ Erlebnisse “ , in: Hans Schwab-Felisch (Hg.), Gerhart Hauptmann. Die Weber. Dichtung und Wirklichkeit, Frankfurt a. M./ Berlin 1986, S. 161 - 165, hier S. 165. 46 Szondi, Theorie des modernen Dramas, S. 72. 47 Ebd., ebd. 48 Gerhart Hauptmann, „ Die Kunst des Dramas “ , in: Theo Meyer (Hg.), Theorie des Naturalismus, Stuttgart 1973, S. 288 - 290, hier S. 290. 49 Szondi, Theorie des modernen Dramas, S. 115. 50 Hans Schwab-Felisch, „‚ Die Weber ‘ - ein Spiegel des 19. Jahrhunderts “ , in: Ders. (Hg.), Gerhart Hauptmann. Die Weber. Dichtung und Wirklichkeit, Frankfurt am Main und Berlin 1986, S. 73 - 113, hier S. 111. 51 Hauptmann, Die Weber, S. 19 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Theodor Fontane, „ Über die Weber “ , in: Hans Schwab-Felisch, Gerhart Hauptmann. Die Weber. Dichtung und Wirklichkeit, Frankfurt a. M./ Berlin 1986, S. 220 - 221, hier S. 221. 55 Szondi, Theorie des modernen Dramas, S. 121. 56 Vgl. Bertolt Brecht, „ Das moderne Theater ist das epische Theater “ , in: Ders., Schriften zum Theater, Frankfurt a. M. 1957, S. 13 - 29, vgl. hier S. 19 f. 57 Ders., „ Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst “ , in: Ders., Schriften zum Theater, Frankfurt a. M. 1957, S. 74 - 89, hier S. 85. 69 Geschichte und die Krise der dramatischen Form 58 Ders., „ Über die Verwendung von Musik für ein episches Theater “ , in: Ders., Schriften zum Theater, Frankfurt a. M. 1957, S. 239 - 251, hier S. 242. 59 Ders., „ Kleines Organon für das Theater “ , in: Ders., Schriften zum Theater, Frankfurt a. M. 1957, S. 158. 60 Vgl. Helmut Popp, Theater und Publikum, München 1978. 61 Vgl. Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs. Versuch einer Synthese der nachbrechtschen Theaterkonzepte, in: Theater heute 1 (1980). 62 Auch Wirth schreibt in den frühen 2000er Jahren eine Lobeshymne auf seinen Schüler. Vgl. Ders., „ René Pollesch. Generationsagitpoptheater für Stadtindianer “ , in: Werk- Stück. Regisseure im Porträt. Arbeitsbuch 2003, Berlin 2003, S. 126 - 131. 63 Zur sehr umfangreichen Polleschforschung vgl. exemlarisch Diedrich Diederichsen, „ Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen. Das kulturtheoretische Theater des René Pollesch “ , in: Theater heute 3 (2002): Ders., „ Einleitung “ , in: René Pollesh, Kill Your Darlings, Hamburg 2014; Tim Schuster, Räume, Denken: Das Theater René Polleschs und Laurent Chétouanes, Berlin 2013; Georg Dobnig, Das Theaterschaffen René Polleschs im postdramatischen Kontext: Sprache, Figuren, Handlung, Baden-Baden 2015. 64 Vgl. hierzu Gerald Siegmund, „ IV ‚ . . .Ernst des Scheins . . . ‘ Der Skandal des Körpers. Zum Verhältnis von Körper und Sprache in der Farce bei Feydeau und René Pollesch “ , in: Maske und Kothurn, Band 51, 2005, S. 249 - 262. 65 Vgl. exemplarisch Antonin Artaud, Schluß mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater, München 1980. Zum Motiv des exzessiven Schreiens beim frühen Pollesch vgl. exemplarisch Achim Geisenhanslüke, „ Schreie und Flüstern. René Pollesch und das politische Theater in der Postmoderne “ , in: Franziska Schößler / Dorothea Kraus / Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation, Frankfurt a. M. 2006, S. 254 - 268. Zum Verhältnis eines epischen Theaters der Distanz zu Artauds Theater der Grausamkeit vgl. Jacques Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2010. 66 Maximilian Sippenauer, „ Der Kuss der Theaterspinne “ , in: nachtkritik.de, 29.2. 2020, https: / / nachtkritik.de/ index.php? opti on=com_content&view=article&id=17739: p assing-it-s-so-easy-was-schwer-zu-machen-i st-muenchner-kammerspiele-rene-polleschmit-einem-launigen-neuen-metadiskurs-ue ber-theater-und-trash&catid=38&Itemid=40 (Zugriff am 25.4.2023). 67 Vgl. Szondi, Theorie des modernen Dramas. 68 Vgl. Benjamin, Versuche über Brecht, S. 20. 69 Ebd., S. 115. 70 Annemarie Matzke, „ Theorien auf die Bühne schmeißen. René Polleschs Lehrstück- Theater “ , in: Dies. / Christel Weiler / Isa Wortelkamp (Hg.), Das Buch der Angewandten Theaterwissenschaft, Berlin/ Köln 2012, S. 119 - 133, S. 119. 71 Bertolt Brecht, „ Die Straßenszene “ , in: ders., Schriften zum Theater, Frankfurt a. M. 1957, S. 90 - 105, hier S. 92. 70 Stefan Hölscher Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund 1 Matthias Mansky (Salzburg) Ferdinand Raimund (1790 - 1836) gilt in Österreich bis heute als Theaterklassiker und zählt gemeinsam mit Johann Nestroy (1801 - 1862) zu den Hauptvertretern des sogenannten ‚ Wiener Volkstheaters ‘ . Während Nestroy nach wie vor als aktueller Satiriker angesehen wird, war es Raimund, den man nach seinem Tod identitätspolitisch vereinnahmte und zum österreichischen Volksdichter stilisierte. Der vorliegende Beitrag setzt sich mit Herbert Fritschs Inszenierung von Raimunds Die gefesselte Phantasie am Wiener Burgtheater (Premiere: 29. März 2023) auseinander. Fritschs Anknüpfen an vorliterarische und prädramatische Theatertraditionen torpediert nicht nur die traditionsbeladenen Inbilder österreichischer Kultur, sondern sein Inszenierungsstil verschließt sich jeglichen Kanonisierungsprozessen, indem sich Sprache und Semantik in eine teilweise groteske Körperdynamik und Rhythmik auflösen. Hierdurch lässt er den oftmals zugunsten des Dramentextes vernachlässigten theatralen und korporalen Elementen auf der Bühne erneut Gerechtigkeit widerfahren. I. Klassikerstilisierung und Theateraufführung Konsultiert man die gängigen Handbücher zu den deutschen Klassikern, gewinnt man schnell den Eindruck, dass die Theater zu ihrer Kanonisierung wenig beigetragen hätten. Wird in ihnen die Dramatik von Dichtern wie Goethe oder Schiller im Hinblick auf ästhetische oder philosophische Fragestellungen in der Regel bis ins kleinste Detail beleuchtet, so findet man zur Aufführungsgeschichte oftmals nur kürzere Randnotizen. Literaturkanon und Theater scheinen trotz offensichtlicher Interdependenzen in einem schwierigen Verhältnis zueinander zu stehen. Auch wenn es zweifellos performative Prozesse und theatrale Inszenierungen waren, die eine Popularisierung und Vereinnahmung der heutigen Klassiker beförderten, stellten sie gleichzeitig einen Risikofaktor für ein lineares, ernsthaftes und wortgetreues Rezeptionsverhalten dar, wie es spätestens seit dem 19. Jahrhundert den bildungsbürgerlichen und nationalliterarischen Standards entsprach. Während sich das kanonisierte literarische Werk als „ kultureller Text “ 2 gerade durch Wiederholung und Vergegenwärtigung auszeichnet, da es permanent angeeignet, internalisiert und als verbindlich akzeptiert werden muss, entzieht sich die Aufführung in ihrer Flüchtigkeit und Singularität dem Werkbegriff. Aufführungen sind demnach keine Kunstwerke, da sie „ über ihren konkreten Vollzug hinaus auf keine materiellen Artefakte reduziert werden können “ 3 , sodass ihre Ereignishaftigkeit mit dem zum ‚ Klassiker ‘ stilisierten Dramentext oftmals zu kollidieren droht. Die Erhebung eines Literaten in den Rang des Klassikers ist hingegen stets an identitätspolitische Faktoren geknüpft. Deutlich wird dies etwa anhand der Rezeptionsgeschichte eines Schauspielerdramatikers wie Ferdinand Raimund (1790 - 1836), der zwar in bundesdeutschen Literatur- und Theatergeschichten keine Rolle spielt, in Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 71 - 88. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0006 Österreich allerdings gemeinsam mit Johann Nestroy (1801 - 1862) zu den Hauptvertretern des sogenannten ‚ Wiener Volkstheaters ‘ zählt. 4 Raimunds Karriere als Schauspieler und Dramatiker wurde zumeist als kleinbürgerliche Aufstiegsgeschichte eines Drechslersohns beschrieben, der durch harte Arbeit an seiner Kunst vom Laiendarsteller und Kopisten berühmter Vorbilder zum vielumjubelten Charakterdarsteller und schließlich zu einem über die Grenzen der Habsburgermonarchie hinaus erfolgreichen Dichter avancierte. Im Geschichtsbewusstsein für die Biedermeierzeit und der damit einhergehenden österreichischen Identitätssuche war Raimund stets von Bedeutung. 5 Bereits nach seinem Tod konvergierten die zahlreichen Erinnerungen an seine Märchendramen auffällig mit der verklärten Stilisierung eines biedermeierlichen Alt-Wiens, in der sich nicht nur der Verlust des Bildes von Wien als politisch und kulturell intakter Kaiserstadt, sondern auch das Ringen um eine deutsch-österreichische Identität innerhalb des Vielvölkerstaates andeutete. Demgegenüber waren die Bemühungen um eine österreichische Literaturgeschichte nach 1900 von der Sorge um den Fortbestand Österreichs vor dem Ersten Weltkrieg geprägt. 6 Die Enthüllung des Raimunddenkmals 1898 vor dem Deutschen Volkstheater entsprach somit einer gewissen Programmatik. Die Volkstheatertradition fungierte als „ Leitbild des österreichischen Selbstverständnisses “ 7 , sodass etwa Hugo von Hofmannsthal in Raimund jenes „ Wesen “ zu erkennen glaubte, „ in dem dieses Wien irgendwie Geist wurde “ 8 , oder der Theaterhistoriker Franz Hadamowsky noch 1925 Raimunds Schauspielkunst als „ stehende Maske des Erzwieners “ 9 bezeichnete. Zu einer Vereinnahmung Raimunds kam es auch in der Zeit des Nationalsozialismus, in der ihm die „ idealtypische Wiener Variante des deutschen Volksgeists “ 10 konzediert wurde. So erklärte ihn etwa Heinz Kindermann zum „ deutschen Volksdramatiker “ 11 , dessen Leistungen erst durch die Rezeptionsbedingungen eines ‚ Großdeutschen Reiches ‘ angemessen bewertet werden könnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Raimund in Otto Rommels Standardwerk zur Alt-Wiener Volkskomödie, in der sich der Autor um die Darstellung einer genuinen Wiener Formtradition und Komik bemühte, zum ‚ Vollender ‘ des Zauberstücks gekürt, 12 einer Gattung, die durch die satirischen und parodistischen Possen Nestroys abgelöst werden sollte. 13 Zeitgleich passten die vermeintlich idyllischen Märchendramen Raimunds der zu Verdrängung tendierenden Theater- und Filmindustrie der Nachkriegszeit ins Konzept. Auch die editionsphilologischen Bemühungen im Vorfeld der neuen historischkritischen Ausgabe standen in einem identitätspolitischen Kontext, wodurch Raimunds Dramen nicht als Stücke eines Schauspielers und Theaterpraktikers, sondern eines österreichischen Dichters ediert wurden. 14 Obgleich in Raimunds Werk die Intention einer ästhetischen Hebung des Wiener Unterhaltungstheaters ersichtlich ist, überwiegt im Urteil der Nachwelt weiterhin das von Legendarisierung geprägte Bild vom sentimental-naiven Biedermeierdichter, dem es zeit seines Lebens verwehrt blieb, seine Stücke im Burgtheater aufzuführen. Hierdurch wurde nicht zuletzt der Blick auf Raimunds theaterpraktische Betätigungsfelder als Schauspieler, Regisseur, Direktor und früher Theateragent, der seine Stücke selbst vermarktete, verstellt. Während Raimund-Inszenierungen in den letzten Jahrzehnten vermehrt zu einer Angelegenheit von Sommertheatern geworden sind, verdeutlicht die allgemeine Skepsis, sobald sich doch einmal ein bundesdeutscher Regisseur an eines seiner Stücke heranwagt, dass Raimund nach wie vor als österreichisches Gemeingut reklamiert wird. Und dann auch noch Herbert Fritsch - 72 Matthias Mansky ein Regisseur, der ohnehin dafür bekannt ist, mit seinen exzentrischen und komödiantischen Produktionen konventionelle Inszenierungsmuster und Publikumserwartungen zu unterlaufen. 15 Sind diese in Wien, was Raimund und Nestroy betrifft, weiterhin mit Persönlichkeiten wie Josef Meinrad, Attila und Paul Hörbiger, Hans Moser oder Paula Wessely aufs Engste verbunden, so kollidiert Fritschs Raimund - wie in der Folge zu zeigen sein wird - nicht nur mit dessen Klassikerstatus, sondern auch mit den traditionsbeladenen Inbildern österreichischer Kultur. II. Ferdinand Raimunds Die gefesselte Phantasie: Theaterhistorischer Kontext Raimund und Fritsch - so abwegig scheint diese Konstellation auf den ersten Blick eigentlich gar nicht zu sein. Während Raimund trotz seiner vermeintlichen Dichterambitionen ein für seine Zeit bemerkenswerter Theaterpraktiker blieb, hat auch der Regisseur Fritsch sein Selbstverständnis als Schauspieler nie abgelegt. Ganz im Gegenteil: Wie Raimund, der noch bevor er sich zum gefeierten Dramatiker entwickelte, als beliebter Schauspieler auf den Vorstadtbühnen reüssierte, agierte auch der 1951 in Augsburg geborene Fritsch vor seinen ersten Regie-Erfolgen als Schauspielstar im Ensemble von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne. Bei beiden handelt es sich somit um Vollblut-Schauspieler, deren künstlerische Laufbahn immer wieder von ihren Erfahrungen auf der Bühne profitierte. Hat die neuere Forschung betont, dass sich in Raimunds Stücken Spuren des Schauspielers im Text rekonstruieren lassen, 16 so ist auch in Fritschs Regiepraxis das vordergründige Interesse an Mimik, Gestik, Körperlichkeit und Rhythmik - kurzum am Schauspiel selbst - nicht von der Hand zu weisen. Dass Fritsch für seine Inszenierung am Burgtheater mit dem Zauberspiel Die gefesselte Phantasie ein heute weitgehend unbekanntes Raimund-Stück auswählte, lässt sich pragmatisch begründen. Fritsch wollte ursprünglich Raimunds Zauberstück Der Alpenkönig und der Menschenfeind inszenieren, das er als Student in den Münchner Kammerspielen gesehen hatte. 17 Da dieses 2012 in der Regie von Michael Schachermaier als letzte Raimund-Inszenierung im Burgtheater gespielt wurde, entschied er sich in enger Abstimmung mit seiner langjährigen Dramaturgin Sabrina Zwach für ein Drama Raimunds, das auch die Forschung bisweilen vor Probleme stellte. Diese akzentuierte aufgrund der im Stück vorherrschenden rhythmisierten Prosa einen allegorischen Ernst, der als „ Versuch “ Raimunds interpretiert wurde, „ in der hohen Literatur Fuß zu fassen “ 18 . Demgegenüber blieben die komischen und parodistischen Elemente, aus denen das Zauberstück ebenso besteht, in vielerlei Hinsicht unberücksichtigt. 19 In Raimunds Stück terrorisieren die beiden Zauberschwestern Vipria und Arrogantia die Bewohner der entlegenen Blumeninsel Flora, die sich ausschließlich der Dichtkunst verschrieben haben. Als das Orakel des Apollo verkündet, dass die Macht der Störenfriede nur gebrochen werden kann, wenn sich die Königin Hermione vermählt und ihrem Reich einen Herrscher gibt, besinnt sich diese auf ihr Gelübde, nur einen „ Sänger hoher Lieder “ 20 zu heiraten, weshalb sie vor zwei Jahren auch den Antrag des Königs von Athunt abgelehnt hat. Die darauffolgende Verwüstung ihres Lieblingsgartens durch die Zauberschwestern verdeutlicht hingegen die Notwendigkeit, rasch zu handeln. Und so entschließt sich Hermione, einen Poesiewettbewerb um ihre Hand und die Krone ihres Reiches zu veranstalten, in der Hoffnung, dass diesen der Hirte Amphio, dessen Herkunft den Bewohnern von Flora unbekannt ist, für sich 73 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund entscheidet. Vipria und Arrogantia verstehen es jedoch, auch diesen Plan zu durchkreuzen. Indem sie die poetische Phantasie, die die Dichter der Insel begeistert, in ihre Gewalt bringen und sie zwingen, für den aus einem Wiener Bierhaus entführten, derben Harfenisten Nachtigall ein Preisgedicht zu verfassen, wollen sie Hermiones Vorhaben vereiteln. Während nun alle Inselbewohner - einschließlich Amphio - außerstande sind, ein Gedicht zu schreiben, gelingt es auch Nachtigall nicht, der gefesselten Phantasie erfolgversprechende Verse zu entlocken, woraufhin er frustriert beschließt, ein ihm bekanntes Lied von der „ schönen Mageroni “ in „ Hermioni “ 21 umzuändern, um den Wettbewerb zu gewinnen. Tatsächlich ist sein bescheidener Beitrag anfangs der einzige, wodurch ihm die Hand der verzweifelten Königin winkt. Allerdings erscheint im letzten Moment doch noch die von Apollo befreite Phantasie und inspiriert Amphio zu einem Gedicht, in dem er sich als Sohn des Königs von Athunt zu erkennen gibt und den Wettstreit für sich entscheidet. Als Vipria und Arrogantia ihre Niederlage nicht akzeptieren und den Tempel zerstören wollen, präsentiert sich Apollo selbst als Deus ex Machina, verbannt die Zauberschwestern in den Orkus, vereinigt das Liebespaar und erklärt die Blumeninsel endgültig zur Dichterinsel. Auf ihr findet schlussendlich auch Nachtigall als zweiter Hofnarr Unterschlupf. Raimund schrieb sich in diesem Stück die Rolle des Harfenisten Nachtigall nicht ohne Ironie auf den Leib. Im Vorfeld musste er sich immer wieder Anschuldigungen gefallen lassen, nicht der Autor seiner Dramen zu sein, wogegen er sich unentwegt zur Wehr setzte. Mit der Gattungsbezeichnung ‚ Original-Zauberspiel ‘ akzentuierte er seinen Originalitätsanspruch und den Umstand, dass der Stoff auf keine direkte Vorlage rekurriere, sondern frei von ihm erfunden sei. Sein Stück situiert er auf der Insel Flora, einer isolierten „ Welt des schönen Scheins “ 22 , die auch als Elfenbeinturm eines pseudopoetischen Höhenkamms verstanden werden darf. 23 Mehr als dass Raimund in seinem Drama programmatisch auf seine Ambitionen als verhinderter Hochstildichter verweist, scheint er den zeitgenössischen Literatur- und Theaterbetrieb aufs Korn zu nehmen, hinter dessen schöngeistiger Poesie er Neid, Missgunst und Arroganz wittert. Diese werden auf seiner Dichterinsel von den dramaturgischen Spielverderberinnen Virpria und Arrogantia dekuvriert, die die auf Selbststilisierung und Verdrängung gestützte Idylle in Aufruhr versetzen. Indem sie den Garten in Hermiones Palast verwüsten und in eine öde Moorlandschaft verwandeln, kehren sie hervor, was sich „ hinter der Fassade “ 24 der üppigen Blumendekoration verbirgt. Die ästhetische Existenz der parodistisch gezeichneten Dichterlinge wird, wie Pia Janke dargelegt hat, „ als Leben im schönen falschen Schein “ 25 kompromittiert, da Vipria und Arrogantia der verdrängten „ Kehrseite einer sublimierten Kunst “ - nämlich dem „ Häßlichen und Trivialen “ 26 - einen Spielraum eröffnen. Der von Raimund vorgestellte Nachtigall wird von ihnen als ästhetischer Fremdkörper auf der Insel eingeschleust, der an ihrem hochtrabenden Habitus kratzt und in der zeitgenössischen Aufführungssituation eine weitaus größere Wirkung beim Publikum erzielte. Hierdurch vermochte es Raimund, die anhaltenden Vorwürfe, die ihm seine dichterische Fähigkeit absprachen, satirisch und parodistisch ins Visier zu nehmen. Nicht umsonst berichten zeitgenössische Kritiken über eine Improvisation Raimunds bei der Uraufführung des Stücks 1828 im Theater in der Leopoldstadt, durch die er eine „ sehr schickliche Gelegenheit fand, sich über das Gerücht auszusprechen “ 27 . Dies verdeutlicht, dass er seine Absicht in der theatralen Interaktion mit dem Publikum zusätzlich markierte. 74 Matthias Mansky III. Allegorischer Ernst und groteske Übertreibung Demgegenüber irritierten bereits die zeitgenössischen Rezensenten die antagonistischen Elemente in Raimunds Drama, durch die es nicht zuletzt von der konventionellen Unterhaltungsdramatik abwich. So berichtet beispielsweise der Kritiker im Sammler von den „ poetischen Schönheiten dieser wirklich zarten, mit treffendem Witz und schalkhafter Ironie [. . .] verflochtenen Dichtung “ , die sich mitunter „ bis zur beißenden Satyre potenzier[en] “ 28 würde. Raimund scheint im Urteil der Zeitgenossen Elemente einer im weiteren Sinne hohen Dramatik (poetische Schönheit, Dichtung, zarter Witz) mit niederer Unterhaltung (schalkhafte Ironie, beißende Satire) amalgamiert zu haben. Dass diese kontrastierenden Ingredienzien in späteren Vorstellungen oftmals recht eigenwillig zugunsten einer allegorischen Ernsthaftigkeit nivelliert wurden, zeigt Adam Müller-Guttenbrunns Rechtfertigung anlässlich der Inszenierung von Die gefesselte Phantasie bei der Eröffnung des Wiener Raimund-Theaters 1893. Müller-Guttenbrunn erläutert hier seine Textrevisionen, die darauf abzielten, die „ reizvolle, sinnige Dichtung “ 29 von parodistischen und selbstironischen Passagen zu befreien, wodurch man den Eindruck gewinnt, dass dem mittlerweile kanonisierten Dichter Raimund die komischen Momente seines Stücks zusammengestutzt wurden. Dies veranschaulicht einmal mehr, dass Komik und populäre Unterhaltung gemessen an Kanon und Klassikerverehrung leicht in den „ Trivialitätsverdacht “ 30 geraten. Immerhin evozierte die Komik, die dafür bekannt ist, Normen und Ordnungen zu transzendieren, bei den gebildeten Ästheten schon immer ein Misstrauen, da sie die ‚ hohe ‘ Kunst durch sie gefährdet sahen. 31 Zur Geringschätzung des Komischen und des „ Artistisch-Artifizielle[n] “ , durch die man oftmals als „ Blödian abgestempelt “ werde, hat sich auch Herbert Fritsch mehrfach geäußert: Denken Sie nur an einen Schauspieler wie Louis de Funès: Was für ein Genie! Und von wie vielen Kritikern wurde er zeitlebens missachtet? Dabei verstand er es wie kaum ein anderer, außerhalb der Grenzen von Sprache und Logik zu agieren - vergleichbar mit Größen wie Charlie Chaplin oder Buster Keaton. [. . .] Wenn Leute anfangen zu blödeln und auf der Bühne herumspinnen, eröffnet das die Möglichkeit, aus dem Gewohnten auszubrechen. Das Gewohnte ist das Alltägliche, das Reich der Logik [. . .]. Sich aus dem einmal auszuklinken, buchstäblich verrückt zu sein, um vielleicht aus einer verrückten Perspektive wahrzunehmen, finde ich ungemein wertvoll. 32 Die hier zitierte Stelle aus einem Interview mit Fritsch erinnert wohl nicht zufällig an Michail Bachtins Ausführungen über das Motiv des Wahnsinns, das dieser als charakteristisch für die Groteske ansieht, da es erlaubt, „ die Welt mit anderen Augen zu sehen, mit einem von ‚ normalen ‘ Vorstellungen und Bewertungen freien Blick “ 33 . Auch die „ Grenzen zwischen Körper und Welt und zwischen verschiedenen Körpern verlaufen in der Groteske “ , wie Bachtin betont, „ völlig anders als in klassischen und naturalistischen Motiven “ 34 : Sehen wir einmal von den nicht unwesentlichen historischen und gattungsmäßigen Varianten ab, so zeichnet sich der neue Leibes-Kanon dadurch aus, daß er von einem völlig fertigen, abgeschlossenen, streng abgegrenzten, von außen betrachteten, unvermischten, individuell-ausdrucksvollen Leib ausgeht. Alles was herausragt und absteht, alle scharf ausgeprägten Extremitäten, Auswüchse und Knospungen, das heißt, alles, was den Körper über seine Grenzen hinaustreibt, was einen anderen Körper zeugt, wird entfernt, weggelassen, zugedeckt, abgeschwächt. Genauso werden auch alle Öff- 75 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund nungen verdeckt, die in die Tiefe des Leibes hineinführen. Der nichtgrotesken Gestalt des Leibes liegt die individuelle, streng abgegrenzte Masse des Leibes zugrunde, seine massive und taube Fassade. [. . .] Alle Merkmale der Nichtabgeschlossenheit, der Unfertigkeit des Leibes werden sorgfältig beseitigt - genauso wie alle Äußerungen des innerleiblichen Lebens. Die von diesem Kanon geprägten Normen der offiziellen und literarischen Rede belegen alles das mit einem Verbot, was mit Befruchtung, Schwangerschaft, Geburt zusammenhängt, das heißt, gerade das, was von der Unfertigkeit und Nichtabgeschlossenheit des Leibes und von seinen innerleiblichen Leben zeugt. Zwischen der intim-familiären und der offiziellen „ geziemenden “ Rede wird eine scharfe Grenze gezogen. 35 In seinem Interesse am Komischen, Grotesken und Absurden knüpft Fritsch, wie Elisabeth Großegger kürzlich gezeigt hat, an prädramatische und vorliterarische Theaterformen an, die im 18. und 19. Jahrhundert durch die Bemühungen um ein deutsches Nationaltheater von den institutionalisierten Schaubühnen vertrieben wurden. 36 „ [Ü] berbetontes Sprechen, große Gesten, weit aufgerissene Augen, übertriebene Kostüme, große, offene Räume “ 37 stehen für eine groteske Hyperbolik, die sich in Fritschs Inszenierungen einem „ streng abgeschlossenen “ 38 , fertigen und autonomen Körperkonzept querstellen (Abb. 1). 39 Ebenso erscheint Fritschs Regiearbeit als ein unabgeschlossener, stets im Werden begriffener Prozess. Fritsch ist kein Regisseur, der aus dem Textbuch inszeniert, sondern er entwickelt seine Ideen gemeinsam mit dem Ensemble. 40 Am Beginn einer Inszenierung steht somit nicht der Regieeinfall, sondern das Konzept des Bühnenbildes und die anschließende Leseprobe. Bei der gemeinsamen Erarbeitung der Inszenierung gilt das Abb. 1: Elisa Plüss (Arrogantia), Maria Happel (Hermione), Sara Viktoria Frick (Vipria), © Matthias Horn. 76 Matthias Mansky Hauptaugenmerk dem Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler, der in Bewegung gesetzt wird und eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber dem Text, der Handlung sowie dem „ Primat des Kopfes und des Denkens “ 41 erlangen soll. Durch diese, wenn man so will, Rückübersetzung eines Dramas in voraufklärerische Theatertraditionen werden im Rahmen der Aufführung stillschweigend auch jene Ordnungsmechanismen entlarvt, auf denen die Literarisierung des Theaters und die Kanonisierung von Werken beruhen. Der Huldigung des idealisierten, klassischen Textes und seines Autors steht die stets unberechenbare Aufführung gegenüber, was bei Fritsch noch übersteigert wird, indem Sprache vermehrt in Wort-Klang, Rhythmus und Körperdynamik übergeht. Das Publikum soll dadurch „ verwirrt werden, einen Rausch erleben “ und bisweilen auch den „ Durchblick verlieren “ dürfen, denn: „ Immer nur bescheid wissen zu wollen, ist ziemlich jämmerlich. “ 42 IV. Spiele mit der Publikumserwartung und der Raimund ’ schen Sprachkonzeption In Fritschs Inszenierung von Raimunds Die gefesselte Phantasie wird das Spiel mit der Publikumserwartung bereits vor der eigentlichen Vorstellung evident. 43 Nehmen die im Burgtheater eintreffenden Zuschauerinnen und Zuschauer eigentlich an, dass die Aufführung erst dann beginnt, wenn sie ihre Plätze eingenommen haben, das Licht ausgeht und der Vorhang hochgezogen wird, so erhalten sie bereits beim Betreten des Zuschauerraums einen freien Blick auf die dunkle Bühne. Während sich die ersten Besucher einfinden, ihren Sitzplatz aufsuchen oder nach bekannten Gesichtern Ausschau halten, betritt etwas zögerlich und mit abgemessenem Schritt der Schauspieler Markus Scheumann die Bühne und nähert sich der Rampe, wo er - vom Getümmel im Publikum scheinbar unbemerkt - eine beobachtende Position einnimmt. Dass er im Stück den Hofnarren Muh auf der Insel Flora verkörpern wird, ist anhand seines Kostüms - er trägt einen grauen Cordanzug - zu diesem Zeitpunkt noch nicht ersichtlich, auch wenn seine pinke Langhaar-Perücke darauf hinweisen könnte. Immer wieder streift er sich die zugeknöpfte Anzugjacke zurecht. Angesichts des sich füllenden Theatersaals wirkt er nervös, blickt auf die Personen, die gerade vor ihm Platz genommen haben und scheint diese nach und nach abzuzählen. In regelmäßigen Abständen faltet er seine Hände, fasst sich beklemmt an das Sakko in die Brust- und Herzgegend oder lässt nach einem auflockernden Wechsel der Körperhaltung seinen Blick in die oberen Ränge wandern. Nähert sich ihm ein Zuschauer, bedient er sich bisweilen einer abweisenden Gestik. Dieses Prozedere wiederholt sich einige Male. Fallweise wird es unterbrochen, wenn seine Aufmerksamkeit abschweift und er einzelne Gäste, die ihren Sitzplatz nicht finden können und bei anderen Besuchern nachfragen, angespannt mustert. Werden alle ihre Plätze rechtzeitig eingenommen haben? Erst durch die eingespielte Stimme, die das Publikum auffordert, ihre Mobiltelefone auszuschalten, schreckt er auf. Unruhig beginnt nun auch er die Innentaschen seines Anzugs zu inspizieren, bevor er zügigen Schritts in der Dunkelheit des Bühnenraums verschwindet. Für jene Zuschauer, die erst jetzt eilig eintreten, aber auch für viele, die sich angeregt unterhalten haben, bleibt all dies weitgehend unbemerkt. Dennoch bewirkt diese schauspielerische Aktion eine regelrechte Umkehrung konventioneller Theatererfahrungen - sowohl was den zeitlichen Rahmen der Vorstellung als auch die gewohnten Rollen im Rezeptionsprozess betrifft. Die Aufführung hat im Grunde 77 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund bereits beim Betreten des Theaters begonnen und es bleibt vorweg ungewiss, ob sie mit dem komödientypischen Happy End abgeschlossen sein wird. Indem der Schauspieler als Beobachter des Publikums auftritt, verdeutlicht er, dass die Aufführung kein bloßes Anschauungsobjekt ist, sondern sich in der Interaktion zwischen Bühne und Zuschauerraum ereignet. Die Bühne erscheint hierdurch als ein Ort der Transgression, die Aufführung als „ inszenierter Ausnahmezustand “ , bei dem auch die „ Grenzen der soziokulturellen Ordnung “ 44 ausgetestet werden. Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden in der Folge zu Mitspielern eines emergenten Spektakels, das das „ Grau des normativen Alltagslebens “ 45 explosionsartig aufbricht. Danach fungiert der sukzessiv von vorne nach hinten beleuchtete, „ knallbunt gestreifte[. . .] “ 46 Bühnenboden als eine Art horizontaler Vorhang. Die Bühne wird von „ hintereinander angeordneten bemalten Seitenkulissen “ 47 begrenzt und ist bunt, abstrakt und leer. Ihre Tiefe dient bei der Abfolge der Auf- und Abtritte nicht zuletzt dem Rhythmus und dem Timing. Während sich im Vordergrund das aktuelle Bühnengeschehen abspielt, erscheinen im Hintergrund bereits die Figuren der darauffolgenden Szene, die sich kontinuierlich nach vorne bewegen (Abb. 3). Die aus aufeinanderfolgenden artistischen und komödiantischen Kunststücken bestehende Aufführung ereignet sich wie auf einem imaginären Fließband, was allerdings nicht bedeutet, dass es sich um eine zeitlich eng bemessene oder mathematisch durchgeplante Slapstick-Abfolge handelt. Zieht sich eine Sequenz auf der Vorderbühne in die Länge, können die auf der Hinterbühne erscheinenden Schauspielerinnen und Schauspieler der zukünftigen Szene ihren Auftritt hinauszögern, indem sie ihren Bewegungsablauf verlangsamen oder zwischenzeitlich nochmals die entgegengesetzte Richtung einschlagen. Ortswechsel werden dem Publikum somit weniger durch das Bühnenbild visualisiert, als von einem der Aufführung integrierten Chor erläutert, der gelegentlich auch die Szenenanweisungen rhythmisch wiedergibt (Abb. 2). Ihm bleibt es auch vorbehalten, die in Raimunds Stück angelegten Bedingungssysteme, auf denen die Handlung beruht, körperlich und sprachlich zu kommentieren. Indessen wird schnell klar, dass es Fritsch bei seinen chorischen Gruppierungen vordergründig um Rhythmik und Korporalität geht anstatt um inhaltliche Erläuterung. Der sich aus Einzelkörpern konstituierende Chor gemahnt einmal mehr an groteske Spielarten und Körperkonzepte, wenn er andere Figuren in seinen Bann zieht, sich auf der Bühne ausdehnt, aufspaltet, unterschiedliche Abb. 2: Maria Happel als Königin Hermione mit Bewohnern der Insel Flora, © Matthias Horn. 78 Matthias Mansky Schauspielerkörper verschmelzen lässt oder seine Formationen panisch aufgebrochen werden. Darüber hinaus gelingt es Fritsch, die bereits in Raimunds Dramenhandlung angelegten inhaltlichen Leerstellen gekonnt zu bespielen. In Raimunds Zauberstück entspricht die Auseinandersetzung der schöngeistigen Dichterlinge mit den bösen allegorischen Zauberschwestern einem „ dramatischen Konjunktionalsystem “ 48 , dessen Wenn-Dann-Abfolge eine dramaturgische Unsicherheit evoziert, da der tatsächliche „ Grund des Gesamtproblems “ und das „ Ziel seiner Lösung “ 49 allmählich zur Nebensache werden. Die blinde Zerstörungswut der Zauberschwestern begründet sich einzig und allein dadurch, dass sie sich bei ihrer Ankunft auf der Blumeninsel despektierlich behandelt fühlten. So wären sie von Hermione nicht einmal zum Tee eingeladen worden. „ [D]as hat die Schwester so empört “ , ärgert sich Arrogantia - gerade der Tee sei nämlich Viprias „ schwache Seite “ 50 . Hätte Hermione zudem nicht das vermessene Gelübde abgelegt, nur einen Dichter zu ehelichen, oder würde Amphio seine Identität als Königssohn früher preisgeben und die Königin nicht mit seiner Kunst beeindrucken wollen, wären den Zauberschwestern schnell die Hände gebunden. Auch das Orakel verkündet eigentlich schon zu Beginn, dass der zukünftige Herrscher aus dem Hause von Athunt stammen wird - eine Prophezeiung, die Hermione vorerst gekonnt ignoriert. Wurden diese inhaltlichen Leerstellen oftmals als Schwächen des Dramas ausgelegt, so unterstreichen sie den Hochmut, die Vermessenheit und die Selbstgefälligkeit, die auf der Dichterinsel vorherrschen und von denen auch das Liebespaar nicht frei ist. Die Handlung scheint sich allerdings hierdurch über weite Strecken zu erübrigen, da die Figuren als „ Marionetten “ 51 eines überirdischen Ordnungssystems figurieren, das Apollo, die Zauberschwestern, aber auch die Phantasie umfasst. Dies gilt besonders für Nachtigall, dem sich die Handlungszusammenhänge das gesamte Drama hindurch nur bedingt erschließen. Fritsch versteht es nun, diese dramaturgischen Unsicherheiten geradezu auf die Spitze zu treiben. Besonders die Sprache erfährt in seiner Inszenierung eine groteske Verkörperlichung, sodass die Motivierung und das Verständnis der Handlung im Rahmen der Aufführung weiter an Bedeutung verlieren. Auch wenn sich die von Sabrina Zwach verantwortete Bühnenfassung eigentlich sehr eng an Raimunds Text hält, 52 dient sie Fritsch hauptsächlich als Vorlage für sein komödiantisches Gestaltungsprinzip. 53 Die Sprache erfährt in seiner Inszenierung eine semantische Verschiebung, indem die bereits bei Raimund suspekten Dichterlinge bei Fritsch zu Meistern des Abb. 3: Tim Werths als Phantasie, © Matthias Horn. 79 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund Stotterns, Verhaspelns und Missverstehens mutieren. Hieraus resultieren „ etliche[. . .] Wortverdreher[. . .] “ 54 , die die Aussagen der Figuren ad absurdum führen oder eine neue Bedeutungsebene eröffnen. Akzentuiert werden diese sprachlichen Fehlleistungen durch übertriebene Gestik und Mimik. Dieses Spiel mit der Raimund ’ schen Sprache kreiert seinen eigenen Wortwitz und lässt die Körperhaltung der Schauspielerinnen und Schauspieler wiederholt aus dem Handlungszusammenhang kippen. Einerseits beruht es auf plumpen sprachlichen Verwechslungen, wenn beispielsweise der „ Hofpoet “ 55 Distichon als „ Hofprolet “ begrüßt wird oder die Bewohner Floras Hermione um „ ihre Scheide “ anstatt um „ ihr Erscheinen “ 56 bitten. Andererseits dienen gerade diese Versprecher in weiterer Folge als Stichwörter für artistische und komödiantische Aktionen, die nur mehr in einem mittelbaren Bezug zu Raimunds Handlung stehen. So wirft sich Marcel Heuperman als Affriduro nach Hermiones Aufforderung „ Schmecke den Tümpel “ schnell auf den Boden und streckt die Zunge heraus, bevor diese ihren Auftrag zu „ Schmücke den Tempel “ 57 korrigiert; die Zauberschwestern lassen die Blumeninsel vorerst nicht „ veröden “ 58 , sondern „ verblöden “ , weshalb ihre Bewohner zu stumpfsinnigen Zombies mutieren; diese bilden nach Viprias Drohung „ Warte, Schlange! “ 59 sogleich eine Warteschlange und stürzen sich einer nach dem anderen lustvoll hinter die Seitenkulisse, als würde sich dahinter eine lange Rutsche oder ein tiefer Abgrund befinden, in den man einen Bungee-Sprung wagen kann. In Fritschs Inszenierung kommen die Bedeutungszusammenhänge von Raimunds Zauberstück somit streckenweise abhanden, da sich Sprache und Körper zunehmend voneinander abspalten oder nahtlos ineinander übergehen. Einen Höhepunkt erlangt dieses Verfahren in den Neujahrswünschen, die der Hofnarr Muh den Zauberschwestern darbringt. Raimund greift hierbei auf eine satirische Tradition zurück, mit der sich noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Hanswurst Gottfried Prehauser an sein Publikum wandte. Diese Glücksbekundungen schlagen in Muhs Rede hingegen in Fluch und Verwünschung um. In Fritschs Inszenierung beginnt Markus Scheumann während seines Vortrags einzelne Reimwörter und Begriffe, noch bevor er sie ausgesprochen hat, gestisch und mimisch darzustellen, woraus sich für die Zuschauerinnen und Zuschauer eine Art Ratespiel entwickelt. Sinn und Logik bleiben aber auf der Strecke, wenn er etwa das Wort „ Katarrh “ 60 , also die Entzündung von Schleimhaut und Atmungsorganen, mit der Gestik eines auf den Ball tretenden Fußballspielers erläutert, was sich nun nicht mehr auf die Krankheit, sondern auf die Fußball WM 2022 in Katar bezieht. Dem Publikum verschwimmen hierdurch die inhaltlichen Zusammenhänge des Gedichts. Was es hingegen wahrnimmt, ist die korporale Performanz des sich auf der Bühne verausgabenden Schauspielers, der allmählich die Oberhand über den Text gewinnt und sich von diesem zu emanzipieren scheint. Übersteigert wird dies, wenn Scheumann nach Abschluss seiner Verwünschungen, diese abermals zu rezitieren beginnt, nun allerdings rückwärts, sodass sich Sprachproduktion und Sprachverstehen endgültig in der ausschließlichen Rezeption des durch groteske Mimik und Gestik geprägten Schauspielerkörpers auflösen. Die Folge ist ein durch Situationskomik und Slapstick geprägtes Körper-Theater, das zwar immer wieder zur ursprünglichen Handlung zurückzufinden scheint, durch groteske Übertreibung aber seine Vormachtstellung gegenüber dem Primat des Textes und seines klassischen Autors behauptet, denn: „ Jede Szene muss ein Kunststück sein! Theater ist nicht der Ort der Dichterverehrung und Literaturzelebration, Theater 80 Matthias Mansky entsteht im Theater, nicht am Schreibtisch. “ 61 Fritsch bedient sich zudem eines Montageverfahrens, durch das er den komödiantischen und artistischen Sequenzen Zitate aus Film und Populärkultur integriert. Damit gelingt es ihm einmal mehr, den hochtrabenden Habitus auf Raimunds Dichterinsel zu konterkarieren, da die vermeintliche Hochkultur durch das Triviale und Banale aufgeweicht wird. Aus den Rezensionen zu Fritschs Inszenierung wird die Fülle von klar erkennbaren oder vermeintlichen Allusionen schnell ersichtlich: Teletubbies, Louis de Funès, Monty Pythons, Deichkind, Laserkraft 3D, Star Wars, Mission Impossible, Bully-Parade, Andy Warhol, Prince, Michael Jackson, Michael Ende, Rudi Carell, Rainhard Fendrich, Otto Waalkes, Hans Moser, Sesamstraße, Tintifax, Looney Tunes etc. 62 V. ‚ Schwingen ‘ als Auslöser für markante Aufführungsmomente Während die Raimund ’ sche Sprache eine groteske Verkörperlichung erfährt und so in eine neue, der Handlungslogik konträre Form der Komik transformiert wird, intensiviert sich in einem weiteren Schritt die Entfesselung des Schauspielers aus dem Korsett von Dramentext und Regie durch die der Inszenierung immanenten ‚ Schwingung ‘ . In Interviews betont Fritsch regelmäßig sein nach Duke Ellington formuliertes Credo „ It Don ’ t Mean A Thing. If It Ain ’ t Got That Swing “ . Swing kann hierbei einerseits als rhythmische Qualität im Sinne des Jazz verstanden werden und tatsächlich erscheint Fritsch ein Theater ohne Musik undenkbar, auch weil sein Interesse bei einem Theatertext weniger der Interpunktion als der Melodie und dem Klang der Wörter gilt. 63 Andererseits birgt ‚ Schwingen ‘ natürlich auch ein Risiko in sich, wenn der in Schwingung geratende Schauspieler aus seiner Balance zu kippen droht (Abb. 4). Eine Konsequenz kann das ‚ Stürzen ‘ sein, das der Schauspieler Fritsch stets als einen Moment erlebte, in dem „ die Ekstase losging “ 64 . Abb. 4: Markus Scheumann als Hofnarr Muh und Ensemble, © Matthias Horn. In seiner Inszenierung der Gefesselten Phantasie konkretisiert Fritsch die bei Raimund angelegte Marionettenhaftigkeit der Figuren, indem er die von Elisa Plüss und Sarah Viktoria Frick verkörperten Zauberschwestern die Bewegungsabläufe und die körperliche Motorik der von ihnen terrorisierten Inselbewohner kurzfristig steuern lässt. Ähnliches gilt für Nachtigall und dessen Auftritt im Bierhaus, bei dem die von Sebastian Wendelin in eigenwilliger Rock ’ n ’ Roll-Manier gespielte Harfe die Wirtshausbesucher gekonnt durcheinanderwirbelt (Abb. 5). Auf der Bühne vollzieht sich hierdurch eine groteske Umkehrung der klassischen Theatersituation, in der der Körper 81 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund dem Text untergeordnet ist. Der „ Kanon der geziemenden Rede “ 65 wird außer Kraft gesetzt, wenn verzerrte Stimmen und dissonante Musik, die die Liedtexte nur mehr schwer verständlich machen, den Ton angeben und die Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler nicht nur aus dem dramatischen Text ausscheren, sondern durch den scheinbaren Verlust der Schwerkraft von der Bühne zu fallen drohen. Abb. 5: Sebastian Wendelin in der Raimund-Rolle des Harfenisten Nachtigall, © Matthias Horn. Die aus den Fugen geratene Ordnung der Insel Flora spiegelt sich somit in den korporalen Handlungsvollzügen wider, die durch ständiges Wanken, Schwanken und Schwingen gekennzeichnet sind. Folglich stöckelt etwa Maria Happel als Hermione die gesamte Aufführung hindurch in roten High Heels über die Bühne, zu Beginn noch in einer vermeintlichen (Liebes-)Trunkenheit, später in permanenter Hektik und Eile, sodass ihre Wege in der schier unendlichen Tiefe der Bühne zu einer physischen Herausforderung werden (Abb. 1 und 2). Neben ihrer grotesken Körperlichkeit ist Fritschs Inszenierung somit prädestiniert dafür, dass sich die von ihm choreografierten Körper-Konfigurationen in der Aufführungssituation unvorhersehbar und eigenständig weiterentwickeln. Man kann mit Jens Roselt von markanten Momenten sprechen, auf die Fritschs Inszenierung geradezu abzielt. Der markante Moment weist die Aufführung einmal mehr als „ Zwischengeschehen “ 66 aus. Roselt bezeichnet ihn als Situation, die „ nicht ausschließlich als Ablauf bzw. Nachvollzug szenischer Vorgänge beschrieben werden kann, sondern diese mit der Wahrnehmung des Zuschauers verlötet “ 67 . Im Gegensatz zu einem spezifischen Effekt, der sich in jeder weiteren Aufführung wiederholen lässt, ist der markante Moment danach für immer verloren. In markanten Momenten werden „ vertraute Situationen ihrer Selbstverständlichkeit enthoben, gewohnte Wahrnehmungsweisen, Interpretations- und Verhaltensmuster fraglich “ , wodurch eine „ Form von A-Normalität “ 68 entsteht. Das „ intensive Erlebnis “ mag hierdurch auch als eine „ Art Panne der Rezeption “ 69 erscheinen, da es als Krisenerfahrung, Mangel oder Störung empfunden werden kann. Das Publikum wird in einer Ungewissheit belassen, inwieweit der wahrgenommene Moment tatsächlich zur Inszenierung gehörte, oder erst durch die Aufführungssituation erzeugt wurde: Ketzerisch kann man sagen, dass Theater seine Ereignishaftigkeit gerade dann ausspielt, wenn es danebengeht, dass Aufführungen dadurch einzigartig werden, wenn sie gegen Programme oder Vorgaben der Inszenierung verstoßen und ‚ so ‘ die leibhaftige Zeugenschaft der Zuschauer wertschätzen. 70 Die in Fritschs Inszenierung entfachte groteske Hysterie fordert derartige Aufführungsmomente regelrecht heraus. So sprin- 82 Matthias Mansky gen etwa die ängstlichen Bewohner von Flora in ihrer Hektik von der Bühne in den Zuschauerraum oder verlieren durch mehrmalige abrupte Verbeugungen ihre Perücken, die Steirerhüte des schuhplattelnden Chors fallen zu Boden und die von der Decke heruntergelassenen Zauberschwestern verheddern sich in den Seilen. Dieses inszenatorische Spiel mit unberechenbaren Körperaktionen zwingt die Schauspielerinnen und Schauspieler zu ständigen Reaktionen auf eine neu entstandenen Aufführungssituation, wodurch sie sich nicht zuletzt von Text und Inszenierung weiter loslösen. Der Verlust der Perücke verleitet beispielsweise den Schauspielerkollegen dazu, aufzuschreien: „ Achtung Perücke! “ Oder Maria Happel rutscht bei einer Aufführung die Krone ins Gesicht, sodass sie die Szene mit einer gewissen Orientierungslosigkeit weiterspielen muss. Ähnliches passiert Bless Amada, dem als Amphio ebenfalls seine Perücke abhandenkommt, nachdem er - von der Phantasie begeistert - in starke Wallung gerät und die Körperkontrolle zu verlieren scheint. Da er es nicht gleich schafft, sich die Perücke erneut überzuziehen, muss er sie für den weiteren Szenenverlauf in der Hand halten, bevor es ihm in einer kurzen Sprechpause doch noch gelingt, sie aufzusetzen und zurechtzurücken. Sebastian Wendelin kippt hingegen bei einer anderen Vorstellung die Harfe auf sein Knie, was er mit einem lautstarken „ Aua! “ kommentiert. Arthur Klemt stolpert als Apollo bei der Befreiung der Phantasie beinahe über deren Aktenkoffer. In der Person von Tim Werths stößt sich diese wiederum den Kopf an Jupiters Blitz an. Die körperliche Dynamik und Akrobatik verantwortet weitere Sprechfehler, die zu immer neuen Improvisationen animieren. Ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt erschließt sich dem Zuschauer oftmals gar nicht mehr so recht, ganz egal, ob er der Inszenierung zum ersten Mal beiwohnt, oder sie schon einige Male gesehen hat. „ Das haben wir jetzt falsch gespielt. Da muss wohl meine Phantasie mit mir durchgegangen sein “ , erschrickt Sebastian Wendelin jeden Abend, nachdem er mit Tim Werths, der als Phantasie eigentlich gefesselt sein sollte, über die Bühne gehetzt ist. Andererseits muss er in einer singulären Aufführung tatsächlich eingestehen: „ Das war jetzt eine Improvisation. Die war gar nicht so gut - aber wurscht! “ Eingeübter Gag oder spontane Erfindung? - Im turbulenten Aufführungsgeschehen verwischen sich sukzessive die Grenzen. Was bleibt ist die „ Schnelllebigkeit “ , die sich zwischen Bühne und Zuschauerraum ereignet und wirkungsästhetisch auf eine von der Handlungslogik distanzierte Lachreaktion abzielt: Sie [die Schnelllebigkeit, M. M.] ist das Wichtigste, weil das Publikum dann keine Zeit mehr zum Nachdenken hat - denn wenn Sie nachdenken, haben Sie keine Zeit mehr zum Lachen. Und somit darf man sich auch auf der Bühne keine Sekunde fragen, was die Zuschauer gerade denken, was man da heroben macht. Dann ist es vorbei. Nur die extreme Konzentration auf den völligen Blödsinn sorgt für die Kraft und die Energie, die sich auf das Publikum überträgt. 71 Fritschs Inszenierung entspricht somit weniger einer Entstaubung des österreichischen Klassikers Ferdinand Raimund, als dass in ihr Staub aufgewirbelt wird. Der Vorgehensweise, einen historischen Dramentext auf aktuelle politische oder gesellschaftlich relevante Themen abzuklopfen, kontert er mit einem Inszenierungsstil, der von Klassikerverehrung nichts mehr wissen will. Indem sich Sprache und Semantik in Körperdynamik und Rhythmik auflösen, entreißt er den Autor dem kulturellen Gedächtnis und lässt den oftmals zugunsten des Dramentexts vernachlässigten komödiantischen und korporalen Spielformen Gerechtigkeit widerfahren. Rai- 83 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund mund, der von der Nachwelt oft als großer österreichischer Dichter verklärt wurde, war ein ebenso gewandter Theaterpraktiker, auch das wird in seinen Stücken ersichtlich. Dass Fritsch seinem heute weitgehend unbekannten Zauberstück Die gefesselte Phantasie zu erneuter öffentlicher Aufmerksamkeit verholfen hat, liegt wohl auch daran, dass die lange verkannten komischen und parodistischen Elemente seinem Inszenierungsstil durchwegs in die Karten spielen. Nach der Premiere im Burgtheater erscheint Fritsch selbst im goldenen Anzug und mit Harfe auf der Bühne, als wolle er Raimund gerade in jenen heiligen Hallen österreichischer Kultur und Identität huldigen, die ihm zu Lebzeiten verschlossen blieben. 72 Ein Handzeichen - allgemeine Stille - große Spannung - ein kurzer, missglückter Akkord - schallendes Gelächter! Raimund hätte seine Schadenfreude. Anmerkungen 1 Gefördert durch den Austrian Science Fund FWF, Grant-DOI: 10.55776/ P34619. Für die Erlaubnis, Fotos der Inszenierung im Rahmen des Artikels abzudrucken, danke ich Eva Ludwig-Glück vom Pressebüro des Burgtheaters. 2 Aleida Assmann, „ Was sind kulturelle Texte? “ , in: Andreas Poltermann (Hg.), Literaturkanon - Medienereignis - Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung, Berlin 1995, S. 232 - 244. 3 Jens Roselt, Phänomenologie des Theaters, München 2008, S. 117. 4 Vgl. in der Folge: Matthias Mansky, „ Theaterpraktiker und Geschäftsmann - neue Perspektiven der Raimund-Forschung “ , in: Nestroyana 43, 1 - 2 (2023), S. 29 - 43. Christian Tillinger, „ Ferdinand Raimund - das Werden einer Persona non grata: Aspekte der Forschungsgeschichte und Biographie “ , in: Maske und Kothurn 46 (2001), S. 49 - 76. 5 Vgl. Tillinger, „ Ferdinand Raimund “ , S. 50. 6 Vgl. Johann Willibald Nagl, Jakob Zeidler und Eduard Castle (Hg.), Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte, 4 Bde, Wien/ Leipzig 1898 - 1937. 7 Tillinger, „ Ferdinand Raimund “ , S. 51. 8 Hugo von Hofmannsthal, „ Ferdinand Raimund “ , in: Gesammelte Werke. Prosa III, hrsg. v. Herbert Steiner, Frankfurt am Main 1952, S. XLIX. Vgl. hierzu: Martin Stern, „ Die Raimund- und Nestroy-Rezeption Hofmannsthals mit einem Seitenblick auf Josef Nadler, Heinz Kindermann und Herbert Cysarz, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 14 (2006), S. 369 - 382. 9 Franz Hadamowsky, „ Wesen, Entwicklung und Vollendung der schauspielerischen Persönlichkeit Ferdinand Raimunds “ , in: Ferdinand Raimund als Schauspieler, erster Teil, Wien 1925, S. XXXI-LVL, hier S. XLIX. 10 Tillinger, „ Ferdinand Raimund “ , S. 51. Vgl. Günter Holtz, Ferdinand Raimund - der geliebte Hypochonder. Sein Leben, sein Werk, Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 12. 11 Heinz Kindermann, Ferdinand Raimund. Lebenswerk und Wirkungsraum eines deutschen Volksdramatikers, Wien/ Leipzig 1940. 12 Vgl. Otto Rommel, Die Alt-Wiener Volkskomödie. Ihre Geschichte vom barocken Welt-Theater bis zum Tode Nestroys, Wien 1952, S. 886 - 927. Otto Rommel, Ferdinand Raimund und die Vollendung des Alt-Wiener Zauberstückes, Wien 1947. 13 Demgegenüber hat die neuere Forschung zum Wiener Vorstadttheater gegen eine lokale Vereinnahmung derartiger Theaterformen argumentiert und die Internationalität der Wiener Unterhaltungsbühnen hervorgehoben. Vgl. hierzu stellvertretend Jürgen Hein, Das Wiener Volkstheater, Darmstadt 1997. Auf Bezüge Raimunds zu den Stücken von Carlo Gozzi verweist etwa Susanne Winter, „ Märchenwelt und Lachkultur bei Carlo Gozzi und Ferdinand Raimund “ , in: Nestroyana 32, 1 - 2 (2012), S. 10 - 23. 14 Demgegenüber werden in der neuen historisch-kritischen Ausgabe erstmals Raimunds Originalhandschriften und die Überarbeitungen in den späteren Theatermanuskripten wiedergegeben, sodass neben den 84 Matthias Mansky Arbeitsprozessen des Dichters der Theaterpraktiker Raimund in den Vordergrund rückt. Vgl. Ferdinand Raimund, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. Jürgen Hein et al., Wien 2013 ff. Der Abschluss dieser Ausgabe wird derzeit im Rahmen eines vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF (Austrian Science Fund) geförderten Drittmittelprojekts am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg realisiert. FWF Einzelprojekt P34619: Der „ Theatermacher “ Ferdinand Raimund; Projektleiter: Matthias Mansky, Projektmitarbeiter: Johann Lehner. 15 Vgl. hierzu auch die Dramaturgin Sabrina Zwach im Interview mit der Bühne: „ Wir werden es so machen wie immer. [. . .] Wir werden die Erwartungshaltungen nicht erfüllen. “ (Atha Athanasiadis, „ Immer in die Vollen “ , in: Die Bühne (26. Januar 2023). URL: buehne-magazin.com/ a/ immer-in-dievollen-die-gefesselte-phantasie (Zugriff am 26. Januar 2024). Vgl. auch die Einschätzung von Thomas Rothschild: „ An Herbert Fritsch scheiden sich die Geister. Die einen lehnen ihn rundweg ab, die anderen können gar nicht genug von seinen Methoden bekommen. “ Thomas Rothschild, „ Die Burg lacht. Die gefesselte Phantasie und Der Raub der Sabinerinnen “ (11. Oktober 2023). URL: kultura-extra.de/ theater/ auffuehrung/ repertoire_GefesseltePhantasie_RaubSabinerinnen_burgtheater.phh (Zugriff am 30. Januar 2024). 16 Vgl. Jürgen Hein, „ Der Künstler als Agent. Zur Neuedition der Märchenspiele Ferdinand Raimunds “ , in: Hubert Christian Ehalt / Jürgen Hein (Hg.), Ferdinand Raimunds inszenierte Fantasien, Wien 2008, S. 129 - 146, hier S. 137 f. 17 Vgl. den vom Dramaturgen der Bregenzer Festspiele Florian Amort gehosteten Podcast Hör-Spiele, in dem u. a. Sabrina Zwach und Herbert Fritsch interviewt wurden. URL: https: / / bregenzerfestspiele.com/ de/ ho er-spiele (Zugriff am 8. Februar 2024). 18 Kurt Kahl, Ferdinand Raimund, Felber bei Hannover 1967, S. 63. 19 Vgl. hierzu Matthias Mansky, „‚ Ich bin ein Wesen leichter Art, / Ein Kind mit tausend Launen. . . ‘ Reflexionen über Kunst und Poesie in den Werken Ferdinand Raimunds “ , in: Nestroyana 43, 3 - 4 (2023), S. 98 - 117. 20 Ferdinand Raimund, Die gefesselte Phantasie. Mit einem Nachwort v. Jürgen Hein, hrsg. im Auftrag der Raimundgesellschaft v. Gottfried Riedl, Wien 2002, S. 11. 21 Ebd., S. 58. 22 Jürgen Hein, „ Nachwort “ , in: Ferdinand Raimund, Die gefesselte Phantasie, S. 68 - 74, hier S. 74. 23 Vgl. Mansky, „‚ Ich bin ein Wesen leichter Art, / Ein Kind mit tausend Launen. . . ‘“ , S. 106 - 117. 24 Pia Janke, „ Zauberbrut und Geistergesindel. Raimunds ‚ Spielverderber ‘“ , in: Ilija Dürhammer / Pia Janke (Hg.), Raimund, Nestroy, Grillparzer. Witz und Lebensangst, Wien 2001, S. 97 - 107, hier S. 103. 25 Ebd., S. 103 26 Ebd., S. 105. 27 Ferdinand Raimund, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 2, hrsg. v. Johann Hüttner, Wien 2018, S. 665. 28 Ebd., S. 671. 29 Adam Müller-Guttenbrunn, Die gefesselte Phantasie. Gelegenheitsschrift zur Eröffnung des Raimund-Theaters, Wien 1893, S. 15. 30 Klaus Zeyringer, „ Die Kanonfalle. Ästhetische Bildung und ihre Wertelisten. Literatursoziologischer Essay “ , in: LiTheS 1 (2008), S. 72 - 103, hier S. 86. 31 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, Klaus Zeyringer: „ Komische Diskurse und literarische Strategien. Komik in der österreichischen Literatur - eine Einleitung “ , in: Wendelin Schmidt-Dengler / Johann Sonnleitner / Klaus Zeyringer (Hg.), Komik in der österreichischen Literatur, Berlin 1996, S. 9 - 19, hier S. 9 f. Zum Ausgrenzungsprozess von prä- und nichtliterarischen Formen vgl. auch Gerda Baumbach, Seiltänzer und Betrüger? Parodie und kein Ende. Ein Beitrag zu Geschichte und Theorie von Theater, Tübingen 1995, S. 41: „ Alte rituelle Parodie, rituelles Beschimpfen und Verlachen des ‚ Höchsten ‘ , als die mittelalterlichen - auf der Freiheit des Parodierens während der Fest-Zeit beruhenden - Narrenfeste, Eselsfeste, Charivari, Diablerien, Oster-Lachen 85 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund (risus paschalis), Weihnachts-Lachen (risus natalis) und Begräbnis-Lachen, deren Herkunft im Mythisch-Rituellen zu suchen ist, wurden im Zuge dieser Prozesse der Ausgrenzung und der Vereindeutigung unterworfen; ihre ‚ Protagonisten ‘ , kulturelle Mittler, die sich auch außerhalb der Fest-Zeiten der dort praktizierten Verfahren bedienten, wurden diskriminiert, in Subkulturen abgedrängt und schließlich wirksam reformiert. “ 32 „‚ Man wird als Blödian abgestempelt ‘ Regisseur Herbert Fritsch über Ferdinand Raimund, Louis de Funès und die missachtete Kunst der Komödie “ , in: Wiener Zeitung (29. März 2023). https: / / www.tagblatt-wie nerzeitung.at/ nachrichten/ kultur/ buehne/ 21 83078-Man-wird-als-Bloedian-abgestem pelt.html (Zugriff am 30. Januar 2023). 33 Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, übers. v. Gabriele Leupold, hrsg. v. Renate Lachmann, Frankfurt a. M. 2022, S. 90. Vgl. ebd., S. 90: „ In der volkstümlichen Groteske aber ist der Wahnsinn eine heitere Parodie auf die offizielle Denkart, auf die einseitige Seriosität der offiziellen ‚ Wahrheit ‘ . Das ist ein festlicher Wahnsinn. “ 34 Ebd., S. 357. 35 Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, übers. v. Alexander Kaempfe, Frankfurt a. M. 1990, S. 20 f. 36 Vgl. Elisabeth Großegger, „‚ Groteske Komödie ‘ . Herbert Fritsch am Burgtheater “ , in: Stefan Hulfeld / Rudi Risatti / Andrea Sommer-Mathis (Hg.), Grotesk! Ungeheuerliche Künste und ihre Wiederkehr, Wien 2022, S. 241 - 257. 37 Petra Paterno, „ Sinnverlust. Regisseur Herbert Fritsch über Hitchcock, die Steinzeit und Wichtigtuereien am Theater “ , in: Wiener Zeitung (2. Dezember 2015). URL: http s: / / www.tagblatt-wienerzeitung.at/ nachrich ten/ kultur/ buehne/ 789206-Sinnverlust.html (Zugriff am 30. Januar 2024). Fritsch betont hier in einem Interview: „ Die Schauspieler der Stummfilmära sind meine Helden - überbetontes Sprechen, große Gesten, weit aufgerissene Augen, übertriebene Kostüme, große, offene Räume - das gefällt mir. “ 38 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 79. 39 Vgl. ebd., S. 345: „ Übertreibung, Hyperbolik, Übermaß und Überfluß sind nach allgemeiner Auffassung eines der wichtigsten Merkmale des grotesken Stils. “ 40 „ Ich lese ein Stück einmal und schaue dann bis Probenbeginn überhaupt nicht mehr hinein. Ich lasse mir alles von den Schauspielern erzählen, weil es für mich viel wichtiger ist, dass in das Ensemble eine Bewegung kommt. Also [. . .] habe ich auch dieses Stück gelesen und zuerst überhaupt nichts verstanden. Es ist zahm und unverständlich zugleich, kommt pausbackig, mit leuchtend roten Wangen daher und will doch klassisch sein. Ich hatte vor Probenbeginn solche Angst, dass ich nicht mehr schlafen konnte. Aber bei der ersten Leseprobe hab ich mich mit den Schauspielern so amüsiert! Ich war sofort in alle verknallt. Egal, was das für ein Irrtum ist, in den ich mich womöglich hineinbegebe, ich mache es gern. “ Heinz Sichrovsky, „ Entfesselte Spiellust ohne Belehrungsqual “ , in: News 11 (2023), S. 68 - 69, hier S. 69. 41 Großegger, „‚ Groteske Komödie ‘“ , S. 242. 42 Paterno, „ Sinnverlust “ . 43 Für die Aufführungsanalyse wurden die Vorstellungen vom 26.4.2023, 4.5.2023, 16.5.2023, 15.6.2023 und 10.1.2024 besucht. Der Dramaturgie des Burgtheaters in der Person von Barbara Mitterhauser verdanke ich den Mitschnitt der Generalprobe. Zitate aus den Aufführungen richten sich nach den Gedächtnisprotokollen, die während den Aufführungen erstellt wurden. 44 Großegger, „ Groteske Komödie “ , S. 251. 45 Ebd., S. 251. 46 Patric Blaser, „ Ein Bukett entfesselter Kreativität “ , in: Die Furche 14 (6. April 2023), S. 24. 47 Athanasiadis, „ Immer in die Vollen “ . 48 Volker Klotz, Dramaturgie des Publikums. Wie Bühne und Publikum aufeinander eingehen: insbesondere bei Raimund, Büchner, Wedekind, Horváth, Gatti und im politischen Agitationstheater, Würzburg 1998, S. 67. Die anhand von Raimunds Zaubermärchen Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär von Klotz erörterte Wenn- 86 Matthias Mansky Dann-Konstellation lässt sich bis zu einem gewissen Grad auch auf Die gefesselte Phantasie übertragen: „ Weder den Betroffenen auf der Bühne noch dem Publikum werden einleuchtende, aus Erfahrung herzuleitende Ursachen, Folgen, Einschränkungen, Zwecke geliefert. Stattdessen beugt sich jegliches Geschehen dem totalen Gesetz des Wenn/ Dann. Darum ist das Ziel der Gesamthandlung unverhältnismäßig dürftig gegenüber dem Weg dorthin, der sich im Zug und Druck gestellter und vollbrachter Bedingungen verwickelt. Sogar der dramatische Konflikt der widerstreitenden Parteien [. . .] geht in der Bewegung des Wenn/ Dann auf. Macht Partei A einen Zug, dann macht Partei B prompt den entsprechenden Gegenzug. So schiebt das heftige Hin und Wider gegenwärtiger Auseinandersetzungen den Grund des Gesamtproblems und das Ziel seiner Lösung in den Hintergrund. “ Ebd., S. 67. 49 Ebd. 50 Raimund, Die gefesselte Phantasie, S. 15. 51 Holz, Ferdinand Raimund - der geliebte Hypochonder. Sein Leben, sein Werk, S. 176. 52 Bei Sabrina Zwach, die mir ihre Bearbeitung für diesen Artikel zur Verfügung gestellt hat, möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken. 53 Vgl. hierzu auch Zwachs Erläuterungen zu ihrer Bearbeitungspraxis: „ Mein Schreibprozess ist nicht intuitiv. Mein Schreibprozess ist diskursiv, ist intellektuell, im Bewusstsein, dass ein Text für eine Inszenierung entsteht, die traumtänzerisch über die Dialoge gleiten wird, im Bewusstsein, dass der Regisseur sich nicht in erster Linie für den Text interessieren wird, sondern den Text als eine von vielen Komponenten sehen, intuitiv mit Worten und Inhalten umgehen wird. Theater ist nicht die Unterabteilung der Literaturwissenschaft oder angewandte Textinterpretation. In Fritschs Kosmos kommt einiges zusammen und in diesem Verständnis gehe ich meinen Teil der Arbeit an. [. . .] Die meisten historischen Texte bleiben historisch, es finden keine Modernisierungen statt, es werden keine tagespolitischen Bezüge eingefügt, und doch werden die Texte verändert. Spuren werden beseitigt, die den Text zu eindeutig - in Ort, Zeit oder Lesbarkeit - machen. Die historischen Stoffe werden vorsichtig aufpoliert, verkehrstauglich gemacht oder etwas beschleunigt. Figuren verschwinden oder es kommen welche dazu. “ URL: https: / / 2019-2024.burg theater.at/ schreibweisen6 (Zugriff am 28. August 2024). 54 Blaser, „ Ein Bukett entfesselter Kreativität “ , S. 24. 55 Die gefesselte Phantasie. Zauberspiel in zwei Aufzügen von Ferdinand Raimund, Bearbeitung/ Fassung: Sabrina Zwach, Manuskript, S. 1. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 17. 58 Ebd., S. 15. 59 Ebd., S. 16. 60 Ebd., S. 20. 61 Zitiert nach: Großegger, „‚ Groteske Komödie ‘ . Herbert Fritsch am Burgtheater “ , S. 244. 62 Vgl. hierzu stellvertretend Julia Danielczyk, „ Raimunds Zaubermärchen glitzert golden “ , in: Salzburger Nachrichten (31. März 2023), S. 8: „ Mit kleinen Verschiebungen in Betonung und Aussprache, grotesker Outrage und Parodie springt er [Sebastian Wendelin als Nachtigall, M. M.] zwischen den Reimen, sodass man manchmal Otto Waalkes, Louis de Funès oder Hans Moser zu hören glaubt, aber in der Rasanz der Szenen muss man bedacht sein, dem Sprachwitz zu folgen. “ 63 Vgl. hierzu Fritsch: „ Kunst muss nicht grundsätzlich Kritik sein. Sie kann auch Genuss bieten. Für meine Arbeit steht fest, dass der spielerische und der optische Genuss im Vordergrund stehen. Ich befrage Stücke wie ein Orakel. Ich höre die Texte und lasse mich vom Swing des Satzes, eines Wortes berauschen. Ein Theaterabend, der alles erklären will, der alles kritisiert, den finde ich unergiebig. Theater sollte eine Droge ohne Schaden sein. “ Zit. nach: Großegger, „‚ Groteske Komödie ‘“ , S. 249. 64 TV aspekte - Herbert Fritsch mischt die Bühne auf - Murmelmurmel, (S)panische Fliege. URL: www.youtube.com/ watch? v=L g-RRLt4MWs&pp=ygUaVHYgYXNwZWt0 87 Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund ZSBoZXJiZXJ0IGZyaXRzY2 g%3D (Zugriff am 23. Februar 2024). 65 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 21. 66 Roselt, Phänomenologie des Theaters, S. 46 f. 67 Ebd., S. 13. 68 Ebd., S. 47. 69 Ebd., S. 13. 70 Ebd., S. 266 71 Athanasiadis, „ Immer in die Vollen “ . 72 Vgl. Jakob Hayner, „ Sei nicht so sentimental, das Leben ist hart “ . URL: https: / / www.welt. de/ kultur/ article244614726/ Wiener-Burg theater-Die-gefesselte-Phantasie-und-Kasi mir-und-Karoline.html (Zugriff am 30. Januar 2024). 88 Matthias Mansky Themenheft: Performances of Belonging. Verflechtungen von Theater, Gesellschaft und Moderne Editorial - Performances of Belonging. Verflechtungen von Theater, Gesellschaft und Moderne Anke Charton, Theresa Eisele (Wien) Die europäische Moderne im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert kennzeichnet sich durch multiple Veränderungen der Lebenswelt. Angestoßen durch die Erfindung bürgerlicher Freiheit, fortschreitender kapitalistischer Wertzyklen und säkularer Lebensführung, durch die Auflösung ständischer Strukturen und die Ausdifferenzierung von Sozialgefügen nach Milieus und Schichten, Geschlecht und Herkunft, steht auch die Beschaffenheit der modernen Gesellschaft zur Debatte. Unter diesen Vorzeichen wird verhandelt, wer warum zu einem sozialen Gefüge gehört, wie sich dessen Mitglieder begegnen und inwiefern sie ein Kollektiv formen können. Insbesondere die bürgerliche Idee der Persönlichkeitsentfaltung verspricht Teilhabe und ist Zumutung zugleich. Sie verheißt die (vermeintliche) Freiheit, sich selbst auszugestalten und in der Welt zu verorten, verlangt dafür aber die Zurichtung des eigenen Selbst nach den Anforderungen der Ich-Identität. 1 Gibt sich die neu errungene Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts universal, folgt sie einer widerstreitenden Demarkationspolitik. Sie bedarf eines „ Außen “ , das in der eigenen ersten Natur, in Konzepten von Weiblichkeit, in proletarischen wie aristokratischen Praxen sowie in außereuropäischen Kulturen gefunden und rigide ausgeschlossen wird. 2 Während vereindeutigende Kategorien für eine bürgerliche Existenz entworfen werden, stehen diese Entwürfe permanent in Frage. Sie werden herausgefordert von der selbstgesetzten, aber utopischen Idee einer Körper-Seele- Kausalität und von alternativen Zugehörigkeitsangeboten, die sich parallel ausformen und die sich von der bürgerlichen Subjektgenese absetzen (bspw. Lebensreformbewegung, sexualreformerische Zusammenschlüsse), sie ergänzen (bürgerliche Frauenbewegung) oder proletarische (Arbeiter: innenbewegung) wie ethnische (Jüdische Renaissance; europäische Rezeption der Harlem Renaissance) Zugehörigkeiten entfalten. Zugleich arbeiten völkische, nationalistische und antisemitische Bewegungen an Phantasmagorien einer homogenen Gemeinschaft, in Abgrenzung zu den komplexen Gefügen einer westlich-europäischen Moderne. Um 1900 waren viele so einerseits mit dem eigenen Ich und seiner Ausgestaltung, andererseits mit der Frage konfrontiert, wie dieses „ Ich “ in Relation stand zu anderen, zu einem oder mehreren Kollektiven und zur modernen Gesellschaft insgesamt. Dabei sahen Menschen sich einer breiten Palette an Zugehörigkeitsangeboten gegenüber, mit denen wiederum eine Vielfalt von Techniken und Praktiken verbunden war. Der vorliegende Themenschwerpunkt widmet sich diesen Zugehörigkeitsangeboten sowie ihren Techniken und Praktiken als Performances of Belonging, in Anlehnung an das ‚ belonging ‘ -Konzept nach der Historikerin Levke Harders (2022), 3 das im Zentrum eines Workshops an der Universität Wien im Herbst 2022 stand. Dessen hier nun vorliegende Ergebnisse befragen in Einzelstudien Harders ’ Modell aus theaterwissenschaftlicher Perspektive, mit einem Fokus auf die europäische Moderne um 1900. Harders formuliert ihre Überlegungen zu ‚ belonging ‘ einerseits innerhalb intersek- Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 91 - 99. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0007 tionaler und interdependenter Forschungstraditionen, die aus dem Schwarzen Feminismus heraus auch Verortungen von (hybrider) Latinidad und Jewishness sowie südosteuropäische Situierungen berücksichtigten und dabei auch fragten, inwiefern diese über die Kategorie Race marginalisiert wurden. 4 Andererseits akzentuiert Harders aus ihren Forschungen zu Arbeitsmigrant: innen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts heraus die Kategorie Class mit ihren transitorischen und prozessualen An- und Ausschlüssen. 5 Beide Situierungen machen Harders ’ Ansatz potentiell anschlussfähig für die aktuelle theaterhistoriografische Arbeit, die sich, stärker als Analysen des Gegenwartstheaters, der Frage nach der Historizität intersektionaler Ansätze und ihrer Terminologie stellen muss. 6 Zugleich verlangt die Anwendung eines angloamerikanisch verorteten Theoriekorpus ’ auf europäische Diskurse die Reflexion der spezifisch innereuropäischen Mechanismen der Ausgrenzung. 7 Diese Mechanismen lassen sich mit Harders ’ Modell - so die Arbeitsthese des Workshops 2022 - theaterhistoriografisch präziser fassen und befragen. Dieser Themenschwerpunkt geht entsprechend davon aus, dass sich Gesellschaft und Kultur praxeologisch ausformen und so insbesondere in performativen wie theatralen Praktiken fass- und beschreibbar werden. 8 Er fragt, wie Performances - verstanden als Bündel performativer und theatraler Praktiken - an der (Neu-)Ordnung sozialer Strukturen der europäischen Moderne mitarbeiten und Nicht-/ Zugehörigkeiten aushandeln. Dass diese Aushandlungen auf vielfältigen Bühnen von Großstädten und Provinzen, in Szenen des öffentlichen Lebens wie in Hof- und Privattheatern stattfanden, das zeigen die Beiträge des Schwerpunkts, die zudem verschiedene Zeit/ Räume in den Blick nehmen. Drei der hier versammelten sechs Beiträge befassen sich mit der späteren Donaumonarchie. Dieser geografische und zeitliche Fokus war nicht gesetzt. Dass er sich dennoch herausgebildet hat, ist in zweifacher Hinsicht signifikant für dieses Heft. Zum einen bildet er implizit (Forschungs) Zugehörigkeiten der Mitwirkenden ab, die mehrheitlich weiß 9 und europäisch gelesen werden, aber gleichzeitig divergierende Demarkierungen entlang der Kategorien Nation, Sprache, Religion, Gender und Klasse mittragen. Zum anderen verweist die geografische und historische Konzentrierung auf die Schlüsselrolle der Donaumonarchie und ihrer Bühnen als Scharnier in der Aushandlung innereuropäischer Zugehörigkeiten. Verlangte doch die Struktur des Vielvölkerstaats nach einer permanenten Auseinandersetzung über die Zugehörigkeit und Hierarchisierung verschiedener Nationalitäten, Glaubensgruppen, Sprachen und Lebensweisen; ebenso bedingte sie die Aushandlung von Ost/ West-Achsen (die Debatten um sogenanntes ‚ Ost- und Westjudentum ‘ 10 sind exemplarisch hierfür). Wobei allerdings gerade die Binarisierung dieser Zugehörigkeiten strukturelle Ungleichheit konstruiert(e) - wie auch Harders eingehend mit Martina Kessel konstatiert. 11 Der Schwerpunkt versammelt in weiteren drei Beiträgen zusätzlich europäische Perspektiven für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert, fragt aber auch nach der Kontinuität intersektionaler Dynamiken im Theater der Gegenwart. Die verschiedenen geografischen Orte und sozialen Räume der beforschten Performances laden - in der Zusammenschau - schließlich dazu ein, die europäische Moderne in ihren Verflechtungen zu denken, ohne die Kontextgebundenheit der Materialien und ihre jeweilige Gewordenheit zu vernachlässigen. Die Beiträge beforschen entgegen eindeutiger und fixer Zuschreibungen u. a. die theatrale Konstruktion einer „ Volksgemeinschaft “ im Wiener Vorstadttheater post 1848, die Verquickungen von militärischer Männlichkeit 92 Anke Charton / Theresa Eisele und imperialer Kulturpolitik an der habsburgischen und kroatischen Adria sowie Inszenierungsstrategien der Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich mit ihren Ein- und Ausschlüssen. Sie fragen, inwiefern Grete Wiesenthals Tänze als Inbegriff des „ Wienerischen “ adressiert wurden und stellen die Rassifizierung von Atem in der Körper- und Tanzreform der Moderne fest. Die Analyse der Produktion Justitia! am brut Wien eröffnet den Themenschwerpunkt mit einer Perspektive aus der Gegenwart heraus und auf aktuelle Diskussionen um die Performativität von Zugehörigkeit. Zugehörigkeit als Analysekategorie Den theoretischen wie methodischen Nenner der Positionen bilden die Arbeiten von Levke Harders zu Zugehörigkeit/ ‚ belonging ‘ . 12 Harders, Professorin für Geschlechtergeschichte an der Universität Innsbruck, pointierte ihre Forschungen auf dem Deutschen Historiker: innentag 2021, wobei sie vorschlug, Zugehörigkeit als „ Kategorie historischer Analyse “ 13 zu denken. Im Rekurs auf Arbeiten von Floya Anthias, Joanna Pfaff-Czarnecka und Nira Yuval-Davis reagierte Harders Vorschlag erstens auf die langjährige Kritik am Begriff der Identität 14 und zweitens auf die Tatsache, dass Sozialgefüge der Moderne multipel erfahrbar, intersektional verwoben und dynamisch strukturiert sind, dass sie sich also nicht in binären Oppositionen oder einfachen Zuschreibungen erschöpfen. Während der Begriff Identität Gefahr läuft, Zuschreibungen zu reifizieren sowie die Erfahrungen von Personen und Kollektiven zu verengen, betont ‚ belonging ‘ , dass die Teilhabe von Einzelnen an sozialen Gefügen stets situiert, prozesshaft und plural ist. Soziale Erfahrungen sind geprägt von Mehrfachzugehörigkeiten ( ‚ multiple belongings ‘ ), informellen Entscheidungen und formellen Strukturen, von sozialen Selbstpositionierungen und politischen Setzungen. Innerhalb der Intersektionalitätsforschung selbst wird die Kategorienbildung von Zugehörigkeiten, die erst jene ‚ Straßen ‘ definiert, die dann die vielzitierte ‚ Kreuzung ‘ ( ‚ intersection ‘ ) bilden können, durchaus als mögliche Verfestigung problematisiert, die z. B. durch Interdependenzen flexibler beschreibbar sei, 15 was wiederum Teil der grundsätzlichen Debatte um Intersektionalität als theoretischen Zugriff auf interdependente Phänomene ist. Die globale Verbreitung eines Konzeptes, das einer konkreten politischen Situation entstammt, bedeutet - zumal bei einer Etablierung im Zentrum akademischer Debatten - immer auch eine Depolitisierung, selbst wenn international auf Grund des theoretischen Ansatzes andere Politisierungen erst möglich werden. 16 Eine parallele Debatte lässt sich gegenwärtig am Konzept von Dekolonisation beobachten, deren Ausgangspunkt - Landrückgaben in einem lateinwie auch gesamtamerikanischen Kontext - in der Pluralität globaler Anwendungen und Anrufungen in den Hintergrund getreten ist, ohne sein politisches Ziel bislang erreicht zu haben. 17 Dieser Grundkonflikt der Internationalisierung situationsspezifischer, politischer Konzepte ist kein gelöster; er ist, um nochmals auf Harders ’ Lektüre von Kassel zurückzukommen, auch nicht auf eine bloße Opposition reduzierbar. Er muss vielmehr in Evidenz gehalten werden, um einer Verunsichtbarung politischer Wurzeln wie auch Einhegung von Konzepten entgegenzuwirken, die explizit gegen die weiterbestehenden Ausschlussmechanismen einer sozialen Hegemonie, die sie appropriiert, entwickelt wurden. Wie sehr dabei ein Konzept wie Intersektionalität, das global vorrangig über Gender und Race rezipiert wird, 18 auch weitere Politisierungen tragen kann, wird nicht zu- 93 Editorial - Performances of Belonging. Verflechtungen von Theater, Gesellschaft und Moderne letzt in bell hooks ’ Plädoyer für eine verstärkte Hinwendung zu Class deutlich; 19 ebenso wie in der gegenwärtigen theoretischen Arbeit der Crip Studies oder Trans Studies. 20 Sie erlaubt ein wachsendes, plurales Denken an Schwellenübergängen von Ungleichheit und Diskriminierung, jeweils ebenso spezifisch wie auch die Genese des zugrunde liegenden Konzepts. Yuval-Davis, als wichtige Impulsgeberin auch für die Arbeit von Harders, verknüpft ein intersektionales ‚ belonging ‘ gegenüber einer Entität der Grenze 2011 mit Konzepten von Nation, Spiritualität, Sorge und Staatsbürgerschaft. Deren Dynamiken sind wiederum zentral für die Herausbildung von Ungleichheiten auch durch die (Selbst)Inszenierungen einer europäischen Moderne, wie sie in diesem Schwerpunkt diskutiert werden. Diese Prozesse fasst Harders mit einem intersektional grundierten Konzept von Zugehörigkeit, in dem Formen von ‚ belonging ‘ , ‚ non-belonging ‘ und ‚ unbelonging ‘ ineinandergreifen und in dem stets neu zur Aushandlung steht, wer zu welchen Teilen von wem wie als zugehörig erkannt wird. ‚ Belonging ‘ ist so an größere Strukturen und Diskurse, zugleich aber auch an Handlungen und Praktiken Einzelner gebunden; ‚ belonging ‘ bedeute daher, so bilanziert Levke Harders, ein ‚ doing belonging ‘ , „ denn Zugehörigkeit wird (immer wieder) hergestellt, ist dynamisch und prozessual. “ 21 Gerade diese praxeologische Dimension von Zugehörigkeit ist aus theater- und performancetheoretischer Perspektive und in Bezug auf theatrale und performative Praktiken besonders relevant. Wir möchten daher die Analysekategorie ‚ belonging ‘ - die bisher hauptsächlich in den Sozial- und Geschichtswissenschaften diskutiert wurde - aufgreifen und aus theatertheoretischer Perspektive konturieren. Im Sinne einer Grounded Theory gehen die Fallstudien des Themenschwerpunkts hierfür von den historischen Subjekten, Strukturen und Materialien aus, um theoretische und methodische Schlüsse zu ziehen. Der Themenschwerpunkt soll dabei keine letztgültigen Ergebnisse, sondern Einzelstudien hinsichtlich der Frage vorstellen, inwiefern Zugehörigkeit theatral und performativ hergestellt, affirmiert oder entzogen wurde. Einige methodische Aspekte und theoretischen Herausforderungen, die sich daraus für die theaterwissenschaftliche und -kulturhistorische Anwendung von ‚ belonging ‘ ergeben, möchten wir vorab herausstellen. Performance- und theatertheoretische Perspektiven Während sich die praxeologische Dimension von ‚ belonging ‘ - ihre konkrete Konstruktion, performative Herstellung oder theatrale Verhandlung - für eine theaterwissenschaftliche Analyse geradezu anbietet, bedarf es eines ganzen Methodensets und der Schärfung dieses Sets am jeweiligen Gegenstand, um ‚ belonging ‘ als Analysekategorie fruchtbar zu machen. Nicht-/ Zugehörigkeit wird sinnlich-leiblich, ebenso aber diskursiv verhandelt und etwa entlang von konkreten Regeln und Gesetzen vollzogen. Damit operiert die Beschäftigung mit ‚ belonging ‘ methodisch auf verschiedenen Ebenen: auf Ebene der Diskurse, die nicht auf einen faktischen Wahrheitsgehalt, sondern auf ihr Wirkpotential hin beforscht werden; 22 auf Ebene der körperlich-leiblichen, sinnlichen Praktiken, die in ihrer materiellen Dimension nachvollzogen werden, und die auf Individuen oder auf Inszenierungsstrategien von Kollektiven zentrieren; sowie auf Ebene der Gesetzgebung, Vorgaben und Regeln einer Gesellschaft, die nach den Strukturen und Ordnungen fragt, anhand derer sich eine Gesellschaft samt ihrer Ein- und Ausschlüsse konstituiert. 94 Anke Charton / Theresa Eisele Die in diesem Schwerpunkt versammelten Beiträge konzentrieren sich dabei auf Zugehörigkeiten in Bezug auf Gender, Class und Race, deren Verflechtungen vorrangig sichtbar werden vor dem Hintergrund europäischer Zuordnungsgefälle, wie etwa das von Barbara Babic´ herausgearbeitete changierende Image kroatischer Männlichkeit zwischen einem religiösen und habsburgischen ‚ belonging ‘ und einem orientalisierenden ‚ un-belonging ‘ in Die Kroaten in Zara. 23 Ebenso verweisen Friederike Oberkrome und Lotte Schüßler auf die Weiterführung kolonialistischer Zerrbilder und konservativer Sexualpolitik in den auch durch das Theater vorangetriebenen (und zugleich progressiven) Emanzipationsbestrebungen einer deutschen und globalwestlichen Frauenbewegung. 24 Von den sechs Beiträgen widmen sich zwei zentral den verschränkten ‚ belongings ‘ von Class und Gender (Niederwimmer, Oberkrome/ Schüßler); zwei fokussieren ‚ belonging ‘ und ‚ unbelonging ‘ entlang Verflechtungen von Race und Gender (Ostwald, Sacher), während zwei weitere die gegenseitige Konstitution von Gender und ethnischen, regionalen und nationalen Zugehörigkeiten befragen (Babic´, Linhardt). Diese Zuordnung ist jedoch weder erschöpfend noch fix, ganz im Sinne prozessualer ‚ belongings ‘ . Ebenso ließen sich Gemeinsamkeiten der Ethnostereotypisierung durch die Naturalisierung von Körperpolitiken als Embodiment (Linhardt, Ostwald), oder der Konstruktion von Nation über klassenhierarchische Geschlechterbilder (Babic´, Niederwimmer) feststellen. Auch die Analyse, dass emanzipatorisch intendierte Bühnenmittel ‚ belonging ‘ fixieren, Fluidität unsichtbar oder schwerer artikulierbar machen können, durchzieht mehrere Beiträge (Oberkrome/ Schüßler, Sacher). Das Zusammenspiel verschiedener ‚ belongings ‘ lässt sich etwa im Beitrag von Friederike Oberkrome und Lotte Schüßler nachvollziehen, die von zwei Theaterproduktionen der Frauenbewegung des Deutschen Kaiserreichs berichten. Beide Produktionen verhandeln Barrieren, denen Frauen im Arbeitsleben begegneten, wobei Oberkrome und Schüßler die Produktionen als zugehörigkeitsstiftende Praktiken der Frauenbewegung ausdeuten, die diskursiv adressiert wurden und die aus formalen Strukturen erwachsen waren, wobei sie auch über diese Strukturen verhandelten. So leistete das Drama Der Kampf der Frau (1896) etwa Aufklärungsarbeit über Gesetzeslagen und Rechte von Frauen im Arbeitsleben. Zugleich gilt es, das Wechselverhältnis zwischen historischen Akteur: innen und Gruppenzugehörigkeiten zu bestimmen, ohne ein binäres Verhältnis anzunehmen; gleichfalls Kollektive nicht als homogene Entitäten zu denken, in die sich Einzelne bruchlos einfügen. Die Annahme eines homogenen Kollektivs ist theaterwissenschaftlich etwa für die Publikumsforschung problematisiert worden, was Lisa Niederwimmer in ihrem Beitrag zum Wiener Vorstadttheater aufgreift. In ihrer Analyse der Zugehörigkeitsangebote der Theaterproduktion Liebe zum Volke (1850) fragt Niederwimmer nach der Publikumsstruktur der Produktion und nuanciert, wie dieses rezeptionsseitig als homogen behauptet wurde, de facto aber sozioökonomisch, innerbetrieblich und politisch ausdifferenziert gewesen sein könnte. Zugleich zeugt ihre Studie vom affektiven Potential von Theater, das abstrakte Ideen mit Leben füllt, und das auch Barbara Babic´ in ihrem Beitrag zum Thema macht: Die Theaterproduktion Die Kroaten in Zara (1813/ 14) dient mit Babic´ der affektiven Aufladung abstrakter Ideen von imperialer Treue und Patriotismus, wobei die vereinfachende, von außen vorgeschriebene Zugehörigkeitsbehauptung zu einem sich stetig wandelnden „ Vaterland “ auf der Figurenebene zuweilen bloße Behauptung bleibt. 95 Editorial - Performances of Belonging. Verflechtungen von Theater, Gesellschaft und Moderne Dass die vorschnelle Annahme von homogenen Kollektiven und widerspruchsfreien Akteur: innen darüber hinaus vielmehr historische Ideen denn tatsächliche Gegebenheiten aktualisiert, das zeigt Julia Ostwald auf. Ihre Studie zu respirativen Zugehörigkeiten beforscht, wie das Atmen im Modernen Tanz und Delsartismus tendenziell naturalisiert, homogenisiert und national aufgeladen wurde. Dem setzt Ostwald eine intersektionale Analyse entgegen, die die Essentialisierungstendenzen der Moderne erst offenlegen und pluralisierend korrigieren kann. Die historiografische Erarbeitung eines solchen pluralen, relationalen und dynamischen Gefüges an Akteur: innen mit verschiedensten Zugehörigkeiten, Ausschlüssen und Anliegen ist dabei auch eine erzähltheoretische und dramaturgische Aufgabe. Die Beiträge des Bandes finden hierfür verschiedene Strategien, wie etwa die verdichtende Kombination mikrohistorischer Tanz-, Bild- und Diskursanalysen (Linhardt), der Vergleich zweier Theaterproduktionen und ihrer divergenten, aber ähnlichen Potentiale (Oberkrome/ Schüßler) oder die Spiegelung historischer Tanzpraktiken mit einer Filmbzw. Tanzproduktion aus dem Jahr 2021 (Ostwald). Die Spiegelung macht die gewählten Materialien in ihrer jeweiligen Situiertheit sicht- und beschreibbar, so Ostwald: „ Wer in Aufführungssituationen, wo und wie atmet, macht [. . .] einen Unterschied. “ Ostwald fragt damit nach der Positionalität von Akteur: innen wie nach der Beschaffenheit von Zugehörigkeitsbehauptungen, -darstellungen und -konstruktionen. Fragen nach Positionalität und Beschaffenheit durchziehen den Themenschwerpunkt insgesamt. Die Positionalität von Akteur: innen diskutiert auch Anna Sacher, die sich der zeitgenössischen Performance Justitia! Identity Cases widmet (brut 2022, R: Gin Müller). Justitia! inszeniert einen Gerichtsprozess um die Identität einer Aktivistin, die sich als lateinamerikanische ‚ indígena ‘ ausgibt, bzw. von einer selbst angenommenen Zugehörigkeit ausgeht. Das performativ hergestellte ‚ belonging ‘ wird von den anderen Protagonist: innen als kategorisches ‚ nonbelonging ‘ gelesen, was an Fragen zu Positionalität und Privileg in Rezeptionsprozessen einerseits, zum Verhältnis von ‚ doing belonging ‘ und ‚ being made to belong ‘ andererseits anknüpft. Daneben stellen die Beiträge implizit wie explizit die Beschaffenheit - also das wo und wie - , von Zugehörigkeitsprozessen ins Zentrum und stoßen dabei auf die Verschränkung von theatraler Form und ‚ belonging ‘ . Genre und Genrekonnotationen sind etwa eine weitere Ebene, auf der Zugehörigkeit signalisiert und verhandelt wird. Das zeigt sich im „ Volksstück “ von Carl Elmar, das Arbeiter: innen nur als bürgerliche Projektionsfläche eine Bühne gewährt. Gleichfalls argumentiert Linhardt in ihrem Beitrag, wie die Tänzerin Grete Wiesenthal in Wien um 1900 zwischen Hofopernballett und Freiem Tanz, Wiener Walzer und Film die künstlerischen Register und mit ihnen die Zugehörigkeiten wechselt oder festigt. Im genauen Nachvollzug des Wo und Wie von Wiesenthals Tänzen zeigt Linhardt, dass dem „ Wiener Walzer “ eine zentrale Funktion für die Ineins-Setzung Wiesenthals mit dem „ Wienerischen “ zukommt. Die Überblendung Wiesenthals erreicht im Zuge des Ersten Weltkriegs ihren Höhepunkt, so dass hiervon oder von weiteren Beispielen des Schwerpunkts ausgehend gefragt werden kann, inwiefern Zugehörigkeit besonders in Krisenmomenten behauptet, aktualisiert und zugeschrieben wird. 25 Babic´ ’ Beitrag fokussiert in diesem Sinn auf das Jahr 1813/ 14, ab dem die Habsburgermonarchie die Adriaregion dominiert, und verweist auf Mobilität (auf theatrale oder kriegerische Mobilität im Dienst der Monarchie) als Movens von Zugehörigkeitsprozessen. Da- 96 Anke Charton / Theresa Eisele neben zeigt die Theaterproduktion Justitia! , wie sehr Momente historischen Wandels auch eine Schärfung des Begriffs wie des methodischen Zugriffs darauf zeitigen. Die Arbeit mit und an einer in diesem Sinn lebendigen Analysekategorie ist Ziel und Anliegen des Themenschwerpunkts. Für die Diskussion dieser Anliegen, die Arbeit am Themenschwerpunkt und die vielen Anregungen zum hoffentlich gemeinsamen Weiterdenken danken wir allen Autor: innen und Workshopteilnehmer: innen, ebenso den beiden anonymen Reviews für konstruktive Anmerkungen. Die fortgesetzte Befragung von ‚ belonging ‘ / Zugehörigkeit als Instrument historiografischer Arbeit ist nicht zuletzt deswegen relevant, da - wie Sachers Analyse von Justitia! (2022), ebenso Ostwalds Beispiel Still not Still (2021) zeigt - , die intersektionalen Problemstellungen, die mit historischen Zugehörigkeitspraxen, -diskursen und -strukturen verbunden sind, nach wie vor nicht gelöst sind und zudem notwendigerweise aus einer Gegenwart heraus artikuliert und beforscht werden, die gleichfalls diskriminierend und hierarchisch geprägt ist. Anmerkungen 1 Vgl. Philipp Sarasin, „ Die Kinder der Moderne “ , in: Geschichte der Gegenwart, 16. Januar 2019, https: / / geschichtedergegenwart.c h/ die-kinder-der-moderne/ [Zugriff am 13.7.2023]. 2 Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann, „ Einleitung. Zur Historisierung bürgerlicher Werte “ , in: Dies. (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 7 - 22; Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Berlin 2020. 3 Levke Harders, „ Zugehörigkeit als Kategorie historischer Analyse “ , in: Hypotheses/ Geschichtstheorie am Werk, 25.1.2022, https: / / gtw.hypotheses.org/ 1942 [Zugriff am 13.7.2023]. 4 Unter den grundlegenden Texten des Intersektionalitätskonzepts innerhalb des Schwarzen Feminismus s. insbes. Combahee River Collective, „ The Combahee River Collective Statement (1977) “ , in: Breanne Fahs (Hg.), Burn It down! Feminist Manifestos for the Revolution, London; New York 2020, S. 271 - 280; in deutscher Übersetzung in Natasha Kelly (Hg.), Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, Münster 2019, S. 49 - 62. Zum historischen Kontext des Combahee River Collective s. Keeanga-Yamahtta Taylor (Hg.), How We Get Free: Black Feminism and the Combahee River Collective, Chicago 2017. S. ebenso Frances M. Beal, „ Double Jeopardy: To Be Black and Female “ , in: Toni Cade Bambara (Hg.), The Black Woman: An Anthology, New York, 1979, S. 90 - 100; Kimberlé Crenshaw, „ Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics “ , in: University of Chicago Legal Forum 1 (1989), S. 139 - 67; Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment, New York 2000. Zu Latinidad und Hybdridität vgl. exemplarisch Gloria Anzaldúa, Borderlands. The New Mestiza, San Francisco 2012; für Perspektivierungen in Hinblick auch auf jüdische Indentität und Südosteuropa s. Nira Yuval-Davis, The Politics of Belonging: Intersectional Contestations, Los Angeles 2011 und Floya Anthias, Translocational Belongings: Intersectional Dilemmas and Social Inequalities, Abingdon; New York 2021. 5 S. Levke Harders, „ Migration und Biographie. Mobile Leben beschreiben “ , in: ÖZG (Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften) 29/ 3 (2018), S. 17 - 36 sowie Levke Harders, Margit Fauser, Anne Friedrichs, „ Migrations and Borders: Practices and Politics of Inclusion and Exclusion in Europe from the Nineteenth to the Twenty- First Century “ , in: Journal of Borderlands Studies 34/ 4 (2019), S. 483 - 88. 97 Editorial - Performances of Belonging. Verflechtungen von Theater, Gesellschaft und Moderne 6 Zu denken wäre hier etwa an die theaterbezogenen Forschungen mit Bezug auf Geraldine Hengs Historisierung von Race als intersektionaler Kategorie, s. Geraldine Heng, The Invention of Race in the European Middle Ages, Cambridge 2018. Während eine philologisch grundierte Shakespeareforschung im angloamerikanischen Raum hier in den letzten Jahrzehnten Pionierarbeit auch für theaterwissenschaftliche Perspektiven geleistet hat, erfahren diese Ansätze gegenwärtig theaterhistoriografisch relevante Impulse u. a. aus der anglistischen und romanistischen Philologie sowie der Geschichtswissenschaft (vgl. Kim F. Hall, Things of Darkness: Economies of Race and Gender in Early Modern England. Ithaca [NY] 2018; Joyce Green MacDonald, Shakespearean Adaptation, Race and Memory in the New World. Palgrave Shakespeare Studies. London 2021; Ayanna Thompson, The Cambridge Companion to Shakespeare and Race. Cambridge 2021; Noémie Ndiaye, Scripts of Blackness: Early Modern Performance Culture and the Making of Race, Philadelphia 2022; Rosa García-Periago / Sangeeta Datta / Mark Thornton Burnett / Thea Buckley (Hg.), Women and Indian Shakespeares, London 2022; Miguel A. Valerio Sovereign Joy: Afro-Mexican Kings and Queens, 1539 - 1640. Cambridge 2022. 7 Zum anti-osteuropäischen Rassismus vgl. die Arbeiten von Aleks Lewicki sowie die bei Anna Triandafyllidou und Willfried Spohn zusammengetragenen Positionen: Aleksandra Lewicki, „ East-West Inequalities and the Ambiguous Racialisation of ‘ Eastern Europeans ’“ , in: Journal of Ethnic and Migration Studies 49/ 1 (2023), S. 1 - 19; Willfried Spohn / Anna Triandafyllidou (Hg.), Europeanisation, National Identities, and Migration: Changes in Boundary Constructions between Western and Eastern Europe, London, New York 2003. 8 Vgl. zu dieser Annahme auch Matthias Warstat, Soziale Theatralität. Die Inszenierung der Gesellschaft, Paderborn 2018; Rudolf Münz, Aldilà Teatrale. Konzeptionsentwurf für Studien zu Theatralitätsgefügen, in: Ders. / Gisbert Amm (Hg.), Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, Berlin 1998, S. 273 - 288; Stefan Hulfeld/ Theresa Eisele, „ Theatralität als historiografische Methode “ , in: TFMJ. Journal for Theater, Film, and Media Studies (2023), H. 3 - 4, S. 37 - 63. 9 Zur Kursivierung von weiß s. Noah Sow, „ weiß “ , in Susan Arndt / Nadja Ofuatey- Alazard (Hg.), Wie Rassismus aus Wörtern spricht: (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 2015, S. 190 - 91 10 Vgl. exemplarisch Steven E. Aschheim, Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800 - 1923, Madison, Wis., 1982. Ders. hat auch grundsätzlich zur praxeologischen Dimension des Eintritts von Juden und Jüdinnen in eine (von ihnen mitgestaltete) bürgerliche Gesellschaft publiziert: „ Reflections on Theatricality, Identity, and the Modern Jewish Experience “ , in: Jeanette R. Malkin / Freddie Rokem (Hg.), Jews and the Making of Modern German Theatre, Iowa City 2010, S. 21 - 38. 11 Vgl. Harders, „ Zugehörigkeit “ , https: / / gtw. hypotheses.org/ 1942 [Zugriff am 13.7.2023], mit Verweis auf Martina Kessel, Die Moderne, die es nie gab. Identität als Makrostruktur moderner Gesellschaften. Unveröffentlichtes Manuskript 2021. 12 Vgl. exemplarisch zur Beschäftigung Harders mit ‚ belonging ‘ : Dies. / Bettina Brockmeyer, „ Questions of belonging. Some introductory remarks “ , in: InterDisciplines 1 (2016), S. 1 - 7; Dies., Mobility and belonging. A printer in nineteenth century Northern Europe, in: ebd., S. 88 - 114; Dies., „ Belonging, Migration, and Profession in the German-Danish Border Region in the 1830 s “ , in: Journal of Borderlands Studies 34 (2019), H. 4, S. 571 - 585. 13 S. erneut Harders, „ Zugehörigkeit “ , https: / / gtw.hypotheses.org/ 1942 [Zugriff am 13.7.2023]. 14 Prominent bereits 2000 vertreten von Rogers Brubaker/ Frederick Cooper, „ Beyond ‚ Identity ‘“ , in: Theory and Society 29 (2000), H. 1, S. 1 - 47. Stuart Hall nimmt hingegen eine Kritik sowie teilweise Rehabilitation des 98 Anke Charton / Theresa Eisele Identitätsbegriffs vor: Stuart Hall, „ Who needs identity? “ , in: Ders./ Paul du Gay (Hg.), Questions of Cultural Identity, London 2016, S. 1 - 17. 15 S. u. a. lann hornscheidt, „ entkomplexisierung von diskriminierungsstrukturen durch intersektionalität. “ http: / / portal-intersektio nalitaet.de/ uploads/ media/ Hornscheidt_Lan n_Intersektionalita%CC%88t_Entkomplexi sierung.pdf [Zugriff am 28.6.2024] 16 Vgl. die Argumentation bei Patricia Hill Collins, Valerie Chepp, “ Intersectionality ” , in: Georgina Waylen / Karen Celis / Johanna Kantola / S. Laurel Weldon (Hg.), The Oxford Handbook of Gender and Politics. Oxford 2013, S. 57 - 87, hier S. 58 - 59. 17 S. beispielhaft Silvia Rivera Cusicanqui, “ Ch ’ ixinakax Utxiwa: A Reflection on the Practices and Discourses of Decolonization ” , in: South Atlantic Quarterly 111/ 1 (2012): S. 95 - 109 und Suhraiya Jivraj, Sandeep Bakshi, Silvia Posocco, “ Decolonial Trajectories: Praxes and Challenges ” , in; Interventions 22/ 4 (2020), S. 451 - 63; mit Fokus auf Theaterhistoriografie bzw. Theaterwissenschaft s. ferner Rashna Darius Nicholson, “ Decolonization and Theatre History ” , in: New Theatre Quarterly 39/ 4 (2023), S. 355 - 76 sowie Azadeh Sharifi / Lisa Skwirblies (Hg.), Theaterwissenschaft postkolonial/ dekolonial. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2022. 18 Diese Akzentuierung spiegelt eventuell auch die Adaption in sozial gut situierte, überwiegend weiße akademische Milieus wider; ungeachtet ihrer ist Class zentraler, intersektionaler Impuls Schwarzer Feminismen, tradiert auch in Crenshaws dann international breit rezipierter, juristisch perspektivierter Kritik (s. Anm. 4). 19 bell hooks, Where We Stand: Class Matters. New York 2000. 20 S. zur Debatte in den Trans Studies u. a. Cole Rizki, “ Latin/ x American Trans Studies: Toward a Travesti-Trans Analytic ” , in: Transgender Studies Quarterly 6/ 2 (2019), S. 145 - 55; Kadji Amin, “ Whither Trans Studies? : A Field at a Crossroads ” , in: TSQ: Transgender Studies Quarterly 10/ 1 (2023), S. 54 - 58; Persson Perry Baumgartinger, Trans studies: historische, begriffliche und aktivistische Aspekte, Wien 2017; Susan Stryker, The Transgender Studies Reader 1, New York u. a. 2006. Zur Debatte in den Crip Studies s. u. a. Mara Mills, Rebecca Sanchez, Crip Authorship: Disability as Method, New York [NY] 2023; Robert McRuer, Crip Times: Disability, Globalization, and Resistance. New York 2018; Mikael Mery Karlsson, Jens Rydström, “ Crip Theory: A Useful Tool for Social Analysis ” , in: NORA: Nordic Journal of Women ’ s Studies 31/ 4 (2023), S. 395 - 410; Sarah Jaquette Ray / Jay Sibara (Hg.), Disability Studies and the Environmental Humanities: Toward an Eco- Crip Theory. Lincoln [NE], 2017. 21 Harders, „ Zugehörigkeit “ , https: / / gtw.hypo theses.org/ 1942 [Zugriff am 13.7.2023]. 22 Vgl. Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2018; Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2018. 23 Vgl. den Beitrag in diesem Heft von Barbara Babic´, „ Longing to Belong: Performing Habsburg Loyalty across Zara, Vienna, and Zagreb c. 1814. “ 24 Vgl. den Beitrag in diesem Heft von Friederike Oberkrome und Lotte Schüßler, „ Die Frauenbewegung in Kulturbild und Sozialdrama. Inszenierungen der Teilhabe kurz vor 1900 “ , S. 156, FN 12, S. 159, FN 57. 25 Dieser Annahme gehen bereits Levke Harders und Bettina Brockmeyer nach: „ Questions of belonging. Some introductory remarks “ , in: InterDisciplines 1 (2016), S. 1 - 7, hier S. 4. 99 Editorial - Performances of Belonging. Verflechtungen von Theater, Gesellschaft und Moderne Performative Zugehörigkeiten. Levke Harders ’ ‚ doing belonging ‘ in Justitia! Identity Cases (2022) Anna Sacher (Wien) Die Geschichtswissenschaftlerin Levke Harders brachte mit ‚ belonging ‘ eine Erweiterung zum Begriff der Identität in die Debatte ein. Das auf Prozesshaftigkeit basierende Konzept zielt jenseits essentialisierender Zuschreibungen auf Aspekte individueller sowie gemeinschaftlicher Agency ab. Die insbesondere mit ‚ doing belonging ‘ stark gemachte, performative Dimension von sozialen Prozessen wird in diesem Beitrag mit Gin Müllers künstlerischpraktischer Arbeit Justitia! Identity Cases (2022) enggeführt. Methodisch werden im Rahmen einer Aufführungsanalyse die theatralen Marker von Rolle, Setting und Partizipation untersucht. Dabei wird die Frage nach den Grenzen eines ‚ doing belonging ‘ aufgeworfen, sowie danach, wer an der eigenen Konstruktion von ‚ belonging ‘ teilhaben kann. Harders ’ Konzept birgt, so die Hypothese, das Potential, einerseits persönliche und gemeinschaftliche Zugehörigkeit in Abgrenzung zu festgeschriebenen Identitätsmarkern zu erzeugen und andererseits Grenzen von Agency aufzuzeigen, die diskriminierende Strukturen aufrechterhalten. Der Geschichtswissenschaftler Valentin Groebner kocht sich 2022 einen „ Identitee “ , klagt über zähen „ Identiteer “ 1 und ist damit nicht alleine. 2021 fand das Wiener Literaturfestival unter dem Titel Identissimo (oder anderes gleich) statt und hatte zum Ziel, den Begriff der Identität auseinanderzunehmen und in seinen verschiedensten Dimensionen zu untersuchen. 2 Im gleichen Jahr erlangte Mithu Sanyals Roman Identitti Aufmerksamkeit. 3 Er reiht sich dabei nicht nur in vielseitige Wortspiele ein, sondern erweitert den deutschsprachigen Diskurs um Identität und Identitätspolitiken um eine neue Komponente. Sanyal lenkt mit ihrer Geschichte über eine Professorin an einer deutschen Universität, die sich nicht nur privat als Woman of Color ausgibt, sondern so auch als Wissenschaftlerin profiliert und schließlich als weiße Frau enttarnt wird, den Blick, ähnlich den Debatten um Geschlecht, auf Race als Bestandteil von Identitätskonstruktion. Sie wirft damit Fragen auf, was Selbst- und was Fremdzuschreibungen für eigene Zugehörigkeiten bedeuten und wie Identität in intersektionalen und postkolonialen Diskussionen verortet und verunsichert werden kann. Auch wenn Identitti vor allem ein gesellschaftspolitisches Gedankenspiel vornimmt, ist der Fall nicht aus der Luft gegriffen. Ende 2020 wurde beispielsweise die Selbstinszenierung der Influencerin Hilaria Baldwin kurzzeitig zum medialen Skandal. So stellte sich heraus, dass Baldwin seit Jahrzehnten vorgab Spanierin zu sein, mit spanischem Akzent sprach und auf Nachfrage erzählte, sie sei auf Mallorca geboren. Tatsächlich wurde sie in Massachusetts als weiße Amerikanerin geboren und ihr Geburtsname lautet Hillary. 4 In der Performance Justitia! Identity Cases unter der Regie und Konzeption von Gin Müller werden solche Aspekte der Identitätskonstruktion unter dem Begriff ‚ trans-race ‘ in künstlerisch-praktischer Herangehensweise erforscht. Justitia! wurde im November 2022 im brut Wien uraufgeführt. Das brut ist als freie Produktions- und Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 100 - 113. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0008 Spielstätte in Wien ein bekannter Standort für die Performance- und Tanzszene im deutschsprachigen Raum. Justitia ist der erste Teil eines vierjährigen Rechercheprojekts von Gin Müller, Wiener Theaterwissenschafter: in, Performer: in und Queer-Aktivist: in, das im Rahmen des Vereins zur Förderung der Bewegungsfreiheit initiiert wurde. 5 Die Performance Justitia! Identity Cases setzt an den theatralen Dimensionen des Gerichts an und inszeniert einen fiktiven Gerichtsprozess um eine der Protagonist: innen im Spannungsfeld von Selbstinszenierung und Aneignungsvorwürfen innerhalb der ‚ trans-race ‘ -Debatte. Indem über „ wahre “ Identitäten geurteilt werden soll, wird innerhalb der Performance ein stringentes Verständnis von sozialen Prozessen kritisch befragt. Ausgehend vom Begriff der „ Identität “ wird dieser als „ Identitätsprozess “ neu gefasst und untersucht, inwiefern performative Prozesse das Potential bergen, praktisch und eigenmächtig als Gegenentwurf zu festgeschriebenen Identitätsrastern angewendet zu werden. Im Kontext dieses Artistic-Research- Projekts möchte ich den Begriff des ‚ belonging ‘ nach Levke Harders aufgreifen und auf den Prüfstand stellen. Die Geschichtswissenschaftlerin veröffentlichte Anfang 2022 ihre Ausführung zum Konzept von ‚ belonging ‘ , für das sie als Erweiterung zu Identität argumentiert. Nach einer Verortung von Harders ‘ Konzept im Rahmen ihres soziologisch-historischen Forschungsumfeldes soll es auf den Bühnenraum des Theaters übertragen werden. Insbesondere die performativ-körperliche Dimension von ‚ doing belonging ‘ 6 , die von Harders als Teilaspekt von ‚ belonging ‘ eingeführt wird, lässt sich mit Inszenierungsstrategien in Justitia! engführen. Auch wenn in Justitia! am Begriff der „ Identität “ gearbeitet wird, während Harders sich mit ‚ belonging ‘ ausschließlich auf Zugehörigkeiten (in Abgrenzung zur „ Identität “ ) bezieht, gleichen sich die beiden Herangehensweisen in der Verunsicherung scheinbar festgeschriebener, sozialer Einordnungen. Die Engführung von Harders ‘ Konzept und Müllers Performance möchte ich im Rahmen einer exemplarischen Aufführungsanalyse erproben. 7 Mit einem Fokus auf drei Elemente der Inszenierung - Rolle, Setting und Partizipation - wird untersucht, inwiefern die in der Aufführung verhandelten Zugehörigkeiten für das Konzept von ‚ doing belonging ‘ fruchtbar gemacht werden können. Im Versuchsraum der Theateraufführung werden nicht nur unterschiedliche Varianten von Zugehörigkeit auf der Bühne ausgehandelt, sondern auch in der Relation von Bühnengeschehen und Publikum. Zu diesem inszenatorisch hervorgebrachten Raum wirft Matthias Warstat die Frage auf, wie „ eine Inszenierung, die von identitätsbezogenen Ein- und Ausschlüssen handelt, mit den Ein- und Ausschlussmechanismen des Theaters “ 8 umgeht. Anhand von Justitia! lässt sich weiter fragen, wie Agency durch ‚ doing belonging ‘ konstituiert oder auch verunmöglicht wird. Die Verschränkung der Performance Justitia! mit Harders ’ Konzept des ‚ belonging ‘ soll sich diesen Fragen annähern und dabei - so das Ziel - auch die Bedingungen dafür offenlegen, wer auf welche Weise an der eigenen Konstruktion von ‚ belonging ‘ teilhaben kann. Identität vs. ‚ belonging ‘ . Begriffsklärung nach Levke Harders In gegenwärtigen Diskussionen wird der Begriff der Identität vermehrt kritisch hinterfragt, die Soziologen Rogers Brubaker und Frederick Cooper haben ihn bereits 2000 als zu unspezifisch disqualifiziert. 9 Neben Harders 10 plädiert auch Philipp Ther dafür, Identität als einschlägige Kategorie abzuschaffen. Der Begriff sei nicht mehr tragbar, „ denn Identität insinuiert 101 Performative Zugehörigkeiten. Levke Harders ’ ‚ doing belonging ‘ in Justitia! Identity Cases (2022) ein identisch sein, das man auch mit einer weichen, subjektivistischen Definition nicht wegbekommt “ 11 . Ther führt stattdessen den Begriff der Identifikation an, der sich durch einen aktiven, individuellen Prozess kennzeichnet und „ eine Annäherung an ein Objekt der Identifikation [beschreibt], mit dem man aber nicht eins werden muss “ 12 . Hierbei möchte ich in Abgrenzung zu ‚ belonging ‘ anmerken, dass auch im Rahmen der Identifikation eine Gruppe, die sich durch homogene, identitätsstiftende Merkmale zusammenfindet, als Ausgangspunkt benötigt wird und erst so ein individueller Bezug zu dieser bereits bestehenden und womöglich fremdbestimmten Gruppe aufgebaut werden kann. Harders fragt ebenfalls nach einem Gegenkonzept zum Begriff der Identität, wobei sie ‚ belonging ‘ als Kategorie historischer Analyse in die Debatte einbringt. Sie orientiert sich dabei an den Soziologinnen Floya Anthias und Nira Yuval-Davis, um Zugehörigkeiten abseits von festgeschriebenen gesellschaftlichen Gruppen differenziert und transnational untersuchen zu können. Harders argumentiert für ‚ belonging ‘ , um der Schwierigkeit zu begegnen, in historischen Analysen mit identifikatorischen Kategorien der jeweiligen Zeit zu arbeiten, die mitunter Diskriminierungsstrukturen reproduzieren oder überhaupt erst konstruier(t)en: „ Im Gegensatz zu Konzepten wie Identität betont ‚ belonging ‘ , dass Zugehörigkeiten immer situiert und plural sind, sich verändern, dass sie ebenso strategisch genutzt wie konstruiert sein können “ 13 . Mit dem Ziel, intersektionale Zusammenhänge in der historischen Analyse sichtbar zu machen und mit ihnen weiterarbeiten zu können, verwendet Harders ‚ doing belonging ‘ als Erweiterung, die sich durch eine Enthierarchisierung von Zuschreibungen kennzeichnet. Es sind also Mehrfahrzugehörigkeiten ( ‚ multiple belongings ‘ nach Harders) eines einzelnen Individuums möglich bzw. aus intersektionaler Perspektive sogar die Voraussetzung für die Funktionalität des Begriffs. In dieser Performativität zeigt sich der wichtigste Aspekt von Harders ’ ‚ belonging ‘ , nämlich der seiner Konstruktion. Harders spricht von ‚ doing belonging ‘ , um die Entstehung von Zugehörigkeiten einerseits als nicht festgeschrieben und veränderbar zu markieren und andererseits ihre Verankerung in gesellschaftlichen Diskursen aufzuzeigen. Ther schließt sich Harders ’ Konzept an und problematisiert in der Analysearbeit mit „ Zugehörigkeit “ und „ Identität “ die Passivität und Fremdeinwirkung, die diesen Begriffen inhärent seien. Eine Zuschreibung geht dabei von den Analysierenden - in seinem Fall: den Historiker: innen - aus und nicht von den Individuen. Um dieses Ungleichgewicht zu verändern, müssten die Empfindungen der jeweiligen Personen mit ins Gewicht gezogen werden. „ Doch wer kann derlei Gefühle und die ebenso wichtigen kognitiven Prozesse quellenbasiert bestimmen - das war schon die Crux bei der Identitätsforschung “ 14 , merkt Ther an und verweist in diesem Kontext auf Harders ’ Ansatz des ‚ doing belonging ‘ . Dieser biete eine Möglichkeit, ebendiesem Umstand entgegenzuwirken, da der Fokus nicht auf die Identität/ Zugehörigkeit/ das ‚ belonging ‘ selbst gelegt wird, sondern auf den Prozess, in dem ‚ belonging ‘ , mitunter eigenmächtig erzeugt und konstruiert wird. Im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung wird in der Anwendung von ‚ belonging ‘ vom Individuum ausgegangen und nicht von der Gruppe, die von einem Identitätsbegriff umfasst wird. Die Wichtigkeit dessen bringt Valentin Groebner auf den Punkt und erläutert, dass die gesellschaftliche Konstruktion einer Gruppe, die die gleichen Identitätsmerkmale teilt, darauf beruhe, „ dass die meisten Personen, die darunter subsumiert werden, vorher nicht gefragt worden sind, ob sie denn auch dabei sein möchten “ 15 . Der Prozess des ‚ doing belon- 102 Anna Sacher ging ‘ gibt demnach mehr Aufschluss über gesellschaftliche Zugänge und eigene Selbstbilder als eine (Fremd-)Zuschreibung, bei der die inhärente Prozesshaftigkeit ausgeblendet wird. Diese Prozesshaftigkeit zeigt sich nach Harders zudem darin, dass ‚ belonging ‘ nicht permanent ist und auch in ein ‚ un-belonging ‘ aufgelöst werden kann. So beschreibt sie den Zustand eines Individuums, das sich vormals über ein ‚ belonging ‘ einer Gruppe zugehörig zeigen konnte und durch veränderte Umstände von dieser Gruppe ausgeschlossen wird oder sich selbst aus der Gruppe zurückzieht. 16 Zusätzlich führt sie die Dimension des ‚ non-belonging ‘ an und fasst darunter den Zustand eines grundsätzlichen Ausschlusses von Individuen, noch bevor diese jemals Teil einer Gruppe waren. ‚ Non-belonging ‘ findet sich häufig in formalen oder (national-)staatlichen Regulierungen, die bestimmte Individuen mitunter wegen ihres Geschlechts oder ihrer Ethnizität konsequent marginalisieren. Der Fokus dieses Artikels wird zunächst auf der Performativität von ‚ belonging ‘ liegen, um anschließend Aspekte von ‚ non-belonging ‘ zu integrieren. Justitia! Identity Cases: Identitätsprozesse als Performance Die Performance Justitia! nähert sich interdisziplinär Fragen nach Gerechtigkeit und dem Verhältnis von Inszenierungen in Theater und Gericht an. Dabei verweist sie auf die Institution des Gerichts als theatral konstruiert und setzt in diesem Sinne einen Gerichtsprozess in sieben Episoden jeweils nach den Logiken verschiedener Theaterformen in Szene. Auch die medialen Darstellungen von Gerichtsprozessen werden zum Thema. Zwischen Doku-Theater, Courtroom-Drama und Gerichts-Musical übernehmen die vier Performer: innen (Gin Müller, Sandra Selimovic´, Mariama Nzinga Diallo und Edwarda Gurrola) unterschiedliche Funktionen innerhalb eines Gerichtsprozesses und performen gemäß den Charakteristika der jeweiligen Theaterformen. Gezeigt wird ein fiktiver Gerichtsprozess um die Figur Icnoyótl González, eine feministische und indigene Aktivistin aus Mexiko mit postkolonialem Schwerpunkt. Angelehnt an Mithu Sanyals Roman Identitti wird zu Beginn der Performance enthüllt, dass Icnoyótl keine indigene Mexikanerin ist, sondern als weiße Mexikanerin ihr ethnisches Erbe lediglich vorgibt. Daraus resultiert eine große mediale Aufmerksamkeit, die in einen Shitstorm und einen Gerichtsprozess gegen Icnoyótl übergeht. Justitia! untersucht im Rahmen dieses Gerichtsprozesses, wie „ Identitätsprozesse “ vor Gericht und im Theater verhandelt werden und eröffnet eine Analogie des theatralen Spiels auf der Bühne und der performativen Entfaltung eines eigenen ‚ belonging ‘ . 17 ‚ Belonging ‘ wird in der Performance unter anderem an spezifischen Zuschreibungen der einzelnen Figuren festgemacht, indem Charakteristika der Performer: innen auf ihre Figuren übertragen werden. 18 Die Figur der Performerin Sandra Selimovic´, Jelena Serifovic´, wird wie Selimovic´ als Romnja und LGBTQ-Aktivistin mit Fokus auf Klassenfragen vorgestellt. Mariama Nzinga Diallo wird in ihrer Figur Beatrice Lincoln als intersektionale Feministin angekündigt und ihr Einsatz für Schwarze Geflüchtete wird vor dem Hintergrund angesprochen, dass sich Diallo privat für Schwarze Geflüchtete aus der Ukraine einsetzt. Gin Müller wird in der Figur als Paul Miller ebenfalls als Transgender-Aktivist: in vorgestellt und nimmt als Regisseur: in zu Beginn die Position der Moderation ein. Lediglich im Fall der Performerin Edwarda Gurrola übernimmt diese mit Icnoyótl González eine fiktive Figur. Ausgehend von der intersektionalen Verschränkung von Gender, Race, Class und sexueller Orientierung auf privater und 103 Performative Zugehörigkeiten. Levke Harders ’ ‚ doing belonging ‘ in Justitia! Identity Cases (2022) inszenierter Ebene der Performer: innen bezieht sich ‚ belonging ‘ in Justitia! verstärkt auf Transitionsprozesse. Ein Fokus wird neben Gender vor allem auf Transition im Kontext von Race gelegt und macht im Übergang von einer Identifikation bzw. Identität zu einer anderen die Prozesshaftigkeit der Kategorien sichtbar. Dabei fällt auf, inwiefern das tatsächliche ‚ doing ‘ für diese Prozesse relevant ist, also welche mitunter klischeebehafteten Marker notwendig sind, um ‚ belonging ‘ zu erzeugen. So z. B. die Tatsache, dass Icnoyótl ihre Kleidung an einen stereotyp indigenen, mexikanischen Kleidungsstil anpasst (Kostüm: Noushin Redjaian) und Jelena/ Selimovic´ beschreibt, wie ihr Menschen begegnen, die sich als „ Gypsy “ fühlen und sich dementsprechend stereotypisiert kleiden. ‚ Belonging ‘ entsteht für Icnoyótl darüber hinaus durch Marker wie Hautfarbe, Sprache und Körperlichkeit, die nur in einem gewissen Maß veränderbar sind. Das Konzept von ‚ doing race ‘ wird als historische, politische Ideologie im Kontext kolonialer Praktiken in Mexiko angesprochen und in Icnoyótls Gerichtsprozess insofern aufgegriffen, als dass der kontroverse Begriff des ‚ trans-race ‘ verwendet wird. 19 Icnoyótl verteidigt sich mit den Worten: „ Maybe I was born as White. But I identify as indígena, as POC. I am post-racial. Ich bin trans-racial “ 20 . Beatrice/ Diallo merkt an, dass die Problematik des Konzepts von ‚ trans-race ‘ unter anderem darin liegt, dass es weiße Unterdrückung reproduziert, da sich die praktische Umsetzung zu einem überwiegenden Teil auf weiße Menschen mit einer vermeintlichen Transition zu einer BIPOC bezieht. Auch wenn sich die Debatte in historische, Schwarze Kontexte einbetten lässt, wird in gegenwärtigen Aushandlungen sichtbar, inwiefern es etwa für Schwarze Personen mit deutlich größeren Schwierigkeiten verbunden ist, „ trans-weiß “ zu sein. Auch Jelena stellt in ihrer Anklage an Icnoyótl klar, inwiefern ‚ trans-race ‘ in der Freiheit der eigenmächtigen Wahl der eigenen Ethnizität weiße Privilegien aufzeigt. 21 Setting: „ Stop! Das ist mein Gerichtssaal. “ Einsteigend in eine analytische Perspektive auf Justitia! wird das Setting der Inszenierung, d. h. Raum und Räumlichkeit, untersucht. Der Fokus liegt exemplarisch auf szenischen Momenten, in denen Theater als ein doppelter Ort 22 sichtbar wird: in diesen Momenten tritt der Wechsel, die Diskrepanz oder die Überlagerung zwischen dem Ort der Aufführung im brut und den dort gezeigten fiktiven Handlungsräumen offen hervor. Der Raum als Referenzrahmen innerhalb der Performance ist insofern relevant, als dass er durch seine Öffnung zum Publikum oder seine häufigen Wechsel auf verschiedene Weisen ‚ belonging ‘ konstruiert. Die Performance beginnt im Setting einer Talkrunde. Dieses gleicht in seinem Aufbau, mit einem langen Tisch, gepolsterten Stühlen und einer hellen Bühnenbeleuchtung, dem herkömmlicher Diskussionsrunden, wie sie auch in anderen Kontexten im brut veranstaltet werden. Das Setting mag dem Publikum bekannt erscheinen und verschränkt gleich zu Beginn den Ort der Aufführung mit dem der theatralen Handlung. Nach der ersten Viertelstunde wird die Talkrunde aufgelöst. Nachdem Jelena den medialen Aufruhr um Icnoyótls behauptete Ethnizität aufgreift, wird das Setting durch das Einblenden eines Gerichtssaals auf den drei Leinwänden auf der Bühne verändert. Begleitet durch das Ausfaden des Bühnenlichts und einer eingespielten Stimme im Stil einer Nachrichtensprecher: in, die den Vorwurf an Icnoyótl beschreibt, wird ein zeitlicher und räumlicher Wechsel markiert. Mit dem Verschieben der Bühnenplattform, auf der die Tische 104 Anna Sacher der Talkrunde aufgebaut sind, sowie mit neuen Bühnenelementen, wird auf der Bühne ein Gerichtssaal installiert. Für das Publikum wird durch diesen Bruch bereits zu Beginn der Performance etabliert, dass die diegetischen Räume innerhalb der Aufführung fluide sind und der Bezug zum realen Theaterrahmen variiert. Im Laufe der Performance werden weiter neue Settings eingeführt, die in den meisten Fällen durch ähnliche Übergänge erzeugt und mit Musik oder Stimmen aus dem Off kontextualisiert werden. Die tatsächlichen Räumlichkeiten des brut werden in die inszenierten Räume integriert, verändern jedoch innerhalb der Aufführung immer wieder ihre Position. Nach der ersten Szene der Talkrunde, die mit Zeit und Ort der Publikumserfahrung übereinstimmt, verändert sich das Verhältnis im Übergang zur zweiten Szene. Die Stimme im Stil einer Nachrichtensprecher: in aus dem Off spielt darauf an, dass sich der Skandal um Icnoyótl in der Veranstaltung ereignete, der das Publikum in dem Moment beiwohnt: „ Bei einer Diskussionsveranstaltung im brut Theater in Wien kam es gestern zu einem Eklat. “ 23 , während sich dabei die zeitliche Ebene bereits vom Aufführungsmoment ablöst. Auch die folgenden Episoden der verschiedenen Theaterformen sind in einem Bühnenraum verortet und besonders in Episode 1 „ #Doku-Theater - Reenacting the Identity Case Icnoyótl G., Zeugin Jelena S. “ , wird die Räumlichkeit insofern kontextualisiert, als dass die Handlung weiterhin im brut verortet wird: Der Gerichtsprozess soll im Stil dokumentarischen Theaters auf der Bühne des brut nachgestellt werden.Während der ersten von drei Publikumsabstimmungen stellt eine Stimme aus dem Off sich als „ Justitia “ und als „ juristischer Infobot “ vor. Durch eine monotone, computergenerierte Aussprache wird sie als KI-Stimme gekennzeichnet. Hier wird das erste Mal der theatrale Rahmen des brut und der tatsächlichen Bühne als Schauplatz gebrochen. Mit der an das Publikum adressierten Frage der KI: „ Sie haben sich heute als Zuseher: innen in diesem Prozess eingefunden. Stehen Sie mit der Angeklagten in einem verwandtschaftlichen Verhältnis oder sind Sie einfach als Beobachter: in in den Verhandlungssaal J5 gekommen? “ 24 hat das Publikum im Rahmen der Aufführung die Bühne des brut verlassen und die Performance sich scheinbar in einen fiktiven Gerichtsaal verlagert. Eine ähnliche Verschiebung findet zum Ende der Performance im Setting der Abschlussplädoyers von Episode 7 statt, indem eine Stimme im Stil einer Nachrichtensprecher: in aus dem Off ankündigt: „ Wir schalten nun live an den Ort der Verhandlung “ 25 . Durch eine eingespielte Tonspur mit Hintergrundgeräuschen und Stimmengewirr wird der Ort als Gerichtssaal markiert, der sich damit von der tatsächlichen Bühne des brut ablöst. Für das Publikum entstehen immer wieder neue Formen der Zugehörigkeit, die performativ im Rahmen der Aufführung und besonders durch auditive Kontextualisierungen erzeugt werden. ‚ Belonging ‘ entsteht somit durch den Faktor des Zur-gleichen-Zeit-am-gleichen-Ort-Seins. Dabei handelt es sich jedoch weniger um eine für Theateraufführungen charakteristische leibliche Kopräsenz: 26 Der geteilte Ort beschreibt hier nicht den Raum des Theaters aus Bühne und Publikumssaal, sondern die Räume, die innerhalb der Aufführung diegetisch erzeugt und bespielt werden, wie das Setting der Talkrunde oder des Gerichtssaals. Zum Ende von Episode 1 wird die Verschränkung der verschiedenen (Bühnen-) Räume besonders deutlich. Innerhalb des dokumentarischen Reenactments des Gerichtsprozesses um Icnoyótl ist Jelena als Zeugin geladen. Zum Abschluss ihrer Aussage wird Musik eingespielt und Jelena/ Selimovic´ beginnt einen Song zu rappen. Das Setting scheint sich zu verändern, die 105 Performative Zugehörigkeiten. Levke Harders ’ ‚ doing belonging ‘ in Justitia! Identity Cases (2022) gerade noch von Gurrola verkörperte Staatsanwältin führt für die Rapperin eine Live- Kamera. Der Song wird jedoch von der durch Diallo verkörperten Richterin unterbrochen: „ Stop, das ist mein Gerichtssaal. Die Sitzung ist für heute beendet. Glaubst du, du bist in einer Diskothek, oder was? “ 27 In der Bestätigung des Raums als Gerichtsaal fällt die Szene aus dem Kontext des dokumentarischen Theaters heraus. Diallo wird weder als Performerin sichtbar, die Selimovic´s Einschub unterbricht, noch als Beatrice, die sich auf Jelena bezieht. Diallo verweist in ihrer Rolle als Richterin auf den fiktiven Raum des Gerichtssaals, der zuvor lediglich durch die dokumentarische Nacherzählung präsent war. Auffällig wird hier, dass auf theatraler Ebene kein einheitliches ‚ belonging ‘ zwischen den Performer: innen und den jeweiligen Szenen besteht. Das Setting einer Szene verhindert nicht, dass sie auf unterschiedlichen inhaltlichen Ebenen agieren. Der geschaffene Raum auf der Bühne kann von allen Performer: innen jederzeit performativ und wirkmächtig gebrochen werden - sie wechseln damit permanent ihre eigene Funktion und Zugehörigkeit. Rolle: „ Konflikt, Drama. Exactly my thing. “ In Bezug auf die Rollenkonstruktion in Justitia! im Wechsel zwischen Figuren und Positionen der Performer: innen soll im Folgenden die Inszenierung eines aktiven ‚ doing belonging ‘ untersucht werden. Herausstechend sind dabei die Momente, in denen die in der Performance etablierten Verhältnisse der Figuren gebrochen werden. Zunächst wird im Übergang der Talkrunde zu Episode 1 „ #Doku-Theater “ eine spezifische Rollenkonstruktion als Rahmen der Performance eingeführt. Diallo sagt als Beatrice: „ Eigentlich wollte ich Icnoyótl González zu dekolonialen Positionen der Gerichtsbarkeit befragen, aber nun muss ich die Richterin im Gerichtssaal spielen “ 28 . Die Richterin wird dabei als theatrale Rolle herausgestellt, während Beatrice, ebenfalls eine Rolle, einen scheinbar privaten Eindruck erweckt. Es wird ein Rahmen konstruiert, in dem die Figuren der ersten Szene (Beatrice, Jelena, Paul und Icnoyótl) die darauffolgenden Szenen spielen und diese Figuren somit selbst zu Schauspieler: innen werden. Dieser Positionswechsel bezieht sich auf alle Figuren, außer auf Icnoyótl, die in Episode 1 die Staatsanwältin spielt. Da anzunehmen wäre, dass sich Icnoyótl deutlich kritischer zu diesem Verfahren gegen sie selbst verhalten würde, scheint Gurrola im Gegensatz zu den anderen drei Performer: innen eine neue Rolle anzunehmen. 29 Gurrola verkörpert nicht Icnoyótl, die die Rolle der Staatsanwältin annimmt, sondern die Staatsanwältin scheint eine zusätzliche Rolle von Gurrola zu sein. Für den weiteren Verlauf der Performance wird hier zu Beginn festgelegt, dass die Figuren auf der Bühne nicht ausgehend von den jeweiligen Performer: innen-Körpern gekennzeichnet werden, sondern abhängig vom Aufbau einer Szene neu zu kontextualisieren sind. Diese szenische Verabredung wird jedoch in verschiedenen Momenten der Performance gebrochen. In Episode 3 „ #Tribunal “ schließt Selimovic´ als Richterin einen szenischen Einschub von Beatrice mit folgendem Dialog: Selimovic´ als Richterin: „ Wir danken Beatrice Lincoln für die Anhörung und schließen hiermit die Sitzung. “ Diallo/ Beatrice: „ Ich habe gesagt, ich mache [sic! ] Performance, warum unterbrichst du mich jetzt? “ Selimovic´/ Jelena: „ Aber ich dachte, das war schon fertig. “ 30 In dieser Sequenz wird das Performerinnen- Ich der beiden sichtbar. Während Beatrice im Setting eines Tribunals im Theater die 106 Anna Sacher Position der Anklägerin einnimmt, wird auf eine spezifische Absprache zwischen Selimovic´ und Diallo eingegangen, die sich auf einen vorhergegangenen Zeitpunkt, vermutlich im Probenprozess, bezieht. Neben der Rolle von Beatrice wird hier auch Diallo als Performerin angesprochen. Auf diese Weise wird sie auf mehreren Zugehörigkeitsebenen adressiert. Die verschiedenen Ebenen können sich zwar in solchen theatralen Momenten nicht gänzlich überlagern, aber sie bedingen sich gegenseitig und existieren dabei als ‚ multiple belonging ‘ nebeneinander; in diesem Fall in der doppelten Ansprache als Beatrice und als Diallo. An späterer Stelle wird ergänzend das Performerinnen-Ich von Gurrola und Diallo explizit hervorgehoben. Diallo sagt zu Gurrola im Übergang zu Episode 4 „ #Courtroom- Drama “ : „ Du bist eine super Telenovela- Schauspielerin, das passt perfekt “ . Gurrola erwidert: „ Ja, Konflikt, Drama. Exactly my thing “ 31 . Bezogen wird sich dabei auf Gurrolas privates Berufsleben als Telenovela- Schauspielerin; Diallo kennzeichnet sich in ihrem Wissen darüber ebenfalls als Performerin und nicht als Rolle. Hier treten die privaten Performerinnen am deutlichsten hervor und nähern sich dem Publikum an, das möglicherweise ebenfalls Gurrolas Biografie kennt. Anschließend und als direkter Übergang zu Episode 4 „ #Courtroom-Drama “ wirft Jelena ein: „ Kann jemand die Emo-Musik einschalten, bitte? “ 32 . Sie markiert ihre Position in der Rolle als Schauspielerin im Bühnenraum. 33 Vor der überdramatisierten Inszenierung im Stil eines Melodramas in Episode 4 wird so die Distanz zwischen den verschiedenen Rollendimensionen besonders deutlich hervorgehoben. Die Episode des Courtroom-Dramas wird von Jelena/ Selimovic´ beendet, indem sie die Ebenen der Rollen und Performer: innen wieder zusammenführt. Zu Icnoyótl sagt sie: „ Okay, Stop. You ’ re pathetic, really, you ’ re pathetic. Du tust so als würdest du heulen, aber man sieht nicht mal eine Träne. [. . .] Ah, white tears, alles white tears, this is white fragility “ 34 . Selimovic´ wird zunächst als Performerin wahrgenommen, die das theatrale Setting des Melodramas unterbricht und Gurrolas Schauspiel kritisiert. Im selben Zug kommt sie zurück in ihre Rolle als Jelena, die gegenüber Icnoyótl spricht und sie für ihr weiß-Sein anklagt. Damit wird der Bogen zum Beginn der Performance geschlagen, als die Figuren der ersten Szene als Schauspieler: innen aller folgenden Szenen eingeführt wurden. Auffallend am Aufbrechen des Verhältnisses von Figur und Schauspieler: in während der Performance ist, dass Rollenzuschreibungen und damit Zugehörigkeiten auf der Bühne durch zweierlei Komponenten markiert werden. Einerseits findet eine Kennzeichnung der Rolle durch offensichtliche, äußerliche Merkmale statt, etwa Richter: innenroben als Kostüme oder veränderte Frisuren, wie im Fall von Gurrola/ Icnoyótl. Darüber hinaus wird ‚ belonging ‘ durch Brüche mit dem theatralen Konzept und durch verbale Kontextualisierung erzeugt. Zu Beginn der Performance erklärt Jelena im Rahmen der Talkrunde, „ dass es für marginalisierte Gruppen oft lebensentscheidend wird, fluide Identitäten vor Gericht zu performen “ 35 . Sie bezieht sich damit auf den kritisierten, weißen Gerichtsapparat. Im theatralen Setting von Justitia! erproben die Performer: innen dieses Prinzip der „ fluiden Identitäten “ vor Gericht im Sinne eines ‚ belonging ‘ in ihren Rollenverschiebungen auf praktische Weise. Partizipation: „ Haben Sie schon mal . . .? “ Partizipation ergibt sich in Justitia! durch die Adressierung des Publikums, das teilweise konkret durch den Einsatz eines Abstimmungstools eingebunden wird. Zweimal wird das Publikum im Laufe der Perfor- 107 Performative Zugehörigkeiten. Levke Harders ’ ‚ doing belonging ‘ in Justitia! Identity Cases (2022) mance aufgefordert mit seinen Smartphones einen QR-Code zu scannen, der auf die mittlere Leinwand auf die Bühne projiziert wird. Es öffnet sich auf den Endgeräten ein Interface, auf dem jeweils eine von mehreren Antwortmöglichkeiten ausgewählt werden kann. Das Ergebnis jeder Frage wird in Echtzeit und anonymisiert ebenfalls auf der mittleren Leinwand angezeigt und bildet grafisch die Verhältnisse zwischen den vom Publikum gewählten Antworten ab. In Säulen- oder Kreisdiagrammen ist abzulesen, welche Antwort von der Mehrheit des Publikums gewählt wurde und welche Abweichungen es gibt. In gelöster Atmosphäre im Theatersaal während der Abstimmungsphase (kurze, private Gespräche oder Austausch über die Funktionalität des Abstimmungstools im Publikum; die Performer: innen befinden sich währenddessen nicht auf der Bühne) werden einzelne Kommentare oder Regungen aus dem Publikum zu den sich abzeichnenden Ergebnissen laut. Diese partizipative Dimension von Justitia! wird durch die gleichnamige, als „ juristischer Infobot “ eingeführte KI-Stimme aus dem Off moderiert. Die gestellten Fragen zum laufenden Gerichtsprozess der Performance ergeben sich aus inhaltlichen Anknüpfungspunkten ( „ Standen Sie selbst schon einmal vor Gericht? “ ), beziehen sich auf die Aufführungssituation ( „ Lieben Sie das Gerichtstheater? “ ) oder regen die Reflexion eigener Zugehörigkeiten an ( „ Haben Sie schon einmal bezüglich Ihrer eigenen Identität gelogen? “ ). Im Zuge der Abstimmungen wird deutlich, dass dem Publikum im Verlauf der Performance immer wieder die Rolle der Richter: innen zugeschrieben wird. Zunächst wird in der ersten Abstimmungsrunde gefragt: „ Was ist Ihre heutige Funktion in diesem Gericht? “ 36 , woraufhin sich die große Mehrheit laut der projizierten Auswertung der Antworten als „ Zuschauer: innen “ einsortiert. In der zweiten Abstimmungsrunde wird das Publikum jedoch dazu angehalten, Stellung zum Verlauf des theatralen Gerichtsprozesses zu beziehen ( „ Welche Position finden Sie am überzeugendsten? “ / „ Ist Frau Icnoyótl González schuldig, ihre Fördergeber vorsätzlich betrogen zu haben? “ / „ Ist Frau Icnoyótl González schuldig, bewusst eine andere Identität vorgetäuscht zu haben, um ihre Karriere positiv zu beeinflussen? “ ). Das Publikum wird selbst zu einer urteilenden Instanz. Am Ende der Performance ist eine Ankündigung des Infobots zu hören: „ Sehr geehrte Richter: innen, ich bin Justitia, Ihr juridischer Meta- Algorhythmus. [. . .] Ich wurde programmiert, um mein Urteil nach euren Maßstäben zu fällen “ 37 . Die Daten, die die KI angeblich durch die Eingaben des Publikums gesammelt hat, werden als Kriterien des Gerichtsurteils angekündigt und die Zuschauer: innen damit zu ausführenden Richter: innen gemacht. Bereits im Kontext der ersten Abstimmung ist von der KI- Stimme zu hören: „ Auch wenn Sie kein Urteil fällen, beurteilen Sie, was Sie sehen “ 38 . Die vom Publikum übernommene Position der Richter: innen doppelt sich also in der Beurteilung der Aufführung als solcher und in der Beurteilung des vorliegenden moralischen Falls. Durch die diversen Meinungen, für die auf der Bühne argumentiert wird, und durch das ausbleibende Gerichtsurteil am Ende der Performance, müssen die Zuschauer: innen eine eigene Haltung zum Geschehen entwickeln. Die letzte Szene - Episode 7 „ #Abschlussplädoyers “ - wird von einer Stimme im Stil einer Nachrichtensprecher: in aus dem Off damit anmoderiert, dass später die Richter: innen über das Urteil entscheiden werden. 39 Auch hier wird diese Rolle dem Publikum zugeschrieben. Die Position des Publikums ist in einem ständigen Wandel: Während es zu Beginn der Aufführung noch als Zuschauende einer Talkrunde im brut begrüßt wird, wird es am Ende als Richter: innen aus der Perfor- 108 Anna Sacher mance entlassen. Durch die nur scheinbare Selbstzuschreibung der eigenen Position in der ersten Abstimmungsfrage als Zuschauer: innen, die im Lauf der Performance ohne eigenes Zutun in die Position der Richter: innen gewandelt wird, ist das Publikum kein Teil des Prozesses von ‚ doing belonging ‘ , der auf der Bühne ausgehandelt wird. Die Zugehörigkeit der Zuschauenden charakterisiert sich durch das Setting auf der Bühne, das über den Ort und durch performative Aussagen der Performer: innen auch die Rolle der Anwesenden im Publikumsraum bestimmt. Es besteht für die Zuschauenden nicht die Möglichkeit selbst Zeug: innen zu werden, anzuklagen oder den eigenen Standpunkt zu verteidigen und sich der eigenen Rollenzuschreibung zu widersetzen, sondern ausschließlich sich mit den gebotenen Zuschreibungen auseinanderzusetzen. Darüber hinaus muss gefragt werden, wer dieses Publikum überhaupt ist. Mit Blick auf rezente Debatten über eine postkoloniale sowie dekoloniale Theaterwissenschaft, 40 ist hier das Verhältnis von Publikum und Inszenierung näher zu befragen. So befand sich in der Aufführung von Justitia! ein mehrheitlich weißes Publikum, wozu sich vermuten lässt, dass die Zusammensetzung des Publikums bereits vorab von den Produzierenden auf diese Weise erwartet wurde. Die Blickverhältnisse, die die Inszenierung und performative Aushandlung von ‚ belonging ‘ im intersektionalen Rahmen von Race begleiten, sind im Lauf der Performance immer wieder von der Spiegelung des Publikumsblicks bzw. vom Zurückwerfen dieses Blicks von der Bühne aus geprägt. So sieht die Inszenierung vor, dass das Publikum als richtende Instanz unmittelbar mit den Anklagen der Performer: innen konfrontiert wird. Deutlich wird das Verhältnis etwa, wenn Beatrice ihren, auch wortwörtlich als Anklage geframten, szenischen Einschub über die Verunmöglichung des Atmens als Schwarze, geflüchtete Frau performt: Sie steht dabei mit Blick und Redner: innenpult zum Publikum und nicht zum hinter ihr sitzenden, diegetischen Gerichtskomitee der Performer: innen. Auch während Jelenas Rap wendet Selimovic´ sich direkt in die von Gurrola geführte Live-Kamera und damit ans Publikum, das so unmittelbar mit dem Text über ihre Erfahrungen als queere Romnija in Österreich konfrontiert ist. Durch die Publikumszusammensetzung kommt auch die Frage auf, wem es möglich ist, ins Theater zu gehen, und wer damit überhaupt zu einem Publikum werden kann. Mit dem Fokus meiner Auseinandersetzung mit Harders ’ ‚ doing belonging ‘ auf die Versuchsanordnung einer Justitia! Aufführung, soll der erweiterte Kontext von ‚ belonging ‘ in Bezug auf die Teilhabedimensionen des Publikums hier nur angerissen werden. ‚ Doing belonging ‘ im historischen Spannungsfeld Die Analyse von Setting, Rolle und Partizipation bzw. Position des Publikums in Justitia! zeigt, wie ‚ belonging ‘ vor allem in Momenten theatraler Brüche sichtbar wird. Dies ist besonders in Sequenzen der Fall, in denen die Konstruktion von (eigenem) ‚ belonging ‘ scheinbar oder tatsächlich scheitert. ‚ Doing belonging ‘ kennzeichnet sich also mitunter durch seine Fehlerhaftigkeit und Inkonsequenz, wodurch Grenzen gerade dieser performativen Dimension von ‚ belonging ‘ aufgezeigt werden. Entscheidend dafür ist nicht, dass ‚ belonging ‘ immer wieder neu konstruierbar ist, sondern die Frage danach, von wem und in welchem Rahmen es eigenmächtig konstruiert werden kann; und somit also die Frage, für wen das Ausleben oder Konstruieren eines ‚ belonging ‘ tatsächlich performativ Wirklichkeit wird. 109 Performative Zugehörigkeiten. Levke Harders ’ ‚ doing belonging ‘ in Justitia! Identity Cases (2022) In Justitia! werden die Grenzen von ‚ doing belonging ‘ sowohl inhaltlich als auch inszenatorisch dargestellt. Sie zeigen sich auf drei Ebenen. Inhaltlich wird klar, dass das Prinzip von ‚ trans-race ‘ auf ausschließenden Faktoren beruht und sich vorwiegend auf Privilegien weißer Menschen bezieht. Zweitens wird durch die fluiden Rollenzuschreibungen der Performer: innen deutlich, inwiefern ‚ doing belonging ‘ häufig darin besteht, etablierte Grenzen von Zuschreibungen zu überschreiten und (theatrale) Verabredungen zu brechen. Diese ‚ Verabredungen ‘ im theatralen Setting lassen sich im Kontext von Harders ’ Konzept mit Formen struktureller Diskriminierung marginalisierter Gruppen in gesellschaftlichen oder institutionellen Machtstrukturen engführen. Ein eigenmächtiges Ausleben von ‚ belonging ‘ erreicht mitunter dann seine Grenzen, wenn strukturelle Diskriminierungen als gesellschaftliche ‚ Verabredung ‘ gebilligt werden. Mit vorherrschenden „ Identitätsfaktoren “ , wie z. B. Nationalität, Race oder Gender, die sich selbst performativ erzeugen, kann dieses Verhältnis nur schwer aufgebrochen werden. Bruebaker und Cooper beschreiben in ihrer Identitätskritik, wie der Begriff von „ Identität “ bereits einschränkt, was darunter gedacht und gefasst werden kann und damit wenig Freiraum für Partikularisierung und individuelle Ansprüche lässt. 41 Im Produzieren eines eigenen ‚ belonging ‘ , das sich als intersektional begreift und sich nicht an vorherrschenden „ Identitätsfaktoren “ orientiert, sondern mit ihnen bricht, liegt das Potential, Machtstrukturen produktiv in Frage zu stellen. Darin ist ein weiteres Argument in Ergänzung der Diskussion von Ther, Groebner und Harders zu finden, den Begriff der „ Identität “ mit ‚ belonging ‘ zu überarbeiten, um überhaupt neue Kategorien von Zugehörigkeiten entstehen lassen zu können. Durch die Partizipation des Publikums zeigt sich, inwiefern Teilhabe am Prozess von ‚ doing belonging ‘ kuratiert werden kann und wo der eigenen Zuschreibung Grenzen aufgezeigt werden, die zunächst nicht aufgelöst werden können. Harders verwendet den Begriff des ‚ non-belonging ‘ , womit sie Formen der „ formalen Exklusion “ 42 in Bezug auf die Zugehörigkeit/ das ‚ belonging ‘ zu einer Gruppe bezeichnet. Mit Blick auf die festgeschriebene Position des Publikums wird ‚ non-belonging ‘ durch die formale Trennung zwischen Performer: innen und Zuschauenden inszeniert. Es wird nicht zwangsläufig der Ausschluss aus jeglicher Gruppe erzeugt, kann sich doch das Publikum weiterhin zu jedem Zeitpunkt als Teil der Besucher: innen oder innerhalb der eigenen Freund: innengruppe im Publikum, etc. identifizieren und so eine oberflächlich homogene Gruppe bilden. Auch ist eine Möglichkeit der Identifikation mit den dargelegten Erfahrungen der Performer: innen oder der Rollen möglich, bleibt aber in der unidirektionalen Ausrichtung verhaftet und lässt sich - zumindest im Rahmen der Performance - nicht auf einen Austausch erweitern. Das eigenmächtige Potential, das ‚ doing belonging ‘ im Gegensatz zu Identität birgt, kann sich nichtsdestotrotz nur bis zu einem gewissen Grad manifestieren. Der Prozess von ‚ doing belonging ‘ kann gleichermaßen an vorherrschenden Identitätsnormen in Form von Nationalität, (Geschlechter-)Binarität, etc. scheitern. Dieser Ausschluss zeigt sich in Bezug auf die Möglichkeit von persönlicher Agency im ‚ doing belonging ‘ . Dabei wird deutlich, inwiefern für den performativen Aspekt von ‚ doing belonging ‘ die Frage danach relevant ist, wer in der Lage ist, ‚ belonging ‘ einerseits als validiertes Zugehörigkeitsgefühl zu empfinden und andererseits als gesellschaftlich reale Zugehörigkeit auszuleben. Mit Blick auf den geschichtswissenschaftlichen Kontext von Harders ’ Forschung ist anzumerken, dass besonders in einer Untersuchung von historischen Indi- 110 Anna Sacher viduen oder Gruppen der performative Anspruch von ‚ doing belonging ‘ mit Bedacht anzuwenden ist. Das nachträgliche Zuschreiben von ‚ belonging ‘ , das jeder Form von retrospektiver Analyse, sei es im historischen oder zeitgenössischen Kontext, innewohnt, birgt immer auch die Gefahr, in das Raster von Identitäten überzugehen, dem Harders mit ihrer Theorie entgegenwirkt. Wenn Ther in Harders ’ performativem Ansatz die Möglichkeit sieht, dieser „ Crux “ von identitätsbezogener Geschichtsforschung zu entgehen, ist wichtig anzumerken, dass ein performativer Vorgang immer mit einer gewissen Gegenwärtigkeit in Verbindung steht. So ist das ‚ doing ‘ / produzieren von ‚ belonging ‘ immer an eine Interaktion gebunden, welche ermöglicht, dass ‚ belonging ‘ , unabhängig von einer tatsächlichen (Theater-)Bühne, wahrgenommen wird. In der hier angewendeten Aufführungsanalyse findet sich möglicherweise eine Analyseform, die, gespeist aus der eigenen Beobachtung und Teilnahme am Theater-Ereignis, der Nachträglichkeit in der Auseinandersetzung mit ‚ doing belonging ‘ auf direktestem Weg entgegenzuwirken versucht. So bleibt es in einer (geschichtswissenschaftlichen) Anwendung von Harders ’ Konzept relevant, die Nicht-Abgeschlossenheit von Zugehörigkeiten und ‚ belonging ‘ sichtbar zu machen. Die beschriebenen Grenzen, die sich in der Prozesshaftigkeit von ‚ doing belonging ‘ ergeben, bergen nicht nur das Potential die Teilhabe an und Möglichkeiten für ‚ belonging ‘ elementar in eine Identitätsuntersuchung mit einzubeziehen. In ihrem Sichtbar-werden zeigen ebendiese Grenzen auch bestehende, diskriminierende Strukturen auf, die nicht durch innovative Begrifflichkeiten allein überwunden werden können, aber mithilfe von Ansätzen wie ‚ doing belonging ‘ präsent bleiben und werden. Anmerkungen 1 Valentin Groebner, „ Handeln historische ‚ Wir ‘ -Erzählungen von Identität? “ , https: / / gtw.hypotheses.org/ 1913, [Zugriff am 24.01. 2023], S. 1 f. 2 Vgl. Ilija Trojanow, „ Literatur im Herbst: Identissimo “ , https: / / alte-schmiede.at/ alte-s chmiede/ document/ literatur-im-herbst-iden tissimo, [Zugriff am 02.02.2023]. 3 Mithu Sanyal, Identitti, München 2021. 4 Vgl. Elyse Wanshel, „ Hilaria Baldwin Responds To Claims That She ’ s Been Pretending To Be Spanish “ , https: / / www.huffpost. com/ entry/ hilaria-baldwin-responds-claimpretends-to-be-spanish_n_5fe9f8d9c5b6680 9cb3323ee [Zugriff am 02.02.2023]. 5 Vgl. Brut nordwest, https: / / brut-wien.at/ de/ Programm/ Kalender/ Programm-2022/ 11/ Gi n-Mueller, [Zugriff am 03.02.2023]. 6 Vgl. Levke Harders, „ Zugehörigkeit als Kategorie historischer Analyse “ , https: / / gtw.hy potheses.org/ 1942, [Zugriff am 24.01.2023]. 7 Als Grundlage der Aufführungsanalyse dienen mein Erinnerungsprotokoll des Theaterbesuchs am 24.11.2022 sowie ein Mitschnitt der Performance vom 27.11.2022. Vielen Dank an Gin Müller für die freundliche Weitergabe der Aufnahme. Justitia! Identity Cases, (AT/ Premiere: 24.11.2022., brut Wien, R: Gin Müller; besucht am 24.11.2022; Mitschnitt 27.11.2022). 8 Matthias Warstat, „ Affekttheorie und das Subjektivismus-Problem in der Aufführungsanalyse “ , in: Christopher Balme / Berenika Szymanski-Düll, Methoden der Theaterwissenschaft, Tübingen 2020, S. 117 - 131, hier S. 123. 9 Vgl. Rogers Brubaker, Frederick Cooper „ Beyond ‚ Identity ‘“ , in: Theory and Society, 29/ 1 2000, S. 1 - 47. 10 Der hier aufgeführte zeitnahe und inhaltliche Bezug zwischen Levke Harders, Philipp Ther und Valentin Groebner geht auf den 53. Deutschen Historiker: innentag am 06.10. 2021 zurück, infolgedessen die drei Wissenschaftler: innen ihre Impulsbeiträge der Sektion „ Das umstrittene ‚ Wir ‘ . Auf der Suche nach neuen Wegen zur historischen Erfor- 111 Performative Zugehörigkeiten. Levke Harders ’ ‚ doing belonging ‘ in Justitia! Identity Cases (2022) schung von Kollektiven “ verschriftlicht haben. Siehe: Historikertag, https: / / www.histori kertag.de/ Muenchen2021/ sektionen/ das-um strittene-wir-auf-der-suche-nach-neuen-we gen-zur-historischen-erforschung-von-kolle ktiven/ [Zugriff am 30.06.2024]. 11 Philipp Ther, „ Kollektive Zuschreibungen und individuelle Erfahrungen. Zum Verhältnis von Makro- und Mikrozugängen in der historischen Soziologie", https: / / gtw.hypothe ses.org/ 1959, S. 9 [Zugriff am 24.01.2023]. 12 Ebd., S 9. Ergänzung A. S. 13 Harders, „ Zugehörigkeit als Kategorie historischer Analyse “ , S. 2. Hervorhebung im Original. 14 Ther, „ Kollektive Zuschreibungen und individuelle Erfahrungen “ , S. 9. 15 Groebner, „ Handeln historische ‚ Wir ‘ -Erzählungen von Identität? “ , S. 3. 16 Vgl. Harders, „ Zugehörigkeit als Kategorie historischer Analyse “ , S. 3. 17 Als Rahmenprogramm von Justitia wurde am 26. November 2022 die Roundtable Diskussion „ (De-)Constructing Identity. Gender, race a construct? - and what about belonging? “ unter der Moderation von Carmen Gheorghe mit Marty Huber, Authentically Plastic, Lea Susemichel, Faris Cuchi Gezahegn sowie Gin Müller und Sandra Selimovic´ im brut Wien veranstaltet und auch hier der Begriff des belonging im Kontext von Identitätskonstruktion diskutiert. Siehe: Brut nordwest, https: / / brut-wien.at/ d e/ Programm/ Kalender/ Programm-2022/ 11/ JUSTITIA! -Roundtable [Zugriff 30.06.2024]. 18 Durch die teilweise enge Überschneidung von Rollen und Figuren werden im Sinne einer besseren Übersicht der Vorname der Rollen und der Nachname der Performer: innen verwendet. Bei einer eindeutigen Überschneidung oder einer Unklarheit werden beide Namen angeführt. 19 Für eine weiterführende Auseinandersetzung mit dem Begriff „ trans-race “ siehe Rogers Brubakers theoretische Engführung von „ transrace “ und transgender: Rogers Brubaker, Trans. Gender and Race in an Age of Unsettled Identities, Princeton 2016. 20 Zur besseren Nachvollziehbarkeit werden bei wörtlichen und indirekten Zitaten aus Justitia Timecodes angegeben. Referiert wird dabei auf den Mitschnitt der Justitia Aufführung vom 27.11.2022. Hier Justitia, 55: 22 - 55: 38 min. 21 Ebd., 21: 25 - 22: 40 min. 22 Vgl. Gerda Baumbach, Schauspieler. Historische Anthropologie des Akteurs. Band 1 Schauspielstile, Leipzig 2021, S. 200 - 238. 23 Justitia, 13: 44 min. 24 Ebd., 38: 22 - 28: 36 min. 25 Ebd., 1: 15: 55 min. 26 Vgl. Erika Fischer-Lichte u. a. in: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004. 27 Justitia, 29: 24 - 29: 32 min. 28 Ebd., 16: 35 min. 29 Dass durch die Einführung von Gurrola als Richterin rein konzeptionell das Setting der Gerichtsszene im Stil dokumentarischen Theaters instabil wird, sei hier nur am Rande angemerkt. Im theatralen Setting der dokumentarischen Szene wäre es nicht möglich ,eine Rolle mit einer Person zu besetzen, die ausschließlich diese Rolle „ ist “ . Das passiert jedoch in dem Moment, in dem die Staatsanwältin weder von Icnoyótl gespielt wird noch als eine neue Rolle von Gurrola eingeführt wird. 30 Justitia, 50: 58 - 51: 08 min. 31 Ebd., 53: 42 min. 32 Ebd., 53: 56 min. 33 Die Rolle bleibt dabei in der Distanz zu Selimovic´ als Performerin, da diese die zuständigen Techniker: innen mit Namen ansprechen könnte und wüsste, dass diese über den Musik-Cue informiert sind. 34 Justitia., 01: 02: 50 min. 35 Ebd., 8: 25 min. 36 Ebd., 39: 38 min. 37 Ebd., 1: 14: 45 min. 38 Ebd., 38: 37 min. 39 Vgl. ebd., 01: 15: 38 min. 40 Joy Kristin Kalu, Azadeh Sharifi, Lisa Skwirblies, „ Das implizite Publikum. Ein Plädoyer für eine postkoloniale, rassismuskritische Aufführungsanalyse “ , in: Azadeh Sharifi / Lisa Skwirblies (Hg.), Theaterwissenschaft postkolonial/ dekolonial. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2022, S. 77 - 86. 41 Vgl. Brubaker, Cooper, „ Beyond ‚ Identity ‘“ , S. 35; gemeint ist hier kein Anspruch an 112 Anna Sacher neoliberale Individualisierung, sondern das Hinterfragen einzelner Kategorien und Mechanismen, die zu einer universalen Identitätsbildungen führen, die immer an diskriminierende Strukturen geknüpft ist. 42 Harders, „ Zugehörigkeit als Kategorie historischer Analyse “ , S. 3. 113 Performative Zugehörigkeiten. Levke Harders ’ ‚ doing belonging ‘ in Justitia! Identity Cases (2022) Longing to Belong: Performing Habsburg Loyalty across Zara, Vienna, and Zagreb c. 1814 Barbara Babic´ (Leipzig) In this contribution, I explore Karl Meisl ’ s military drama Die Kroaten in Zara (1814) to reveal how imperial belonging was negotiated and performed in Habsburg centres at the end of the Napoleonic Wars. Firstly, I shed new light on its author and a distinct readership, both situated at the crossroads between the theatre and military; I then reveal how issues of belonging were a driving force throughout the plot of Die Kroaten in Zara. Based on a real episode that occurred during the Siege of Zara in December 1813, the play showcases the bravery, duty, and loyalty of rebel Croatian soldiers in support of the Habsburg Monarchy. Ultimately, I illustrate how performances in Vienna (March 1814) and Zagreb (August 1814) served as occasional pieces to articulate the empire ’ s political agenda. By revaluating archival material, this article demonstrates how the suburban stage became a site of Habsburg representation and mythicizing, one that re-enacted recent contemporary history to connect the centre with the periphery in a ‘ suspended ’ time oscillating between war and peace. 1 Regular visitors to Vienna ’ s Prater, the capital ’ s municipal main park, would have noticed something different on 3 May 1913: a “ faithful reproduction of the city gate of Zara ” 2 now stood at its entrance. Its presence marked the theme of the city ’ s newest attraction, the Austrian Adriatic Exhibition ( ‘ Österreichische Adria-Ausstellung ’ ). 3 Those in Vienna could, until 5 October 1913, enjoy the wonders of the eastern Adriatic coast by strolling around reproductions of historical buildings, discovering crafts made by people in traditional costume, or attending concerts, theatrical performances, and films. In the main pavilion called the Rotunda, various stands showcased discoveries in the fields of ethnography, natural sciences, and archaeology of the region, as well as the latest findings in health, wellness, and tourism. Yet beyond the appeal of the Austrian Riviera, not everything was about the dolce vita on board gondole or steamers, as depicted on the exhibition ’ s most iconic postcard. 4 The event also played a crucial role in the Empire ’ s agenda both in matters of foreign affairs and in domestic policy. With regards to the first, against the backdrop of the Balkan Wars (1912 - 13), the exhibition was conceived as “ an effort to promote an Austrian peace in the region ” 5 , while simultaneously presenting the monarchy as a maritime power. The Austrian Navy League ( ‘ Österreichischer Flottenverein ’ ), alongside the organizing committee, occupied a section of the main exhibition to display items related to the progress of naval hardware (such as submarines and battleships) and the history of the Imperial Navy ( ‘ Kriegsmarine ’ ) since the eighteenth century. 6 With respect to internal affairs, the Austrian Adriatic Exhibition offered a self-reflective moment for the Habsburg monarchy. It was no coincidence that it took place in the summer of 1913, the year that marked both the 65 th jubilee of Emperor Franz Joseph I ’ s reign and the centenary of the Austrian domination of the Adriatic coast (1813/ 14 - 1913/ 14). 7 This paper focuses on precisely this moment back in 1813/ 14, which essentially Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 114 - 125. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0009 marked the reconfiguration of the Habsburg Adriatic region to include territories spanning from Trieste to the Bay of Kotor. 8 As part of the Adriatic Campaign (1807 - 1813), towards the end of the Napoleonic wars, joint forces of the Austrian and the British Navy began progressively liberating the main coastal towns that had been under French occupation since 1805. 9 As a strategic port and relevant administrative centre, the town of Zara/ Zadar not only played a pivotal role in the campaign itself, but also contributed to the myth-building of the Habsburg Adriatic. In particular, historical accounts on the siege of Zara (22 November - 5 December 1813) relate an unexpected episode that is said to have turned the tide of the wars. Reportedly, a group of Illyrian (Croatian) soldiers revolted against their French generals, under whom they were forced to fight, to join the Habsburg troops. Several press articles reported that the reason for the switch was an act of patriotism. The insurgents were originally from Lika county, part of the Croatian Military Frontier ( ‘ Vojna Krajina ’ ), a district that since the late sixteenth century had been under Habsburg rule. Whether the Croatians ’ mutiny was decisive in the French capitulation or not, it nevertheless reinforced narratives of the values of bravery, duty and loyalty of Habsburg subjects towards the monarchy. 10 This episode - or better, such military ‘ coup de théâtre ’ - soon became a source of inspiration for playwright Karl Meisl (Ljubljana, 1775 - Vienna, 1853). His drama Die Kroaten in Zara, written in Vienna between January and March 1814, can be understood as an example of a “ wartime theatrical encounter ” , as Annelies Andries and Clare Siviter have put it. By looking at “ notions of theatrical and wartime mobility ” , this concept “ often disclose[s] the effects of wartime-induced moments of self-reflection and alter[s] processes of identity formation ” , 11 which are key to the idea of belonging that is at the core of this special issue. 12 Indeed, Meisl ’ s Die Kroaten in Zara allows an insight into a wide range of acts of individual and collective belonging that in 1813/ 14 were performed both onstage and offstage. The pages that follow provide a close reading of this drama by casting light on three different perspectives and ways of ‘ doing belonging ’ : 1) the links between Karl Meisl and the plot, and his involvement both in the theatrical and in the military field; 2) the theme of imperial belonging and Habsburg loyalty as the ‘ fil rouge ’ of the drama; and 3) the suburban stage as a site of progovernmental propaganda at the dawn of the Congress of Vienna. Just as in 1913 during the Austrian Adriatic Exhibition, I argue, one hundred years earlier Die Kroaten in Zara served a similar agenda of imperial cultural politics. In fact, it showcased the monarchy as a military force and as a sea power, creating a bridge between its political centre (Vienna) and its peripheries (Adriatic coast), and helped to connect its different peoples in territories that were an ethnic and linguistic hybrid, in a time that oscillated between war and peace. Karl Meisl, a “ phantasiereicher Marinebeamter ” In 1835, in a publication collecting brief biographical portraits of Austrian contemporary authors, Karl Meisl was described as a “ beloved popular playwright at the Theater in der Leopoldstadt ” as well as a “ fanciful navy official ” . 13 In fact, one can say that Meisl ’ s everyday life in Vienna was fundamentally divided between two desks. In addition to his extremely prolific activity as a playwright for the suburban theatres, 14 for nearly forty years he also served as an accountant for the Imperial Navy. 115 Longing to Belong: Performing Habsburg Loyalty across Zara, Vienna, and Zagreb c. 1814 Biographical accounts of Karl Meisl are rather scarce and mostly based on secondary sources. 15 Born in Ljubljana in 1775, he trained in politics, law, and commerce in his hometown, in L ’ viv/ Lemberg, and in Vienna. A rare document held by the Austrian State Archive reveals his extensive command of languages ( “ deutsch, latein, italienisch, französisch und krainerisch ” 16 ). Clearly, this made Meisl an asset to the Habsburg administration and even more so during times of war, which required officers to be highly mobile. In a short autobiographical article, written as an entry for Franz Sartori ’ s dictionary in the early 1820 s, Meisl himself recalled the most important stages of his career in this troubled period. After the first steps as a cadet and later as an accountant in the army (1794 - 1802), in 1805 he was sent as an under-lieutenant ( ‘ Unterkriegs-Kommissar ’ ) to the Navy Command in Venice, before transferring to Trieste and eventually ending up in Vienna in 1809, where he joined the Navy and War Department until his retirement in 1840. 17 It is notable that Meisl himself, in the very last lines of this self-portrait, stressed his struggle to integrate himself into the Viennese theatrical scene not only because of his origins, but also because of the periods he spent abroad serving the army, hence remaining “ cut off from German literature ” 18 for eight long years. In this time, it looks like Meisl tried his luck with various plays containing military themes 19 in an effort to capitalize on his affiliation with the navy and to make a name for himself in the theatrical scene. This can be seen on the title page of Die Kroaten in Zara, where Meisl overtly presents himself as a “ k. k. Marine Unter=Commissair ” . 20 By highlighting his connection to the Austrian Imperial Navy, the playwright aimed to communicate a sense of expertise in the field. With a proximity to the main ‘ sources ’ on the siege, Meisl could present himself to his audience as a purveyor of the facts. Furthermore, riding the wave of the fashion for military dramas ( ‘ Soldatendramen ’ ) 21 , he sought to appeal to a distinct readership situated in the military milieu. Looking at the title page of the drama, 22 a handwritten name and a stamp suggest previous owners. One is Lieutenant Maximilien H. Klein, the other possibly a member of the Kreß (von Kressenstein) family. 23 Even several years after its publication in 1814, the drama Die Kroaten in Zara remained rooted in a military audience. As late as 1852, in an article in the Oesterreichischer Soldatenfreund. Zeitschrift für militärische Interessen, a critic recalled “ das schöne Stück Die Kroaten von Zara ” as one of the most vivid accounts of the Croatian soldiers ’ revolt during the siege of the town in 1813. 24 These words reveal the importance of the stage in amplifying recent history, by transforming an apparently isolated episode into a more relevant experience that became collectively meaningful across time and space. More precisely, as Hayden White would say, what Karl Meisl did was an act of historical “ emplotment ” 25 based on a storytelling that, as we will see in the next section, mixes a documentary purpose and fictional elements. Negotiating Belonging Let us now have a closer look at the main themes contained in Meisl ’ s drama. The plot is set in the fortress of Zara and features French officers and generals (enemy occupiers, “ von der feindlichen Besatzung ” ) and eight Croatians “ in the enemy ’ s service ” ( “ Illirier in feindlichen Diensten ” ). For contemporary audiences, the fictional characters names might have sounded very similar to those of the actual soldiers involved in the siege of Zara that were recurring in the news. Most likely, the anonymous commander of the fortress would have been associated with 116 Barbara Babic´ French brigadier general Claude Roize (1768 - 1847), while Croatian soldiers onstage named Maximich, Gregoritsch, Allaich and Poteritsch seem to be the real Corporal Dmitar Milleusnich, Capitains Messich, Gergurich, Allstern and Corporal Pavichich, all members of the Lika regiment, just spelt slightly differently. The re-enactment of military facts blends with fictional elements. For example, Elisabeth Maruschka, Poteritsch ’ s fiancée, plays an important role in the plot by attempting to sneak into the fortress to warn of the advancing allies. Together with Wenzel, a Bohemian innkeeper ( ‘ Kaffeewirth der Festung ’ ), her role is key in motivating the soldiers to emancipate themselves from the French generals and join the approaching Habsburg troops. The notion of belonging is a ‘ fil rouge ’ that holds together the three acts of the drama. Indeed, self-reflective moments and conversations among the soldiers are provoked by the particular setting of the plot: a sort of ‘ huis clos ’ in which the dramatic tension is derived from the narrow spaces of the fortress (casemates) as well as by the anxiety of time running out before the final battle. In such a high-stress situation, the characters are driven to constantly question their role, their mission, and their duties - a sense of inner crisis is present on both the French and the Croatian side. Interestingly, the first act opens with a conversation among French soldiers, who, as occupiers far away from their homeland, admit their struggle in fighting for a cause and for a territory that do not really belong to them: M AJOR : Leider könnte das gute Vaterland [Frankreich] auch ohne diesem Platze bestehen - was kann es den Pariser kümmern, daß wir hier sind, und uns hier todschlagen lassen - ein paar hundert Meilen weit von den unseren? Nein? Das frommt dem Vaterlande nicht und darum wird es nicht gut enden, denkt an mich. 26 M AJOR : Alas, the good fatherland [France] could exist without this place - what does the Parisian care that we are here, and let ourselves be beaten to death - several hundred miles away from our people? No? It is to no avail for the fatherland and therefore will not end well, think of me. Similarly, Croatian soldiers constantly reference their struggle against being forced to serve a foreign country. Just like the innkeeper Wenzel, who strongly identifies as a Habsburg, they feel emotionally attached to “ the ancient duty, the love of country, the longing for the rule of our beloved old emperor! ” . 27 Such feelings are expressed through a metaphor of fabrics - flags and uniforms embodying the most material essence of war. Hence, Wenzel explains the idea of imperial belonging by evoking the “ godly threads ” of the uniform that link the people to their country: W ENZEL . Ich will euchs sagen - ich weiß es: denkt: ihr habt einen Rock lange getragen - er ist alt; aber er ist euch werther, al sein neuer - und wenn ihr ihn zu sehen bekommt, so seyd ihr froh - denn ihr erinnert euch bey seinem Anblicke manches frohen Augenblickes - und ihr wolltet, daß er nie zerreiße - so beyläufig ists - P OTERITSCH . So ists - aber er ist halt doch zerrissen. W ENZEL . Nur getrennt - so ein Rock reißt nie - die Nahten sind von Gott - die Liebe hat das Tuch dazu geliefert! P OTERITSCH . Wollte Gott, es wäre so! - ich leg ’ ihn gleich wieder an den alten Rock - er hat mich gedeckt in Hitz und Kälte - ich trug ihn als Jüngling - ich möchte ihn als Greis so gerne tragen [. . .]. 28 W ENZEL . Let me tell you - I know it now, think: you have been wearing a frock for a long time - it is old, but it is dearer to you than a new one - and when you see it, you are happy - because seeing it reminds you of happy memories - and you hope, that it never tears - that is how it is - 117 Longing to Belong: Performing Habsburg Loyalty across Zara, Vienna, and Zagreb c. 1814 P OTERITSCH . That ’ s it - but the frock is nevertheless torn. W ENZEL . Just separated - such a frock never tears - its threads are made by God - love has delivered the cloth for it! P OTERITSCH . If God wills it, so it would be! I will put the old frock right back on - it has protected me from heat and the cold - I wore it as a young man - I want to wear it as an old man [. . .]. In addition to drawing on divine intention as an argument, Poteritsch tries to persuade his fellow soldiers that switching sides would prevent a fratricidal fight: P OTERITISCH : Da lest selbst - draußen vor der Festung steht ein Haufe unserer Brüder - im Vaterlande weht die alte wohlbekannte Fahne; und wir kämpfen gegen sie - Brüder gegen Brüder? Ist das recht? Nein: das ist nicht recht. 29 P OTERITISCH . Read - outside the Fortress is a troop of our brothers - in the fatherland the old and well-known flag flies; and we are fighting against it - brothers against brothers? Is that right? No: that is not right. By highlighting the warriors ’ ethos of brotherhood, this statement can be understood as an accusation against the Napoleonic hegemony that resulted in a series of bloody internecine wars in Europe. Two decades of conflicts led to a constant change of dynamics between occupiers and occupied, enemies and friends. Such ambiguity is suggested by a dialogue between French and Croatian soldiers, who recall the trauma of the Russian campaign in 1812 as a bonding experience of humanity and brotherhood: M AJOR : Ihr wollt zu den Feinden hinaus? P OTERITSCH . Das wollen wir - wollen sie etwas für uns thun - so sagen Sie das dem Commandante - sagen sie ihm, er soll uns frey abziehen lassen - [. . .] er lasse uns ziehen, und erspare Blut, das sonst fließen muß - M AJOR . Ich will es dem Commandanten vortragen - doch ist euer Beginnen auch rechtlich? Männer ich kenne viele aus euch - du hast bey Smolensk an meiner Seite geffochten - du trugst mich an der Beresina aus dem Gefechte, als ich verwundet ward - dieser Zug da stürmte mit mir an der Moskwa eine Schanze - Brüder sind wir geworden im Angesichte des Todes - hört den Brüder - [. . .] P OTERITSCH . Herr Major - wenn unser Entschluß zu bewegen wäre - Sie allein könnten ihn erschüttern - aber er ist heilig, wie das Leben - und die Bilder, die Sie uns ins Gedächtnis riefen - sind nicht geeignet ihn zu hemmen. Ein Blick nach Rußland, und das fromme Vorhaben steigert sich zur Wuth - dorthin schleppte man die Blüthe unserer Jugend - Not, Kälte und Schwert mähte in unseren Reihen [. . .] 30 M AJOR : You want to join the enemy? P OTERITSCH . Yes, that is what we want - do you want to do something for us - then tell the Commander this - tell him, he should allow us to leave freely - [. . .] he lets us go, and he spares the spilling of blood, that otherwise would have to flow - M AJOR . I will submit this to the Commander - but is your undertaking righteous? I know many men among you - I fought with you side by side at Smolensk - you carried me away from the battlefield at Beresina, when I was wounded - this column stormed a sconce with me on the Moskva - we were made brothers in the face of death - listen to the brothers - [. . .] P OTERITSCH . Major - if our resolve could be shaken - you alone could shake it - but it is holy, just like life - and the images you called to mind - are not enough to constrain it. One look at Russia, and the holy mission turns to anger - our youth was dragged there - hardship, the cold and the sword cut our ranks down [. . .] Various signs in red pencil traced by the prompter on the margins of this scene suggest a stage change ( ‘ Verwandlung ’ ) - possibly different lighting or a musical 118 Barbara Babic´ accompaniment were employed to amplify the recall of such traumatic experiences. Similarly, Maruschka echoes this, by expressing conflicting feelings of pain, grief, revenge, but also a faith in the future: M ARUSCHKA . Der letzte unselige Krieg riß uns vom Mutterlande los - ich welke im Schmerze dahin - und oft sah ich weinend nach den Bergen hinüber, wo die glücklicheren Landesleute geblieben waren, unter der alten Herrschaft - doch wer kann gegen die Macht des Schicksals? Nur die Hoffnung einer bessern Zukunft hielt mich aufrecht. - Meine Landsleute mußten in fernen Provinzen für ferne Zwecke bluten - zwei meiner Brüder liegen in den Eisfeldern von Rußland verscharrt - meinen Vater tödtete der Gram - jetzt schwor ich Rache. 31 M ARUSCHKA . The wretched last war tore us away from our Motherland - in pain I withered away - and with watery eyes I often looked towards the mountains, where our happier compatriots had remained under the old ruler - but who can go against the power of fate? Only the hope for a better future allowed me to stand upright. - My compatriots had to bleed in distant provinces for distant causes - two of my brothers lie buried in the ice fields of Russia - my father killed by the grief - now I swear revenge. After a scene marked as “ Battaille ” , featuring the allies attacking the fortress and the Croatian soldier Illia tragically dying, 32 the drama ends with the capitulation of the French occupiers, who leave the fortress acknowledging their enemies ’ military prowess, heroism, and patriotism - traits that recall a widespread stereotypical portrayal of the Croatians at the time. 33 “ As a human, I am pleased that your life has been saved - as a patriot, I would have acted for my fatherland as you did! ” , 34 states the French general. Eventually, the final scene centres on the theme of reconciliation - the love of country reunites Maruschka and Poteritsch, but also the Austrians and Croatians under the same Habsburg flag: P OTERITSCH : Alles, was getrennt war, findet sich wieder - die Herrschaft der Liebe tritt an den Platz der Beherrschung durch Zwang. Losgerissene Herzen vereinigen sich wieder. M ARUSCHKA : Und Franz beglückt unser Vaterland? (ein Kanonenschuß. Die feindliche Fahne auf dem Walle der Festung, so wie auf den Schiffen fällt herab, und die Oesterreichische wird aufgezogen.) P OTERITSCH : Die Garnison marschirt aus - unsere Fahne weht auf Wällen und Schiffen! (Inzwischen difiliren die Feinde aus der Festung und legen die Waffen ab. Musik - Kanonenschüsse. Alle. Victoria. Gruppe. Der Vorhang fällt). 35 P OTERITSCH : Everything, that has been separated, will find its way together again - the reign of love takes the place of domination by coercion. Hearts torn apart will reunite. M ARUSCHKA : And Franz delights our Fatherland? (a cannon fires. The enemy flag on the fortress ’ s rampart and those on the ships fall down, and the Austrian flag is raised.) P OTERITSCH : The garrison marches out of the fortress - our flag flies on the ramparts and ships! (In the meantime, the enemy marches out of the fortress and lays down their weapons. Music - cannons firing. All together. Victory. Group. The curtain falls). As a tale of imperial sentiment and belonging, Die Kroaten in Zara clearly aligns with the idea of the “ pleasure culture of war ” , as Graham Dawson termed it, a nationally selfserving mode of talking about and profiting from war memory. 36 However, beyond such self-congratulation, a more nuanced picture emerges from this play. Informative and spectacular pictures from the battlefield are juxtaposed with moments in which the war is showcased as a traumatic experience for both civilians and soldiers. Against this backdrop, imperial belonging seems to provide one of the possible answers to finding meaning in the futility of 119 Longing to Belong: Performing Habsburg Loyalty across Zara, Vienna, and Zagreb c. 1814 war. As discussed, the awareness of being part of a larger cause like the Habsburg empire is a process negotiated and rethought over and over throughout the three acts, as both a personal and a communal matter. Its multifaceted essence is revealed by the words of the soldier Illia: “ the ancient fatherland holds our homeland - tomorrow we will be what we were ” 37 . Here the rapidly shifting borders of the ‘ Vaterland ’ in Napoleonic Europe, as an external factor influencing belonging, stand next to the internal and immutable concept of ‘ Heimat ’ . Habsburg Belonging Onstage: On Being in Vienna and Zagreb in 1814 Catalogues of Viennese suburban theatres state that the premiere of Die Kroaten in Zara occurred at the Theater in der Josefstadt on 26 January 1820. 38 However, scholars have overlooked the fact that the drama had actually been performed much earlier. On 31 March 1814 at the Theater in der Leopoldstadt, albeit under the different title of Die Freunde in der feindlichen Festung, 39 the Wiener Theaterzeitung noted the “ plot was the famous story of the Croats in Zara, as reported by all the newspapers ” . 40 Such a correlation between the news and the stage exemplifies Johann Hüttner ’ s idea of nineteenth-century popular theatre as a site of “ dramatized press reports ” ( “ dramatisierter Zeitungsbericht ” 41 ), where real events were fictionalised. 42 According to different sources, on 31 March 1814, Meisl ’ s drama celebrated and served two distinct occasions. Firstly, it was staged as a parting gift ( ‘ Benefizvorstellung ’ ) for the actress Katharina Wolf (in the role of Maruschka), who was leaving the company of the Leopoldstadt to join the theatre in Pest. Secondly, the premiere coincided with the Battle of Paris, which was fought between 30 and 31 March 1814 and resulted in the victory of the Sixth Coalition and ultimately Napoleon ’ s abdication. Wenzel Müller, Kapellmeister of the theatre, noted this turning point in his journal, “ 31. März. Die hohen Alliierten ziehen in Paris ein. Vivat - Vivat - Vivat Kaiser v. Russland, König v. Preußen, und Fürst Schwarzenberg an der Spitze ” . 43 Four months later, on 2 August 1814, Meisl ’ s drama, now under the title Die Kroaten in Zara, was staged for a similar purpose in Agram/ Zagreb to celebrate the withdrawal of the French troops and the return of count Ignácz Gyulay, Ban of Croatia. 44 Unfortunately, less is known about this performance, which featured the resident German theatre company of the Amedéos Theatre that was led by Joseph Bubenhofen between 1803 and 1818. 45 The play retained a strong connection with Zagreb, as it remained in the municipal theatre ’ s repertoire for several decades after its first night in August 1814. For example, in the summer of 1822, the drama ’ s plot seemed to have appealed to an anonymous translator, who adapted the play into Kajkavian (Croatian language) under the title Hervati vu Zadaru. 46 Another performance in Zagreb in German occurred on 12 July 1843 under the direction of Vinzenz Schmidt. According to a press report, although the piece “ lacked dramatic value ” , the performance unexpectedly sold out and ended with “ an almost uninterrupted storm of applause ” . 47 Later stagings in March 1859 and in November 1867 48 provide evidence for another crucial aspect of the local theatre ’ s history. They show to what extent loyalty towards the Habsburg empire was still a central theme on the Zagreb stage, even in times of growing antimonarchist sympathies and Croatian nationalism. Given its content and its performance history, it is clear that Die Kroaten in Zara helped to create a bridge between the Adriatic coast, Vienna, and Zagreb, thus covering a large portion of the Croatian speaking lands. 120 Barbara Babic´ Its storytelling, based on Croatian and Bohemian people who affirm their allegiance to the monarchy, aligns with elements of socalled “ legitimist literature ” ( ‘ legitimistische Literatur ’ ), as Claudio Magris put it,a literary genre that helped amplify the “ Habsburg myth ” . 49 Its celebrative, official and progovernmental tone served, at the dawn of the Congress of Vienna, to communicate a shared sense of imperial belonging to a multinational state. It is particularly of note that such an agenda, generally associated with the more representative role of the court theatres, in this case is deeply rooted in the Viennese suburb. This challenges the depiction of ‘ popular theatre ’ of the early nineteenth century as a place for satirical subversion of the status quo or as venues merely reserved for diversion and light entertainment. Meisl ’ s drama, together with other pieces of that period, is illustrative of the suburban theatres also being key sites for Habsburg self-representation. 50 Interestingly enough, Die Kroaten in Zara not only reinforces the importance of belonging to the Habsburg Empire in terms of space, but also invites a broader reflection on the notion of belonging with regards to the perception of time. 51 As discussed, the drama engaged with history on a shortened timescale - barely four months passed between the siege of Zara and its re-enactment on the Viennese stage. Such a sense of immediacy is key to understanding the drama ’ s role in suggesting to audiences the feeling of ‘ being there ’ , of being part of a shared experience, and becoming witnesses to a turning point in history that marked the gradual transition between wartime and peace. To such a change of temporalities, I argue, Meisl ’ s drama did not offer escapism, but on the contrary, it ‘ trapped ’ audiences in their rather troubled, disoriented ‘ present tense ’ . 52 Indeed, the long-lasting narrative of imperial belonging provided a response both to shifting borders and to shifting semantics of time. It traced the continuity in times of rupture, thus filling the gap between the traumatic experience of the recent past and the future expectation of a new order. That being said, Die Kroaten in Zara not only provided a snapshot of novel temporal regimes perceived in spring 1814 on the Viennese stage. These are also visible in other tales of belonging staged by Karl Meisl at the Theater in der Leopoldstadt during the same period. Wiens froheste Erwartung, a piece celebrating the imminent return of Emperor Franz I to Vienna, was labelled as a “ tableau of the beautiful future ” , 53 while two weeks later, Leiden und Freuden was advertised as a “ Gemälde aus der letzten Zeit in 4 Zeiträumen ” ( “ recent tableau in four periods ” ). 54 During this moment suspended in time, on the cusp of peace when Europe hung in the balance before transitioning away from war, the suburban stage transformed into a time machine, which by trying to grasp the present, transported its audiences into a more reassuring future. Notes 1 I am grateful to the editors, Anke Charton and Theresa Eisele, as well as to the workshop ’ s participants for their feedback on the preliminary version of this paper. I received valued support during archival research from Claudia Mayerhofer (Theatermuseum, Vienna) and Harald Fiedler (Österreichisches Staatsarchiv). Axel Körner, Quirin Lübke, Marion Linhardt, and Matthias Mansky deserve heartfelt thanks for their suggestions. The research for this article was conducted within the framework of an ERC advanced investigator grant (No. 101018743) entitled Opera and the Politics of Empire in Habsburg Europe, 1815 - 1914 at Leipzig University. 2 “ Durch eine GETREUE R EPRODUKTION DES S TADTTORES VON Z ARA betritt der Besucher den Ausstellungsraum zum Südplateau vor 121 Longing to Belong: Performing Habsburg Loyalty across Zara, Vienna, and Zagreb c. 1814 der Rotunde, wo Ausgrabungen von Salona die Aufmerksamkeit auf sich lenken werden ” . Oesterreichische Adria-Ausstellung Wien 1913, k. k. Prater, Vienna 1913, p. 7. A copy of this exhibition ’ s guide is held at the Kriegsarchiv Wien, K VII a 58 - 6-1. All translations are mine. 3 The Austrian Adriatic Exhibition ran from 3 May until 5 October 1913 and received more than 2 million visitors. It was the last event held at the Prater before the fall of the Habsburg monarchy. 4 Hans Kalmsteiner, Ansichtskarte Hafenansicht, Wien, Österreichische Adria-Ausstellung 1913, Verlag Kilophot, Nr. A2. 5 Salvatore Pappalardo, Modernism in Trieste. The Habsburg Mediterranean and the Literary Invention of Europe, 1870 - 1945, New York/ London 2021, p. 96. 6 See Oesterreichische Adria Ausstellung, Offizieller Katalog mit einem Plan, herausgegeben von der Ausstellungs-Kommission, Wien 1913, pp. 72 - 169. 7 “ Den äußeren Anlaß zur Österreichischen Adria-Ausstellung bildet die Jahrhundertfeier der Wiedervereinigung der Küstenländer mit Österreich und das 65jährige Regierungsjubiläum des von seinen Völkern hochverehrten Kaisers Franz Josef I. ” . See the exhibition guide, Oesterreichische Adria- Ausstellung Wien 1913, k. k. Prater, Vienna 1913, p. 6. 8 On the Adriatic region under Habsburg rule, see Dominique Kirchner Reill, Nationalists Who Feared the Nation. Adriatic Multi-Nationalism in Habsburg Dalmatia, Trieste, and Venice, Stanford 2012. 9 On the reconfigurations of the Adriatic coast c.1800, see Rok Stergar, “ Nationswerdungsprozesse und neue Grenzen. Der Zusammenbruch der französischen Herrschaft in den Illyrischen Provinzen und ihre (Re) Integration in das Kaisertum Österreich ” , in: Brigitte Mazohl, Karin Schneider, Eva Maria Werner (Eds.), Am Rande der großen Politik: Italien und der Alpenraum beim Wiener Kongress, Innsbruck 2017, pp. 97 - 122. 10 For an accurate account of the siege of Zadar, see Alexander Buczynski, “ Le brasier latent du patriotisme de la Carniole et le siege de Zadar en 1813 ” , in: Franjo Š anjek (Ed.), Les Croates et les Provinces Illyriennes (1809 - 1813) / Hrvati i Ilirske pokrajine (1809.-1813.), Zagreb 2010, pp. 303 - 352. 11 See the editors ’ introduction in Annelies Andries, Clare Siviter (Eds.), Theatrical Encounters during the Revolutionary and Napoleonic Wars, guest-edited issue for the Journal of War & Culture Studies 14/ 2 (2021), pp. 127 - 139. 12 On the notion of belonging, see Levke Harders, “ Zugehörigkeit als Kategorie historischer Analyse ” , in: Hypotheses. Geschichtstheorie am Werk, 25 January 2022, available online: https: / / gtw.hypotheses.org/ 1942. 13 “ Untersetzte Figur, unsauber, dürftig, starker Tabackschnupfer und Zapfensauger, beliebt gewesener Volksdichter des Leopoldstadtädter Theaters, phantasiereicher Marinebeamter, jetzt Ruine, gänzlich ausgeschrieben ” . Uffo Daniel Horn, Oesterreichischer Parnaß, bestiegen von einem heruntergekommenen Antiquar, Hamburg, Frey-Sing bei Athanasius & Comp., 1835, p. 32. 14 Together with playwrights Adolf Bäuerle and Joseph Alois Gleich, Meisl went down into history as one of the “ drei Großen der Vorstadt ” . Meisl ’ s production encompasses more than 200 plays, consisting mostly of dramas and parodies. A collection of his works appeared already in 1820 as Theatralisches Quodlibet, oder sämmtliche dramatische Beiträge für die Leopoldstädter Schaubühne, 1. - 6. Band, Pesth, Hartleben, 1820. 15 The most complete biographical account of Meisl can be found in Otto Rommel, Die Alt-Wiener Volkskomödie. Ihre Geschichte vom Barocken Welt-Theater bis zum Tode Nestroys, Wien 1952, pp. 640 - 652. 16 See the personal file (Personalakt) of Karl Peter Meisl held at AT-OeStA/ FHKA [Finanz- und Hofkammerarchiv] SuS Pers ORH 40/ 16 - 22. 17 This information is drawn from the Selbstbiographie von Karl Meisl (1775 - 1853), Handschriftensammlung der Wienbibliothek, Signatur: H. I. N.-243435 / ZPH 1645, recently reprinted in: Matthias Mansky, “ Die Selbstbiographien von Joseph Alois Gleich und Karl Meisl für das unvollendete 122 Barbara Babic´ österreichische Gelehrten- und Schriftsteller-Lexikon Franz Sartoris ” , in: Nestroyana. Blätter der internationalen Nestroy-Gesellschaft 1/ 2 (2019), 69 - 79. 18 “ Wenn seinen Arbeiten auch jedes andere Verdienst abgesprochen werden kann - so dürfte doch nicht verkannt werden, daß bei dem Umstande, wo er beinahe 8 Jahre seines Lebens bei der Armée in Italien zubrachte, und von der deutschen Litteratur ganz ausgeschlossen blieb - er bei günstigeren Verhältnissen Bedeutenderes zu leisten vermocht hätte und daß es doch unverkennbaren Beruf zum Volksdichter beurkundet, wenn er - nicht eingebohren in Oesterreichs Hauptstadt - sich einigermassen den Volkston und das Volksleben so eigen gemacht hat, daß er nicht ohne Beifall sich eingebornen Volksdichtern anreihen durfte ” . Matthias Mansky, “ Die Selbstbiographien von Joseph Alois Gleich und Karl Meisl. . . ” , in: Nestroyana. Blätter der internationalen Nestroy-Gesellschaft 1/ 2 (2019), p. 79. 19 See the plays on military topics given at the Theater in der Leopoldstadt: the comedy Der Flügelmann oder Er muß sie heiraten (1804), an adaptation of a French mélodrame given under the title Die Schlacht bei Pultawa (1810), the drama Der österreichische Grenadier (1813), and the “ militärisches Original-Lustspiel ” Der feindliche Sohn (1813). 20 On the title page: Souflir Buch / Die / Kroaten in Zara / Ein militärisches Schauspiel in drey Aufzügen, / von / Karl Meisl, / k. k. Marine Unter=Commissair / Wien, 1814. / Gedruckt bey Anton v. Haykul. Lieutnant Maximien H. Klein. Stamp: Kreß. Copies of this drama are incredibly rare. The only one I could identify in Vienna is held at the Wienbibliothek im Rathaus (Stadt- und Landesbibliothek, A-Wst), Depot Rathaus, A-36414. 21 Soldatendramen, or military dramas, had been very fashionable since Gotthold Ephraim Lessing ’ s Minna von Barnhelm (1767). For more on this genre, see Tilman Venzl, “ Itzt kommen die Soldaten ” . Studien zum deutschsprachigen Militärdrama des 18. Jahrhunderts, Frankfurt 2019. 22 The libretto was reprinted by the publishing house Rehm, as advertised in Allgemeines Intelligenzblatt zur Oesterreichisch-kaiserlichen privilegirten Wiener Zeitung, Nr. 308, 4 November 1814, p. 854. According to the inventory list, in 1820 the publishing house had 470 copies of the drama in its store. See Ursula Kohlmaier, Der Verlag Christoph Peter Rehm (1785 - 1821), Diplomarbeit, Universität Wien, 1997. 23 Despite research in municipal and state archives, I was not able to identify either Lieutenant Maximilien H. Klein or the meaning of “ Kreß ” , possibly linked to a member of the family Kreß von Kressenstein (see, for example, General Christoph Karl Jakob Freiherr Kreß von Kressenstein, Nürnberg, 1781 - Vienna, 1856). 24 Oesterreichischer Soldatenfreund. Zeitschrift für militärische Interessen, Nr. 100, 19 August 1852, p. 415. 25 “ The way by which a sequence of events fashion into a story is gradually revealed to be a story of a particular kind ” . Hayden White, Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973, p. 7. 26 Meisl, Die Kroaten in Zara, I/ 2, p. 9. 27 “ Die alte Pflicht, die Vaterlandsliebe, die Sehnsucht nach der Regierung des alten geliebten Kaisers! ” Meisl, Die Kroaten in Zara, II/ 11, p. 44. 28 Meisl, Die Kroaten in Zara, I/ 6, p. 15 - 16. 29 Meisl, Die Kroaten in Zara, I/ 13, p. 27. 30 Meisl, Die Kroaten in Zara, II/ 12, p. 47 - 48. 31 Meisl, Die Kroaten in Zara, III/ 4, p. 64. 32 Meisl, Die Kroaten in Zara, II/ 15 and 16, pp. 56 - 57. 33 Croatians were generally depicted as a people with a strong military ethos and patriotism due to their long-standing role as defenders of the Western gates on the Military Frontier. Meisl ’ s drama broadly aligns with this understanding. That being said, their image around the turn of the nineteenth century is far more complex. Following Alberto Forti ’ s Viaggio in Dalmazia (1774) and other travel accounts, Croatians were often portrayed in orientalising terms as a people of warm-blooded temperament, 123 Longing to Belong: Performing Habsburg Loyalty across Zara, Vienna, and Zagreb c. 1814 barbaric costumes, and backwardness. On these common refrains, see Mirna Zeman, Reise zu den “ Illyriern “ . Kroatien-Stereotype in der deutschsprachigen Reiseliteratur und Statistik (1740 - 1890), Oldenburg/ München 2013. 34 “ Mich freut es als Mensch, daß dein Leben gerettet ist - als Patriot würde ich für mein Vaterland gehandelt haben, wie du! ” Meisl, Die Kroaten in Zara, III/ 16, p. 78. 35 Meisl, Die Kroaten in Zara, III/ 19, p. 83. 36 Graham Dawson, Soldier Heroes: British Adventure, Empire and the Imagining of Masculinity, London 1994. 37 “ Das alte Vaterland ist im Besize unserer Heymath - morgen sind wir wieder was wir waren ” . Meisl, Die Kroaten in Zara, II/ 4, p. 36. 38 Rommel reports the first performance on 13 June 1820 at the Theater in der Josephstadt. Otto Rommel, Die Alt-Wiener Volkskomödie. Ihre Geschichte vom Barocken Welt-Theater bis zum Tode Nestroys, Wien 1952, p. 1045. Local Viennese newspapers such as Der Wanderer and Der Oesterreichische Beobachter announce earlier performances on 20 and 27 January 1820. 39 Erroneously, Rommel reports Die Kroaten in Zara and Die Freunde in der feindlichen Festung as two distinct pieces. Otto Rommel, Die Alt-Wiener Volkskomödie. Ihre Geschichte vom Barocken Welt-Theater bis zum Tode Nestroys, Wien 1952, p. 1045. 40 “ Der Inhalt ist die bekannte Geschichte der Kroaten in Zara, welche uns die Zeitungen mittheilten, und nach welcher diese rechtlichen Leute, überdrüßig der Schmach, unter französischer Despotie zu stehen, zu den Oesterreichern übergingen, und plötzlich klar über die wahren Verhältnisse sich wieder an ihre Landesleute anschlossen ” . Wiener Theater-Zeitung, Nr. 39, 1 April 1814, p. 153. The Dramaturgischer Beobachter also reports three previous performances: “ Den 31. Die Freunde in der feindlichen Festung, ein militär. Schausp. in 3 A. von Carl Meisl. Die Vorstellung den 5. war zum Besten der Wohlthätigkeits-Anstalt; die am 18. zum Vorth. des Hrn. Joh. Sartory. Den 26. für Hrn. Hampel; die am 31. für Mad. Wolf. ” Dramaturgischer Beobachter, Nr. 36, 25 March 1814, p. 143. 41 Johann Hüttner, “ Volk sucht sein Theater. Theater suchen ihr Publikum: Das Dilemma des Wiener Volkstheaters im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ” , in: Jean-Marie Valentin (Ed.): Das österreichische Volkstheater im europäischen Zusammenhang: 1830 - 1880, Bern 1988, p. 51. 42 Oesterreichischer Beobachter, Nr. 352, 18 December 1813, pp. 1821 - 1822. 43 Rudolph Angermüller, Wenzel Müller und „ sein “ Leopoldstädter Theater. Mit besonderer Berücksichtigung der Tagebücher Wenzel Müllers, Wien/ Köln/ Weimar 2009, p. 216. 44 See Elisabeth Großegger, Gertraud Marinelli-König (Ed.), Nikola Batu š ic´, Geschichte des deutschsprachigen Theaters in Kroatien, Wien 2017, p. 163. The drama is also briefly discussed in Daniel Baric, Langue allemande, identité croate. Au fondament d ’ un particularisme culturel, Paris 2013, pp. 317 - 318. 45 A copy of the drama is also held at the National Library in Zagreb under the signature RVI-8°-259. 46 Antonija Cvijic´, Hervati vu Zadaru, voinicka igra z trem pokazi od Karola Meizla na Hervatzki preneshena vu letu 1822, Hrvatska Revija, 4, 1931, p. 172 - 77, quoted in Daniel Baric, Langue allemande, identité croate. Au fondament d ’ un particularisme culturel, Paris 2013, p. 318. 47 “ Vergangenen Mittwoch erfreut uns wieder einmal nach langer, langer Zeit der equickende Anblick eines vollen Hauses. [. . .] Die Kroaten in Zara, von Karl Meisl, welches Stück, wenn auch von keinem besonderen dramatischen Werthe, doch durch sein Sujet schon im Voraus das lebhafteste Interesse verbürgen konnte. Der fast ununterbrochene Beifallssturm, der die Aufführung von Anfang bis zu Ende begleitete. . . ” . Luna, Beiblatt zur Agramer politischen Zeitung, Nr. 56, 15 July 1843, p. 240. 48 See Marijan Bobinac, “ Wir sind keine Verehrer der Wiener Posse. Zur Rolle der Wiener Volkstheatertexte in den Anfängen des kroatischen Nationaltheaters ” , in: Marijan 124 Barbara Babic´ Bobinac (Ed.), Porträts und Konstellationen 2. Deutschsprachig-kroatische Literaturbeziehungen. Zagreber Germanistische Beiträge, Beiheft 6 (2001), pp. 19 - 53. 49 Claudio Magris, Der Habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, Salzburg 1966. On imperial belonging in the Southeastern region, see also Boris Previ š ic´, “ Es heiszt aber ganz Europa. . . ” Imperiale Vermächtnisse von Herder bis Handke, Berlin 2017. 50 On war on the suburban stages, see: Marion Linhardt, “ Mobilization and the Creation of Collective Identities: War and Popular Theatre in 1914 ” , in: Austrian Studies 21 (2013), pp. 76 - 98. Matthias Mansky, “ Das Wiener Vorstadttheater als Kriegsschauplatz? Reflexionen von Krieg und Politik in Stücken Anton Langers und O. F. Bergs ” , in: Estudios Filológicos Alemanes 26 (2014), pp. 83 - 92. 51 “ Belonging comes to the fore - and is transformed and (re)defined - in crises and conflicts, and at points of fracture and rupture ” . Bettina Brockmeyer, Levke Harders, “ Questions of belonging. Some introductory remarks ” , in: InterDisciplines 2 (2016), p. 4. 52 On the link between theatre, trauma, and modernity in post-Napoleonic Europe, see also: Emanuele Senici, Music in the Present Tense. Rossini ’ s Operas in their Time, Chicago 2019. 53 Wiens froheste Erwartung. Ein Gemälde der schönen Zukunft mit Gesang in 3 Akten, Theater in der Leopoldstadt, 8 May 1814. Otto Rommel, Die Alt-Wiener Volkskomödie. Ihre Geschichte vom Barocken Welt- Theater bis zum Tode Nestroys, Wien 1952, p, 1045. “ Dieses Lustspiel, welches uns in mehreren fröhlichen und gemütlichen Scenen, die Aeußerungen guter Menschen über die Zurückkunft unseres großen und guten Kaisers, als Vorgeschmack jener Freuden giebt, die unser in der schönen Zukunft warten, hatte das Glück recht sehr zu gefallen ” . Wiener Theater-Zeitung, Nr. 56, 12 May 1814, p. 222. 54 Leiden und Freuden. Ein Gemälde aus der letzten Zeit in vier Zeiträumen nach dem beliebten Zeitstück von Kringsteiner, Übles und Gutes, Theater in der Leopoldstadt, 21 May 1814. Otto Rommel, Die Alt-Wiener Volkskomödie. Ihre Geschichte vom Barocken Welt-Theater bis zum Tode Nestroys, Wien 1952, p. 1045. 125 Longing to Belong: Performing Habsburg Loyalty across Zara, Vienna, and Zagreb c. 1814 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ Konstruktionen von Gemeinschaft in Carl Elmars Liebe zum Volke (1850) Lisa Niederwimmer (Wien) Der Beitrag untersucht Konstruktionen von Gemeinschaft und Zugehörigkeit anhand des Theaterstücks Liebe zum Volke, oder: Geld - Arbeit - Ehre (1850) von Carl Elmar. Aufgrund seines historischen Kontextes und der Rezeption bietet sich dieses Stück für eine Annäherung an den funktionalen Charakter von Theater während des militärischen Ausnahmezustandes an, der nach Ende der Revolutionen von 1848/ 49 über Gebiete der Habsburgermonarchie verhängt wurde. Der unmittelbare Einfluss der Militäradministration auf den Alltag der Wiener: innen sowie die reaktionäre Politik führten zu Unzufriedenheit bei Teilen der Stadtbevölkerung. Vor diesem Hintergrund rücken Fragen nach der theatralen Verhandlung gesellschaftlicher Machtverhältnisse und nach der Aushandlung von gesellschaftlichen Zugehörigkeiten ins Zentrum der Analyse. Es wird dargelegt, wie die Aufführungen von Liebe zum Volke eine soziale Funktion übernommen haben, indem sie als Ventil dienten, das dem Publikum ermöglichte, Emotionen zu kanalisieren. 1 Am 31. Oktober 1848 wurde die Revolution in Wien durch das Militär niedergeschlagen. Als auch die Aufstände in Ungarn im Oktober 1849 erstickt wurden, siegte die Gegenrevolution über die transleithanischen Ausläufer der ersten europaweiten Bewegung, die politische und soziale Forderungen gestellt hatte. Zu diesem Zeitpunkt war der junge Franz Joseph I (1830 - 1916) bereits zum Kaiser gekrönt worden. Mithilfe des Militärs versuchte er, die Habsburgermonarchie innen- und außenpolitisch zu stabilisieren. 2 Zentrale, demokratisierende Forderungen der Revolution, wie politische Mitbestimmung und Abschaffung der Zensur, wurden im Keim erstickt und mit repressiver Politik versucht, revolutionäre Kräfte zu unterdrücken. Für große Teile der Monarchie bedeutete das Ende der Revolution die Einführung von Militärgerichtsbarkeit und -administration, die bis 1853/ 54 aufrecht blieben. 3 Für eine theaterhistoriografische Untersuchung erweist sich der militärische Ausnahmezustand in mehrfacher Hinsicht als beachtenswerte Phase. Da die Polizei- und Zensurhofstelle während der Revolution aufgelöst wurde, fiel die Theaterzensur in den Zuständigkeitsbereich des Militärs und damit an eine Stelle, die bis dahin keine Kompetenzen in der Kontrolle theatraler Darstellungsformen innehatte. 4 Bis zur Einführung der Theaterordnung am 25. November 1850 wurde die Theaterzensur offiziell vom Militär verantwortet und weniger strikt gehandhabt, als dies unter Staatskanzler Clemens Fürst Metternich (1773 - 1859) der Fall gewesen war. Obwohl das Militär in der postrevolutionären Phase (und darüber hinaus) die hauptsächliche Funktion hatte, den Staat und die dynastische Herrschaft zu stützen, dürfte paradoxerweise die Kompetenzverschiebung in Kombination mit der politisch instabilen Lage zu einer nachsichtigeren Zensurhandhabe geführt haben. Doch nicht nur auf regulativer Ebene wirkte sich die Militäradministration auf die Gesellschaft aus. Mit einer reaktionären Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 126 - 144. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0010 „ Schreckensherrschaft “ wurde versucht, jeden Ansatz revolutionärer Bestrebungen oder Störungen der öffentlichen Ordnung zu unterbinden. 5 Die Einschränkungen des militärischen Ausnahmezustands hatten unmittelbaren Einfluss auf den Alltag der Menschen und führten zu Unzufriedenheit bei Teilen der Bevölkerung. Das Militär war in den Straßen der Stadt präsent und führte Personenkontrollen durch; Verhaftungen oder Verfahren wurden nach Standrecht exekutiert. 6 Diese Verflechtung von politischen Umständen und gesellschaftlicher Dynamik zeigt sich auch theatral. Sie soll anhand des am 18. März 1850 am National-Theater an der Wien erstaufgeführten Charakterbilds Liebe zum Volke, oder: Geld - Arbeit - Ehre von Carl Elmar (1815 - 1888) im Folgenden nachvollzogen werden. Wie Rezeptionsdokumente belegen, nutzten Teile des Publikums die Premiere sowie folgende Aufführungen als Ventil, um ihrer Unzufriedenheit über die Militärherrschaft und ihrem Unmut über die nicht erfüllten Versprechungen und die gescheiterten Vorhaben der Revolution Luft zu machen. Die Produktion bietet sich für die Annäherung an den funktionalen Charakter von Theater während des militärischen Ausnahmezustandes an. Aufgrund ihres historischen Kontexts und ihrer Rezeption rücken Fragen nach der theatralen Verhandlung gesellschaftlicher Machtverhältnisse und der Aushandlung von gesellschaftlichen Zugehörigkeiten ins Zentrum der Analyse. Carl Elmar porträtiert Vertreter: innen aus Adel, Bürgertum und Proletariat, deren Verhältnis zueinander Aufschluss über die vom Autor imaginierte Gemeinschaft 7 gibt: Der im Titel prominent gesetzte Begriff ‚ Volk ‘ wird zum Ausdruck einer idealisierten Gemeinschaft, die reale gesellschaftliche Gegensätze überwinden soll. Im Finale des Stücks werden diese Gegensätze symbolisch durch mehrere Verlobungen zwischen Figuren teils unterschiedlicher sozioökonomischer Herkunft aufgehoben. Als Schauplatz dient eine Fabrik - ein sozialer Musterbetrieb, in dem gleich einer Petrischale die idealisierte Gemeinschaft im Kleinen kultiviert wird. Dieser Beitrag untersucht somit die Konstruktionen von Gemeinschaft in Elmars Liebe zum Volke und fokussiert drei sich überlagernde Aspekte: das ‚ Volk ‘ als abstraktes Kollektiv, die Fabrik als konkreter Teilbereich desselben und die Aufführung als historisches Ereignis, das als Ventil für ‚ das Volk ‘ diente. Die Anwendung von Kollektivbegriffen wie ‚ Volk ‘ oder ‚ Bürgertum ‘ ist für die Forschung unverzichtbar. Wie die Historikerin Levke Harders festhält, wird deren Konstruiertheit zwar zunehmend, aber nicht immer hinterfragt. Für die Erforschung von Kollektiven, Individuen oder kulturellen Praktiken schlägt Harders daher vor, ‚ belonging ‘ als analytische Kategorie zu nutzen, denn: „ Im Gegensatz zu Konzepten wie Identität betont ‚ belonging ‘ , dass Zugehörigkeiten immer situiert und plural sind, sich verändern, dass sie ebenso strategisch genutzt wie konstruiert sein können. “ 8 Ein abstrakter Ordnungsbegriff wie ‚ Volk ‘ , der für sich genommen nicht mehr benennt als ein Kollektiv von Menschen, setzt Kriterien und Strategien voraus, um die Zugehörigkeit oder Nicht- Zugehörigkeit zu einem Kollektiv zu bestimmen. ‚ Belonging ‘ als analytische Kategorie impliziert die Reflexion des Herstellungsprozesses und ermöglicht, diese Strategien offenzulegen und die Reproduktion historisch gewachsener Fremd- oder Selbstzuschreibungen zu vermeiden. Der Auseinandersetzung mit den Bedeutungsebenen von ‚ Volk ‘ im hier diskutierten Fallbeispiel liegt dementsprechend die Frage zugrunde, wer als Teil dieses Kollektivs zugelassen und wer ausgeschlossen wird. Grundlegend lassen sich drei Strategien unterscheiden, die dem Konzept ‚ Volk ‘ ver- 127 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ schiedene, aber nicht immer voneinander getrennte Bedeutungsebenen und damit Kriterien für Zugehörigkeit oder Nicht- Zugehörigkeit verleihen: ein ethnischer, ein im engeren Sinn politischer und ein Volksbegriff der sozialen Abgrenzung. Eine politische Dimension ist allen drei Ebenen inhärent, ebenso werden in jeder Strategie Ausgrenzungsmechanismen wirksam. ‚ Volk ‘ als ethnisch homogene Gruppe von Menschen behauptet eine gemeinsame Kultur, Sprache und Herkunft. Dabei können auch Differenzkategorien wie äußere Erscheinung und Hautfarbe eine Rolle spielen. Diese Konzeption von ‚ Volk ‘ wurde und wird besonders dann gefährlich, wenn eine vermeintliche Abstammungsgemeinschaft konstruiert und damit systematischer Ausschluss, Diskriminierung, Verfolgung oder Ermordung von als nicht zugehörig markierten Menschen gerechtfertigt wird. Der politische Volksbegriff meint hingegen die Gesamtheit von Staatsbürger: innen oder Einwohner: innen; im engeren Sinne auch jene - meist privilegierte - Bürger: innen, die in einer Demokratie Mitspracherecht genießen. Unabhängig von der Staatsform grenzt sich schließlich in der dritten Bedeutungsebene eine elitäre Oberschicht vom ‚ Volk ‘ als ‚ Masse ‘ oder ‚ Pöbel ‘ ab. 9 Diese drei dominanten Konzepte stellen den groben Bezugsrahmen dar, um die „ Leere de[s] Signifikanten ‚ Volk ‘“ 10 mit Bedeutung zu füllen. In Liebe zum Volke werden alle drei Bedeutungsebenen angewendet, wobei ich zwischen expliziten und impliziten Kriterien der Exklusion unterscheiden möchte: Explizit angewendet wird das politische und soziale Konzept von ‚ Volk ‘ . Implizite Ausschlusskriterien - solche, die keine direkte Erwähnung in der Figurenrede im Zusammenhang mit ‚ Volk ‘ finden - , werden bei Elmar durch antijüdische Stereotype und die Abwesenheit nicht-deutschsprechender Figuren markiert. Ein ethnisches Volkskonzept vermittelt sich auch über nicht ausdrücklich erwähnte Normen durch die Figuren und deren Akteur: innen. Diese wurden - soweit es das verfügbare Quellenmaterial nahelegt - vermutlich als christlich, heterosexuell, deutschsprachig und ‚ weiß ‘ gelesen. Gemeinschaft wird in Liebe zum Volke aber nicht ausschließlich im Rahmen des ‚ Volks ‘ konstruiert. Neben den vorhandenen und sich anbahnenden familiären bzw. ehelichen Zusammenschlüssen, wird das abstrakte Kollektiv ‚ Volk ‘ im Kontext der Fabrik aufgerufen, in dem besonders die soziale Bedeutungsebene zum Tragen kommt. Nicht zuletzt bildeten sich im Rahmen der Aufführungen temporäre Gemeinschaften auf Basis der physischen Ko-Präsenz von Darstellenden und Zuschauenden. Ausgehend vom Theatertext und den zahlreichen kritischen, politischen Anspielungen, die als Projektionsfläche dienten, möchte ich - gestützt auf Rezeptionsdokumente - argumentieren, dass sich aufgrund der affizierenden Wirkung und des Identifikationspotentials des Stücks innerhalb des Publikums Gemeinschaften bildeten. Über die Auseinandersetzung mit dem Theatertext werden die theatralen Ereignisse zumindest annähernd fassbar. Nicht-/ Zugehörigkeiten im Publikumsraum können unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Textanalyse und mittels Rückgriff auf produktions- und rezeptionsseitiges Material erörtert werden. Der mikrohistorische Zugriff ermöglicht Einblick in lokal begrenzte, gesellschaftliche Dynamiken. Mithin kann einmal mehr verdeutlicht werden, dass eine rein literaturästhetische Perspektive auf Stücke des Wiener Vorstadttheaters die Funktionen dieses Mediums nur unzureichend erfassen kann. Idealisierte Gemeinschaft In seiner Anlage folgt das Theaterstück der Logik einer herkömmlichen Heiratsgeschichte. Im Mittelpunkt der Handlung 128 Lisa Niederwimmer stehen ein Fabrikant, eine adelige Familie und die Familie eines mittellosen Schneiders, die in unterschiedlichen Konstellationen miteinander in Verbindung treten. Baron Wettersporn, sein Schwager Banquier Silberhain und dessen Tochter Eugenie repräsentieren gemeinsam mit Eugenies Geliebtem, dem Chevalier von Edelherz, den Adel. Der Schneider Mühsam, seine Verwandte Christel und seine zwei Kinder, Anton und Friederike, sind die Repräsentant: innen der städtischen kleinbis unterbürgerlichen bzw. proletarischen Schicht. 11 Der Metallgusswaren-Fabrikant Stillmann soll Eugenie, die Tochter des Banquiers, heiraten. Ihr Interesse gilt allerdings dem Millionär Edelherz, der sich als Philanthrop inszeniert und Wohltätigkeitsveranstaltungen organisiert. Eugenies Onkel ist über ihre Ablehnung dem Fabrikanten gegenüber enttäuscht, weil er seinen Freund für einen edlen Mann hält. Daher schmiedet er den Plan, die Tochter des Schneiders Mühsam mit Stillmann zu verkuppeln, wozu er Eugenies Bruder um Hilfe bittet. Allerdings hat Edelherz ebenfalls ein Auge auf Friederike geworfen. Christel, Mitbewohnerin im Hause Mühsam, wiederum denkt, ihr gelte die Aufmerksamkeit des jungen Millionärs, da er ihr 50 Gulden als Geschenk übergeben hat. Durch Verwechslungen und Verheimlichungen wird die Auflösung des Missverständnisses bis zum Ende des Stücks hinausgezögert, zu dem schließlich auch zahlreiche eheliche Verbindungen in Aussicht gestellt werden: Den Anfang machen Schneider Mühsam und Christel, die sich zu heiraten versprechen. Eugenie erkennt, dass sie sich von Edelherz hat blenden lassen und bittet Stillmann um Vergebung. Der Fabrikant verzeiht ihr sofort und die beiden versöhnen sich. Auch der Baron und die Schneiderstochter finden zueinander. Einzig der Chevalier bleibt nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit Anton vom Happy End ausgeschlossen. Carl Elmar bediente sich dieses konventionellen Handlungsrahmens, um mittels historischer Schlagworte und tagespolitischer Anspielungen Verbindungen zur Revolution 1848 herzustellen und auch Kritik an der reaktionären Politik zu üben. Der Autor beanstandete die fehlende politische Mitbestimmung, Unterdrückung und Bevormundung des ‚ Volks ‘ und traf damit den Nerv der Zeit. Wie ein anonymer Korrespondent der Tageszeitung Die Presse berichtete, übernahmen die Aufführungen von Liebe zum Volke eine Ventilfunktion: Der Hunger des Volkes nach endlicher Verwirklichung so mancher Verheißung, nach dem Aufschließen des Belagerungskerkers, sperrt bei Gelegenheit dieses Stückes einen ungeheuren Rachen auf und verschlingt mit wollüstiger Gier die magere Phrase und den fetten Unsinn. 12 Zwanzig Jahre später erinnert sich der Schriftsteller Friedrich Kaiser (1814 - 1874) in seinen Memoiren Unter fünfzehn Theater- Direktoren (1870) an die populären „ politischen Volksstücke “ der post-revolutionären Zeit und hebt insbesondere Carl Elmar als Vertreter dieses „ neuen Genres “ hervor. Kaiser stellt die Legitimität der Bezeichnung in Frage und kritisiert die Konzeption der Stücke, verweist aber ebenso auf den funktionalen Charakter von Aufführungen aus der Zeit der Militärverwaltung: Den politischen Beigeschmack bekamen diese Stücke nur durch die in den Dialog eingeflochtenen Schlagworte des Tages, durch einige mitunter sehr witzige Ausfälle und durch die Couplets, in welchen namentlich Elmar Meisterhaftes leistete. Aber das Publikum, leidend unter dem furchtbaren Druck der Militärherrschaft, ergriff jede Gelegenheit, seinem bis zum Ingrimme gesteigerten Unmuthe Luft zu machen. Die Zuschauer spendeten demonstrativen Beifall dafür, daß ein Anderer das sagte, was sie selbst zu sagen nicht wagen durften, und ließen sich, mit 129 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ dieser Genugthuung zufriedengestellt, in kein weiteres Urtheil über den inneren Werth solcher Stücke ein. 13 Die affizierende Wirkung von Liebe zum Volke auf das Publikum, ließ das National- Theater an der Wien für kurze Zeit zu einem politisierten Versammlungsort für das ‚ Volk ‘ werden. Rezeptionsdokumente geben nur indirekt und vage Aufschluss über die Zusammensetzung des Publikums, indem sie, meist in allgemeiner Form, von Reaktionen berichten. Über die Analyse ausgewählter Szenen aus Liebe zum Volke, können aber Aussagen über politische Dimensionen des Stücks, das Identifikationspotential und somit auch Möglichkeiten der sozialen und politischen Nicht-/ Zugehörigkeiten im Zuschauer: innenraum getroffen werden. Als „ Volksfreund “ 14 wird zu Beginn des ersten Akts der Metallgusswaren-Fabrikant Stillmann etabliert. In einem überschwänglich positiven Monolog hebt sein Freund, der Baron, hervor, wie respektvoll und wertschätzend sich der Unternehmer seinen Arbeiter: innen gegenüber verhält. Er beschreibt Stillmann als einen Arbeitgeber, [. . .] der das Volk beschäftigt und nährt - der dem Arbeiter seinen Lohn nicht als kärglichen Bettelsold hinwirft, wohl aber den Fleiß und die Mühe mit Großmuth und Freundschaft bezahlt; [. . .] der, so weit es in seiner Macht steht, dem Volk außer Lohn und Brot auch Licht und Bewußtsein gibt; der Recht und Gerechtigkeit übt, und dennoch niemals Tyrann wird [. . .]. 15 Die Konzepte ‚ Volk ‘ und ‚ Fabriksarbeit ‘ greifen hier ineinander und setzen das ‚ Volk ‘ mit Arbeiter: innen gleich, denen der Fabrikant als Patriarch vorsteht. In seinem musterhaften Industriebetrieb pflegt das männliche Oberhaupt ein fürsorgliches Verhältnis zu seinen Arbeiter: innen und wacht väterlich über sie. Repräsentiert werden die Arbeiter: innen von Anton, dem Sohn des Schneiders. Als Techniker, der sein Studium abgebrochen und in einer Fabrik angeheuert hat, stellt er einen hochqualifizierten Arbeiter dar. Wie auch bei Stillmann überschneiden sich bei Antons erstem Auftritt ‚ Volk ‘ und ‚ Fabrik ‘ . Im Verlauf der Aufführungsgeschichte wurde das Stück an dieser Stelle um eine politische Dimension beschnitten, wie die Gegenüberstellung der Druckfassung mit derjenigen des Soufflierbuchs, das bei den Aufführungen im National-Theater an der Wien verwendet wurde, zeigt. 16 Mit „ es lebe das Volk! “ 17 begrüßt der gutgelaunte Anton seine Schwester, den Baron und den Fabrikanten. Seine blendende Stimmung ist auf die Kündigung in der Fabrik zurückzuführen, die er unmittelbar davor ausgesprochen hat. Im Druck und Manuskript gehen die Begründungen dafür in zwei verschiedene Richtungen. In der publizierten Version ist eine persönliche Beleidigung ausschlaggebend: „ Der Fabriksherr beleidigte mich! er ist ein ungebildeter Mensch! “ 18 Ausgangspunkt der Auseinandersetzung sei ein „ theoretischer Streit über Volksbildung in den Fabriken “ 19 gewesen. Im Souffliermanuskript, und damit wahrscheinlich auch in den ersten Aufführungen, war die Differenz mit dem Industriellen zunächst explizit politischer Natur: „ Der Fabriksherr beleidigt das Volk! er ist ein Reaktionär! “ 20 Mit Bleistift wurde aber aus der Volksbeleidigung des Reaktionärs die persönliche Beleidigung des Ungebildeten. Der Satz, in dem der Gegenstand des Streits eingeführt wird, wurde im Manuskript drei Mal überarbeitet. In der ersten Fassung war ein „ politischer Streit, über Zusammensetzung der Kammern “ 21 der Grund. Entsprechend der Änderung seiner ersten Aussage entstand aus dem politischen ein theoretischer und schließlich ein „ hitziger Streit über die Volksbildung in den Fabriken “ 22 . In der Gegenüberstellung wird deutlich, dass der Fabrikant zunächst als Reaktionär 130 Lisa Niederwimmer und damit als ideologisches Negativbeispiel fungieren sollte. Als Figur, die, gegen das ‚ Volk ‘ gerichtet, den demokratischen Ideen der Revolution 1848 feindlich gesinnt ist, diente er als Repräsentant der Konterrevolution. Möglicherweise musste der Revolutionsbezug entfernt werden. 23 Mit der „ Zusammensetzung der Kammern “ verwies Elmar wahrscheinlich auf die Wahlen zum Erfurter Reichstag. Nach Ende der Revolution war der Deutsche Bund destabilisiert; unter der Führung Preußens wurde versucht, einen deutschen Nationalstaat unter Ausschluss Österreichs zu gründen. Für dieses Projekt wurde im Mai 1849 bereits ein Verfassungsentwurf erarbeitet, der dem wenige Monate danach etablierten Erfurter Reichstag zur Abstimmung vorgelegt werden musste. Die Wahlen zum Reichstag fanden im Jänner und Februar 1850 statt, also kurz vor der Uraufführung von Liebe zum Volke. Die erste Kammer (Staatenhaus) wurde nach dem Zensuswahlrecht, basierend auf Besitz und Vermögen, gewählt. Für die Wahlen in die zweite Kammer (Volkshaus) wurde das Dreiklassenwahlrecht eingeführt, das eine Gewichtung der Stimmen nach Steuerleistung vorsah. Die Entdemokratisierung der Wahl zur zweiten Kammer hatte zur Folge, dass die Demokraten diese boykottierten, die Wahlbeteiligung gering war und schließlich die ‚ Gothaer Partei ‘ der gemäßigten Liberalen, sowohl im Volksals auch im Staatenhaus die Mehrheit stellte. Für die ‚ Gothaer ‘ war die Repräsentation des ‚ Volks ‘ weniger relevant als das im Verfassungsentwurf festgelegte absolute Vetorecht des Reichsoberhaupts sowie das Dreiklassenwahlrecht, zumal die Mitbestimmung des wohlhabenden Bürgertums damit gesichert war. 24 Dass die Liberalen nun in dem verfassungsvereinbarenden Reichstag die Stimmenmehrheit innehatten, nahm Elmar möglicherweise zum Anlass, die Zusammensetzung der Kammern zu erwähnen. Indem die Figur Anton den Fabrikanten als Reaktionär bezeichnet, bezieht er Stellung auf Seiten jener, die die diskriminierende Wahlregelung beklagten. Wenn Anton in diesem Zusammenhang von der Beleidigung des ‚ Volks ‘ durch den Fabrikanten spricht, etabliert er einen politischen Volksbegriff und verweist auf den Ausschluss der Bevölkerung aus politischer Mitbestimmung. An die Stelle des Streits über die Kammern trat im Verlauf der Aufführungsgeschichte der Streit über die „ Volksbildung in den Fabriken “ . Die Anfänge der ‚ Volksbildung ‘ als Erwachsenenbildung liegen in der Aufklärung. Neben den Aspekt der Bildung als Erziehung von Staatsbürger: innen im Sinne der zu etablierenden nationalen Einheit traten ab Mitte des 19. Jahrhunderts Hoffnungen auf die Lösung der ‚ sozialen Frage ‘ . Im Fabrikskontext kann ‚ Volksbildung ‘ konkret als ‚ Arbeiter: innenbildung ‘ verstanden werden, die eng mit der Emanzipation der Arbeiter: innenschaft im 19. Jahrhundert verknüpft ist. Nach ersten Ansätzen während der Revolution 1848 wurde mit der Lockerung des Vereinsgesetzes 1867 die gesetzliche Basis für die Gründung von ‚ Arbeiterbildungsvereinen ‘ in der Habsburgermonarchie geschaffen; vier Jahre später wurde der erste ‚ Arbeiterinnen-Bildungsverein ‘ in Wien ins Leben gerufen. 25 Der Strich im Soufflierbuch suggeriert zwar die Zensur einer politischen Aussage, jedoch wurde diese durch eine nicht minder politische Thematik ersetzt. Die „ Demokratisierung von Bildung und Wissen “ war mit politischen Interessen verknüpft und dementsprechend ein langwieriger Prozess gewesen, der „ [p]arallel zur politischen Demokratisierung “ 26 einsetzte. Unbeeinflusst von dem Gegenstand des Streits blieb in der ersten Textfassung der zugrundeliegende Denkfehler des Fabrikanten bestehen, der Anton zufolge darin lag, dass „ er heut noch nicht wissen kann, wer morgen der Mächtige ist! “ 27 131 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ Im zweiten Akt, wenn es um eine mögliche eheliche Verbindung zwischen der Tochter des Schneiders und dem Fabrikanten Stillmann geht, wird die Zugehörigkeit zum ‚ Volk ‘ ausgeweitet. Anton, der mittlerweile bei Stillmann arbeitet, stellt die soziale Verortung des Industriellen und Friederike in den Hintergrund, denn: „ Sie ist aus dem Volke - nun gut! Herr Stillmann ist auch aus dem Volke - und wir werden doch unter uns selbst nicht wegen einigen lumpigen Gulden einen Standesunterschied machen? “ 28 In der Erstfassung des Texts geht Elmar hier noch einen Schritt weiter und hebt nicht nur die Unterschiede zwischen den beiden Figuren auf, wenn Anton fortfährt mit: „ etwa so eine Kathegorie, wo der Reichste Volk N o 1 der Ärmere Volk N o 2 und der Ärmste Volk N o 3 ist? ! Ich kenne sonst Nichts, als Ein Volk und für das verlang ’ ich Respekt! “ 29 Unabhängig vom ökonomischen Status fordert Anton Solidarität und Anerkennung. Zwar weist er auf finanzielle Unterschiede hin, dennoch konstruiert er ein ‚ Wir ‘ , mit dem er das ‚ Volk ‘ als egalitäre Gemeinschaft imaginiert. In diesem ‚ Wir ‘ steckt ein utopischer Ansatz zur Überwindung gesellschaftlicher Zerwürfnisse und zugleich erinnert es an demokratisierende Forderungen während der Revolution 1848. 30 Das Verhältnis zwischen dem Arbeiter bzw. seiner Schwester und dem Industriellen erweckt den Eindruck eines verklärten Rekurses auf die Revolution. Während das Zusammenwirken unterschiedlicher Akteur: innen aus dem Bürgertum, Kleinbürgertum und Proletariat noch ein maßgeblicher Faktor für erste demokratische Errungenschaften war (Abschaffung der Zensur, Abdankung von Metternich, Ankündigung einer Verfassung), verlor die gemeinsame Positionierung gegen die Aristokratie für Bürgerliche schnell an Anziehungskraft: Der Mythos des ‚ Volks ‘ als diskurrierende Gemeinschaft zerbrach allerdings sehr rasch an den Interessensgegensätzen zwischen Arbeitern, Arbeitslosen und kleinen Handwerkern, die radikal demokratische und soziale Forderungen stellten, und dem Bürgertum, das klassenspezifisch politische Rechte einklagte und sich von den Unterschichten bald mehr bedroht fühlte, als von den Ordnungskräften der Monarchie, des Adels und des Militärs, und zwar mit Recht. 31 Das Bestreben, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu verschieben, war nur bedingt erfolgreich. Da der Adel politische Macht behielt, beanspruchte das Bürgertum in weiterer Folge die wirtschaftliche und kulturelle Vorherrschaft. Die Abgrenzung von der Aristokratie als auch der Arbeiter: innenschaft war eine zentrale Strategie im Prozess der Identitätsfindung des Bürgertums. Über die Identifikation mit geteilten Wert- und Moralvorstellungen konnte aus einer heterogenen Gruppe, bestehend aus unterschiedlichen Berufsgruppen mit divergierender politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Handlungsmacht, eine Gruppe entstehen, die in der bürgerlichen Kultur ihre Weltvorstellung vertreten sah. 32 Gegen diese realen Abgrenzungstendenzen kämpft der Arbeiter Anton ‚ von unten ‘ an und positioniert sich gegen eine auf sozioökonomischen Faktoren beruhende Grenzziehung innerhalb des ‚ Volks ‘ . Als hochqualifizierter Arbeiter, der ein Studium begonnen hat und als Modellzeichner bei Stillmann beschäftigt ist, kann er kaum der Masse der Pauperisierten, dem Industrieproletariat, zugerechnet werden. Jedoch wird im Stück diese Zugehörigkeit konstruiert und strategisch genutzt, um dem ‚ Volk ‘ eine Stimme zu geben. ‚ Aus dem Volk ‘ wird mittels Anton die Forderung nach Gleichheit und Mitbestimmung verlautbart. So sehr Elmar auch versucht haben mag, die Zugehörigkeit zu dieser fiktiven Gemeinschaft ‚ Volk ‘ so voraussetzungslos wie mög- 132 Lisa Niederwimmer lich zu gestalten, transportiert er dennoch Ausschlusskriterien. Die Abwesenheit nicht-deutschsprachiger Figuren markiert eine Grenze, die Zugehörigkeit an die Voraussetzung knüpft, Deutsch zu sprechen. Die Habsburgermonarchie war sprachlich und kulturell heterogen, es wurden über zehn verschiedene Sprachen und zahlreiche Dialekte gesprochen. Im Zusammenhang mit der ‚ Nationalitäten-Frage ‘ entwickelte sich Sprache aber zunehmend zum Politikum. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde auf legistischer Ebene der Vielsprachigkeit der Bewohner: innen des Habsburgerreiches entgegengekommen, 33 allerdings war die Anerkennung der Erstsprache einer Person meist regional begrenzt, wie Pieter M. Judson betont: „ while Austria and Hungary assigned fundamental rights to linguistic practice in a degree to which no other European state did, in practice these political rights treated language users as if they were belonging to blocks of people located in particular territories. “ 34 Deutsch war die Sprache der offiziellen Kommunikation von Bürokratie und Militär. Mit der Kenntnis der deutschen Sprache ging dementsprechend ein „ strong sense of privileged cultural capital “ 35 einher. Das Fehlen Tschechisch, Polnisch, Ungarisch, Italienisch oder Serbisch sprechender Charaktere in Liebe zum Volke kann als Ausdruck eines internalisierten Überlegenheitsgefühls der deutschsprechenden Bevölkerung gelesen werden. 36 Denkbar ist aber auch die Annahme, dass Deutsch von allen verstanden wurde oder dass sich Elmar an einem mehrheitlich deutschsprachigen Wiener Publikum orientierte. Neben Sprache wird in dem Theaterstück ein weiterer Ausschlussmechanismus wirksam: Die Reproduktion antijüdischer Stereotype verweist auf die Nicht-Zugehörigkeit jüdischer Mitmenschen. Jüdische Figuren werden durch negative Eigenschaften charakterisiert, die nicht angefochten oder durch eine positiv porträtierte, differenzierte jüdische Figur nivelliert werden. In einer Coupletstrophe singt der Schneider Mühsam über einen Juden, der nun, da die jüdische Bevölkerung staatsbürgerlich gleichgestellt sei, auch beweisen solle, dass er nicht nur von „ Gewinnsucht beseelt “ 37 sei. 38 Dies misslinge ihm allerdings, denn es würde der jüdischen Natur entsprechen, an Geld und Profit orientiert zu sein. Verkörperung findet dieses Klischee des ‚ gewinnsüchtigen Juden ‘ kurz darauf in der Chargenrolle des Spekulanten Moses Goldmayer. Er und seine Frau Deborah sind zum Wohltätigkeitsfest des Chevalier von Edelherz eingeladen. Laut Regieanweisung „ jüdeln “ beide und Goldmayer sei mit „ Schmuck beladen “ . Während des Fests findet eine Pantomime statt, in der zwei arme Kinder ihr letztes Brot mit einer alten Frau teilen, die sich später als „ Fee der Wohltätigkeit “ herausstellt. Im Kontrast zu den ärmlich gekleideten Kindern, die ihr Essen mit einer anderen Person teilen, wirkt die Episodenfigur besonders habgierig. Goldmayer wird auf „ einige als jüdisch ausgegebene Eigenarten “ 39 reduziert. Als Gast bei einem Wohltätigkeitsfest, der durch seine Äußerungen als realitätsfern und ignorant gegenüber der mittellosen Bevölkerung charakterisiert wird, instrumentalisiert der Autor die jüdische Figur, um die Heuchelei, die hinter dem Fest und seinen reichen Gästen steckt, zu verdeutlichen. Nicht altruistische Motive bringen die Anwesenden zusammen, sondern die Gelegenheit, ein Fest zu feiern und sich nach Außen als hilfsbereit und generös zu inszenieren. Obschon nach 1850 auch differenziertere jüdische Figuren in Gebrauchsdramatik Einzug finden, 40 ist vor dem Hintergrund der im frühen 19. Jahrhundert grassierenden Judenfeindlichkeit zu problematisieren, dass Elmar ausgerechnet einer jüdischen Episodenfigur diese dramaturgische Funktion zuweist. Der jüdische Publizist Gustav Heine (1808? - 1886), Inha- 133 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ ber und Redakteur der Zeitung Fremden- Blatt, äußert in seiner weitgehend wohlwollenden Rezension den Wunsch, dass die beiden Figuren gestrichen werden sollten. 41 Heines Kritik ist die einzige von sieben ausführlichen Besprechungen der Erstaufführung, in der am Rand das Ehepaar Goldmayer angesprochen wird, was verdeutlicht wie normalisiert der antijüdische Rückgriff auf das „ tiefsitzende und weitverbreitete Vorurteil der skrupellosen Gewinnsucht “ 42 Mitte des 19. Jahrhunderts war. Das Identifikationspotential der plakativen Form Eine Perspektive auf ‚ das Volk ‘ , die nicht aktiv ausgrenzend wirkt, eröffnet sich im dritten Akt, wenn Baron Wettersporn erläutert, worin die Liebe zum Volke bestehe: „ Nicht darin, daß man es beschenkt und dabei durch Verachtung entehrt, wie Edelherz, - sondern darin, daß man es schätzt, - und wenns Noth thut - auch dafür handelt, wie Stillmann! “ 43 Diese Aussage beinhaltet ein Identifikationspotential, das außerhalb soziokultureller oder ökonomischer Aspekte zu suchen ist. Legt man den Fokus auf die Verben ‚ schätzen ‘ und ‚ handeln ‘ , können Edelherz und Stillmann in der Definition der Liebe zum Volke als Verweise verstanden werden. Edelherz ist die Projektionsfläche für den Unmut über Repression und Bevormundung. Er repräsentiert jene politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die den demokratischen Fortschritt hemmen und erinnert daran, dass die Privilegien der ständischen Ordnung noch präsent sind. Stillmann tritt hingegen als ‚ Best Practice- Beispiel ‘ für eine Form der Unternehmensführung in Erscheinung, die auf Menschlichkeit und Respekt basiert. Sein wertschätzender Umgang mit den Arbeiter: innen und sein Einsatz dafür, ihnen Zugang zu Bildung oder Versorgung im Krankheitsfall zu ermöglichen, führt mich zu der These, dass in der Konzeption der Figur, in der innerbetrieblichen Organisation sowie im Verhältnis zwischen Stillmann, Wettersporn und den Arbeiter: innen ein utopisches Moment liegt, das über den Fabrikskontext hinausweist. Stillmanns Metallgusswaren-Fabrik erscheint als Ort des unbeschwerten Miteinanders, als ein Gegenbild zu realen Arbeitsbedingungen in der Schwerindustrie. Aus einer sozialhistorisch informierten Perspektive wirkt die Darstellung von Industriearbeit verklärt und romantisiert. 44 Der Betrieb des ‚ Volksfreunds ‘ Stillmann wird als „ Muster des Fortschritts “ 45 beschrieben. Er bezahle das Schulgeld und Lehrbücher für die Kinder der Fabriksarbeiter: innen, medizinische Versorgung sei auf seine Kosten sichergestellt, produktive Arbeiter: innen erhalten Prämien und er habe jederzeit ein offenes Ohr für Anliegen seiner Belegschaft. 46 Solange es sich um kleine Fehler handle, die zu entschuldigen sind, sehe der Fabrikant keine Notwendigkeit darin, Verfehlungen zu bestrafen, auch wenn er dadurch zu Schaden komme. Vor der ersten Überarbeitung des Manuskripts erläuterte Stillmann seine Güte zusätzlich damit, dass auf der Welt genügend passiere, was nicht entschuldbar sei und unbestraft bleibe, weil es von Menschen begangen werde, die „ eben mehr als Arbeiter sind! “ 47 Alles Positive, was über den Unternehmer in Erfahrung gebracht werden kann, wird stellvertretend für die Gruppe von Anton bestätigt. Nachdem er von seiner Kündigung in der anderen Fabrik berichtet hatte, bot ihm Stillmann eine Stelle in seinem Betrieb an, die er dankend angenommen hat. Vom Baron gefragt, wie es ihm in Stillmanns Fabrik gefalle, erwidert Anton: „ Ah! das ist ja gar keine Fabrik! - Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ 48 Eine Welt, in der sich Sonntagabend alle Arbeiter: innen freuen, dass der einzige freie Tag der Woche 134 Lisa Niederwimmer zu Ende gehe und sie am nächsten Tag wieder arbeiten gehen können. Ohne eine apologetische Position gegenüber dem romantisierten Bild von Industriearbeit einnehmen zu wollen, möchte ich die Figur Stillmann und die Beschreibung der Arbeitsbedingungen aus einer anderen Warte betrachten. Entkoppelt man Stillmann aus dem Fabrikskontext, ist es denkbar, dass er ein Idealbild eines Regierungschefs verkörpern soll. Insbesondere die durch Anton imaginierte Gemeinschaft des ‚ Volkes ‘ wird innerhalb des Industriebetriebs in idealisierter Form gelebt. Stillmanns Interesse gilt ausdrücklich nicht dem rücksichtslosen Machterhalt oder der Gewinnmaximierung. Er nimmt Anliegen seiner Belegschaft ernst und setzt sich für die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ein. Als Führungspersönlichkeit erkennt er die Notwendigkeit, Bildung und adäquate medizinische Versorgung sicherzustellen. Stillmann pflegt ein freundschaftliches Verhältnis zum Baron und ein wertschätzendes zu den Arbeiter: innen. Der Fabrikant wird nicht als autoritärer Machthaber porträtiert, sondern übt als gütiger Patriarch „ Recht und Gerechtigkeit “ und wird trotzdem „ niemals Tyrann “ 49 , wodurch er zugleich eine normstabilisierende Funktion einnimmt - patriarchale Herrschaft wird nicht in Frage gestellt, sondern als Status quo idealisiert. Implizit verteidigt wird damit auch ein männliches, heterosexuelles und ‚ weißes ‘ Herrschaftssubjekt, das „ Weißsein als Normativität “ vermittelt. 50 In seiner Konzeption erkennt Elmar grundsätzlich gesellschaftliche Strukturen an und sucht nicht nach einer Auflösung des Systems, sondern imaginiert ein produktives gesellschaftliches Miteinander, das unter der Führung eines integren Mannes und in der Annäherung verschiedener Gruppen denkbar wird. Zusätzlich verstärkt wird die Idealisierung Stillmanns durch die Erzählungen Antons von seinem vormaligen Arbeitgeber, der von ihm als eigennützig, autoritär und herablassend beschrieben wird. Seine toxische Ergänzung findet das dramaturgische Mittel der Kontrastierung in der negativen Repräsentation des Moses Goldmayer. Im Unterschied zum ‚ gewinnsüchtigen Juden ‘ besitzt der ‚ großzügige Fabrikant ‘ Eigenschaften, die jüdischen Menschen explizit abgesprochen werden. Carl Elmar bot dem Publikum durch die plakative Form des Stücks und der Figurenkonzeption sowie durch die Vereinfachung von Lösungen für komplexe Probleme Identifikationsmomente an. Dies legen Zeitungsberichte über Zustimmung durch Jubel, Beifall und Bejahung der in Liebe zum Volke präsenten Ideen und Kritik nahe. Das theoretische Fundament, das dem Entwurf der idealisierten Gemeinschaft revolutionäres Potential geben könnte, fehlt. Aber es gibt theoretische Bezüge, die dem Theaterstück eine utopische Stoßrichtung verleihen. So finden sich Parallelen zu Ideen des Frühsozialisten Claude Henry de Saint-Simon (1760 - 1825), der beispielsweise von einer Top-Down-Methode der Armenversorgung zur „ industrielle[n] Brüderlichkeit “ gelangt, in der Wohlhabende dazu aufgerufen werden, „ ihre mit der Masse des Volkes gemeinsamen Interessen zu erkennen. “ 51 Außerdem finden sich Ansätze eines „ sozialen Musterbetriebs “ , wie ihn der Unternehmer Robert Owen (1771 - 1858) in den New Lanark Mills bei Glasgow schon im frühen 19. Jahrhundert entwickelt hatte. 52 Auch Elmars Zeitgenossen erkannten sozialistische Bezüge, standen diesen aber skeptisch gegenüber. So kritisiert beispielsweise der Schriftsteller und Redakteur der Zeitschrift Hans-Jörgel, Anton Langer (1824 - 1879), den Gedanken, dass Arbeiter: innen ein Anteil an den Gewinnen zustehe, die der Fabrikant erzielt: „ die g ’ wisse Koketterie mit den Arbeitern g ’ fallt mir nit. Die Idee is dem Elmar aus sein ’ Herzen in den Kopf 135 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ g ’ schossen und er hat wahrscheinlich keine Ahnung, daß sie nach Sozialismus schmeckt. Mahl den Teufel nit an die Wand, alter Spezi! “ 53 Nicht bloß skeptisch, sondern eindeutig ablehnend beschreibt der Journalist Joseph Sigismund Ebersberg (1799 - 1854) im Österreichischen Zuschauer das Charakterbild als „ eine Arbeit ohne Talent und voll bösem Willen, ohne irgend dramatischen Werth und voll giftigem moralischen Eiter. “ 54 Ebersberg, der Vater des später als O. F. Berg bekannt gewordenen Theaterdichters, hatte sich bereits 1848 offen als konservativ und kaisertreu positioniert und war auch nach der Revolution als Reaktionär bekannt. 55 Differenzierter als Ebersberg, aber nicht minder meinungsstark, kritisiert der Publizist Moritz Gottlieb Saphir (1795 - 1858) das Stück: Das Theater will und fordert und bedarf jetzt einer neuen geistigen Bewegung, einer neuen Lebensanschauung, einer neuen Kultur. [. . .] Der Kampf zwischen alten Ueberlieferungen und neuen Entdeckungen läßt noch keine Norm zu, nach welcher die Bühne Vergangenes oder Gegenwärtiges oder Zukünftiges im Bild als Bild bringen soll, und im Publikum ist besonders in politischer Beziehung noch so viel Haltlosigkeit des Selbstbewußtseins, noch so viel Rohheit und Sinnlichkeit mit Verwirrung und Katzenjammer und Trunkenheit gemischt, daß ein Bühnendichter keine Hand breit Basis fassen kann, wenn er auf dem politischen und socialen Boden der Gegenwart sein Gebäude aufführen will. 56 Saphir hinterfragt grundlegend, ob das Theater schon berechtigt und das Publikum überhaupt fähig sei zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit oder mit Zukunftsentwürfen. Er spricht dem Publikum politische Mündigkeit ab und sieht die Aufgabe des Theaters darin, für Ruhe zu sorgen. Da erst zwei Jahre zuvor demokratische Prozesse und die Bewusstseinsbildung von Bürgertum und Arbeiter: innenschaft in Gang gesetzt wurden, 57 ist das Argument, dass das politische „ Selbstbewußtsein “ erst im Entstehen begriffen und nicht gefestigt sei, nachvollziehbar. Saphir sieht in der Aufführung von Liebe zum Volke keine öffentliche Auseinandersetzung mit der Unzufriedenheit über Militärherrschaft und reaktionärer Politik, sondern er wertet das Stück als witzlose, anmaßende „ Brandstiftung “ . Da er „ historisch gerecht “ sein wolle, lenkt er am Ende der Kritik ein und berichtet, dass Elmar etwa dreißig Mal vom Publikum, „ das im Taumel zu schwimmen schien “ 58 , gerufen wurde. „ Das Stück ist eine ganz zufällige Nebensache “ Ähnlich wie Ebersberg oder Saphir tadeln auch andere Rezensenten politische Positionen als trivial und zynisch oder kritisieren dramaturgische Schwächen. 59 Jedoch verweisen die meisten, unabhängig von ihrer persönlichen Bewertung, auf die euphorische Stimmung im Publikum. Von den ersten Aufführungen wird berichtet, dass das Stück „ wüthend beklatscht “ 60 wurde, „ lärmende[r] Beifall “ 61 und „ minutenlanger Jubel “ 62 dominierten. Diese Kritiken vermitteln einen Eindruck von der lebhaften Anteilnahme des Auditoriums bei den ersten Vorstellungen von Liebe zum Volke, das den Publikumsraum zum Teil des theatralen Geschehens machte. Besonders eindrücklich beschreibt der bereits zitierte anonyme Korrespondent der Presse die Stimmung während der Aufführung am 20. März 1850: Fragen Sie nicht nach dem Inhalt des Stückes, sondern nur nach dem Inhalt des Beifalls, nicht nach dem Spiel der Schauspieler, sondern nach dem Spiel des Publikums, nicht nach Handlung und Charakter auf der Bühne, sondern nach den Handlungen und dem Charakter des Parterre ’ s. Das Stück ist eine ganz zufällige Nebensache, die Orchestermitglieder und die darstellenden Künstler sind 136 Lisa Niederwimmer zu beneiden, daß sie täglich gratis das Drama ansehen können, welches die Wiener vor der Regierung zur Aufführung bringen, vor der undankbaren Regierung, die dies - eine schlechte Aufführung nennt. Herr Elmar ist der Chormeister des Publikums, er schlägt in jeder Szene, beinahe in jedem Satze eine Note an, die einen abgeschwächten, oft sehr unklar tönenden Klang von Freiheit hat, und das darnach lechzend dürstende Volk hallt ihn tausendstimmig wieder [! ]; es erhebt sich ein Hexensabath von Jubelrufen, ein fanatisches Rasen von Händeklatschen, ein Galopp, den die Freude über das liberale Wort mit dem Schmerz über die unliberalen Thaten in keuchenden Sprüngen zusammen ausführen. 63 Aus dieser Schilderung geht deutlich hervor, dass der Fokus der Anwesenden nicht auf dem dramatischen Text lag, sondern auf der Möglichkeit, die eigene Unzufriedenheit zu kanalisieren. Die Akteur: innen auf der Bühne sprachen aus, was die Zivilbevölkerung aufgrund der Militärherrschaft nicht sagen konnte. Interessant ist der Verweis auf die Zuschauer: innen im Parterre, die dem Autor zufolge die Hauptakteur: innen abseits der Bühne waren. Johann Hüttner hat auf die ab den 1840er Jahren zunehmende soziale Ausdifferenzierung des Publikums in den Vorstadttheatern hingewiesen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr vom wohlhabenden Großbürgertum besucht wurden. 64 Im National-Theater an der Wien war der Eintritt in das Parterre mit dreißig Kreuzern und ein Sperrsitz mit fünfzig Kreuzern im Verhältnis zu einer Loge im Parterre, die fünf Gulden kostete, im unteren Preissegment angesiedelt. Die günstigsten Plätze in der vierten Galerie beliefen sich auf zehn Kreuzer. 65 Zum Vergleich: Ein Taglohn in Wien im Jahr 1850 wurde in etwa mit 27 Kreuzer vergütet und ein Kilo Brot kostete rund vier Kreuzer. 66 Es ist naheliegend, dass die Preisgestaltung die Publikumszusammensetzung beeinflusste und für Geringverdienende der Vorstellungsbesuch in den großen Privattheatern ein - wenn überhaupt - seltenes Vergnügen darstellte. Kritiken, die nicht nur auf das Publikum im Allgemeinen, sondern mehr oder weniger differenziert auf spezifische Personengruppen hinweisen wollten, verorteten diese oft räumlich (Parterre, ‚ Galeriepublikum ‘ ) oder zeitlich ( ‚ Sonntagspublikum ‘ ) und verwiesen damit in allgemeiner Form auf den sozioökonomischen Status. 67 Die räumliche Differenzierung des Publikums spiegelte sich auch in der Platzzuordnung bei Freikarten für Theater-Mitarbeiter: innen, wie sie im National-Theater an der Wien um 1850 geregelt war: Schauspieler durften meist im Parterre Platz nehmen, Schauspielerinnen in der ersten Galerie. Das Chor- und Orchesterpersonal erhielt Karten für die zweite Galerie, das Arbeitspersonal für die dritte Galerie. 68 Da weder theaterinterne Materialien noch Kritiken eindeutige Rückschlüsse auf das Publikum zulassen, ermöglichen zumindest das Wissen um die innerbetriebliche Hierarchie, um die Kosten eines Theaterbesuchs und die Textanalyse eine Annäherung an Faktoren, die Nicht-/ Zugehörigkeit zur Aufführungsgemeinschaft beeinflussten. Wenn der anonyme Rezensent auf das Publikum im Parterre verweist, könnte er damit formal gebildete, deutschsprachige, finanziell stabile und liberaldemokratisch gesinnte Personen gemeint haben, die sich möglicherweise dem Bürgertum zugehörig fühlten. Die Kassabücher des National-Theaters an der Wien enthalten keine Aufschlüsselung der verkauften Karten nach Preiskategorie, aber Ausgaben und tägliche Einnahmen sind nachvollziehbar. Das Cassa-Journal von 1850 belegt, dass allein die ersten sieben Vorstellungen von Liebe zum Volke Einnahmen von über 1000 Gulden pro Abend erzielten. Von den knapp 400 Aufführungen, die im Jahr 137 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ 1850 am National-Theater an der Wien und dem dazugehörigen Sommertheater gespielt wurden, haben lediglich 10 Prozent der Vorstellungen Einnahmen von 900 Gulden oder mehr erzielt. 22,5 Prozent dieser finanziell besonders ertragreichen Vorstellungen entfielen auf Liebe zum Volke. 69 Wie zahlreiche Rezeptionsdokumente berichten, war das Interesse an dem Theaterstück groß, dennoch verschwand es nach 35 Aufführungen vom Spielplan. Am 21. November 1850 fand die letzte Vorstellung von Liebe zum Volke statt. Zunächst mag es naheliegend erscheinen, die Absetzung des Stückes in seiner Struktur zu suchen, denn es lebte von der „ Anwendung der Zeitverhältnisse “ 70 und erfüllte einerseits seine Funktion als Gebrauchsdramatik, hatte andererseits aber auch eine Ventilfunktion für Theaterbesucher: innen, die unzufrieden waren mit der reaktionären Politik nach dem Ende der Revolution. Gegen den Verlust der Wirkung des Stücks oder schwindendes Interesse seitens des Publikums sprechen die Verkaufszahlen. Wenn auch in den Sommermonaten die Karteneinnahmen zurückgingen, 71 so hatten doch die letzten beiden Sonntagsvorstellungen je etwa 975 Gulden eingespielt. 72 Johann Heinrich Mirani (1802 - 1873), Sekretär des Direktors Alois Pokorny (1823 - 1883), informierte seinen Vorgesetzten während dessen Abwesenheit in einem Brief am 21. Oktober sogar über die Aufführung am Vorabend, insbesondere im Hinblick auf die hohen Einnahmen, denn „ es war Alles, Alles verkauft. “ 73 Aus ökonomischer Perspektive wäre es für die Theaterleitung zu diesem Zeitpunkt nicht klug gewesen, das Theaterstück abzusetzen. Wahrscheinlicher als das abnehmende Interesse ist der Einfluss der Zensur als Grund für das jähe Ende der Vorstellungsserie. Seit März 1848 konnte die Theaterzensur nicht mehr in gewohnter Akribie ausgeübt werden, da die zuständige Polizei- und Zensurhofstelle aufgelöst worden war. 74 Während des militärischen Ausnahmezustands war das Militär unter der Leitung des Civil- und Militärgouverneurs Franz Ludwig Freiherr von Welden (1782 - 1853) für die Theaterzensur zuständig, wie aus den Sitzungsprotokollen des österreichischen Ministerrats hervorgeht. Dass Welden dieser Aufgabe nicht ausreichend konsequent nachkam, wird von Innenminister Alexander Freiherr von Bach (1813 - 1893) in der Sitzung vom 19. Dezember 1849 angemerkt, in der aber auch erwähnt wird, dass zu diesem Zeitpunkt bereits ein Gesetzesentwurf zur Regelung der Theaterzensur in Arbeit sei. 75 Erst Monate später, in der Ministerratssitzung am 7. August 1850, kommt die Thematik wieder zur Sprache, als der Kulturminister „ aus Anlaß der jüngsten dramatischen Produktionen auf die Notwendigkeit der Einführung der Theaterzensur “ 76 hinweist. Innenminister Bach gibt jedoch zu bedenken, dass aufgrund der „ Ausnahmezustände der meisten großen Städte, insbesondere Wiens “ derzeit spezielle Umstände herrschen würden und seiner Einschätzung nach die Einführung der Theaterzensur „ noch nicht angemessen “ 77 sei. Obwohl der Ausnahmezustand noch nicht beendet war, gibt Bach in der Sitzung vom 9. September 1850 bekannt, Verordnungsentwürfe erstellt zu haben. Er skizziert das neue Theatergesetz, in dem die Kompetenz zur Aufführungsbewilligung der Statthalterei übertragen wird. 78 Am 25. November 1850 trat die neue Theaterordnung in Kraft, die im Wesentlichen an die vor 1848 gültigen Bestimmungen anschloss. Nach wie vor fühlte sich der Staat vom Potential theatraler Darstellungsformen bedroht. Mit Nachdruck wurde den Statthaltern in einer Instruktion vermittelt, dass Theater als „ mächtiger Hebel der Volksbildung “ nicht nur kontrolliert, sondern auch im Sinne staatlicher Interessen „ auf das Wirksamste unterstützt “ 79 werden müsse. 138 Lisa Niederwimmer Zwischen der letzten Vorstellung von Liebe zum Volke und der Einführung der neuen Theaterordnung lagen nur vier Tage. Dies bekräftigt die Annahme, dass die Zensurbehörde hierbei umgehend von ihrer Kompetenz Gebrauch machte, Aufführungen abzusetzen. Die theatrale Verhandlung gesellschaftlicher Machtverhältnisse, wie sie sich im Rahmen der Aufführungen gestaltete, konnte nicht länger geduldet werden. Offen bleibt, wie genau diese Diskrepanz zwischen der (anfänglichen) Härte der Militäradministration und der milden Zensurhandhabe zu erklären ist. 80 Eine eingehende Untersuchung dieser Phase wurde bisher noch nicht durchgeführt. Wie ich anhand von Liebe zum Volke exemplifiziert habe, stellt diese Periode eine für die Forschung zur Wiener Theatergeschichte potenziell produktive dar. Sie eröffnet Fragen nach Wechselwirkungen zwischen Militär und Theater, nach den Einschränkungen der Bevölkerung im Alltag und deren Stimmung auf der einen Seite sowie den erweiterten Möglichkeiten, die Theater in dieser kurzen Phase hatten, auf der anderen. Zu klären wäre beispielsweise, auf welcher regulativen Basis die zivilen oder militärischen Zensurbeamten operierten. 81 Anhand eines breiten Untersuchungskorpus könnte nachvollzogen werden, ob und welche bis vor Ausbruch der Revolution gültigen Grenzen des Sag- und Darstellbaren überschritten oder verschoben wurden. Sowohl zensurgeschichtliche Fragen als auch Fragestellungen zu Ästhetik und Inhalt der Theaterstücke könnten Aufschluss über kurzzeitig entstandene Formen der Subversion und Kritik am Wiener Vorstadttheater geben. Obwohl es Liebe zum Volke an dramaturgischer Finesse und theoretischer Fundierung mangelt, ermöglichte es dem Publikum Emotionen zu kanalisieren und erfüllte damit eine soziale, Gemeinschaft stiftende Funktion. Die Unmittelbarkeit von Theater wurde produktiv gemacht für spontane Bekundungen der Unzufriedenheit über das System. Der Autor bot dem Publikum unterschiedliche Nicht-/ Zugehörigkeiten an, und die Anwesenden konnten innerhalb der Aufführung kurzfristig affektiv Zugehörigkeit erzeugen. In der Figurenkonstellation liegt der Versuch, den gesellschaftlichen und ökonomischen Status als unwesentlich für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ‚ Volk ‘ zu bestimmen. Wenn auch in idealisierender Weise, so stellte Elmar verbindende Elemente zwischen den fiktiven Vertreter: innen von Proletariat, Bürgertum und Adel in den Vordergrund. Als identitätsstiftende und gemeinschaftskonstituierende Narrative zog er demokratische Positionen der 1848er-Bewegung heran und griff auf die Devise der Aufklärung und der französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - zurück. Der Autor versuchte, nicht aus einer monoperspektivischen Warte einer Figur Wert- und Moralvorstellungen zu transportieren und die Deutungshoheit über ‚ moralisch richtiges ‘ Verhalten an eine einzelne Figur zu binden, sondern das figurenübergreifende Identifikationspotential mit einem Wertsystem stark zu machen, das sich nicht allein aus sozialer Verortung ergibt. Die Bedeutungsebene der sozialen Abgrenzung sollte in dieser - besonders von Anton ausgehenden - Konzeption des ‚ Volks ‘ aufgelöst werden. Voraussetzungslos war die Zugehörigkeit zu der von Elmar imaginierten Gemeinschaft allerdings nicht. Antijüdische Stereotype und die Abwesenheit nicht-deutschsprachiger Figuren verweisen auf eine Gemeinschaft von ‚ Deutschösterreicher: innen ‘ 82 , und damit auf ein ethnisch-politisches Volkskonzept, das auf einer vermeintlichen gemeinsamen Herkunft, Kultur und Sprache basierte und in das viele Bewohner: innen des Habsburgerreichs wie auch Wiens und seiner Vorstädte nicht integriert wurden. 139 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ Anmerkungen 1 Ich danke Anke Charton, Theresa Eisele und Stefan Hulfeld für die hilfreichen Impulse und kritischen Anmerkungen. 2 Vgl. Matthias Stickler, „ Die Herrschaftsauffassung Kaiser Franz Josephs in den frühen Jahren seiner Regierung. Überlegungen zu Selbstverständnis und struktureller Bedeutung der Dynastie für die Habsburgermonarchie “ , in: Harm-Hinrich Brandt (Hg.), Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff, Wien 2014, S. 35 - 60, hier: S. 41. 3 Vgl. Peter Melichar und Alexander Mejstrik, „ Die bewaffnete Macht “ , in: Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848 - 1918. Bd. IX: Soziale Strukturen, 1. Teilband: Von der Feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft, Teilband 1/ 2: Von der Ständezur Klassengesellschaft, Wien 2010, S. 1263 - 1326, hier: S. 1263. 4 Ein Umstand, der in der Forschung zur österreichischen Theaterzensur bisher nicht untersucht wurde. In Artikeln oder Monographien, die Theaterzensur als Schwerpunkt haben, darauf Bezug nehmen oder sich mit dem Wiener Vorstadttheater befassen, wird beispielweise vom Vorhandensein der Zensur ausgegangen, ohne auf die Militärzensur hinzuweisen oder es erfolgen Sprünge von 1848 auf November 1850. Eine Ausnahme bildet Edgar Yates ’ Monographie zur Geschichte der Wiener Theater, in der er unter Verweis auf Memoiren von zwei Dramatikern explizit auf die ‚ Säbelzensur ‘ hinweist. Vgl. u. a. Norbert Bachleitner, „ Die Theaterzensur in der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert “ , in: LiTheS 5 (2010), S. 71 - 105; Franz Hadamowsky, Wien Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des ersten Weltkriegs, Wien/ München 1988; Jürgen Hein, Das Wiener Volkstheater, Darmstadt 3 1997; Johann Hüttner, „ Vor- und Selbstzensur bei Johann Nestroy “ , in: Maske und Kothurn 26/ 3 - 4 (1980), S. 234 - 248; Johann Hüttner, „ Zensur ist nicht gleich Zensur “ , in: Nestroyana 3/ 1 (1981), S. 22 - 24; Marion Linhardt, „ Kontrolle - Prestige - Vergnügen. Profile einer Sozialgeschichte des Wiener Theaters 1700 - 2010 “ , in: LiTheS Sonderbd. 3 (2012), S. 5 - 81; Barbara Tumfart „ Wallishaussers Wiener Theater-Repertoir und die österreichische Zensur “ , Diss., Univ. Wien 2003; Edgar W. Yates, Theatre in Vienna. A Critical History, 1776 - 1995, Cambridge 1996, S. 42. 5 Vgl. Wolfgang Häusler, „ Wien “ , in: Christoph Dipper und Ulrich Spreck (Hg.), 1848. Revolution in Deutschland, Frankfurt a. M./ Leipzig 1998, S. 99 - 112, hier: S. 107 f. 6 Vgl. Melichar und Mejstrik, „ Die bewaffnete Macht “ , S. 1277 f. 7 Ich verwende den Begriff der Gemeinschaft nicht im Sinne einer politischen Kategorie, sondern möchte ihn als funktionalen Begriff verstanden wissen, in dem die Bedeutungsebene der Verbundenheit von Individuen im Vordergrund steht. Über die Kategorie ‚ Volk ‘ , als eine mögliche Gemeinschaft, nähere ich mich politischen, ethnischen oder sozialen Komponenten und damit den Aspekten, die Verbundenheit respektive Nicht-/ Zugehörigkeit zu dem Konstrukt Gemeinschaft ausmachen. Vgl. Timo Heimerdinger, „ Gemeinschaft “ , in: Brigitta Schmidt-Lauber und Manuel Liebig (Hg.), Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschaftliches Glossar, Wien 2022, S. 107 - 114, hier: S. 109 f. Zu (politischen) Gemeinschaftsdiskursen siehe weiterführend: Juliane Spitta, Gemeinschaft Jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee, Bielefeld 2013. 8 Levke Harders, „ Zugehörigkeit als Kategorie historischer Analyse “ , in: Geschichtstheorie am Werk, https: / / gtw.hypotheses.org/ 1942 [Zugriff am 05.04.2023]. 9 Vgl. Peter Brandt, „ Volk “ , in: Görres Gesellschaft (Hg.), Staatslexikon online, https: / / www.staatslexikon-online.de/ Lexikon/ Volk [Zugriff am 11.04.2023]; Jens Wietschorke, „ Volk “ , in: Schmidt-Lauber und Liebig (Hg.), Begriffe der Gegenwart, S. 271 - 277. 10 Alfred Schäfer und Christiane Thompson, „ Gemeinschaft - Eine Einleitung “ , in: dies. 140 Lisa Niederwimmer (Hg.), Gemeinschaft, Paderborn 2019, S. 9 - 36, hier: S. 23. 11 Die Familie bewegt sich zwischen diesen Kollektivbeschreibungen, da der Vater als - nun verarmter - Schneider einer Handwerkerzunft angehört und der Sohn als qualifizierter Arbeiter in einer Fabrik tätig ist. 12 Die Presse, Nr. 71, 23.3.1850. 13 Friedrich Kaiser, Unter fünfzehn Theater- Direktoren. Bunte Bilder aus der Wiener Bühnenwelt, Wien 1870, S. 189. Hervorhebungen im Original. Sämtliche Hervorhebungen i. O. durch Sperrung werden im Beitrag in Kursivschrift wiedergegeben. 14 Vgl. Carl Elmar, Liebe zum Volke, oder: Geld - Arbeit - Ehre, Wien [ca. 1850], I/ 2, S. 2. 15 Ebd., S. 2. 16 Das Souffliermanuskript enthält Striche in Tinte und Bleistift sowie vereinzelt rote Markierungen. Wann und von wem die Striche gemacht wurden - vor oder nach der Erstaufführung, in Vorbereitung auf den Druck, von der Zensur oder Produktionsbeteiligten - ist nicht eindeutig belegbar. Es gibt allgemeine Hinweise, dass nach den ersten Vorstellungen Änderungen vorgenommen wurden (Vgl. Humorist, Nr. 80, 3.4.1850, S. 320; Änderungen der dramatis personae im November nachweisbar vgl. Fremden- Blatt, Nr. 262, 3.11.1850; ebd., Nr. 277, 21.11.1850). Ein konkreter Hinweis, dass zumindest manche der im Manuskript gestrichenen Passagen in den ersten Aufführungen ausgesprochen wurden, ergibt sich aus einer Kritik, in der die „ Trivialität von der Höhe des Wortspiels ‚ der Arbeiter dient nicht, er verdient ‘“ (Abendblatt der Wiener Zeitung, Nr. 71, 23.3.1850, S. 282) kritisiert wird. Der Satz „ Der Arbeiter dient nicht, er verdient “ ist in der Druckfassung nicht zu finden, aber im Soufflierbuch (fol. 8 v). Anfänglich stand in dem Manuskript „ [. . .], er schafft “ . Mit Bleistift wurde „ schafft “ durchgestrichen, daneben mit Bleistift „ verdient “ ergänzt und zusätzlich mit Tinte nachgezogen. Diese Passage ist zudem mit Bleistift gestrichen, was in diesem Zusammenhang vermuten lässt, dass der Strich erst nach der EA getätigt wurde. Weiters befindet sich ein roter, vertikaler Strich am linken Blattrand neben dem Satz. Auch im restlichen Manuskript finden sich vereinzelt seitlich angebrachte rote Striche sowie mit Rotstift durchgestrichene Passagen, die vielleicht (aber nicht eindeutig) von der Zensur stammen. Zweifel an der eindeutigen Zuordnung des Rotstifts als Zensureingriff ergibt sich daraus, dass im Manuskript rot markierte Stellen in die Druckfassung Eingang gefunden haben, kein Zensurvermerk vorhanden ist und die Passagen teils nur unterstrichen oder am Blattrand rot markiert sind. Vgl. Carl Elmar, Liebe zum Volke, oder: Geld - Arbeit - Ehre, Souffliermanuskript [s. d.], Wien, Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB), Sammlung von Handschriften und alten Drucken, Sign.: Cod. Ser. n. 2752. Im Folgenden: Elmar, Liebe zum Volke (Man.). 17 Ebd., fol. 26 r. 18 Elmar, Liebe zum Volke, I/ 12, S. 10. 19 Ebd., S. 11. 20 Elmar, Liebe zum Volke (Man.), I/ 12, fol. 26 r/ v. 21 Ebd., fol. 26 r/ v. 22 Ebd., fol. 27 v. 23 Die Innsbrucker Zeitung berichtet am 2. April vom fortwährenden Andrang des Publikums, obwohl das Stück „ nach den Regeln des Belagerungszustandes beschnitten worden ist “ . Im Humorist wird erwähnt, dass Elmar einige Änderungen vorgenommen habe. Vgl. Innsbrucker Zeitung. Für Freiheit, Wahrheit und Recht! , Nr. 74, 2.4.1850, S. 318; Humorist, Nr. 80, 3.4.1850, S. 320. 24 Vgl. Frank Engehausen, Die Revolution von 1848/ 49, Paderborn 2007, S. 249 - 260; Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 65 f. 25 Vgl. Margret Friedrich, Brigitte Mazohl und Astrid von Schlechta, „ Die Bildungsrevolution “ , in: Rumpler und Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848 - 1918. Bd. IX, Teilband 1/ 1: Lebens- und Arbeitswelten in der Industriellen Revolution, Wien 2010, S. 67 - 107, hier: S. 105 ff., Wolfgang Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. Demokratie und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848, Wien/ München 1979, 141 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ S. 312 - 330; Hans Tietgens, „ Geschichte der Erwachsenenbildung “ , in: Rudolf Tippelt und Aiga von Hippel (Hg.), Handbuch Erwachsenenbildung/ Weiterbildung, Wiesbaden 5 2011, S. 25 - 41, hier: S. 29 - 33; Christa Bittermann-Wille, „ Arbeiterinnen-Bildungsverein, Wien “ , https: / / fraueninbewegung.on b.ac.at/ node/ 321 [Zugriff am 12.05.2023]. 26 Friedrich, Mazohl und Schlechta, „ Die Bildungsrevolution “ , S. 107. 27 Elmar, Liebe zum Volke (Man.), I/ 12, fol. 28 r. Der Satz wurde geringfügig überarbeitet ( „ sein wird “ statt „ ist “ ) und mit schwarzer Tinte gestrichen. Hervorhebungen im Manuskript durch Unterstreichung werden im Beitrag beibehalten. 28 Elmar, Liebe zum Volke, II/ 12, S. 27. 29 Elmar, Liebe zum Volke (Man.), II/ 12, fol. 66 v. 30 Der Grundrechtekatalog im Verfassungsentwurf des Kremsierer Reichstags (Krom ěř í ž , CZ) verdeutlicht den Willen zur Egalisierung der Gesellschaft. Im ersten Paragraph der Grundrechte hieß es: „ Vor dem Gesetze sind alle Staatsbürger gleich. “ Der entscheidende Zusatz, der die Souveränität des ‚ Volkes ‘ verfassungsrechtlich verankern hätte sollen - „ Alle Staatsgewalten gehen vom Volke aus “ - wurde aus dem Entwurf gestrichen, da er gegen das monarchische Prinzip verstoßen hätte. Anstelle der progressiven trat am 4. März 1849 die oktroyierte Verfassung in Kraft, drei Tage später wurde der Kremsierer Reichstag aufgelöst. Vgl. Thomas Klete č ka, „ Einleitung “ , in: Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848 - 1867. II. Abteilung: Das Ministerium Schwarzenberg, Bd. 1: 5. Dezember 1848 - 7. Jänner 1850 (Digitale Edition), https: / / hw.oeaw.ac.at/ ministerrat/ se rie-1/ a2-b1-pdf.xml#a2-b1_einl.pdf#page=9 [Zugriff am 24.04.2023], S. IX - LII, hier: S. XIX - XXII; „ 1848: Originaltext der Verfassung von Kremsier/ Krom ěř í ž“ , Haus der Geschichte Österreich, https: / / hdgoe.at/ original text_kremsier [Zugriff am 24.04.2023]. 31 Rudolf Burger, „ 1848 als Beginn einer österreichischen Zivilgesellschaft (? ) “ , in: Sigurd Paul Scheichl und Emil Brix (Hg.), „ Dürfen ’ s denn das? “ Die fortdauernde Frage zum Jahr 1848, Wien 1999, S. 269 - 279, hier: S. 275 f. 32 Vgl. Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl, „ Zur Geschichte des Bürgertums in Österreich “ , in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Einheit und Vielfalt Europas, Göttingen 1995, S. 166 - 198, hier: S. 166 und 177 - 183. 33 So beispielsweise im § 4 der oktroyierten Märzverfassung von 1849: „ Für allgemeine Volksbildung soll [. . .] derart gesorgt werden, daß auch die Volksstämme, welche die Minderheit ausmachen, die erforderlichen Mittel zur Pflege ihrer Sprache und zur Ausbildung in derselben erhalten. “ ( „ Kaiserliches Patent vom 4. März 1849 “ , RGBl. 151/ 1849.) 1867 findet Gleichberechtigung nicht nur in Bezug auf Sprache Eingang in die Verfassung: „ Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache. “ ( „ Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867 “ , RGBl. 142/ 1867.) 34 Pieter M. Judson, „ Encounters with Language Diversity in Late Habsburg Austria “ , in: Markian Prokopovych, Carl Bethke und Tamara Scheer (Hg.), Language Diversity in Late Habsburg Empire, Leiden/ Boston 2019, S. 12 - 25, hier S. 20. 35 Ebd., S. 21. 36 Zum Überlegenheitsgefühl der deutschsprachigen Bevölkerung der Habsburgermonarchie und Anti-Slawismus vgl. Nancy M. Wingfield (Hg.), Creating the Other. Ethnic Conflict & Nationalism in Habsburg Central Europe, New York/ Oxford 2003. 37 Elmar, Liebe zum Volke, II/ 10, S. 26. 38 Mit der oktroyierten Märzverfassung von 1849 wurden alle Konfessionen rechtlich gleichgestellt. Die Gleichstellung währte allerdings nicht lange, da mit dem Silvesterpatent von 1851 die Verfassung wieder aufgehoben wurde. Der rechtliche Status von Juden und Jüdinnen war anschließend bis 1859 in etwa vergleichbar mit jenem vor 1848. Vgl. Hannelore Burger, Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden. Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, Wien 2014, S. 61 - 66. 39 Hans-Peter Bayerdörfer und Jens Malte Fischer, „ Vorwort “ , in: dies. (Hg.), Judenrollen. 142 Lisa Niederwimmer Darstellungsformen im europäischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit, Tübingen 2008, S. 1 - 19, hier: S. 8. 40 Beispielsweise bei David Kalisch (1820 - 1872), O. F. Berg (1833 - 1886) oder Friedrich Kaiser. Jürgen Hein zufolge arbeiteten im Kontext der Wiener Vorstadttheater nach 1850 besonders Berg, Kaiser und auch Carl Elmar handlungsrelevante jüdische Figuren in ihre Stücke ein, thematisierten - wenn auch idealisiert - die jüdische Emanzipation und traten für Toleranz ein. Vgl. Bayerdörfer und Fischer, „ Vorwort “ , S. 14; Anette Spieldiener, „ Der Weg des ‚ erstbesten Narren ‘ ins ‚ Planschbecken des Volksgemüts ‘ . Gustav Raeders Posse Robert und Bertram und die Entwicklung der Judenrolle im Possentheater des 19. Jahrhunderts “ , in: Bayerdörfer und Fischer, Judenrollen, S. 101 - 112, hier S. 105; Jürgen Hein, „ Judenthematik im Wiener Volkstheater “ , in: Hans Otto Horch und Horst Denkler (Hg.), Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg (Erster Teil), Tübingen 1988, S. 164 - 186, bes. S. 174 - 179. 41 Vgl. Fremden-Blatt, Nr. 66, 19.3.1850. 42 Hein, „ Judenthematik im Wiener Volkstheater “ , S. 172. 43 Elmar, Liebe zum Volke, III/ 1, S. 37. 44 Zu Lebens- und Arbeitsbedingungen von Arbeiter: innen im 19. Jahrhundert siehe u. a.: Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung; Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990. 45 Elmar, Liebe zum Volke, I/ 12, S. 11 f. 46 Vgl. Ebd., I/ 3, S. 3 f. Im Stück werden nur Arbeiter erwähnt. Allerdings waren in der Metallverarbeitung auch Frauen tätig, wenn auch in geringem Ausmaß. Josef Ehmer berichtet von einem zweiprozentigen Frauenanteil in der metallverarbeitenden Industrie im mittleren 19. Jahrhundert. Sylvia Hahn zufolge ist der Anteil an Arbeiterinnen in diesem Gewerbezweig von 4,4 % im Jahr 1837 auf 10,3 % im Jahr 1869 gestiegen. In der Textilbranche stieg im Vergleichszeitraum der Anteil von rund 30 auf über 60 Prozent an. Vgl. Josef Ehmer, Familienstruktur und Arbeitsorganisation im frühindustriellen Wien, Wien 1980, S. 69, 87; Sylvia Hahn, „ Frauenarbeit “ , in: Felix Czeike (Hg.), Historisches Lexikon Wien, Bd. 2, Wien 2004, S. 377 - 379, hier: S. 378. 47 Elmar, Liebe zum Volke (Man.), II/ 1, fol. 43 v. 48 Elmar, Liebe zum Volke, II/ 5, S. 20. 49 Ebd., I/ 2, S. 2. 50 Vgl. Peggy Piesche, „ Der ‚ Fortschritt ‘ der Aufklärung - Kants ‚ Race ‘ und die Zentrierung des weißen Subjekts “ , in: Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S. 30 - 39, hier: S. 30. 51 Wolf Rainer Wendt, Geschichte der Sozialen Arbeit 1. Die Gesellschaft vor der sozialen Frage 1750 bis 1900, Wiesbaden 6 2017, S. 139. 52 Vgl. ebd., S. 142 ff. 53 Der constitutionelle Hans-Jörgel. Volksschrift im Wiener Dialekte, 14. Heft, 1850, 1. Brief, S. 5. 54 Österreichischer Zuschauer. Zeitschrift für Gebildete, Nr. 68, 22.3.1850, S. 544. 55 Vgl. Ernst Gampe, Ottokar Franz Ebersberg (O. F.Berg) und seine Stellung im Wiener Volksstück, Diss. masch., Univ. Wien 1951, S. 85 ff. 56 Humorist, Nr. 68, 20.3.1850, S. 271. 57 Vgl. Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. 58 Humorist, Nr. 68, 20.3.1850, S. 272. 59 Vgl. Abendblatt der Wiener Zeitung, Nr. 71, 23.3.1850, S. 282; Fremden-Blatt, Nr. 66, 19.3.1850. 60 Österreichische Zuschauer, Nr. 68, 22.3.1850, S. 544. 61 Fremden-Blatt, Nr. 66, 19.3.1850. 62 Ost-Deutsche Post, Nr. 67, 20.3.1850. 63 Die Presse, Nr. 71, 23.3.1850. 64 Vgl. Johann Hüttner, „ Volkstheater als Geschäft: Theaterbetrieb und Publikum im 19. Jahrhundert “ , in: Jean-Marie Valentin (Hg.), Volk - Volksstück - Volkstheater im deutschen Sprachraum des 18. - 20. Jahrhunderts. Akten des mit Unterstützung des Cen- 143 „ Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ tre National de la Recherche Scientifique veranstalteten Kolloquiums Nancy, 12. - 13. November 1982, Bern 1986, S. 127 - 149, hier S. 129 f. 65 Vgl. Theaterzettel des Theaters an der Wien 22.1.1849, Wien, Theatermuseum (TM), Programmarchiv, Theater an der Wien/ 1849. Angaben in Conventions-Münze (1 Gulden = 60 Kreuzer). 66 Vgl. „ Markt-Durchschnittspreise in den Jahren 1849, 1850 und 1851 “ , in: Tafeln zur Statistik der Österreichischen Monarchie für die Jahre 1849 - 1851. 2. Theil, V. Heft, Wien: 1856; Wiener Zeitung, Nr. 194, 15.8.1850, S. 2455. 67 Zum ‚ Galerie- ‘ , und ‚ Sonntagspublikum ‘ vgl.: Johann Hüttner, „ Literarische Parodie und Wiener Vorstadtpublikum vor Nestroy “ , in: Maske und Kothurn 18/ 1 - 2 (1972), S. 99 - 139. 68 Vgl. „ Sitzungs-Protocoll des k. k. priv. National-Theaters an der Wien. 1850/ 1851 “ , TM, Sammlung von Handschriften, Nachlass Pokorny, Sign.: Pok 5/ 20/ Ü4 (Sonderlegung Pok 14), fol. 11 f.; „ Circulare an die Mitglieder des Theaters. Wien am 18. Feb. 851 “ (Kopierbuch), TM, Nachlass Pokorny, Sign.: Pok 5/ 35 a/ Ü7 (Sonderlegung Pok 14). 69 Vgl. Cassa-Journal: Spielplan, tägliche Einnahmen und Ausgaben, 1.1.1849 - 31.12.1850, TM, Bibliothek, Archiv des Theaters an der Wien, Sign.: X121, Buch Nr. 2. 70 Der Humorist, Nr. 68, 20.3.1850, S. 271. 71 Parallel zum National-Theater an der Wien wurde ab Mai das Sommertheater in Braunhirschen (heutiger 15. Wiener Gemeindebezirk) bespielt, das bei gutem Wetter wesentlich besser besucht war als das ganzjährig bespielte Theaterhaus. 72 Vgl. Cassa-Journal (1850), Sign.: X121, Buch Nr. 2. 73 Johann Heinrich Mirani, Brief an Alois Pokorny, Wien, 21. Oktober 1850, TM, Nachlass Pokorny, Sign.: Pok 11/ 98. 74 De jure wurde die Theaterzensur 1848 nicht aufgehoben. Zur Problematik der ‚ Abschaffung ‘ der Zensur 1848 vgl. Hüttner, „ Zensur ist nicht gleich Zensur “ . 75 Vgl. „ Nr. 232 Ministerrat, Wien, 19. Dezember 1849 “ , Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848 - 1867. II. Abt., Bd. 1 (Digitale Edition), Tagesordnungspunkt I, http s: / / mrp.oeaw.ac.at/ pages/ show.html? docu ment=MRP-1 - 2-01 - 0-18491219-P-0232.xml #top_2_1_232_1 [Zugriff am 08.03.2023]. 76 „ Nr. 378 Ministerrat, Wien, 7. August 1850 “ , Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848 - 1867. II. Abt., Bd. 3: 1. Mai 1850 - 30. September 1850 (Digitale Edition), Tagesordnungspunkt XIII, https: / / mrp.oeaw. ac.at/ pages/ show.html? document=MRP-1 - 2 -03 - 0-18500807-P-0378.xml#top_2_3_378_ 13 [Zugriff am 08.03.2023]. 77 Ebd. 78 „ Nr. 392 Ministerrat, Wien, 9. September 1850 “ , Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848 - 1867. II. Abt., Bd. 3, Tagesordnungspunkt VI, https: / / mrp.oeaw.ac. at/ pages/ show.html? document=MRP-1 - 2-0 3 - 0-18500909-P-0392.xml#top_2_3_392_6 [Zugriff am 08.03.2023] 79 „ Verordnung der Ministerien des Innern vom 25. November 1850 “ , RGBl. 454/ 1850. 80 Je nach Stadt und Region unterschied sich das Vorgehen allerdings, denn ganz im Gegensatz zu Wien, wo das Stück über ein halbes Jahr gespielt werden konnte, lehnte das Militär-District-Commando in Pest die Aufführung des Charakterbildes schon im April 1850 ab. Vgl. Carl Elmar, Liebe zum Volke, oder: Geld - Arbeit - Ehre, Zensurmanuskript, TM, Bibliothek, Sign.: M 884 Theat.-S. 81 In meiner Dissertation (in Vorbereitung) versuche ich herauszuarbeiten, unter welchen Bedingungen Theateraufführungen während des militärischen Ausnahmezustandes stattfinden konnten. 82 Zur österreichischen Nationsbildung und Abgrenzung zwischen ‚ Reichsdeutschen ‘ und ‚ Deutschösterreicher: innen ‘ bzw. österreichischen Deutschen vgl.: Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien 2 1996. 144 Lisa Niederwimmer Die Frauenbewegung in Kulturbild und Sozialdrama. Inszenierungen der Teilhabe kurz vor 1900 Friederike Oberkrome, Lotte Schüßler (Berlin) Der nachfolgende Aufsatz stellt zwei theatrale Ereignisse der Frauenbewegung des Deutschen Kaiserreichs gegenüber: Marie Haushofers Culturbilder aus dem Frauenleben, uraufgeführt 1899 als Abschluss des ersten Allgemeinen Bayerischen Frauentags in München, und Hans Hochfeldts Drama Der Kampf der Frau, das 1896 aus Anlass des Internationalen Kongresses für Frauenwerke und Frauenbestrebungen in Berlin gezeigt wurde. Beide Inszenierungen thematisierten die Chancen und Schwierigkeiten arbeitender Frauen in Deutschland, wobei deren Teilhabe am öffentlichen Leben und insbesondere an der Arbeitswelt in verschiedenen Genres und im Spiel mit Genres verhandelt wurde. Während die Culturbilder eine ermächtigende, beinah utopische Botschaft übermittelten, zeichneten die präzisen Gesellschaftsanalysen des „ sozialen Schauspiels “ Der Kampf der Frau ein tendenziell auswegloses Bild der Situation arbeitender Frauen kurz vor der Jahrhundertwende. Auf je spezifische Weise leisteten beide jedoch einen wichtigen Beitrag zur Bewegung, indem sie Identifikationspotentiale boten, aktivistische Ideen artikulierten und in Ergänzung der Kongressprogramme als gemeinschaftsstiftende Ereignisse fungierten. Kurz vor der Jahrhundertwende war die Frauenbewegung in Deutschland flächendeckend aktiv und gut vernetzt. Diese Errungenschaft ließ sich Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht absehen. Auf die Revolution von 1848, mit der sich Hoffnungen auf eine soziale und rechtliche Gleichstellung der Frauen verbanden, folgte zunächst eine Phase der Regression, die sich bis in die 1880er Jahre erstreckte und diese Hoffnungen enttäuschte. Dennoch gab es auch zu dieser Zeit vielfältige Bemühungen der Vernetzung und des Engagements in der sogenannten Frauenfrage, beispielsweise in Form lokal verankerter Frauenvereine, die gegründet, oder politischer Petitionen, die veröffentlicht wurden - Bemühungen, die im letzten Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende zunehmend Unterstützung und Zuspruch fanden. 1 Gemeinsamer Ausgangspunkt dieser zahlreichen Aktivitäten war der 1865 im Rahmen einer Frauenkonferenz in Leipzig gegründete Allgemeine Deutsche Frauenverein, in dem sich unter der Leitung von Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt Akteur*innen der Revolution organisierten. Auf die Fahnen schrieben sie sich Selbstbestimmung und Teilhabe: „ die erhöhte Bildung des weiblichen Geschlechts und die Befreiung der weiblichen Arbeit von allen ihrer Entfaltung entgegenstehenden Hindernissen “ . 2 Was heute noch als Geburtsstunde der deutschen Frauenbewegung gilt, trug Früchte bis in die 1890er Jahre hinein. 1894 schlossen sich die bis dahin eher lokal und regional agierenden Vereine zum Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) zusammen, um einander und die gemeinsame Sache zu stärken - ein von Erfolg gekröntes Vorhaben, wie sich zeigen sollte. Zählte der als Dachverband über 130 Vereine verbindende BDF zu Beginn des neuen Jahrhunderts noch etwa 70.000 Mitglieder, hatte sich die Anzahl 1912 bereits mehr als vervierfacht: Mit rund 330.000 Mitgliedern Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 145 - 159. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0011 war er nun zu einem öffentlichkeits- und gesellschaftspolitisch wirksamen Faktor geworden. 3 Während dieser Etablierungsphase der Frauenbewegung beförderten gerade Kongresse die Vernetzung und inhaltliche Verständigung von Vereinen und Aktivist*innen. Seit dem World ’ s Congress of Representative Women 1893 in Chicago auch international ausgerichtet, dienten sie dazu, der Bewegung in der Öffentlichkeit Anerkennung und Aufmerksamkeit für ihre Themen zu verschaffen. 4 Im Kontext solcher Kongresse, so zeigen wir in diesem Aufsatz, waren auch Theateraufführungen zentral für die politische Artikulation der Frauenbewegung. Als Teil des offiziellen Kongressprogramms oder in eher loser Verbindung dazu griffen Aufführungen wichtige Anliegen der Bewegung auf. Gegenstand unserer Analysen sind zwei Inszenierungen, die die Arbeitschancen und -schwierigkeiten von Frauen im Deutschland der Jahrhundertwende auf unterschiedliche Weise thematisierten: das Drama Der Kampf der Frau. Sociales Schauspiel in vier Akten und einem Vorspiel von Hans Hochfeldt, das 1896 am Stadttheater in Zürich uraufgeführt und aus Anlass des Internationalen Kongresses für Frauenwerke und Frauenbestrebungen im September des Jahres am Berliner Neuen Theater erneut gespielt wurde; sowie kontrastierend hierzu Marie Haushofers Culturbilder aus dem Frauenleben. Zwölf Gruppendarstellungen, die in der Regie von Sophia Goudstikker im Oktober 1899 als krönender Abschluss des ersten Allgemeinen Bayerischen Frauentags in München gezeigt wurden. In der vergleichenden Analyse wird deutlich, dass beide Inszenierungen Themen verhandelten, die im Zentrum der Bewegung standen: etwa die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern, der gleichberechtigte Zugang zu Bildung für Jungen und Mädchen und das Abschaffen von Barrieren, die Frauen außerhalb der Erwerbstätigkeit hielten. 5 Im Rückgriff auf und im Spiel mit unterschiedlichen Genres setzten die Inszenierungen Formen der Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben und insbesondere an der Arbeitswelt in Szene, die historische und zeitgenössische gesellschaftliche Zustände kritisierten und zugleich Zukunftsperspektiven entwarfen. Insofern lassen sich beide Beispiele als ebenso selbstbeobachtende wie aktivistische Beiträge im Rahmen von Frauenkongressen betrachten, die neben dem Vortrags- und Diskussionsprogramm eine eigene, künstlerische Stellungnahme zur Thematik der Teilhabe einbrachten. Als gemeinschaftsstiftende Ereignisse boten Theateraufführungen Identifikationspotentiale für Einzelschicksale ebenso wie für bestimmte Gruppen. Zugleich erzeugten sie einen Raum, in dem politische Ideen auf künstlerische Weise artikuliert werden konnten. An die Teilnehmer*innen der Kongresse gerichtet und zugleich offen für ein breiteres Publikum, unterstützten theaterkünstlerische Formen also die Anliegen der Frauenbewegung und leisteten so einen entscheidenden Beitrag hierzu. 6 Frauenkongresse, so ließe sich sagen, konnten eine politische Wirksamkeit entfalten - und dabei durchaus tanzen. 7 Der Kampf der Frau in Berlin 1896 Die Berliner Aufführung von Der Kampf der Frau war prominent angekündigt worden. Keine andere als die Schauspielerin und Frauenrechtlerin Marie Stritt bewarb sie in der Zeitschrift Die Frauenbewegung verheißend: Der Schriftsteller vermöge es, die dringenden politischen Anliegen „ in durchaus würdiger Weise, mit vollem Verständnis, sittlichem Ernst und erschütternder Lebenswahrheit “ 8 zu behandeln. Über diesen verständnisvollen Mann namens Hans Dreger (1856 - 1911), der unter dem Pseudonym 146 Friederike Oberkrome / Lotte Schüßler Hans Hochfeldt seit 1895 Schauspiele verfasste, ist wenig bekannt, außer, dass er dies neben seiner Offizierstätigkeit tat. 9 Unter der Regie von Siegmund Lautenburg war dann auch die Berliner Inszenierung in männlicher Hand. Der Internationale Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen, der vom 19. bis 26. September 1896 in der Hauptstadt tagte, stand freilich unter weiblicher Organisation und Leitung, wobei unter den Teilnehmenden auch Männer waren. Eine Woche lang tauschten sich die rund 1.700 Teilnehmenden, darunter viele Gäste aus dem europäischen Ausland und den USA, 10 über den Stand der internationalen Bewegung und ihre Arbeitsfelder aus. Die schulische und die Berufsausbildung, das Studium an Universitäten und Kunstakademien sowie die Arbeitsmöglichkeiten und -bedingungen von Frauen nahmen dementsprechend einen Großteil des Programms ein. Tagungsort war der Festsaal des Berliner Rathauses, 11 sodass die Teilnehmer*innen in etwa einer halben Fußstunde Entfernung im Neuen Theater (dem heutigen Theater am Schiffbauerdamm) eine szenische Auseinandersetzung mit den Kongressthemen erleben konnten. Beim titelgebenden Kampf, dem die Kongressteilnehmer*innen beiwohnen konnten, handelte es sich um das Schicksal der drei Schwestern Breitenfeld (Abb. 1). Nach dem frühzeitigen Tod ihres Vaters finden sich die reflektierte, selbstbewusste Paula, die zarte Toni und die künstlerisch begabte Doris auf sich allein gestellt in einer ärmlichen Wohnung in Berlin wieder. Aufgewachsen in einem vornehmen bürgerlichen Haushalt, wo Frauen allein für repräsentative Tätigkeiten wie Hofieren, Musizieren oder Konversation ausgebildet werden, sind die drei darauf angewiesen, auf dem überfüllten Arbeitsmarkt ohne berufliche Ausbildung eine Anstellung zu finden, die ihnen das Überleben sichert. Paula bekommt eine Stelle als Schreibkraft in einer Anwaltskanzlei, Toni arbeitet in einem Blumengeschäft, wo sie von der kalten Zugluft jedoch bald krank wird und kündigen muss. Doris ist länger auf Arbeitssuche und nimmt schließlich ein Engagement als Sängerin an einer Unterhaltungsbühne an. All diese Tätigkeiten und öffentlichen Räume sind auf der Bühne allerdings nicht zu sehen. Die Handlung spielt sich hauptsächlich in der Einzimmerwohnung der drei Schwestern ab, vermittelt durch deren intensive Dialoge miteinander. Während die Kongressteilnehmer*innen sich mit ihren Themen gezielt an die Öffentlichkeit wandten, wurde der Kampf der Frau um gesellschaftliche Anerkennung und Teil- Abb. 1: Titelblatt des Dramas Der Kampf der Frau von Hans Hochfeldt. Nachweis: Hans Hochfeldt, Der Kampf der Frau. Sociales Schauspiel in vier Akten und einem Vorspiel Zürich, 1896. 147 Die Frauenbewegung in Kulturbild und Sozialdrama. Inszenierungen der Teilhabe kurz vor 1900 habe hier im Privaten geschildert, stattfindend in einem Innenraum als demjenigen Ort, der Frauen üblicherweise zugewiesen war. 12 Hin und Her gerissen sind die drei außerdem zwischen der Notwendigkeit, eine Anstellung finden zu müssen und einem verbleibenden standesgemäßen Stolz, der ihnen bestimmte Tätigkeiten versagt. Dies wird von ihrem alten Umfeld und gesellschaftlichen Konventionen noch torpediert: Ihr Bruder Albrecht bricht aus Scham für seine Schwestern den Kontakt ab. Der andere Bruder Günther, der mit seinen Schwestern stets solidarisch bleibt, muss seine Karriere beim Militär aufgeben, weil Doris einer verrufenen Tätigkeit nachgeht. Besonders Paula kennt die Diskurse der Frauenbewegung und weiß, deren Forderungen nach gleichen Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten informiert und selbstbewusst zu verteidigen. Doch für die anderen beiden bleibt als einziger Ausweg aus ihrer Situation die Hoffnung auf eine Ehe mit einem finanziell gut gestellten Mann. Toni kann darauf hoffen, ihren Verlobten, einen Amtsrichter, zu heiraten. Nachdem Doris entlassen wird, weil sie sich die sexuellen Belästigungen des Kapellmeisters nicht gefallen lassen will, stimmt sie überstürzt der Verlobung mit einem aufdringlichen Baron zu. Als die kranke Toni von Doris ’ Weggehen erfährt, stirbt sie. Im titelgebenden „ Kampf der Frau “ sind somit zwei der drei Schwestern unterlegen: Toni körperlich und Doris, weil sie sich in das Modell der Versorgerehe und damit der patriarchalen Fremdbestimmung einfügt. Zugleich wird der heteronormativ geprägten romantischen Zweierbeziehung ein weit geringerer Stellenwert eingeräumt als der Schwesternliebe. Von dieser bestärkt, kämpft Paula trotz der erbärmlichen Situation am Ende weiter und schwört am Totenbett der Schwester entschlossen-optimistisch: „ Mit aller Kraft meines Seins und Könnens will ich eintreten in den heiligen Kampf um die Rechte unseres Geschlechtes! [. . .] Der Kampf wird schwer sein, aber der endliche Sieg ist gewiß! “ 13 Der Kampf der Frau entfaltet ein schonungsloses Bild der Situation von Frauen, die auf Erwerbsarbeit angewiesen sind. Die Teilhabe an öffentlichen Diskursen, Aspekte der Selbstverwirklichung, Aufstiegs- oder Ausdrucksmöglichkeiten stehen bei diesem Kampf nur an zweiter Stelle; zuvorderst steht das blanke Überleben. Erzählt vornehmlich aus der Perspektive der drei wohlhabend aufgewachsenen Schwestern Breitenfeld, die für die Miete zumindest ihren eleganten Nähtisch und das Pianino verkaufen können, zeigt das Drama zugleich Gespür für die Arbeiter*innenklasse, deren Situation ungleich auswegloser ist. So wird die Geschichte der Schwestern flankiert durch das Schicksal ihrer berlinernden Wirtin, die mit mehreren prekären Anstellungen vier Kinder und den alkoholabhängigen, gewalttätigen Ehemann durchbringen muss, und durch die Lebensumstände ihrer Tochter Rike, die als Jugendliche bereits in einer Fabrik arbeitet. Außerdem informiert das Drama über konkrete Gesetzeslagen im Deutschen Kaiserreich, die arbeitenden Frauen Hindernisse in den Weg stellten. So erfährt man im Gespräch zwischen der Wirtin und Paula, dass Ehefrauen all ihre Verdienste an den Mann abgeben mussten: „ Ich darf mit das Jeld, was ich mir mühsam erwerbe, nich ’ mal meine eigenen Kinder satt machen, und wenn sie vor meine leiblichen Augen verhungern. “ 14 Toni erinnert daran, dass Frauen in Deutschland nicht studieren dürfen. 15 Und über Geschlechterverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt lernt man, dass im gesamten Kaiserreich eine Million mehr Frauen als Männer auf eine Arbeitsstelle angewiesen waren, während ihnen aufgrund der diskriminierenden Gesetzeslagen ungleich weniger Berufe überhaupt offenstanden. 16 148 Friederike Oberkrome / Lotte Schüßler Wie die Geschichte der drei Schwestern in Zürich und Berlin im Jahr 1896 in Szene gesetzt wurde, darauf liefern die Rezensionen kaum Hinweise. 17 Dass die Aufführungen sich weitestgehend an die detailliert ausfallenden Regieanweisungen gehalten haben mögen, legt allerdings das Genre des sozialen Schauspiels bzw. sozialen Dramas selbst nahe. Dieses Genre, dem sich Der Kampf der Frau im Untertitel selbst explizit zuordnet, unternimmt den Versuch, allgemeine politisch-ökonomische Zustände anhand exemplarischer zwischenmenschlicher Konfliktsituationen zu spiegeln. 18 Den Lebensbedingungen von marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen widmet es sich dazu aus dezidiert subjektiven Perspektiven. Von einer möglichst präzisen Analyse der sozialen Wirklichkeiten ausgehend, stellen die naturalistischen Stücke Menschen häufig als von biologischen und sozialen Bedingungen determiniert dar und schrecken auch vor Darstellungen brutaler, tendenziell auswegloser Lebensrealitäten nicht zurück. In formalästhetischer Hinsicht löst sich dies häufig in detaillierten Figurenbeschreibungen, Regieanweisungen und sprachlichen Ausgestaltungen wie dem dialektalen Sprechen ein. 19 In Der Kampf der Frau sind solche Merkmale bereits im Personenverzeichnis auffindbar, das die äußerlichen Erscheinungen und Charaktereigenschaften der Hauptfiguren genau beschreibt. 20 Man erfährt das Alter aller Personen, dass Paula „ edle[r], charaktervolle[r], ernste[r] Natur “ ist, Toni eine „ zarte, vornehme Erscheinung “ , Doris „ sehr gewandt, lebhaft, von übermütigem, lebenslustigem Charakter, heißblütig, temperamentvoll “ . 21 Auch das Berliner Zimmer als Haupthandlungsort ist in seiner Schlichtheit so ausführlich beschrieben, dass es einem buchstäblich vor Augen erscheint. 22 Insofern mag der Dramentext, der uns als hauptsächliche Quelle zur Verfügung steht, den auf den Züricher und Berliner Bühnen erzählten Kampf auf Ebene der Handlung und der hierauf in naturalistischer Manier bezogenen gestalterischen Mittel vergleichsweise zuverlässig widerzuspiegeln. Wovon die uns vorliegenden Rezensionen wiederum deutlich zeugen, das ist die Wirkung, die die Aufführungen auf das Publikum hatten. Die Besprechungen der Züricher Premiere dokumentieren eine „ wahrhaft begeisterte Aufnahme “ , 23 tosenden „ Beifallssturm “ . 24 Auch wurde, wie die Schweizer Haus-Zeitung berichtet, zur Reflexion über eigene Haltungen und nationale Unterschiede angeregt. So belauschte der*die Rezensent*in das Gespräch zwischen Besucher*innen, die betroffen feststellten, dass die Gesetzeslagen in der Schweiz für Frauen nicht besser ausfallen. 25 Für die Berliner Premiere dokumentiert das Berliner Tageblatt ebenfalls „ feurigste[] Kampfesstimmung “ im vom Frauenkongress abgewanderten Publikum. Allerdings moniert Fritz Engel das weitestgehend negative Männerbild und beurteilt die Geschichte als erfundene, übertriebene Darstellung von Einzelschicksalen. 26 Der Kritiker fühlte sich wohl persönlich angegriffen. Anderer Meinung war hier die Frauenrechtlerin Marie Stritt. Für sie waren es vielmehr „ typische Gestalten, typische Schicksale, denen wir unzähligemale begegnet sind “ . 27 Ihre wärmste Empfehlung des Aufführungsbesuchs - den Kongressteilnehmer*innen legte sie „ vollzähliges Erscheinen “ nahe - 28 scheint angekommen zu sein: Der beleidigte Kritiker Engel zählte bei der von ihm besuchten Aufführung 400 Zuschauer*innen, darunter deutlich überwiegend die kämpferisch gestimmten „ Damen “ . 29 Culturbilder aus dem Leben der Frau in München 1899 Ebensolche Damen dürften auch zum Publikum von Marie Haushofers Festspiel Cultur- 149 Die Frauenbewegung in Kulturbild und Sozialdrama. Inszenierungen der Teilhabe kurz vor 1900 bilder aus dem Frauenleben gezählt haben, das als krönender Abschluss des ersten Bayrischen Frauentags uraufgeführt wurde, der vom 18. bis 21. Oktober 1899 in München stattfand. Geleitet wurde dieser Kongress von Ika Freudenberg, die nicht nur Vorstandsmitglied des BDF, sondern auch Gründungsmitglied des Münchner Vereins für Fraueninteressen war, der den Kongress ausrichtete. 30 Bevor die Culturbilder am letzten Abend zur Aufführung kamen, hörten die mehr als 50 Frauen, die aus 14 bayerischen Städten angereist waren, vier Tage lang Beiträge zu ganz unterschiedlichen Themen, die die damalige Frauenbewegung beschäftigten. Auf dem Programm standen Vorträge zu Bildungschancen, Arbeitsbedingungen und konkreten Tätigkeiten von Frauen, wobei Hauptaugenmerke auf dem Gastwirtschaftsgewerbe, Pflegeberufen sowie auf dem pädagogischen Bereich lagen. 31 Die gesellschaftliche Rolle der Frau und die Bedeutung von Arbeit und Bildung für ihre Emanzipation standen auch im Zentrum des Festspiels, das eigens aus Anlass des Kongresses geschrieben wurde. Genretypisch für das Festspiel zeigen die Culturbilder aus dem Frauenleben in Form eines allegorischen Bilderbogens Szenen aus unterschiedlichen Epochen der Menschheitsgeschichte, die die ungesehenen oder marginalisierten Leistungen von Frauen sichtbar machen und würdigen. 32 Dass die szenische Umsetzung des Stücks von bekannten Akteur: innen der Münchner Frauenbewegung getragen wurde, erscheint insofern nur konsequent: Die Regie übernahm die Schauspielerin und Fotografin Sophia Goudstik- Abb. 2: Klio und Mutter Erde aus Culturbilder aus dem Leben der Frau (R: Sophia Goudstikker). Nachweis: Stadtarchiv München, DE-1992-FS-ALB- 139 - 01. Abb. 3: Das Volk der Amazonen aus Culturbilder aus dem Leben der Frau (R: Sophia Goudstikker). Nachweis: Stadtarchiv München, DE-1992-FS-ALB- 139 - 03. 150 Friederike Oberkrome / Lotte Schüßler ker, die selbst auch auf der Bühne stand. 33 Auf nachträglich entstandenen Studiofotografien sind, neben der Autorin Marie Haushofer selbst, ihre Stiefmutter, die Schriftstellerin Emma Haushofer-Merk, und ihre Schwägerin Martha Haushofer zu sehen, außerdem Therese Schmidt sowie Hedwig und Katia Pringsheim. Alle von ihnen waren entweder aktiver Teil oder standen zumindest den Zielen des Münchner Vereins für Fraueninteressen nahe, dessen Mitglieder größtenteils aus künstlerisch-literarischen Kreisen des Münchner Bildungsbürgertums stammten. 34 Ob sie alle auch in der Aufführung mitgewirkt haben, muss allerdings fraglich bleiben. Für die erst acht Tage später entstandenen Fotografien, produziert im Fotoatelier Elvira, 35 engagierte Goudstikker nämlich auch Verbündete aus ihrem Freund*innen- und Bekanntenkreis, die vermutlich nicht auf der Bühne zu sehen waren. 36 Die Fotografien veranschaulichen also nicht nur die Gestaltung der Inszenierung, sondern setzen auch namhafte Akteur*innen der Münchner Frauenbewegung in Szene und dokumentieren deren politisches Engagement. Auch das Schauspiel selbst lässt vielfältige Bezüge auf Themen und Anliegen der Bewegung erkennen - allein schon dadurch, dass es seinen Ausgang in der jahrtausendelangen Unterdrückungsgeschichte von Frauen nimmt, wie bereits die Eröffnungsszene verdeutlicht. Das ausgehende 19. Jahrhundert vor Augen, wirft die von Sophia Goudstikker gespielte Klio darin einen Blick zurück in die Vergangenheit, der vor allem die geistigen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte beleuchten soll. 37 Hierbei stößt die Muse der Geschichtsschreibung allerdings auf eine klaffende Lücke in den Geschichtsbüchern: Doch was auch Großes hier mein Griffel zeigt/ eins ist, von dem mir die Geschichte schweigt; / sie spricht von einer Menschheitshälfte nur - / und von der andern fehlt mir oft die Spur! / Es ist der Mann, der kämpft, erfindet/ der Mann ist ’ s, der den Staat gegründet / und fügte der Kulturwelt Bau; / Was that in all ’ der Zeit die Frau? 38 Eine Antwort geben die nun folgenden, durchgehend in Reimform abgefassten zwölf Bilder, die vor einem Abendhimmel in grüner, hügeliger Landschaft aufziehen und durch die Auswahl der Kostüme und Requisiten auf unterschiedliche historische Epochen rekurrieren. Kommentiert und historisch eingeordnet werden sie durch Dialoge zwischen Klio und Mutter Erde, die als Mittlerfiguren zwischen Bühne und Publikum erscheinen (Abb. 2). Das erste Gruppenbild rekurriert auf das biblische Gleichnis der törichten und der klugen Jungfrauen und verrät damit bereits die Programmatik des Festspiels: Frauen sollten wachsam und vorbereitet sein für nahende Veränderungen und tatkräftig ins Leben schreiten. Nach den Jungfrauen stürmen die Amazonen auf die Bühne, deren Anführerin das Publikum mit einer Art Schlachtruf adressiert und zum Freiheitskampf der Frauen aufruft (Abb. 3). Kontrastiert wird dies mit dem Aufritt der sogenannten „ Orientalinnen “ , die als versklavte Haremsfrauen nur „ Tand und Zier “ der Männer und dabei „ so gut wie stumm, verschüchtert, ungebildet, kindisch, dumm “ 39 seien - eine letztlich rassistische Projektion, die zugleich auch als zeitgenössische Kritik der westlich-bürgerlichen Ehefrau gehört werden konnte. 40 Hierauf folgen die heroischen „ Germaninnen “ , sodann die Benediktinerinnen, die als Symbol für die Christianisierung und den Austritt aus dem , dunklen Mittelalter ‘ erscheinen, das mit dem sich anschließenden Trauerzug für den Dichter Frauenlob noch einmal buchstäblich zu Grabe getragen wird. Die gebildeten Damen der Renaissance, die anschließend auftreten, befinden sich im feingeistigen Gespräch mit dem ebenso frauenverehren- 151 Die Frauenbewegung in Kulturbild und Sozialdrama. Inszenierungen der Teilhabe kurz vor 1900 den Dichter Ariost, angelegt als Feier der schönen Künste. Dass dies mit dem oftmals brutalen und elenden Leben damals wenig gemein hat, zeigt ein Blick in den Alltag einer Familie im Dreißigjährigen Krieg, wo Frauen ihre kriegsversehrten Männer pflegen und die Familie versorgen. Die folgende Szene bei Hofe kritisiert das Intrigantentum unter Rokoko-Frauen, auf die als Gegenentwurf die idealisierte Darstellung der preußischen Königin Luise folgt, die ihr Leben und das ihrer Kinder opferbereit dem Erhalt des Staats widmet. Als vorletztes Bild erscheinen zwei Krankenschwestern, die sich während der Befreiungskriege in ganz anderer Hinsicht aufopferungsvoll um Verwundete kümmern. Zum Schluss füllt sich die Bühne mit „ Frauen von heute “ , die nicht mehr nur duldsam sind, sondern in unterschiedlichen Berufen „ Geist und Hände regen “ : 41 Arbeiterinnen, Telefonistinnen, Buchhalterinnen, Lehrerinnen, Malerinnen, Doktorinnen und viele andere. Sie erscheinen zusammen mit dem Geist der Arbeit, der sich als verbindendes Element zwischen den einzelnen Epochen der Frauengeschichte vorstellt: Ich bin die Arbeit/ und ich führ ’ sie an/ die Fraun ’ von heut sowie den heut ’ gen Mann/ O glaubt nicht, dass ich in vergang ’ ner Zeit/ den Frauen fern gewesen sei! / Nur aus der häuslichen Verborgenheit/ trat selten ich in ’ s Leben, offen, frei. 42 Das historische Panorama endet mit einem Versprechen: All jenen, die sich geistig betätigen, die einen Blick für das Schöne kultivieren, die mit eigenen Händen erschaffen und dadurch „ etwas für das Ganze “ tun, zeige der Geist der Arbeit ein freundliches Gesicht, stehe ihnen bei und führe sie „ hinan zum Licht “ . 43 Wie zur gemeinsamen Einschwörung stimmen die auf der Bühne Versammelten schließlich das Chorlied „ Wach auf, es nahet gen den Tag! “ aus Richard Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg an, dessen zitierte Anfangsworte wie ein Motto der Münchner Frauenbewegung rezipiert wurden. 44 Der überfüllte Saal im Katholischen Kasino quittierte die Aufführung mit tosendem Beifall, das Ensemble musste wiederholt zur Verbeugung erscheinen. 45 Diese heitere Stimmung trug sich in den weiteren Abend fort. Man hörte noch Gedichte und einige Chorstücke, anschließend wurde der Saal geräumt und der gesamte Kongress tanzte. 46 Ein Jahr später kamen die Culturbilder in Nürnberg zu einer weiteren Aufführung und 1902 wurden sie im Opernhaus Bayreuth gespielt, beides wieder äußerst erfolgreich. Man solle das Stück nach Möglichkeit überall spielen, hieß es damals. 47 Offenbar erkannte man darin ein besonderes Potential, die Anliegen und Ziele der Frauenbewegung einem breiten Publikum bekannt zu machen und neue Verbündete zu finden. Dieser zeitgenössische Erfolg hat möglicherweise auch mit der formalen Anlage des Stücks zu tun, in der sich unterschiedliche, damals populäre Genres miteinander verbinden. Dazu zählt zunächst das bereits im Titel referierte Kulturbild, das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eigenständiges literarisches Genre der Darstellung sozialer Wirklichkeit entwickelte. Noch in der Tradition historischer Romane stehend, aber auch freiere Textformen wie Reportage oder Erzählung nutzend, werden Kulturbilder meist zu Zeiten verfasst, in denen sich gesellschaftliche Umbrüche andeuten. Sie vermitteln einen Eindruck „ vom kulturellen Zustand einer Gesellschaft unter bestimmten historischen und geographischen Bedingungen “ 48 , bevor sich etwas Neues Bahn bricht. Kennzeichnend ist zudem eine Involviertheit der schreibenden Person, die sich meist in verknüpfenden, analysierenden oder kommentierenden Textpassagen zeigt. Diese subjektive Perspektive auf das Geschehen findet sich 152 Friederike Oberkrome / Lotte Schüßler auch in Marie Haushofers Culturbildern, nämlich in den Dialogen zwischen Klio und Mutter Erde, die die heraufziehenden Bilder einordnen und bisweilen kritisch kommentieren. Als solche Kommentarfiguren, die sich direkt an das Publikum richten, lassen sie zugleich an das Genre der Revue denken, bei der Conférenciers bzw. Conférencières durch das Programm aus unterschiedlichen aufeinanderfolgenden Nummern führten. 49 Darüber hinaus rekurriert das Stück auf die Form des Festspiels, das im krisengeprägten 19. Jahrhundert als gemeinschafts- und identitätsstiftendes theatrales Medium erneute Relevanz gewann. 50 Das Festspiel ist durch ein ganz ähnliches Spannungsverhältnis gekennzeichnet: Einerseits und vornehmlich dient es der Rückbesinnung auf Traditionen, der kulturellen Erinnerung und der historischen (Re-)Konstruktion von nationaler wie sozialer Gemeinschaft; andererseits wohnt ihm auch eine zukunftsweisende, Veränderung implizierende Dimension inne. 51 Beides lässt sich bei Haushofer wiederfinden. Denn zum einen rufen die Culturbilder die historischen Leistungen von Frauen und ihren Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung ins Gedächtnis, zum anderen legitimieren sie durch diese Darstellung den Emanzipationsanspruch, den die damalige Frauenbewegung sukzessive auszuformulieren begann. Dieser auf Zukunft und Veränderung hin ausgerichtete Impuls des Festspiels ist bemerkenswert. Anstatt die an der Aufführung Teilnehmenden in ihren vorhandenen Vorstellungen zu bestärken und dabei die geltenden Normen und Werte zu zelebrieren, wie üblich für das Genre, 52 werden etablierte Erzählungen über die gesellschaftliche Rolle der Frau herausgefordert und in Frage gestellt: Wenn Frauen einen ebenso großen Dienst an der Gesellschaft leisten wie Männer und eigenständig beruflichen Tätigkeiten nachgehen, müssen ihnen auch dieselben Rechte zugestanden werden. 53 Diesbezüglich erscheinen die Erzählfiguren Klio und Mutter Erde als hybride Vermittlungsinstanz zwischen den Zeiten und Genres. In ihren an das Publikum gerichteten Äußerungen deutet sich immer wieder eine frauenbewegte, zum Tätigwerden auffordernde Haltung an, mit der sich das im Saal des Katholischen Kasinos versammelte Kongresspublikum bestenfalls identifizieren, zumindest aber solidarisieren sollte. Inszenierungen der Teilhabe kurz vor 1900 Die verschiedenen Genres von Hans Hochfeldts Der Kampf der Frau und Marie Haushofers Culturbilder aus dem Leben der Frau brachten wiederum unterschiedliche Inszenierungsweisen mit sich, die auf je eigene Weise Anliegen der Frauenbewegung adressierten. Das soziale Schauspiel zeigt durch seine detaillierte Bühnengestaltung, besonders aber durch die Dialoge und mittels der Sprache selbst am zwar erfundenen, doch konkreten Beispiel der drei Schwestern ausführlich und „ realitätsnah “ im Sinne der Sozialdramatik, was der Kampf ums Überleben für Frauen im Kaiserreich bedeuten konnte. 54 Dieser detaillierte Zugriff auf die Lebenswirklichkeit ermöglichte es dem Autor nicht nur, milieubedingte Unterschiede, sondern auch intersektionale Verschränkungen von Geschlecht und Klasse zu thematisieren. Die Bildhaftigkeit und die eher abstrakte Form des Tableaus in den Culturbildern erlaubt es hingegen, überlieferte und imaginierte Szenen aus dreitausend Jahren Geschichte nebeneinander zu stellen und aus einer frauenemanzipatorischen, auf die Zukunft hin ausgerichteten Perspektive heraus zu betrachten. Während Der Kampf der Frau als soziales Schauspiel spezifische Milieubezüge auf- 153 Die Frauenbewegung in Kulturbild und Sozialdrama. Inszenierungen der Teilhabe kurz vor 1900 weist und analytisch-einfühlend vorgeht, entwerfen die Culturbilder als Festspiel mit Anleihen an die Revue eine vergemeinschaftende Perspektive auf Frauengeschichte, die gerade im Vergleich mit Hochfeldts Drama aber partikular bleibt. Denn sie handeln kaum von proletarischen Milieus, was sicher auch durch die gewisse Distanz zwischen bürgerlicher und proletarischer Gruppierung der damaligen Frauenbewegung zu erklären ist. 55 Darüber hinaus wird die Geschichte der Frau hier aus westlich-europäischer Sicht erzählt, was am Bild der orientalisierten Haremsfrauen besonders deutlich wird. Als reines Dekor und beherrschtes Eigentum ihres Mannes porträtiert, erscheinen sie als negative Projektionsfläche für die deutschen Ehefrauen. 56 Und auch die Wünsche nach einem anderen, befreiten Leben, die eine der Haremsfrauen artikuliert, werden in dieser Darstellung letztlich Freiheits- und Autonomievorstellungen nach westlichen Maßstäben zugerechnet. In diesem Bild scheint so ein Rassismus durch, der für die Frauenbewegung insgesamt durchaus charakteristisch war. 57 Das Kollektiv der Frauen, für das beide Inszenierungen Partei ergreifen, wird also nicht als eine homogene Einheit vorgestellt. Vielmehr stehen jeweils einzelne Individuen und subjektive Perspektiven im Fokus, die stets im Verhältnis zu gesellschaftlichen Konventionen betrachtet werden. Wenn die Inszenierungen auf klassenspezifische, kulturelle und ethnische Differenzen aufmerksam machen, die nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Gruppe der Frauen wirksame Ein- und Ausschlüsse produzieren, wird die Forderung nach gesellschaftlicher Teilhabe verkompliziert. Durch den Auftritt von Frauen aus unterschiedlichen Zeiten, Regionen und sozialen Milieus erscheint fraglich, für wen das zu erstreitende Recht auf Bildung eigentlich gilt, wen der emanzipatorische Anspruch der Stücke ein- und wen er ausschließt. Insofern lassen sich die besprochenen Inszenierungen nicht zuletzt als Aushandlungen von Zugehörigkeit begreifen - als Performances von ‚ belonging ‘ , die auf die vielfältigen Zugehörigkeiten verweisen, die die Frauenbewegung der Jahrhundertwende versammelte, und zugleich auf die Ausgrenzungen, die sie ebenso hervorbrachte. Der historische Kontext der Frauenkongresse mag suggerieren, es sei von vornherein klar, um welches politische Kollektivsubjekt es ginge, wer angesprochen und mitgemeint ist, wer sich zugehörig fühlen kann. Die in diesem Rahmen gezeigten Aufführungen lassen demgegenüber eine Heterogenität der Gruppe aufscheinen, die zumindest erahnen lässt, dass der Kampf um Teilhabe und Gleichberechtigung nicht losgelöst von der Frage geführt werden kann, wessen Anliegen gehört und vertreten werden sollen. Im Zentrum der Kongresse wie der Inszenierungen steht dennoch die Thematik der Teilhabe, welche die unterschiedlichen, im Falle von Haushofers Stück sogar hybriden Genres und die dazugehörigen Inszenierungsweisen verschiedentlich verhandeln. Die diesbezügliche Botschaft der Culturbilder ist eine ermächtigende, beinahe utopische: Frauen hatten im Verlauf der Geschichte erheblichen Anteil an gesellschaftlichen Entwicklungen. Auch wenn sie oftmals in eher dienenden, unterstützenden oder duldsamen Rollen agierten bzw. agieren mussten, bedeutet dies nicht, dass sie nichts geleistet hätten. Im Sinne des Festspiels ließe sich sagen: Frauen folgten immer schon dem „ Geist der Arbeit “ , indem sie kulturellen, intellektuellen und häuslichen Arbeiten nachgingen sowie Sorgearbeit verrichteten. Bildung erscheint als der sichere Weg zu Selbstständigkeit und Selbstbestimmung und somit zu einer auch sichtbaren gesellschaftlichen Teilhabe. Für die Schwestern in Der Kampf der Frau scheint Teilhabe durch Erwerbsarbeit, die damit verbundene ökonomische Selbstständigkeit oder gar eine 154 Friederike Oberkrome / Lotte Schüßler persönliche Selbstverwirklichung hingegen kaum erreichbar. Zu sehr sind sie allein für die Tätigkeiten als repräsentierende Ehefrau ausgebildet, zu diskriminierend ist die Gesetzeslage, die Frauen das Studium und bestimmte Arbeitsbereiche versagt. Doch gerade durch die derart drastische Thematisierung der gesellschaftlichen Konventionen und rechtlichen Grenzen versteht sich das Drama als deutlicher Appell für eine kritische Diskussion und schließlich Überwindung dieser Zustände. So ist es vor allem Zukunftsgewandtheit, die beide Inszenierungen teilen. Die bevorstehende Jahrhundertwende veranlasst in den Culturbildern zum Rückblick auf dreitausend Jahre Vergangenheit, doch gegen Ende blickt die Muse der Geschichtsschreibung auch in die Zukunft: Daß, bis zum nächsten kommenden Jahrtausend/ Der rasche Schritt der Zeit nicht sausend/ An Euch vorbei geht! Daß in hundert Jahren/ Die Welt das Beste von der Frau erfahren,/ Das fördert nun mit mir, ihr Frau ’ n von heut ’ ! 58 Und sogar das insgesamt realistisch-pessimistische Drama Der Kampf der Frau erlaubt es sich, bei aller scheinbaren Ausweglosigkeit einen kämpferischen Schwur zu leisten, der sich auf eine Zukunft bezieht, in der Frauen in einer gerechteren Gesellschaft leben. Aufführungen in das Programm von Frauenkongressen einzubinden, war also mehr und anderes, als „ das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden “ 59 , wie ein Zeitungsbericht zum bayerischen Frauentag über das Festspiel schrieb. Auch wenn die gesellschaftspolitische Wirkung dieser Kongresse sich nicht unmittelbar entfaltet haben mag, auch wenn ihre politische Sprengkraft entweder nicht gesehen werden wollte oder von vornherein verurteilt wurde, 60 konnten Der Kampf der Frau und die Culturbilder aus dem Leben der Frau, die im unmittelbaren Umfeld solcher Kongresse zur Aufführung kamen, die zahlreichen Anwesenden auf andersartige Weise über die Anliegen und Ziele der Frauenbewegung informieren, einer abstrakten politischen Idee in Dialogen und Szenen Ausdruck verleihen und ihr so zur Sichtbarkeit verhelfen. Sie boten den Frauen im Publikum eine Identifikationsfläche und gaben Zuspruch und Ermutigung zu weiterführendem Engagement. Anmerkungen 1 Vgl. Ute Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, München 2009, S. 53. 2 Louise Otto, Das Recht der Frauen auf Erwerb. Blicke auf das Frauenleben der Gegenwart, Hamburg 1866, S. 87. 3 Vgl. Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus, S. 65. 4 Vgl. etwa: Kerstin Wolff / Anja Schüler (Hg.), Der Kongress tanzt - Nicht! Frauenkongresse als Orte der Kommunikation, Politik und Vernetzung. Ariadne 76 (2020); Sylvia Schraut, „ Internationale Konferenzen, Publikationen und die Stiftung von Erinnerung: Mediale Strategien in den Richtungskämpfen der bürgerlichen Frauenbewegung im Kaiserreich “ , in: Feministische Studien 35/ 1 (2017), S. 61 - 75. 5 Vgl. Barbara Greven-Aschoff, Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894 - 1933, Göttingen 1981, S. 44 f. 6 Die für unseren Beitrag relevanten Verbindungen zwischen Theater und der Frauenbewegung der Jahrhundertwende sind insbesondere für Großbritannien gut erforscht. Siehe etwa: Leslie Hill, Sex, Suffrage and the Stage. First Wave Feminism in British Theatre, London 2018; Anna Farkas, Women ’ s Playwriting and the Women ’ s Movement, 1890 - 1918, London / New York 2019; sowie zu den USA: Susan A. Glenn, Female Spectacle. The Theatrical Roots of Modern Fe- 155 Die Frauenbewegung in Kulturbild und Sozialdrama. Inszenierungen der Teilhabe kurz vor 1900 minism, Cambridge, MA / London 2000. Für eine Studie zum deutschsprachigen Raum siehe: Michaela Giesing, „ Ibsens Nora und die wahre Emanzipation der Frau “ . Zum Frauenbild im wilhelminischen Theater, Frankfurt a. M. 1984; sowie für eine Untersuchung der Zusammenhänge von deutscher Kunstszene und Frauenbewegung am Beispiel Münchens: Ingvild Richardsen, „ Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen “ . Wie Frauen die Welt veränderten, Frankfurt a. M. 2019. Auch mit Blick auf die Frauenbewegung seit den 1968er Jahren lassen sich solche Verbindungen zwischen (Theater-) Kunst und Politik ausmachen. Für den deutschsprachigen Raum siehe: Jenny Schrödl / Eike Wittrock (Hg.), Theater* in queerem Alltag und Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre, Berlin 2022; bezüglich des Formats der Ausstellung: Monika Kaiser, Neubesetzungen des Kunst-Raumes. Feministische Kunstausstellungen und ihre Räume 1972 - 1987, Bielefeld 2013. Für diese Zeit hat sich sogar der Ausdruck „ feminist performance art “ bzw. „ feministische Performancekunst “ etabliert, der die engen Verflechtungen zwischen neuer weiblich-körperlicher Selbstbehauptung und der aufkommenden Performancekunst beschreibt. Siehe Rebecca Schneider, The Explicit Body in Performance, London / New York 1997. 7 Dass es sich gegenteilig verhalten sollte, legt der Titel Der Kongress tanzt - Nicht! der Ausgabe von Ariadne aus dem Jahr 2020 nahe. Offenkundig wird hiermit auf das Sprichwort „ Der Kongress tanzt “ referiert, das mit Bezug auf den Wiener Kongress von 1814 - 1815 dessen inhaltlichen Stillstand vor lauter Bällen und anderen geselligen Veranstaltungen verspottet. Im Editorial betonen die Herausgeberinnen dagegen die politische Wirkung von Frauenkongressen sowohl für die Verständigung innerhalb der Bewegung selbst als auch nach außen; auf den Titel wird allerdings nicht direkt eingegangen. Vgl. Kerstin Wolff / Anja Schüler, „ Editorial “ , in: Der Kongress tanzt - Nicht! Frauenkongresse als Orte der Kommunikation, Politik und Vernetzung. Ariadne 76 (2020), S. 1 - 3. 8 Marie Stritt, „ ,Der Kampf der Frau ‘“ , in: Die Frauenbewegung 2/ 17 (1896), S. 160 - 161, hier S. 160. 9 Vgl. „ Hochfeldt, Hans (Ps. f. Hans Dreger) “ , in: Gerhard Lüdtke (Hg.), Kürschners Deutscher Literatur-Kalender. Nekrolog 1901 - 1935, Berlin / Leipzig 1936, Nachdruck Berlin / New York 1973, Sp. 301. 10 Vgl. Rosalie Schoenflies, „ Vorwort “ , in: Rosalie Schoenflies / Lina Morgenstern / Minna Cauer / Jeannette Schwerin / Marie Raschke (Hg.), Der Internationale Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen in Berlin, 19. bis 26. September 1896. Eine Sammlung der auf dem Kongress gehaltenen Vorträge und Ansprachen, Berlin 1897, o. P. 11 Vgl. „ Die Vorarbeiten zum Kongress “ , in: Rosalie Schoenflies / Lina Morgenstern / Minna Cauer / Jeannette Schwerin / Marie Raschke (Hg.), Der Internationale Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen in Berlin, 19. bis 26. September 1896. Eine Sammlung der auf dem Kongress gehaltenen Vorträge und Ansprachen, Berlin 1897, S. 1 - 4, hier S. 3. 12 Vgl. etwa: Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750 - 1850), Göttingen 2000, S. 19. 13 Hans Hochfeldt, Der Kampf der Frau. Sociales Schauspiel in vier Akten und einem Vorspiel, Zürich 1896, S. 135. In der Premiere lautete der Text: „ ,Ich will ihn kämpfen, den Kampf der Frau für ihr Recht; und bleibt er lang auch aus, endlich muss er uns doch zufallen, der Sieg! ‘“ , in: Züricher Post, 06.03.1896, zitiert nach: Hochfeldt, Der Kampf der Frau, o. P. 14 Hochfeldt, Der Kampf der Frau, S. 23. 15 Vgl. ebd., S. 28. 16 Vgl. ebd., S. 59. 17 Vgl. etwa die in der Druckausgabe des Dramas enthaltenen Rezensionen zu den Aufführungen am Züricher Stadttheater. Ebd., o. P. 18 Vgl. Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas (1880 - 1950), Frankfurt a. M. 2017 [1963], S. 63. 19 Vgl. Christine Bähr, Der flexible Mensch auf der Bühne. Sozialdramatik und Zeitdiagnose 156 Friederike Oberkrome / Lotte Schüßler im Theater der Jahrtausendwende, Bielefeld 2012, S. 73 - 75, 98 - 110. 20 Vgl. Hochfeldt, Der Kampf der Frau, S. 3 f. 21 Ebd., S. 3. 22 Vgl. ebd., S. 18. 23 Schweizer Haus-Zeitung, 14.03.1896, zitiert nach: Hochfeldt, Der Kampf der Frau, o. P. 24 Züricher Post, 06.03.1896, zitiert nach: Hochfeldt, Der Kampf der Frau, o. P. 25 Vgl. Schweizer Haus-Zeitung, 14.03.1896, zitiert nach: Hochfeldt, Der Kampf der Frau, o. P. 26 Vgl. F[ritz] E[ngel], „ ,Der Kampf der Frau. ‘ Matinee im Neuen Theater “ , in: Berliner Tageblatt, Montags-Ausgabe, 28.09.1896, S. 1. 27 Stritt, „ ,Der Kampf der Frau ‘“ , S. 160. 28 Vgl. ebd., S. 161. 29 Vgl. E[ngel], „ ,Der Kampf der Frau. ‘“ 30 Dieser 1894 zunächst unter dem Namen „ Gesellschaft zur Förderung geistiger Interessen der Frau “ gegründete Verein ging aus dem Engagement von Anita Augspurg und Sophia Goudstikker im Deutschen Frauenverein Reform hervor. Augspurg wurde mit der Aufgabe betraut, eine Dependance des Vereins in München aufzubauen. Nach dem geltenden bayerischen Vereinsgesetz durften Frauen hierin aber kein Mitglied werden, da dessen Ziele als politisch eingestuft wurden. Die Ausgründung ist als strategische Reaktion hierauf zu verstehen, denn weder ließen dieser erste Name noch die Satzung politische Ziele erwarten. Vgl. Christa Elferich, „ Die Gründungsgeschichte (1894 - 1899) des Vereins für Fraueninteressen “ , in: Ingvild Richardsen (Hg.), Evas Töchter. Münchner Schriftstellerinnen und die moderne Frauenbewegung 1894 - 1933, München 2018, S. 47 - 62, hier S. 49 f. 31 Vgl. ausführlicher hierzu das Kongressprogramm in: Christa Elferich, „ Marie Haushofers Festspiel ,Culturbilder aus dem Frauenleben ‘ und der erste Bayerische Frauentag im Oktober 1899 “ , in: Richardsen (Hg.), Evas Töchter, S. 188 - 192, hier S. 190 f.; sowie die Ankündigung: „ Der Allgemeine Bayerische Frauentag “ , in: Allgemeine Zeitung, Abendausgabe, 25.09.1899, S. 5 - 6. 32 Zu formalen Prinzipien des Festspiels vgl. Jennifer Elfert, Theaterfestivals. Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells, Bielefeld 2009, S. 50. 33 In den Münchner Neuesten Nachrichten wird außerdem ein Fräulein Buttgereit erwähnt, die ebenfalls an der Regie beteiligt gewesen sein soll. Vgl. „ Allgemeiner Bayerischer Frauentag “ , in: Münchner Neueste Nachrichten, Morgenblatt, 24.10.1899, S. 2. 34 Dazu zählten auch Männer wie Rainer Maria Rilke, die die Anliegen der Frauenbewegung offensiv unterstützten. Vgl. Elferich, „ Marie Haushofers Festspiel ,Culturbilder aus dem Frauenleben ‘ und der erste Bayerische Frauentag im Oktober 1899 “ , S. 192. Anita Augspurg beschrieb den Beitritt solcher namhafter Herren als politische Strategie, mit der man zeige, wie berechtigt und zeitgemäß die Ziele des Vereins seien. Vgl. Susanne Kinnebrock, Anita Augspurg (1857 - 1943). Feministin und Pazifistin zwischen Journalismus und Politik. Eine kommunikationshistorische Biografie, Herbolzheim 2005, S. 125. 35 Dieses wurde gemeinsam von Goudstikker und ihrer Lebensgefährtin Anita Augspurg geführt und gilt als zentraler Vernetzungsort der Münchner Frauenbewegung um die Jahrhundertwende. Vgl. ausführlicher hierzu: Ingvild Richardsen (Hg.), Die modernen Frauen des Atelier Elvira in München und Augsburg 1887 - 1908, München 2022; Rudolf Herz, „ Das Fotoatelier Elvira (1887 - 1928). Seine Fotografinnen, seine Kundschaft, seine Bilder “ , in: Ders. / Brigitte Bruns (Hg.), Hof-Atelier Elvira (1887 - 1928). Ästheten, Emanzen, Aristokraten, Ausstellungskatalog Münchner Stadtmuseum, München 1985, S. 63 - 128. 36 Hierfür spricht vor allem die Tatsache, dass Hedwig und Katia Pringsheim zwischen dem 6. und 27. Oktober, also zur Zeit, als der Kongress samt Aufführung stattgefunden hat, gar nicht in München waren. Vgl. Elferich, „ Marie Haushofers Festspiel ,Culturbilder aus dem Frauenleben ‘ und der erste Bayerische Frauentag im Oktober 1899 “ , S. 189 - 191. 157 Die Frauenbewegung in Kulturbild und Sozialdrama. Inszenierungen der Teilhabe kurz vor 1900 37 Vgl. Marie Haushofer, „ Culturbilder aus dem Leben der Frau “ , in: Richardsen (Hg.), Evas Töchter, S. 158 - 173, hier S. 159. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 161. 40 So argumentiert Helen Watanabe-O ’ Kelly, „ Transgressivität oder Konformität? Die Figur der Kriegerin in Festspielen der deutschen und englischen Frauenbewegung um 1900 “ , in: Clemens Risi / Matthias Warstat / Robert Sollich / Heiner Remmert (Hg.), Theater als Fest, Fest als Theater. Bayreuth und die moderne Festspielidee, Leipzig 2010, S. 60 - 77, hier S. 65. 41 Haushofer: „ Culturbilder aus dem Leben der Frau “ , S. 172. 42 Ebd., S. 173. 43 Ebd. 44 Vgl. „ Allgemeiner Bayerischer Frauentag “ , in: Münchner Neueste Nachrichten, Morgenblatt, 24.10.1899, S. 2. 45 Vgl. „ Allgemeiner bayerischer Frauentag “ , in: Allgemeine Zeitung, 23.10.1899, S. 5. 46 Vgl. ebd. 47 Vgl. Ingvild Richardsen, „ Marie Haushofer (1871 - 1940) “ , in: Dies. (Hg.), Evas Töchter, S. 98 - 109, hier S. 103. Nicht alle Medien berichteten derart positiv über die Kongresse. Im Wendelstein, dem katholischen Volksblatt des bayerischen Oberlandes, wird der Inhalt und das Anliegen des Kongresses verunglimpft, ohne dass allerdings das Festspiel von Marie Haushofer Erwähnung findet. Vgl. „ Der Bayerische Frauentag “ , in: Der Wendelstein, 26.10.1899, S. 1. 48 Roman Lach, „ Hastenbeck “ , in: Dirk Göttsche / Florian Ulrich Kropp / Rolf Parr (Hg.), Raabe-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart 2016, S. 252 - 255, hier S. 254. 49 Die für die Revue charakteristischen Tanz- und Musikeinlagen fehlen allerdings in den Culturbildern. Darüber hinaus gelangte die Revue als populäre Musiktheaterform im deutschsprachigen Raum erst in den 1920er Jahren zur vollen Blüte. Vgl. hierzu Ethel Matala de Mazza, Der populäre Pakt. Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton, Frankfurt a. M. 2018, S. 74 - 88. 50 Auf dem Titelblatt des Manuskripts werden die Culturbilder explizit als Festspiel bezeichnet, das aus Anlass des Bayerischen Frauentags abgefasst wurde. Vgl. den Abdruck des Titelblatts in: Richardsen, „ Marie Haushofer (1871 - 1940) “ , S. 101. Als eine der wirkmächtigsten, aber nicht unproblematischen Festspiel-Ideen des 19. Jahrhunderts gilt bis heute diejenige Richard Wagners. Vgl. hierzu ausführlich Lore Lucas, Die Festspiel-Idee Richard Wagners, Regensburg 1973. Daneben sind aristokratische Feiern wie die Kaiserfestspiele in Wiesbaden charakteristisch für diese Zeit, mit deren inszenatorischen und gemeinschaftsstiftenden Dimensionen sich Anna Littmann näher befasst hat. Vgl. Anna Littmann, „ Inszenierte Gemeinschaft. Die Kaiserfestspiele in Wiesbaden “ , in: Dies. / Erika Fischer-Lichte / Matthias Warstat (Hg.), Theater und Fest in Europa. Perspektiven von Identität und Gemeinschaft. Tübingen / Basel 2012, S. 336 - 355. 51 Vgl. Elfert, Theaterfestivals, S. 51. 52 Vgl. Balz Engler, „ Text, Theater, Spiel, Fest - Was ist ein Festspiel? “ , in: Ders. / Georg Kreis (Hg.), Das Festspiel. Formen, Funktionen, Perspektiven, Willisau 1988, S. 29 - 35, hier S. 32. 53 Vgl. Greven-Aschoff, Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894 - 1933, S. 43 f. 54 Hochfeldts Drama war hierfür gleichwohl nicht das einzige Beispiel. Wie Michaela Giesing gezeigt hat, waren die harten, einengenden Lebensrealitäten von Frauen, individuelle Emanzipationsakte und die Kämpfe der Frauenbewegung in den im Kaiserreich aufgeführten naturalistischen Dramen ein durchaus virulentes Thema. Vgl. Giesing, „ Ibsens Nora und die wahre Emanzipation der Frau “ . 55 Zum Verhältnis zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung siehe Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 92 - 103. 56 Vgl. auch Watanabe-O ’ Kelly, „ Transgressivität oder Konformität? “ , S. 75 f. 57 Dass die Frauenbewegung beispielsweise vom kolonialen Rassismus geprägt war, zeigt 158 Friederike Oberkrome / Lotte Schüßler sich daran, dass der BDF die Beteiligung von Frauen am deutschen Kolonialismus in der Form der Ansiedlung weißer Frauen forderte, den 1907 gegründeten Deutsch-Kolonialen Frauenbund begrüßte und 1911 den Frauenbund der deutschen Kolonialgesellschaft aufnahm. Maßnahmen wie diesen lag die rassistisch grundierte Annahme eines westlichen Zivilisierungsauftrages und eines besonderen moralischen Einflusses von Frauen dabei zugrunde. Vgl. Anette Dietrich, Weiße Weiblichkeiten. Konstruktionen von „ Rasse “ und Geschlecht im deutschen Kolonialismus, Bielefeld 2007, S. 270 - 283. 58 Haushofer, „ Culturbilder aus dem Leben der Frau “ , S. 173. 59 „ Allgemeiner bayerischer Frauentag “ , in: Allgemeine Zeitung, 23.10.1899, S. 5. 60 Die Allgemeine Zeitung hebt in ihrem Bericht über den Frauentag beispielsweise positiv hervor, dass man von „ allen extremen Bestrebungen “ (gemeint ist hier die Forderung des Wahlrechts für Frauen) abgesehen habe und nur die „ berechtigten Wünsche[n] der Frauenwelt “ umsetzen wollte. „ Allgemeiner bayerischer Frauentag “ , in: Allgemeine Zeitung, 23.10.1899, S. 5. Das katholisch-konservativ geprägte Volksblatt Der Wendelstein erachtet weiterhin die Ehe als einzig valide Lösung zur Versorgung unverheirateter Frauen und schreibt dementsprechend verurteilend über die politischen Bestrebungen des Frauentags, bessere Arbeitsbedingungen für Frauen zu schaffen. Vgl. „ Der bayerische Frauentag “ , in: Der Wendelstein, 26.10.1899, S. 1. Im internationalen Vergleich, nämlich am Beispiel von Cicely Hamiltons Stück A Pageant of Great Women, merkt Helen Watanabe-O ’ Kelly an, dass Festspiele im Kontext der britischen Frauenbewegung in ihren Grundannahmen, Darstellungsweisen und Forderungen zum Teil deutlich radikaler waren. Vgl. Watanabe- O ’ Kelly, „ Transgressivität oder Konformität? “ , S. 75 f. 159 Die Frauenbewegung in Kulturbild und Sozialdrama. Inszenierungen der Teilhabe kurz vor 1900 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ 1 Lokal? Volkstümlich? Populär? Die Zugehörigkeiten der Grete Wiesenthal Marion Linhardt (Bayreuth) Die österreichische Tänzerin Grete Wiesenthal (1885 - 1970), ausgebildet im klassischen Tanz und über einige Jahre Mitglied des Balletts der Wiener Hofoper, dann mit einer eigenen Technik international gefeierte Protagonistin des Freien Tanzes, war nicht nur die wesentliche Repräsentantin der Bewegungskunst im künstlerischen Gefüge der Wiener Moderne. Wiesenthal avancierte im Verlauf ihrer Karriere und durch deren mediale Kommentierung zum „ Inbegriff desWienerischen “ schlechthin. Diesem Topos, der, so oft er auch reproduziert wurde, doch kaum zu greifen ist, versucht der vorliegende Beitrag sich mit einem neuen Blick auf einige Stationen von Wiesenthals Laufbahn anzunähern. Einen solchen neuen Blick ermöglichen die unter anderem von Levke Harders vorgeschlagene analytische Kategorie des Belonging sowie Urs Stähelis differenztheoretisches Konzept des Populären. Beide Zugriffe erlauben nicht zuletzt ein genaueres Verständnis der Funktion des Wiener Walzers für die Wahrnehmung Grete Wiesenthals durch ihr Publikum und einen differenzierten Blick auf dieses Publikum selbst. Stellt man den Fokus auf die historische Figur Grete Wiesenthal weit, treten einzelne Ereigniszusammenhänge markant hervor: Wiesenthal als eine von nicht wenigen Vertreterinnen eines Freien Tanzes 2 in Mitteleuropa in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, die Literaten und bildende Künstler zu vielfältigen Auseinandersetzungen mit den neuartigen Formen der Kunst der Bewegung inspirierten; Wiesenthal in intensivem künstlerischen Austausch mit Hugo von Hofmannsthal, aus dem unter anderem moderne Tanzkreationen im Genre der Pantomime hervorgingen (vgl. Abb. 1); Wiesenthal als Darstellerin im noch jungen Medium Film; Wiesenthal als Begründerin einer eigenen Tanztechnik, die sie über Jahrzehnte in Tanzschulen bzw. -studios und an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst unterrichtete und die unter anderem von der „ Tanzgruppe Grete Wiesenthal “ national und international präsentiert wurde. Stellt man den Fokus schärfer, wird sichtbar, was Grete Wiesenthal einzigartig macht: Von den frühen Vertreterinnen des Freien Tanzes verfügte nur sie über eine klassische Tanzausbildung und nur sie ging aus einer Institution hervor, in der der Bühnentanz traditionell verankert war. Die Tanztechnik, die Wiesenthal auf dieser Basis etwa ab 1905 entwickelte, stand im Dialog mit den formalen, stilistischen und thematischen Tendenzen in Literatur, bildender Kunst, Kunstgewerbe und Musik im Wien jener Zeit. Wiesenthals Tanz war also, so könnte man formulieren, ein konstitutives Element der Wiener Moderne; zugleich war er immer auch Reflexion auf lokale und volkstümliche Musik- und Tanzpraktiken. Diesem historischen Komplex, der die Erscheinung Grete Wiesenthal in einer Vielzahl von künstlerischen und lokalkulturellen Bezügen am Beginn des 20. Jahrhunderts verortet, haben Gunhild Oberzaucher- Schüller und Gabriele Brandstetter einen Sammelband gewidmet, dessen Titel Mundart der Wiener Moderne 3 als Charakterisierung des Wiesenthal ’ schen Tanzes die Fort- Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 160 - 181. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0012 schreibung einer Beobachtung aus einem berühmten Feuilleton Paul Zifferers aus dem Jahr 1912 ist. Dort heißt es: „ Man könnte sagen, die Kunst der Grete Wiesenthal bediene sich der Wiener Mundart “ 4 . Der vorliegende Beitrag rückt noch näher an Grete Wiesenthal heran: an ihre Kindheit und an ausgewählte Situationen ihrer frühen tänzerischen Laufbahn. Dieser Serie von Close-ups dient „ Zugehörigkeit “ als analytische Kategorie. 5 Die auf Bedingungen bzw. Prozesse der Konstitution solcher Zugehörigkeit zielende Formel „ Performances of Belonging “ trifft mit Grete Wiesenthal (1885 - 1970) gewissermaßen auf eine idealtypische Erscheinung: Bekanntlich waren Leben, Laufbahn und Kunst der Wiesenthal durch eine Folge von Zugehörigkeiten zu wechselnden Gemeinschaften, Räumen und sozialen wie ästhetischen Ordnungen gekennzeichnet. Ob mit Blick auf Wiesenthals Mitgliedschaft im Wiener Hofopernballett in den Jahren 1901 bis 1907 oder auf die nachfolgenden Jahrzehnte, in denen Wiesenthal als institutionsunabhängige Tänzerin in enger Verbindung zu Künstlern der Moderne, zu frühen Vertretern einer künstlerischen Regie im Theater und zu Filmschaffenden auftrat, ihre Zugehörigkeiten konstituierten sich hier tatsächlich über Performances, über das Vorführen körperlicher Handlungen, das damit im wörtlichen Sinn ein ‚ doing belonging ‘ (Levke Harders) war. Fragen von Belonging drängen sich nun allerdings nicht nur hinsichtlich der Tänzerin Grete Wiesenthal auf, für die sich unterschiedliche Zugehörigkeiten beschreiben lassen, sondern auch hinsichtlich des umfassenderen ‚ Phänomens ‘ Grete Wiesenthal; dieses Belonging wiederum hat zu tun mit Konzepten des ‚ Populären ‘ , des ‚ Volkstümlichen ‘ und des ‚ Lokalen ‘ und weist daher gleichsam einen potenzierten Grad an Zuschreibung auf. Im Abb. 1: Grete Wiesenthal als Psyche in der Pantomime Amor und Psyche von Hugo von Hofmannsthal (Musik: Rudolf Braun; Inszenierung: Grete Wiesenthal; Kostüm: Erwin Lang). Berlin 1911. Fotografie: Becker & Maaß, Berlin. Postkarte: Verlag Hermann Leiser, Berlin. Privatbesitz. 161 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? Folgenden wird an einigen für die frühe tänzerische Laufbahn Wiesenthals bedeutsamen Stationen skizziert, wie sich Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit jeweils konkret fassen lässt. Ausgehend von Urs Stähelis differenztheoretischen Thesen zum Populären werden sodann Überlegungen angestellt, inwieweit sich das im Fall Wiesenthals auf mehreren Ebenen relevante Konzept des Populären mit der Kategorie des Belonging zusammendenken lässt. Station 1, Kindheit - Selbstzuschreibung 6 In ihrer 1919 erschienenen Autobiografie Der Aufstieg. Aus dem Leben einer Tänzerin 7 öffnet Grete Wiesenthal den Blick auf Erfahrungen ihrer Kindheit, die ihre Leser: innen quasi gemeinsam mit der Zurückschauenden wie Theaterszenen betrachten. Viele dieser Szenen erweisen sich als Splitter eines übergeordneten Sinnzusammenhangs, der die Initiation der Künstlerin Grete Wiesenthal und die Grundlagen ihres Verständnisses von Tanz begreifbar machen will. 8 Vier Bedeutungsfelder bzw. kulturelle Praktiken sind zentral: die Lebensbedingungen und die Atmosphäre eines Künstlerhaushalts, das bäurische Walzertanzen 9 als früheste erinnerte Begegnung mit Tanz, Musik in jeglicher Form (als ein unwiderstehliches Ereignis und als eine das eigene Innere durchströmende Energie 10 ) und schließlich die Stadt Wien mit der sie umgebenden Landschaft und ihrer als spezifisch wahrgenommenen Atmosphäre, die nicht zuletzt durch volkstümliche Musik und durch ‚ Musikalität ‘ geprägt ist. Station 2, die Hofoper Als Ballettschülerin, später als Tänzerin gehört Wiesenthal der Hofoper an, die aufgrund ihrer organisatorisch-wirtschaftlichrechtlichen Anbindung an den Hof und aufgrund jahrhundertelanger Tradition eine besonders prestigeträchtige Institution ist. Der hochkulturelle Status der Hofoper ist dabei unmittelbar an Mechanismen des Ausschließens geknüpft: Das Publikum dieses Theaters ist, wenn auch nicht vollständig, so doch weitgehend auf die soziale und die Finanzelite beschränkt. Die Ballett-Sparte ist in ihrer Funktion auf Unterhaltung, in ihrer Ästhetik auf dekorative Tableaus und wiederkehrende Inszenierungen des Lokalen, in ihrer Technik auf die durch Disziplinierung und konsequente Übung erzielte Virtuosität des klassischen Tanzes ausgerichtet. Zugehörigkeit hat hier neben der institutionellen auch eine tanztechnische und eine auf die Gruppenorganisation bezogene Dimension: Alle Tänzerinnen müssen das Bewegungsvokabular in gleicher Weise beherrschen, die Ausbildung zielt auf Uniformität der Bewegung, 11 die Tänzerinnen sind eingebunden in ein streng hierarchisiertes Ensemble. Der Tanz im Corps oder als Halbsolistin schaltet Individualität weitestgehend aus. 12 Neben die Zugehörigkeit zur Institution tritt bei Grete Wiesenthal mit fortschreitender Zeit ein Bewusstsein von Nicht-Zugehörigkeit in ästhetischer Hinsicht. Aus ihrer Perspektive ist das Hofopernballett von fehlender Musikalität und Sinnlosigkeit der tänzerischen Bewegung geprägt. Station 3, Exklusivität - oder das Verlassen von Hierarchie und Ordnung Die Lösung Grete Wiesenthals aus ihrer Zugehörigkeit zum sozialen und künstlerischen Gefüge der Hofoper erhält einen womöglich entscheidenden Impuls durch die Einstudierung des Balletts Chopin ’ s Tänze von Joseph Haßreiter im April 1905. 13 Aus der Empfindung der Unangemessenheit des Umgangs mit Frédéric Chopins Musik in 162 Marion Linhardt dieser Choreografie, 14 sodann ermuntert durch den befreundeten jungen Maler Rudolf Huber und angeregt von Berichten über Auftritte Isadora Duncans, 15 erarbeiten Grete und ihre Schwester Elsa einen ersten eigenen Tanz zu einer Walzerkomposition von Chopin. Diesen und weitere Tanzschöpfungen, etwa zu Musik von Johann Strauss Sohn und Ludwig van Beethoven, zeigen die Schwestern Wiesenthal ab 1906 in Hubers Atelier. 16 Die Formierung eines neuen Belonging erfolgt unter den Vorzeichen der Exklusivität: Die ‚ neue Tänzerin ‘ Grete Wiesenthal agiert in privatem Rahmen in den Zirkeln der Wiener Künstler und Künstlerinnen. 17 Station 4, Fenella Auf Initiative Alfred Rollers und ohne Wissen des eigentlich zuständigen Ballettmeisters Haßreiter studiert Wiesenthal die Titelpartie der Fenella 18 in einer Neuproduktion von Daniel-François-Esprit Aubers Oper Die Stumme von Portici, die im Februar 1907 an der Hofoper herauskommt. 19 Die Reaktionen der Presse auf die Darbietung der weitestgehend unbekannten jungen Tänzerin reichen von bloßer Erwähnung über wohlwollende Bemerkungen, die Wiesenthals Ausdrucksstärke und Natürlichkeit herausstellen, bis zu beleidigender Ablehnung und Einforderung sofortiger Umbesetzung der Partie. 20 Die positiven wie die negativen Stimmen kommentieren Wiesenthals Körper: schmächtig, dünn, eckig. Bereits bei der zweiten Aufführung ist die Umbesetzung - auf Betreiben leitender Persönlichkeiten der Oper - erfolgt. Das Neue Wiener Journal informiert: Jetzt gibt es in der Hofoper zwei Darstellerinnen der „ Stummen von Portici “ . Die eine ist Fräulein Wiesenthal, die andere Fräulein Kamilla Weigang.[ 21 ] [. . .] Fräulein Weigang mimte die Partie der Fenella mit großem Erfolg. Die interessante und charakteristische äußere Erscheinung und das wohldurchdachte Spiel fanden starke Anerkennung. In der morgigen Aufführung der „ Stummen “ tritt wieder Fräulein Wiesenthal auf. 22 Ich deute die Fenella-Episode als Zuschreibung von Nicht-Zugehörigkeit aufgrund einer Abweichung von zeitgenössischen Normen, nach denen sich ‚ attraktive Weiblichkeit ‘ - insbesondere bezogen auf Bühnendarstellerinnen - bemisst. 23 Station 5, ästhetisierte Volkstümlichkeit In Weigls Dreherpark, einem traditionsreichen Vergnügungsort Wiens mit einem ausgedehnten Gastgarten, regelmäßigen populären Musikdarbietungen und einer Bühne für Varieté-Programme, wird Anfang Juni 1907 ein Gartenfest veranstaltet, für dessen Konzeption und Ausstattung führende Künstlerpersönlichkeiten aus dem Kreis der Secession, der Wiener Werkstätte und der Kunstgewerbeschule verantwortlich zeichnen. Die Bewirtung und ein breites Angebot an für Jahrmärkte und Kirchweihfeste typischen Belustigungen, wie Spielhölle, Rodelbahn, Schießbude, Glückshafen, Lebzelten- und Zuckerwerkverkauf, übernehmen Damen aus der besten Wiener Gesellschaft. 24 Im Mittelpunkt des Festes steht die Aufführung der Pantomime Die Tänzerin und die Marionette (vgl. Abb. 2) von Max Mell und der Harlekinade Pierrot und Pierrette, Letztere inszeniert von Fritz Zeymer und Anton Kling. Neben Grete Wiesenthal in der Partie der Tänzerin agieren hier tänzerische Laien. Die Veranstaltung ist in zweifacher Weise von einer Ästhetisierung des Volkstümlichen gekennzeichnet: das Gartenfest adaptiert Ereignisformen der Populärkultur für die künstlerische und gesellschaftliche Elite und die 163 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? gezeigten Stücke reihen sich in die für die internationale Moderne charakteristische Hinwendung zu vormals volkstümlichen Genres und Motiven wie Pantomime, Märchen sowie Hanswurst- und Marionettenspiel ein. 25 Die Sphäre einer ästhetisierten Volkstümlichkeit gibt den Deutungshorizont für Wiesenthals Tänze ab. Abb. 2: Grete Wiesenthal als Tänzerin, Hans Strohofer als der junge König in der Pantomime Die Tänzerin und die Marionette von Max Mell (Musik: Rudolf Braun; Ausstattung und Regie: Eduard Josef Wimmer-Wisgrill; Tänze: Elsa Wiesenthal). Wien 1907. Fotograf: anonym. Postkarte. Privatbesitz. Station 6, Tänze in begrenzter Öffentlichkeit Eine Besonderheit unter den Kleinkunstbühnen, die in Wien seit der Jahrhundertwende vermehrt entstehen, will das Kabarett Fledermaus mit seinem die Ausstattung bis ins Detail bestimmenden künstlerischen Programm der Wiener Werkstätte sein: Die Initiatoren nehmen für sich in Anspruch, in einzigartiger Weise eine „ Stätte [. . .] der Kultur der Unterhaltung “ 26 von festlichem Charakter geschaffen zu haben. Das Kabarett Fledermaus ist ein Ort des nächtlichen Vergnügens mit Vorstellungen ab 22 Uhr und Wiener Musik und Gesang ab 1 Uhr. Mit 300 Plätzen, Platzpreisen von umgerechnet etwa 70 bzw. 40 Euro und anspruchsvollen Darbietungen zielt das Etablissement auf eine schmale soziale Schicht. 27 Prägend für das Publikum sind Künstler, Kunstgewerbler: innen und Mitglieder jüdischer Familien. In der Fledermaus, aber nicht im Nachtprogramm zwischen Chansons und literarischen Sketchen, sondern in Spätnachmittagsvorstellungen zeigen Grete Wiesenthal und ihre Schwestern Elsa und Berta im Januar 1908 erstmals öffentlich die Tänze, die sie selbst erarbeitet haben: einen Walzer in Des-Dur von Chopin, die Walzer Rosen aus dem Süden op. 388 und An der schönen blauen Donau (Donauwalzer) op. 314 von Strauss Sohn (vgl. Abb. 3), das Allegretto aus der Klaviersonate Nr. 6 F-Dur op. 10 Nr. 2 (vgl. Abb. 4) und das Andante con moto 28 aus dem Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58 von Beethoven, vier Tänze zu Stücken aus Robert Schumanns Carnaval op. 9, einen Tanz aus Jules Massenets Manon sowie Walzer von Joseph Lanner und Franz Schubert in einer Zusammenstellung des Ballettkomponisten Josef Bayer (vgl. Abb. 5). Die Reaktionen auf das Programm identifizieren Wiesenthal unmittelbar mit dem ,Wienerischen ‘ . Die zumal in späteren Jahren geläufige Apostrophierung Grete Wiesenthals als „ Inbegriff des Wienerischen “ hat ihren Ursprung darin, dass sie ab jetzt (auch! ) als Tänzerin von Wiener Musik wahrgenommen wird. Hier scheint mir eine doppelte Zuschreibung wirksam zu werden: Die Tanzmusik des 164 Marion Linhardt 19. Jahrhunderts wird in der Moderne in Bezug auf das ‚ Wienerische ‘ essentialisiert, und wenn Wiesenthal zu dieser Musik tanzt, werden Wien, Musik und Tänzerin eins - oder, wie es Die Zeit formuliert: Man hat selten wienerischere Kunst genossen als diese ist. [. . .] man spürt aus jeder Bewegung des Armes, jeder Neigung des Kopfes diese österreichische Atmosphäre, diese anmutige, südlich helle Kultur, diese zärtlich-leichten Kräfte, die hier aus dem Volkstum wirken. 29 Entscheidend ist: Wiesenthal wird als Verkörperung eines wienerischen Wesens 30 oder gar einer Wiener Volkskultur gedeutet, während sie der Bevölkerung Wiens weiterhin nahezu völlig unbekannt ist. Station 7, nicht mehr vor „ einem kleinen Kreise von Ästheten “ 31 Ab dem 2. März 1909 geben Grete Wiesenthal und ihre Schwestern fünf Vorstellungen am Raimundtheater. Unter den Wiener Ope- Abb. 3: Grete Wiesenthal in Donauwalzer von Johann Strauss Sohn (Kostüm: Erwin Lang). 1908. Fotografie: Rudolf Jobst, Wien. Postkarte: Verlag Dr. Trenkler & Co., Leipzig. Privatbesitz. Abb. 4: Grete Wiesenthal im Allegretto aus der Klaviersonate Nr. 6 F-Dur op. 10 Nr. 2 von Ludwig van Beethoven. 1908. Fotografie: Rudolf Jobst, Wien. Postkarte: Verlag Dr. Trenkler & Co., Leipzig. Privatbesitz. 165 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? rettenbühnen gilt diese Bühne aufgrund der Zusammensetzung ihres Publikums und dessen Geschmack als die volkstümlichste. Die Schwestern Wiesenthal haben in den Monaten zuvor ihren Tanzabend unter anderem während einer Gastspielreise durch Deutschland gezeigt, wo „ überall die Maler, die Bildhauer, die Dichter [. . .] die lauten Herolde der Wiesenthals “ 32 waren; zudem ist Grete im Juni 1908 im Gartentheater der Wiener Kunstschau 33 neuerlich vor einem „ distinguirte[n] Publikum “ 34 aufgetreten, diesmal in drei verschiedenen Pantomimen (Die Tänzerin und die Marionette; Der silberne Schleier; Der Geburtstag der Infantin 35 ). Im Raimundtheater zeigen die Wiesenthals ein Programm mit neuen Choreografien: Tarantell zu Musik von Auber, Strauss ’ Walzer Frühlingsstimmen op. 410, Der Wind und Panstänze, 36 beides mit Musik von Franz Schreker, schließlich Pesther Walzer op. 93 von Lanner. Die Wiesenthals sind hier das Nachprogramm zu abendfüllenden Operetten: An zwei Abenden tanzen sie nach Heinrich Reinhardts Die Sprudelfee (vgl. Abb. 6), an zwei weiteren nach Carl Michael Ziehrers Der Liebeswalzer (vgl. Abb. 7), an einem nach Strauss ’ Die Fledermaus. Fotografische Aufnahmen zum Tanz der Wiesenthals auf der einen und zu Szenen aus den Operetten auf der anderen Seite machen unmittelbar sinnfällig, inwieweit die Wiesenthals in Bewegungsduktus und Körperkonzept als gravierende ‚ Abweichung ‘ von etablierten Mustern der Bühnenpräsentation erscheinen müssen. Es wird deutlich, dass die Volkstümlichkeit, die den Wiesenthals zugeschrieben wird, nichts mit der lokalen Ausrichtung der städtischen Unterhaltungskultur zu tun hat, von der sich breitere Bevölkerungsschichten Wiens angesprochen fühlen. Das Publikum des Abb. 5: Berta Wiesenthal (links), Elsa Wiesenthal (Mitte) und Grete Wiesenthal (rechts) (Beschriftung im Bild nicht korrekt) in Lanner-Schubert-Walzer (Musikzusammenstellung: Josef Bayer; Kostüme: Rudolf Huber). 1908. Fotografie: Rudolf Jobst, Wien. Postkarte: Verlag Dr. Trenkler & Co., Leipzig. Privatbesitz. 166 Marion Linhardt Raimundtheaters reagiert teils mit Unverständnis. Die im Ganzen wohlwollende Besprechung des Neuen Wiener Journals dokumentiert die Aufnahme: „ Das empfängliche Publikum applaudierte lebhaft, doch es gab auch manche Zuschauer, die mit dieser Kunst des Tanzens nichts anzufangen wußten. Ihnen sagten weder die Farbenharmonien noch der Rhythmus der Bewegungen etwas. “ 37 Stationen 8 und 9, zweimal Varieté Im März 1910 und im Januar 1912 ist Grete Wiesenthal Teil des Programms des Wiener Varieté-Theaters Apollo, 1910 noch zusammen mit ihren Schwestern, 1912 allein. Gemeinsam mit ihren Schwestern hat Wiesenthal 1909 unter anderem Gastspiele am Londoner Hippodrome und am Théâtre du Vaudeville in Paris absolviert. 1910 bzw. 1911 werden in Berlin Pantomimen aufgeführt, bei denen Grete nicht nur als Tänzerin, sondern auch als Choreografin mitwirkt: Friedrich Freksas Sumurûn sowie Hugo von Hofmannsthals Amor und Psyche und Das fremde Mädchen. 38 1910 treten die Schwestern im Wiener Apollo mit der Pantomime Der Geburtstag der Infantin auf, die, den Marketingstrategien des Varietés entsprechend, als „ Sensationspremiere “ und als „ neu “ plakatiert wird, was sie natürlich nicht ist. Das Publikum findet kein Gefallen an dem Stück. Direktor Ben Tieber, der sich eigentlich die bekannten Tänze der Wiesenthals für sein Programm gewünscht hatte, befeuert die Ablehnung wohl zusätzlich. 39 Die Wochenzeitung Der Floh konstatiert: Schwächer als die sonst glänzenden Apolloprogramme erweist sich das neue März-Programm. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, daß die als Monatsschlager geplante Nummer nicht in erwarteter Weise angesprochen hat. Die Schwestern Wiesenthal haben für ihre Darbietungen ein weniger verständliches, als langweiliges Tanzpoem gewählt. Es war dies um so überflüssiger, als sie jedermann in ihren Wiener Tänzen gern bewundert. 40 Als Grete am 3. März ausfällt und für die Programmfolge kurzfristig Ersatz gefunden werden muss, tritt zur Begeisterung des Publikums die Volksschauspielerin und Komikerin Hansi Niese auf (vgl. Abb. 8). Eine Pressestimme dazu: „ Für Freunde urwüch- Abb. 6: Betty Seidl als Prinzessin Bozena und Ludwig Herold als Fürst Aladar in Die Sprudelfee von Heinrich Reinhardt, Wien, Raimundtheater 1909. Fotografie: Ludwig Gutmann, Wien. KHM-Museumsverband, Theatermuseum Wien. 167 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? sigen Humors war dieser Tausch nicht schlecht; sie kamen voll auf ihre Rechnung, denn Frau Niese ist imstande, ein ganzes Varietéprogramm zu bestreiten. Natürlich wurde die tapfere Künstlerin stürmisch bejubelt. “ 41 Die Pantomime der Wiesenthals, neben der im Apollo als Programmhöhepunkt die parodierende Ballettoperette Chantecler in Wien 42 (vgl. Abb. 9) gegeben wird, stiftet keine ästhetische, soziale oder emotionale Zugehörigkeit. Ganz anders die Tänze, die Grete Wiesenthal 1912 zeigt: Strauss ’ Frühlingsstimmen-Walzer (vgl. Abb. 10), Franz Liszts 2. Ungarische Rhapsodie (vgl. Abb. 11) und Strauss ’ Walzer An der schönen blauen Donau. In Kommentaren zu diesem Auftritt wird deutlich, wie das Medium „ Walzer “ Grete Wiesenthal, Johann Strauss und Wien zur Deckung bringt. In Paul Zifferers ausführlicher Analyse in der Neuen Freien Presse gerät soziale Differenzierung unmittelbar zu einer sozialen Utopie: [. . .] in ihrer naiven Art hat sie die Linienwälle für den Tanz erobert, ihre Kunst bedeutet eine gar anmutige Revolution, der freilich schon von Meister Johann Strauß der Weg gebahnt wurde, als er den schlichten Walzer zu Ruhm und Ehren brachte. Grete Wiesenthal indessen hat den Mut besessen, diesen schlichten Wiener Walzer, der für den Tanz bestimmt war, auch wirklich zu tanzen; fast ganz ohne Spitzenschritt, ohne Coupés, Fleurets, Contretemps, Pirouetten und Tournées, beinahe so, wie er Besitztum aller Wienerinnen ist, der kleinen, flinken Mädchen in der Vorstadt und der vornehmen Damen in knisternden, seidenen Ballroben, doch viel freier und leichter, als brächte er die Erfüllung dessen, was die anderen nur ungeschickt tastend suchen. 43 Abb. 7: Louise Lichten als Kathi, Franz Glawatsch als Leopold Führinger und Rose Karin-Krachler als Antschi in Der Liebeswalzer von Carl Michael Ziehrer, Wien, Raimundtheater 1908. Fotografie: Ludwig Gutmann, Wien. KHM-Museumsverband, Theatermuseum Wien. 168 Marion Linhardt Station 10, Wien in Berlin - Krieg - Überhöhung Wie so oft in vorangegangenen Jahren tritt Grete Wiesenthal 1915 in Berlin auf. Sie wirkt als Choreografin an einer Inszenierung Max Reinhardts am Deutschen Theater mit, die den herausragenden Wiener Charakterspieler Max Pallenberg in der Hauptrolle eines Stückes des prominentesten Wiener Volkstheaterdichters des 19. Jahrhunderts, in Ferdinand Raimunds Der Alpenkönig und der Menschenfeind, 44 präsentiert. Daneben ist sie die Hauptnummer im Januar- Programm des Varietés Wintergarten, wo sie eine Choreografie „ Brauttanz “ 45 nach Musik von Schubert, Liszts Ungarische Rhapsodie und Walzer von Strauss zeigt. Mittlerweile ist Grete Wiesenthal auch Filmdarstellerin. Im Jahr 1913 ist nicht nur Das fremde Mädchen verfilmt worden, auch in weiteren Filmen hat Wiesenthal mitgewirkt. 46 Im Februar 1915 erscheint im Berliner Tageblatt ein Feuilleton der Schriftstellerin Elisabeth von Schmidt- Pauli über Wiesenthal und ihren Tanz, über Wien, über den Krieg und über die heilende und erlösende Kraft, die Wiesenthal zu eigen sei. 47 Schmidt-Pauli führt zwei anonyme Besucher des Wintergartens ein, einen österreichischen Offizier und einen deutschen Dichter, deren Gedanken nach dem Verlassen des Etablissements in einer Winternacht sie schildert, um anschließend Mutmaßungen über die nächtlichen Träume der beiden Männer anzustellen. Während die Identität des Offiziers offenbleiben muss, dürfte es sich bei dem Dichter, dessen Gedanken und Träume Schmidt-Pauli zu kennen behauptet, mit großer Wahrscheinlichkeit um Rainer Maria Rilke handeln, dem Schmidt-Pauli nahestand und den sie Jahrzehnte später in einem Gedenkbuch würdigte. Schmidt-Pauli lässt die beiden Protagonisten ihres Textes in einem bemerkenswerten Durchschreiten von Schauplätzen eines äußeren und eines inneren Lebens (das gegenwärtige winterliche Berlin, das empfundene frühlingshafte „ Wien “ ) eine Überhöhung Wiesenthals vollziehen, die einerseits das Wienerische der Tänzerin, andererseits ihr Seelisches adressiert. Die nächtlichen Träume der zwei Männer führen vom Varieté in ein Lazarett bzw. in einen „ weißen Tempel [. . .] in einem stillen Wiesengrunde “ 48 , an zwei Orte, an denen die Tänzerin Grete Wiesenthal die Menschen von ihren Schmerzen - den körperlichen und den seelischen - erlösen wird. Die Frage der Zugehörigkeit gewinnt hier, unter den Bedingungen des Weltkriegs, eine neue Dimension. Dies betrifft zunächst die Ineinssetzung der Wiesenthal mit einem angenommenen ‚ Wienerischen ‘ . Die Emphase, mit der die aus Hamburg stammende Abb. 8: Hansi Niese in der Titelpartie von Das Wäschermädel von Rudolf Raimann, um / nach 1905. Fotografie: Charles Scolik, Wien. KHM-Museumsverband, Theatermuseum Wien. 169 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? Elisabeth von Schmidt-Pauli in einem in Berlin veröffentlichten Zeitungsartikel über ein Berliner Kunstereignis den von ihr entworfenen „ österreichischen Offizier “ Grete Wiesenthal gleichsam als Mensch und Bewegung gewordenen Wiener Frühling wahrnehmen, ihn in Wiesenthals Lächeln Bilder und Klänge der „ Heimat “ 49 sehen und spüren lässt, macht deutlich, wie verankert die Überblendung Grete Wiesenthals mit Wien auch außerhalb Wiens und bei Nicht- Wienerinnen ist. Die Erfahrung des Krieges weitet diese Überblendung in zwei Richtungen: An die Tänzerin knüpft sich das Empfinden der Sehnsucht nach dem „ liebe[n] Wien “ 50 , und mit ihrem Tanz und ihrem Lächeln verbindet sich für die Verwundeten des Krieges zumindest eine Ahnung von Trost. „ Alles Volk “ von Schmerzen erlösen und „ glücklich machen “ kann Grete Wiesenthal, die „ Freundlichste unter allen “ 51 , im Traum des Dichters. Hier wird also Zugehörigkeit in noch umfassenderem Verständnis beschworen. Die ausführlichen Kommentare von Schmidt-Paulis „ Dichter “ zu den Tänzen Wiesenthals, die er im Wintergarten gesehen hat, sind von einer komplexen religiösen Bildlichkeit durchzogen, deren Fluchtpunkt die Jungfrau Maria ist. 52 Bereits am 3. Januar 1915 überreichte Rainer Maria Rilke Grete Wiesenthal ein Exemplar seines Marien-Lebens, in das er eine gedichtartige Widmung für sie eingetragen hatte. 53 Populäre Kommunikation und die Zugehörigkeit von / zu Grete Wiesenthal Wenn eingangs vom ‚ Phänomen ‘ Grete Wiesenthal die Rede war, sollte damit auf den Sachverhalt hingewiesen werden, dass Wiesenthal nicht nur eine von mehreren Tänzerinnen war, die im frühen 20. Jahr- Abb. 9: Polly Koß und Ensemble in Chantecler in Wien, Wien, Apollo 1910. Fotografie: Berthold Bing, Wien. KHM-Museumsverband, Theatermuseum Wien. 170 Marion Linhardt hundert wesentlich zu einem neuen Verständnis von Bühnentanz als Kunst beigetragen haben, sondern dass sie gleichsam zu einem kulturgeschichtlichen Topos wurde, der der Wiener Moderne eine bestimmte Farbe verlieh. Für die Formierung dieses Topos war die mediale Kommentierung der Auftritte der Wiesenthal vielleicht wichtiger als ihr Tanz selbst. Zahlreiche Quellen aus den Jahren des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit belegen, wie Grete Wiesenthal und ein aus der Empfindung des Verlustes heraus definiertes wienerisches Wesen miteinander identifiziert wurden. Was war die Grundlage dieser Identifikation? Es ist offensichtlich, dass dafür die nun bereits mehrfach erwähnten Konzepte des Populären, des Volkstümlichen und des Lokalen maßgeblich waren. Das Lokale wäre zu fassen als etwas, das an einem durch verschiedene Parameter als einzigartig charakterisierten, abgegrenzten Ort vorfindlich ist; es war darüber hinaus ein wichtiges Motiv der Unterhaltungskultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, soweit dort Bekanntes, Alltägliches gezeigt wurde, das Zugehörigkeit evozierte. Aussagen über Grete Wiesenthal und ihren Tanz, die einen Lokalbezug Abb. 11: Grete Wiesenthal in der 2. Ungarischen Rhapsodie von Franz Liszt. Diese Choreografie tanzte Wiesenthal unter anderem bei ihren Auftritten im Winter Garden Theatre in New York im Frühjahr 1912. Fotografie: White, New York. Postkarte: Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G., München. Privatbesitz. Abb. 10: Grete Wiesenthal im Frühlingsstimmen- Walzer von Johann Strauss Sohn. Grafik von Leo Rauth, 1912. Postkarte. Privatbesitz. 171 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? stark machen, zeigen unmittelbar den Konstruktcharakter dieses Lokalen, selbst wo es scheinbar um Realien geht. Am Volkstümlichen hat das ‚ Phänomen ‘ Wiesenthal in erster Linie über Wiesenthals Verbindung mit dem Walzer Anteil. Der von Grete Wiesenthal und ihren Schwestern getanzte Walzer hatte mit „ Volksmusik “ allerdings nichts gemein, es handelte sich dabei um städtische Tanz- und Konzertmusik, um Unterhaltungsmusik des mittleren und späten 19. Jahrhunderts. Diese Musik besaß keine wie auch immer zu definierende Authentizität, konnte aber für sich in Anspruch nehmen, eine Musik für alle zu sein. Das Populäre schließlich ist nach geläufigem Verständnis das von sehr vielen Gekannte und vielleicht Geschätzte, das unter Umständen auch der Unterhaltung dient. Bezogen auf die Bevölkerung Wiens traf dies für Grete Wiesenthal und ihre Tanzkunst sicherlich nicht zu. 54 In seiner theoretischen Skizze zum Populären setzt sich der Soziologe Urs Stäheli 55 kritisch-konstruktiv mit Positionen der Cultural Studies und hier insbesondere mit Essentialisierung, machttheoretischer Überfrachtung und Überpolitisierung (im Sinn der Betonung von Subversion in der Unterscheidung „ Leute / Nicht-Leute “ ) auseinander und konstatiert zugleich die Enthaltsamkeit der Systemtheorie gegenüber dem Populären, das er als einen quer zu Systemen „ laufende[n] Prozess[] “ und als „ konstitutiv mit Prozessen funktionaler Differenzierung verbunden “ 56 begreift. Sein eigenes Konzept des „ Populären als Unterscheidung “ argumentiert, stark vereinfachend formuliert, mit der Beweglichkeit der Grenze zwischen unterschiedlichen Publika. Stäheli fasst „ das Populäre als das kommunikative Prozessieren der Unterscheidung zwischen dem Publikum und seiner Außenseite “ 57 und umreißt die komplexen Prozesse, die „ die Grenze zwischen dem Publikum und seinem Außen “ 58 organisieren. Mit Blick auf Modi der Inklusion und Exklusion benennt er für das Außen zwei Optionen: das Außen kann als Bedrohungsszenario wahrgenommen oder aber als Inklusionspotenzial konzipiert werden. 59 Dies führt Stäheli zu kommunikationstheoretischen Überlegungen. Als populäre Kommunikation begreift er Kommunikationsformen, die auf ein als Inklusionspotenzial aufgefasstes Außen zielen. Dementsprechend betont er, dass „ das Populäre und populäre Kommunikation nicht deckungsgleich sind, sondern populäre Kommunikation nur einen spezifischen Kommunikationstypus bezeichnet. “ 60 Maßgeblich für diesen Kommunikationstypus sind zwei Aspekte, die auch im Kontext der Cultural Studies prominent firmieren, nämlich Allgemeinverständlichkeit (bei Stäheli: Hyper-Konnektivität) und Affektivität. 61 Ausgehend von Stähelis theoretischer Annäherung an das Populäre und vor dem Hintergrund der in den Stationen 1 - 10 skizzierten Verschiebungen und wiederholten Neukonzeptualisierungen von Zugehörigkeit(en) in der frühen tänzerischen Laufbahn Grete Wiesenthals lohnt ein Blick auf zwei weitere Momente dieser Laufbahn bzw. auf die Wahrnehmung dieser Momente durch zeitgenössische Beobachter. Es handelt sich dabei erstens um den Abend im September 1911, an dem Hugo von Hofmannsthals Pantomimen Amor und Psyche und Das fremde Mädchen in Berlin uraufgeführt wurden, und um die Kommentierung dieses Abends im Berliner Tageblatt und in der Schaubühne; zweitens um die Auftritte Grete Wiesenthals im Berliner Wintergarten im März 1913 in der Deutung durch Hans Brandenburg, der mit seinem 1913 erstmals erschienenen Band Der moderne Tanz zu den führenden Beobachtern des Ausdruckstanzes am Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte. 62 Die zwei im Duktus (und ganz sicher hinsichtlich einer potenziellen Leser: innen- 172 Marion Linhardt schaft) sehr unterschiedlichen Besprechungen der Pantomimen eint, dass beide die Tänzerin von der Pantomimendarstellerin Grete Wiesenthal (und damit letztlich von der Pantomime als solcher) trennen. 63 Die performativen Ebenen, die einander in dieser Argumentation gegenübergestellt werden, nehmen ihren Ausgang im ersten Fall von Affektivität - dies durchaus im Sinn von Urs Stähelis Modell populärer Kommunikation - , im zweiten Fall von Diskursivität. Fritz Stahl berichtete und kommentierte im Berliner Tageblatt: Als Grete Wiesenthal gestern abend den Straußischen Walzer „ Frühlingsstimmen “ tanzte, konnte sie den herzlichen Beifall hören, an den sie gewöhnt ist. Auf die Pantomime: „ Amor und Psyche “ , die vorhergegangen war, hatte er kühl und höflich geklungen, auf die Pantomime: „ Das fremde Mädchen “ , die folgte, blieb er so gut wie ganz aus. Das bedeutet: Die Tänzerin ist dieselbe geblieben, die sie war, von dieser Anmut der Bewegungen und des Tanzes, mehr noch der Bewegungen als des Tanzes, die nicht äußerlich ist, sondern aus schöner und reiner Empfindung fließt, und so hinreißend in ihrer Freude, in ihrem sinnlichen Jubel, weil man eine innig ernste Natur dahinter fühlt; aber die Pantomimen sind beide ganz und gar verunglückt. Es ist so peinlich das zu sagen, weil außer der Künstlerin, die uns lieb ist, noch ein Dichter an ihnen beteiligt ist, in dem wir einen hohen Wert verehren: Hugo v. Hoffmannsthal [! ]. [. . .] Hoffmannsthal hat ein Textbuch für diesen Abend geschrieben, in dem er über die Pantomime mit seiner Kunst gewählter Worte die feinsten Dinge sagt. Er zeigt sie, um es in ein Wort zu fassen, als die Erlöserin der Gebärde vom Worte, dem sie im Schauspiel fast immer zu dienen hat. Aber wohl gerade, weil sie das ist, ist er nicht ihr Dichter, denn seine Kraft ist die Sprache und nicht die Handlung. [. . .] Grete Wiesenthal strebt, wie so viele unserer Künstler, aus dem Gebiete heraus, das ihre Natur ihr angewiesen hat. Sie hält es für wertvoller, in Pantomimen zu spielen, als ihre einzelnen Tänze zu tanzen. [. . .] Wir aber sind ihrer Tänze gar nicht müde, in denen sich ihr Wesen viel freier und reicher ausspricht. Und wir möchten sie am liebsten wieder mit ihren Schwestern zusammen sehen, mit denen sie ihre ersten Erfolge erwarb und mehr als Erfolge. 64 Die Besprechung verknüpft drei argumentative Felder: Erstens werden dramaturgische Unzulänglichkeiten der Pantomimen Hofmannsthals kommentiert, und zwar mit Blick auf die Möglichkeiten dieses Genres im Allgemeinen und mit Blick auf Grete Wiesenthal als Darstellerin der Hauptfigur im Besonderen. Zweitens wird das tänzerischdarstellerische Vermögen Wiesenthals charakterisiert, das in der Äußerung ihrer „ Natur “ , ihres „ Wesens “ liegt, wofür es allerdings eines angemessenen Rahmens bedarf. Drittens - und dies bildet den Ausgangswie den Endpunkt der Ausführungen - geht es um die Aufnahme des konkreten Tanz-Programms durch das Publikum und damit zugleich um die prinzipielle Haltung des Publikums (auch des Autors) zu Wiesenthals Kunst. Das Publikum fühlt sich von jenen Programmteilen angesprochen, die unmittelbar affektiv wirken und verständlich sind, weil sich in ihnen, so darf man behaupten, die (angenommenen) Emotionen der Tänzerin und diejenigen der Zuschauenden begegnen. Die Schaubühne veröffentlichte eine Reflexion von Herbert Ihering zum Pantomimen- und Tanzabend: Grete Wiesenthal. Von ihr, nicht von Hofmannsthals Pantomimen muß gesprochen werden. Denn die Tänzerin hat gegen ihren Dichter gesiegt. Hofmannsthal rührt als Kunstdenker in seinem Aufsatz „ Ueber die Pantomime “ und in seinem Gespräch über „ Furcht “ mit andächtigen Worten an die letzten Geheimnisse des Tanzes, der Gebärden, der Bewegungen; als Schöpfer aber hat er vor der Pantomime versagt, weil es ihm an 173 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? konkreter Phantasie, an Mut zur Sachlichkeit fehlt. Wer eine Pantomime schreibt, muß Bühnenanweisungen schreiben, nicht metaphysische Stammeleien. [. . .] Hofmannsthal [. . .] hat eine Unterlage in „ Amor und Psyche “ für konventionelle Ballettänze, im „ Fremden Mädchen “ für mimische Statistenkünste geschaffen und so Grete Wiesenthal eher gehemmt als erlöst. Nur in zwei Szenen ist der Tanz als seelische Befreiung und damit als dramatisches Ausdrucksmittel empfunden: Psyche will sich von den Schatten der Unterwelt lösen und: das fremde Mädchen tanzt vor dem unbekannten Manne. [. . .] Wie Grete Wiesenthal [. . .] immer jubelnder im Rhythmus ihres Körpers sich befreit - das hat für mich, gerade weil diese Erlösung sich so ohne Krampf und irdische Schwere nur im Fließen und Wiegen eines kinderschlanken Körpers andeutet, etwas so Erschütterndes, daß nur die größten schauspielerischen Leistungen daneben bestehen können. Und wenn Grete Wiesenthal in ihren Einzeltänzen, im „ Frühlingsstimmenwalzer “ und in der „ Schönen, blauen Donau “ noch freier, körperloser, unmaterieller zu schweben scheint, so erklärt sich das allein daraus, daß eine beflügeltere Musik ihr Inneres reiner aufblühen läßt als die schwerfälligen, gequälten Weisen der Pantomimenkomponisten [. . .]. 65 Wie bei Fritz Stahl ist auch bei Ihering die tanzende und nicht die agierende Grete Wiesenthal dasjenige künstlerische Ereignis, an das das Interesse, das ‚ Mitgehen ‘ des Publikums sich bindet. Noch prononcierter als Stahl formuliert Ihering die Möglichkeit zur tanzenden Äußerung des „ Inneren “ Wiesenthals in Abhängigkeit von der verwendeten Musik. Ihering erwähnt nicht nur den Frühlingsstimmen-Walzer, der tatsächlich Teil des Programms war, sondern darüber hinaus den Walzer An der schönen blauen Donau, den Wiesenthal über Jahre und in verschiedensten Kontexten immer wieder gezeigt hatte. Was Ihering den „ gequälten Weisen “ Rudolf Brauns und Hannes Ruchs gegenüberstellt, ist dezidiert der Walzer, sind Kompositionen von Johann Strauss. Popularität erlangt der moderne Tanz Wiesenthals, wo er den künstlerisch geformten Ausdruck „ des Seelischen “ an Wiener Musik bindet, die ihm gleichsam als Mittel affektiver Kommunikation dient. In seiner grundlegenden Darstellung zum „ modernen Tanz “ überschreibt Hans Brandenburg die acht Kapitel, die konkreten Tänzer: innenpersönlichkeiten gewidmet sind, mit einer einzigen Ausnahme stets nur mit dem Namen des / der jeweiligen Tänzer: in. 66 Diese Ausnahme bildet das Kapitel über die Schwestern Wiesenthal. Dort lautet die Kapitelüberschrift: „ Der Walzer und die Schwestern Wiesenthal “ . Und tatsächlich spricht Brandenburg in seinem Text nur zum geringen Teil explizit über die Schwestern Wiesenthal. Ein erster großer Abschnitt ist der Tänzerin Fanny Elßler gewidmet. Die Art und Weise, wie Brandenburg Elßler und ihren Tanz, den von ihr ausgelösten internationalen Rausch, die tief, jenseits einer extremen Körperbeherrschung liegenden Ursachen für ihre immense Wirkung, wie er vor allem ihre Persönlichkeit, ihre „ seelische Macht “ beschreibt und wie er die Bedeutung ihrer Herkunft aus Wien herausstellt, erweist sich in der Conclusio als Charakterisierung, die sich so auch auf die Wiesenthals beziehen lässt: Nicht zuletzt aber bleibt die Lauterkeit und Wärme ihrer edlen Persönlichkeit ein zeitlos voranleuchtender Stern für alle, die auf neue und wandelbare Art das Ziel erstreben, im Tanze sich und andere zu befreien. Wer aber im Tänzerschritte aus Wien her kommt, dem vor allem sollen die guten Geister des Bodens, der Fanny Elsslers Heimat war, hold sein, damit sie sich reiner und befreiter von Irrtum und Mode, neu uns offenbaren. Ich denke an die Schwestern Wiesenthal. 67 Ein zweiter großer Abschnitt des Kapitels behandelt den Walzer in seiner tänzerischstilistischen Entwicklung, als kulturelle Er- 174 Marion Linhardt scheinung sowie hinsichtlich soziologischer Implikationen. 68 Das Scharnier, mit dem Brandenburg - spät - zu den Wiesenthals lenkt, bilden die Walzer-Musik sowie die Idee einer Adaption des bislang „ bloß Sozietären “ als Kunst. 69 Der dritte Abschnitt wendet sich, so scheint es, endlich den Wiesenthals selbst zu, doch schon nach wenigen Bemerkungen schwenkt Brandenburg auf ein neues Thema um, nämlich auf Max Reinhardt und das moderne Theater im Widerstreit von künstlerischer Innovation und den Notwendigkeiten des Geschäftstheaters. Den Ausgangspunkt bildet hier das Auftreten der Schwestern Wiesenthal in Friedrich Freksas Pantomime Sumurûn (vgl. Abb. 12). Daran schließen sich grundlegende darstellungsästhetische Reflexionen zum Theater der Moderne an, in denen Brandenburg die unverzichtbare Orientierung und Schulung von Schauspiel und Tanz an der jeweils anderen Kunst hervorhebt. Im Zentrum der eigentlichen, nicht sehr umfangreichen Auseinandersetzung Brandenburgs mit den Wiesenthal-Schwestern steht der Walzer: als jener Tanz, der „ aus Natur, aus Impuls und Emotion “ 70 ströme, als konkret beschriebene Choreografie am Beispiel von Rosen aus dem Süden und An der schönen blauen Donau, als Ereignis, das Zugehörigkeit stiftet und künstlerischem Tun der Moderne Popularität verleiht: Wer aus dem eigenen Gefühl, das er beim Tanzen hat, die höchste Möglichkeit eines „ freien “ und „ offenen “ Walzers als Ahnung und Sehnsucht kennt, der konnte hier deren eigentlichste Erfüllung erleben. Die unsichtbare Form, die über der Tanzlust einer rein triebhaften Massenbewegung viele Generationen hindurch schwebte, wurde sichtbar in einem Reichtum von Formen, die alle doch durch den konzentrierenden Rhythmus des Dreivierteltaktes gemeistert waren. Ein altes, gesellschaftliches Empfinden individualisierte sich in Kunst, welche durch diese ihre Herkunft doch typisch und allgemeinverständlich ist. 71 Brandenburg endet mit Bewertungen der Kunst Elsa und Berta Wiesenthals auf der einen, Grete Wiesenthals auf der anderen Seite. Von den Auftritten der beiden jüngeren Schwestern seit der Trennung von Grete zeigt er sich enttäuscht. Die Ausführungen zu Grete, in denen das Kapitel kulminiert, beziehen sich auf deren aktuelle Auftritte im Berliner Wintergarten (März 1913), wo Wiesenthal wieder den Frühlingsstimmen- Walzer, die 2. Ungarische Rhapsodie und An Abb. 12: Grete Wiesenthal als Sumurûn und Elsa Wiesenthal als Dienerin in der Pantomime Sumurûn von Friedrich Freksa (Musik: Victor Hollaender; Inszenierung: Max Reinhardt; Choreografie: Grete Wiesenthal). Berlin 1910. Fotografie: Becker & Maaß, Berlin. Postkarte: Verlag Hermann Leiser, Berlin. Privatbesitz. 175 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? der schönen blauen Donau gezeigt hat. Den Kern von Brandenburgs Charakterisierung bilden hier Argumente, in denen mit Stäheli Funktionsweisen populärer Kommunikation greifbar werden: Die weitwirkende, volkstümliche Kraft, die ein Uhland oder Eichendorff durch ihren Anschluß an das Volkslied erreichen, hat hier der Kunsttanz durch den Anschluß an den Walzer erreicht. [. . .] Populäreres wird Grete Wiesenthal wohl niemals schaffen, vielleicht gelingt ihr noch Größeres, ob auch der Grad der Volkstümlichkeit in gewissem Sinne, so leicht dieser Sinn mißverstanden wird, ein Grad der Größe ist. 72 Grete Wiesenthal und ihre Kunst der Bewegung repräsentieren in mehrerlei Hinsicht - mindestens tanzästhetisch, im zugrunde liegenden Körperverständnis und in der Unabhängigkeit von etablierten Kulturinstitutionen - das, was für die historische Avantgarde als kennzeichnend gilt. Obwohl sie also eine „ Moderne “ war, verfügte Wiesenthals Tanz über das Potenzial, ihre Kunst emotional und sozial breiter anschlussfähig zu machen. Dieses Potenzial ist gleichsam geronnen zu dem über Jahrzehnte geläufigen, vielfach reproduzierten Topos „ Grete Wiesenthal, Inbegriff des Wienerischen “ , in den Epitheta des „ Beseelten “ , des „ Holden “ . Hinter diesem Topos und den damit verbundenen, immer weiter tradierten Zuschreibungen verfließen wie hinter einem Nebel die historischen, biografischen und künstlerischen Gegebenheiten, die diese Anschlussfähigkeit - als Beziehung - begründeten. Sowohl die Kategorie des Belonging als auch Urs Stähelis Konzept von Popularität bzw. populärer Kommunikation erlauben einen spezifischen Zugriff auf diese Gegebenheiten. Beiden Perspektiven ist gemein, dass sie die Grenze(n) zwischen sozialen Gruppen und damit Zugehörigkeiten als dynamisch und verhandelbar auffassen, wobei sich der Blick im ersten Fall wesentlich auf das Verhältnis zwischen Individuen und Kollektiven 73 , im zweiten Fall auf das Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Kollektiven (Publika) richtet. Die Laufbahn Grete Wiesenthals und ihre Inbesitznahme durch ein weites „ Publikum “ zeigt, wie Zugehörigkeit (auch) vonseiten des Kollektivs vollzogen (und konstruiert) wird. Von der Warte von Stähelis Thesen zu populärer Kommunikation aus betrachtet, erweist sich dieser Prozess ebenfalls als einer, in dem in Gestalt der Künstlerin und derjenigen der Rezipient: innen zwei Positionen wirksam werden. Über eine Analyse der Mittel dieser Kommunikation eröffnen sich Einsichten in die Möglichkeit und Konstitution von Zugehörigkeit. 74 Anmerkungen 1 A[rtur] M[ichel], „ Grete Wiesenthal “ , in: Vossische Zeitung, 31.10.1924 (Abendblatt), S. [3]. 2 Als die prominentesten seien hier genannt: Loïe Fuller, Isadora Duncan und Ruth St. Denis, sämtlich Amerikanerinnen, von denen entscheidende Impulse für die Etablierung des Freien Tanzes in Mitteleuropa ausgingen. 3 Gabriele Brandstetter / Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.), Mundart der Wiener Moderne. Der Tanz der Grete Wiesenthal, München 2009. - Mit Wiesenthal im Kontext der Wiener Moderne hat sich neuerdings in knapperer Form auch Alys George auseinandergesetzt: Alys X. George, The Naked Truth. Viennese Modernism and the Body, Chicago / London 2020, dort Kap. 4. 4 Paul Zifferer, „ Grete Wiesenthal “ , in: Neue Freie Presse, 5.1.1912, S. 1 - 3, hier S. 1. 5 Vgl. dazu Levke Harders, „ Zugehörigkeit als Kategorie historischer Analyse “ (25.1.2022) auf Hypotheses / Geschichtstheorie am Werk, https: / / gtw.hypotheses.org/ 1942 [Zugriff am 10.3.2023]. 176 Marion Linhardt 6 Die Ausführungen zu den Stationen 1 - 10 argumentieren bewusst pointiert und ausschließlich mit Blick auf die Frage der Zugehörigkeit. Ein relativ umfangreicher Anmerkungsapparat will im Folgenden Zusatzinformationen und - wo möglich - Belege und Quellen bereitstellen, auf die in älteren Arbeiten zu Wiesenthal teils verzichtet wurde. 7 Grete Wiesenthal, Der Aufstieg. Aus dem Leben einer Tänzerin, Berlin 1919. 8 Eine eingehende Analyse der Textstrategien der Autobiografie, die der Deutung von Wiesenthals Kindheit und Jugend dienen, liegt vor mit: Thomas Betz, „ Initiationen in die Kunst. Grete Wiesenthals Der Aufstieg. Aus dem Leben einer Tänzerin (1919) und Iffi. Roman einer Tänzerin (1951) “ , in: Mundart der Wiener Moderne, S. 177 - 207. 9 Vgl. dazu Wiesenthal, Der Aufstieg, S. 10 f. 10 Jahre, bevor sie ihre Kindheitserinnerungen in ihrer Autobiografie niederschrieb, formulierte Grete Wiesenthal zentrale Überlegungen zu Musik und zum Umgang mit ihr in einem Beitrag für den Merker. Grete Wiesenthal, „ Unsere Tänze “ , in: Der Merker 1 (1909/ 10), H. 2, S. 65 - 68, hier S. 67 f. 11 Als solche empfand Wiesenthal die kodifizierte und daher gleichförmige Bewegungssprache des Balletts. 12 Niemand hat so substanziell zum Ballett an der Wiener Hofoper im 19. und frühen 20. Jahrhundert gearbeitet wie Gunhild Oberzaucher-Schüller und Alfred Oberzaucher. Beispielhaft seien hier die Beiträge von Oberzaucher-Schüller angeführt, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Grete Wiesenthal stehen: Gunhild Oberzaucher- Schüller, „ Wiener Walzer, ‚ illustriert in drei Bildern von Louis Frappart ‘ , und Grete Wiesenthal “ , in: Mundart der Wiener Moderne, S. 67 - 86; dies., „ Der Tanz der Grete Wiesenthal oder Bewegung in Zeit und Ort “ , in: ebd., S. 87 - 102. 13 Vgl. https: / / anno.onb.ac.at/ cgi-content/ an no? aid=ope&datum=19050416&seite=1&zo om=33 [Zugriff am 10.3.2023]. 14 Vgl. dazu Wiesenthal, Der Aufstieg, S. 168 f. 15 Duncan war 1902 im Ausstellungsgebäude der Secession (Februar) sowie im Französischen Saal des Künstlerhauses (April), 1903 (März und April) sowie 1904 (Januar) im Carltheater aufgetreten. In ihrer Autobiografie betont Wiesenthal, selbst keine Vorstellungen von Isadora Duncan besucht, sondern lediglich einen Zeitungsartikel über sie gelesen zu haben. Angesichts der Tatsache, dass Duncan bei ihrer zweiten Gastspielserie des Jahres 1903 (April) einen „ Chopin-Abend “ zeigte, sind die Wege der Duncan-Rezeption in Wiesenthals Umfeld gleichwohl von einem gewissen Interesse. Duncans Auftritte des Jahres 1902 fanden jeweils vor einem kleinen geschlossenen Kreis von Künstlern, Mitgliedern des Adels und der gesellschaftlichen und intellektuellen Elite Wiens statt. Darunter waren die Frauenrechtlerin Marie Lang, die Mutter von Grete Wiesenthals späterem Ehemann Erwin Lang, sowie ihr Sohn Heinrich Lang, ein enger Freund Rudolf Hubers, des späteren Ehemannes von Elsa Wiesenthal. Marie Lang veröffentlichte am 15. Februar 1902 in der von ihr mitherausgegebenen Zeitschrift Dokumente der Frauen unter dem Titel „ Offenbarung “ (S. 636 - 638) einen euphorischen Artikel über die Duncan. Im Jahr 1903 folgten öffentliche Vorstellungen der Duncan im Carltheater (einem Operettentheater), wo ihre Art zu tanzen teilweise auf Interesse stieß, teilweise aber auch Ablehnung und Unverständnis hervorrief. Zu den nicht völlig von Duncans Tanz überzeugten Besucher: innen einer dieser Vorstellungen gehörte Rudolf Huber. Trotzdem Isadora Duncan Huber bei dieser Gelegenheit nach seinem eigenen Bekunden nicht zu berühren vermochte, gab die Erinnerung an sie einen Anstoß zu Ratschlägen an Grete und Elsa Wiesenthal im Hinblick auf deren Versuche, erste eigene Tänze zu erproben. Vgl. Rudolf Huber-Wiesenthal, Die Schwestern Wiesenthal. Ein Buch eigenen Erlebens, Wien 1934, S. 76 - 78. - Einige Chopin-Nummern fanden sich übrigens auch im Tanzprogramm von Maud Allan, die damit erstmals am 24. November 1903 im Kleinen Saal des Wiener Musikvereins auftrat. 177 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? 16 Das Atelier befand sich in der Taubstummengasse Nr. 2 im 4. Wiener Gemeindebezirk. 17 Zu den Teilnehmenden an diesen Atelier- Veranstaltungen gehörte wohl von Anfang an Alfred Roller, später auch Hugo von Hofmannsthal, dies wahrscheinlich ab November 1907, worauf jedenfalls der bekannte Brief Hofmannsthals an Grete Wiesenthal vom 7. November 1907 deutet (Hugo von Hofmannsthal, Briefe 1900 - 1909, Wien 1937, S. 295 f.). Bereits kurze Zeit nach der ersten Begegnung mit den Schwestern Wiesenthal begann Hofmannsthal sich für sie und ihre Vorhaben als freie Tänzerinnen einzusetzen, wie ein Brief Hofmannsthals an Roller von Ende Dezember 1907 belegt (Hugo von Hofmannsthal, Alfred Roller, Richard Strauss, „ Mit dir keine Oper zu lang . . . “ Briefwechsel, hg. von Christiane Mühlegger-Henhapel und Ursula Renner, München / Salzburg 2021, S. 56). 18 Bei der Uraufführung in Paris 1828 war die Partie der Fenella von der gefeierten Ballerina Lise Noblet gegeben worden. 19 Vgl. https: / / anno.onb.ac.at/ cgi-content/ an no? aid=ope&datum=19070227&seite=1&zo om=33 [Zugriff am 10.3.2023]. 20 Vgl. u. a.: Neue Freie Presse, 28.2.1907, S. 11; Deutsches Volksblatt, 28.2.1907, S. 9; Wiener Zeitung, 28.2.1907, S. 5; Der Humorist, 2.3.1907, S. 2. Ausgesprochen positiv kommentierte die Arbeiter-Zeitung (David Josef Bach) das Auftreten Wiesenthals, 28.2.1907, S. 1 - 2. - Der Zusammenhang zwischen der politischen Verortung der einzelnen Zeitungen und Zeitschriften und den entsprechenden Reaktionen auf Wiesenthal wäre ein eigenes Thema. 21 Einen Eindruck von der im Vergleich zur überschlanken Grete Wiesenthal ganz verschiedenen äußeren Erscheinung Kamilla Weigangs vermittelt ein Rollenporträt, das Weigang in der Pantomime Marionettentreue von Rudolf Holzer, Rudolf Braun und Carl Godlewski zeigt. Marionettentreue hatte am 17. Oktober 1906 Premiere und wurde bis Ende 1907 an der Hofoper gespielt. Vgl. https: / / www.theatermuseum.at/ online-samm lung/ detail/ 583175/ [Zugriff am 10.3.2023]. 22 Neues Wiener Journal, 7.3.1907, S. 7. 23 Die Mitgliedschaft der Schwestern Wiesenthal im Hofopernballett endete mit dem 31. Mai 1907. 24 Die zeitgenössische Presseberichterstattung bietet detaillierte Listen der anwesenden Persönlichkeiten und beschreibt insbesondere die Aktivitäten der Damen der Gesellschaft. 25 Mit Arthur Schnitzler und Wsewolod E. Meyerhold seien hier lediglich zwei Künstler genannt, unter deren Arbeiten sich prominente Beispiele für diese Tendenz finden. 26 Vgl. den Programmtext in der bereits Wochen vor der Eröffnung der Fledermaus erschienenen Broschüre. Nachdruck in: Michael Buhrs / Barbara Lesák / Thomas Trabitsch (Hg.), Kabarett Fledermaus 1907 - 1913. Ein Gesamtkunstwerk der Wiener Werkstätte. Literatur, Musik, Tanz. Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung des Museums Villa Stuck, München, und des Österreichischen Theatermuseums, Wien. Wien 2007, S. 155 - 170. Umfangreiche Materialien zur Fledermaus sind abrufbar in der Online- Sammlung des Theatermuseums in Wien, vgl. u. a. https: / / www.theatermuseum.at/ on line-sammlung/ detail/ 545803/ , https: / / www. theatermuseum.at/ online-sammlung/ detail/ 5 45813/ , https: / / www.theatermuseum.at/ on line-sammlung/ detail/ 545860/ [Zugriff am 10.3.2023]. 27 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Erinnerungen Rudolf Hubers an das Publikum jener Aufführungen in der Fledermaus, die auf die als geschlossene Veranstaltung abgehaltene Generalprobe folgten: „ Die erste öffentliche Vorstellung war ausverkauft. [. . .] Nun interessierte mich vor Beginn der Vorstellung die Art des Publikums. Zu meinem Staunen kannte ich nur ganz wenige unter den Zuschauern. Ich suchte nach Kolleginnen Gretes und Elsas aus dem Ballett, aber - ich sah niemanden. Kurz und gut - es war fast niemand aus den Kreisen gekommen, auf die wir so fest gerechnet hatten; dagegen waren die Logen und ein Teil des Parketts von Mitgliedern eines Kreises besetzt, zu dem 178 Marion Linhardt niemand von uns Verbindung besaß und an den wir auch nicht im geringsten gedacht hatten - von Mitgliedern der Hocharistokratie, zu deren Interesse vielleicht Hugo von Hofmannsthal den ersten Anstoß gegeben hatte. Vor der Vorstellung stand in der engen Johannesgasse, in der die ‚ Fledermaus ‘ gelegen war, eine lange Reihe von Wagen, die in Wien jener Zeit Aufsehen erregen mußte. [. . .] Und es blieb so während der ganzen Reihe von Vorstellungen. Die Logen waren jedesmal von den Angehörigen der gleichen Schichte im voraus bestellt. “ Huber- Wiesenthal, Die Schwestern Wiesenthal, S. 123. 28 Für eine Abbildung vgl. https: / / www.theater museum.at/ online-sammlung/ detail/ 497373/ [Zugriff am 8.3.2023]. 29 c. h., „ Die Schwestern Wiesenthal “ , in: Die Zeit, 15.1.1908, S. 4. - Vgl. zu diesem Themenfeld: Marion Linhardt, „ Zwischen Moderne und Populärkultur. Das ‚ Wienerische ‘ der Grete Wiesenthal “ , in: Mundart der Wiener Moderne, S. 41 - 56. 30 Bemerkenswert ist, dass und wie Rudolf Huber am Beispiel der Familie Wiesenthal „ echte Wiener “ über Multiethnizität charakterisiert (was er selbstverständlich in zeittypischer Terminologie tut). Huber-Wiesenthal, Die Schwestern Wiesenthal, S. 87 f. 31 Wiener Zeitung, 3.3.1909, S. 3. 32 Stefan Großmann, „ Die Schwestern Wiesenthal “ , in: Arbeiter-Zeitung, 5.3.1909, S. 1 - 2, hier S. 1. 33 Vgl. zur Kunstschau ausführlich Agnes Husslein-Arco / Alfred Weidinger (Hg.), Gustav Klimt und die Kunstschau 1908. Begleitpublikation zur Ausstellung der Österreichischen Galerie Belvedere, Wien 2008/ 09. München / Berlin / London / New York [2008]. 34 - dtner, „ Gartentheater der ‚ Kunstschau ‘“ , in: Neuigkeits-Welt-Blatt, 1.7.1908, S. 13. 35 Musik: Franz Schreker, Tanzregie: Elsa Wiesenthal. 36 Vgl. die Holzschnitte „ Der Wind “ (https: / / www.theatermuseum.at/ online-sammlung/ d etail/ 708101/ ) und „ Pantanz “ (https: / / www. theatermuseum.at/ online-sammlung/ detail/ 708100/ [Zugriff am 14.3.2023]) von Erwin Lang, 1910. 37 Neues Wiener Journal, 3.3.1909, S. 7. 38 Sumurûn wurde im April 1910 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters uraufgeführt, Amor und Psyche sowie Das fremde Mädchen im September 1911 im Theater in der Königgrätzer Straße. - Vgl. zur Entstehung der beiden letztgenannten Stücke und zum Verhältnis zwischen Wiesenthal und Hofmannsthal im kreativen Prozess die umfangreiche Dokumentation in: Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. XXVII: Ballette. Pantomimen. Filmszenarien, hg. von Gisela Bärbel Schmid und Klaus-Dieter Krabiel, Frankfurt a. M. 2006. - Sumurûn könnte Ausgangspunkt einer intersektionalen Analyse einiger von Grete Wiesenthal in Pantomimen, Tanzstücken und Filmen dargestellten Figuren sein. Während dabei vor dem Hintergrund kultureller Konstruktionen des ‚ Orients ‘ in Wien und im Habsburgerreich in Historismus und Moderne vordringlich mit Race als Differenzkriterium zu argumentieren wäre, stellen Choreografien wie das Ballett Der Taugenichts in Wien (1930), aber auch die Tänze nach den Rosenkavalier-Walzern (1917) und der Tanz Der Liebesnarr (1918), die gleichsam Androgynität inszenieren, primär Fragen von Gender(-zugehörigkeit) zur Debatte. Wesentlich für die Argumentation des vorliegenden Beitrags ist allerdings ein anderes: Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit im Sinn von Volkstümlichkeit bzw. Popularität konstitutiert sich am tanzenden Körper „ Grete Wiesenthal “ , der bei den entsprechenden „ Performances “ gerade keine „ Figur “ / „ Rolle “ annimmt. 39 Vgl. zum Verlauf des Gastspiels im Apollo die Erinnerungen von Rudolf Huber: Huber- Wiesenthal, Die Schwestern Wiesenthal, S. 169 f. 40 Der Floh, 6.3.1910, S. 6. - Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Heinz Hartmann, der im Merker nach einer quasi privaten Voraufführung eine begeisterte Besprechung des Stücks veröffentlichte, die Problematik der Unvereinbarkeit von künstlerischer Pantomime und Varieté bereits 179 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? thematisiert. „ Franz Schrekers Pantomime ‚ Der Geburtstag der Infantin ‘ wurde von den Schwestern Wiesenthal im Apollotheater getanzt. Mit dieser frohen, leichten Grazie getanzt, der die Umwelt nicht zu bestehen scheint und deshalb, ohne innerlichen Schaden zu leiden, in eine Atmosphäre verpflanzt werden konnte, die fast nur Bejahung der Zuschauer ist. Die Frage nach der Berechtigung dieses merkwürdigen Experiments - ein unerhörtes künstlerisches Ereignis auf einer Varietébühne - ist wohl müßig. Freuen wir uns vielmehr, daß es den Wiesenthals gelungen ist, in einer Umgebung von Akrobaten, Marschrhythmen und Dressurhunden eine halbe Stunde wirklichen Erlebens vorbeiziehen zu lassen. [. . .] Musikalische Feinschmeckerarbeit. Wie das Tanzspiel auf ein Durchschnittspublikum wirken wird, weiß ich nicht, fürchte aber, daß die Kunst der Wiesentals [! ] und Franz Schrekers viel zu hoch und vornehm ist, um bei vollen Tellern und Gläsern genossen werden zu können. “ Heinz Hartmann, „ Der Geburtstag der Infantin “ , in: Der Merker 1 (1909/ 10), H. 13, S. 565 - 567. 41 Reichspost, 4.3.1910, S. 8. 42 Bei Chantecler in Wien handelte es sich um eine als „ Ballettoperette “ angekündigte Parodie auf Edmond Rostands erst kurz zuvor, im Februar 1910, in Paris uraufgeführtes Stück Chantecler; der Text stammte von Armin Friedmann alias Fanfaron, die Musik von Rudolf Raimann. 43 Zifferer, „ Grete Wiesenthal “ , S. 1. 44 Hier als Rappelkopf oder Alpenkönig und Menschenfeind; Premiere: 18. Januar 1915. 45 Den „ Brauttanz “ zeigte Wiesenthal u. a. auch im Frühjahr 1917 im Großen Saal des Wiener Konzerthauses. Eine detailreiche und in dieser Ausführlichkeit eher rare Beschreibung dieser Choreografie findet sich in Raoul Auernheimers Feuilleton „ Eine Wiener Tänzerin im Kriege “ in: Neue Freie Presse, 11.3.1917, S. 1 - 3. 46 Zu Grete Wiesenthals und Hugo von Hofmannsthals Filmprojekten vgl. ausführlich: Heinz Hiebler, Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne, Würzburg 2003. Zum weiteren Kontext vgl. Kristina Köhler, Der tänzerische Film. Frühe Filmkultur und moderner Tanz, Marburg 2017. 47 E[lisabeth] v[on] Schmidt-Pauli, „ Grete Wiesenthal “ , in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, 14.2.1915, S. [2]. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Elisabeth von Schmidt-Pauli war zutiefst religiös. Im freundschaftlichen Austausch über Schmidt-Paulis Wiesenthal-Text hat Matthias Pernerstorfer Überlegungen zu einer konkreten Anbindung der von Schmidt- Pauli angesprochenen Örtlichkeiten angestellt. Die Linie Stephansdom (Wien) - Heiligenkreuz - Mayerling, die in den Gedanken des „ österreichischen Offiziers “ greifbar wird, ließe sich im Sinn der Via Sacra bis zum Gnadenort Mariazell verlängern, in dem man Matthias Pernerstorfer zufolge den vom „ Dichter “ im Traum geschauten „ weißen Tempel [. . .] in einem stillen Wiesengrunde, von Bergen feierlich umschlossen “ vermuten könnte. In gewisser Weise liegt Schmidt-Paulis Text also eine sakrale Topografie zugrunde. 53 „ Oft bricht in eine leistende Entfaltung / das Schicksal ein “ , in: Rainer Maria Rilke, Die Gedichte, Frankfurt a. M. 1986, S. 1012 f. - Vgl. zur Widmung den Brief Grete Wiesenthals an Klaus W. Jonas vom 20.6.1963, https: / / www.autographen.shop/ autograph/ theater-und-film/ rilke-wiesenthal-grete-taen zerin-und-choreographin-1885 - 1970/ [Zugriff am 15.3.2023]. 54 Eigens zu erörtern wäre die Frage, wie und in welchen Bevölkerungskreisen Wiens sich die Bekanntheit Wiesenthals durch die Aufführung ihrer Filme ab 1913 erhöhte. 55 Urs Stäheli, „ Das Populäre als Unterscheidung - eine theoretische Skizze “ , in: Gereon Blaseio / Hedwig Pompe / Jens Ruchatz (Hg.), Popularisierung und Popularität, Köln 2005, S. 146 - 167. 56 Ebd., S. 154. 57 Ebd., S. 158. 58 Ebd., S. 157. 59 Vgl. ebd., S. 158 f. 60 Ebd., S. 160. 180 Marion Linhardt 61 Vgl. ebd., S. 160 - 162. 62 Zu Brandenburg als Kommentator des Freien Tanzes vgl. Jacobien de Boer, „‚ Sie lieber Hans Brandenburg ‘ . Gertrud Leistikow and Hans Brandenburg “ , in: Dance Research 34 (2016), No. 1, S. 30 - 46. 63 Bei den hier folgenden Überlegungen zur Bewertung von Wiesenthals Auftreten in Hofmannsthals Pantomimen geht es nicht um den Misserfolg dieses Tanzabends oder um die kritische Position des jeweiligen Rezensenten, sondern um die grundsätzliche Einordnung Wiesenthals als Tänzerin, die sich in dieser oder ähnlicher Form in vielen Kommentaren findet. Vgl. dazu u. a. Alfred Kerr, „ Grete Wiesenthal “ (17. September 1911), in: ders., Die Welt im Drama, Bd. V: Das Mimenreich, Berlin 1917, S. 480 - 482. 64 F[ritz] St[ahl], „ Pantomimen. Theater in der Königgrätzer Straße “ , in: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, 16.9.1911, S. [2]f. 65 Herbert Ihering, „ Grete Wiesenthal “ , in: Die Schaubühne, 28.9.1911, S. 274 f. 66 Hans Brandenburg, Der moderne Tanz, München [1913]. 67 Ebd., S. 23. 68 Auf Brandenburgs Ausführungen zum Walzer hat bereits Gunhild Oberzaucher-Schüller hingewiesen. Vgl. Oberzaucher-Schüller, „ Wiener Walzer, ‚ illustriert in drei Bildern von Louis Frappart ‘ , und Grete Wiesenthal “ , S. 86. 69 Vgl. Brandenburg, Der moderne Tanz, S. 26. 70 Ebd., S. 29. 71 Ebd., S. 30. 72 Ebd., S. 31. 73 Vgl. dazu Harders, „ Zugehörigkeit als Kategorie historischer Analyse “ . 74 Gerne verweise ich an dieser Stelle auf ein aktuelles Forschungs- und Tanzprojekt zu Grete Wiesenthal, das unter der Leitung von Andrea Amort an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien erarbeitet und im März / April 2023 in Wien gezeigt wurde. Zum Konzept schreibt Andrea Amort: „ In dem Tanzabend ‚ Glückselig. War gestern, oder? Eine Aneignung ‘ versuchen wir das tanztechnisch unterschiedlich tradierte Bewegungsvokabular der Grete Wiesenthal auf seine Tauglichkeit für zeitgenössische Tänzerinnen / Choreografinnen zu testen, es uns anzueignen und eigenkreativ in Soli weiterzuführen. Thematisch interessiert uns u. a. der Begriff der Glückseligkeit, der Wiesenthals Tänzen und dem Charisma ihrer Schöpferin oft zugeschrieben wurde und der im rauschartigen Drehmoment seinen Anfang nehmen kann. “ (Email vom 27.3.2023) Vgl. dazu https: / / br ut-wien.at/ de/ Programm/ Kalender/ Pro gramm-2023/ 03/ Andrea-Amort [Zugriff am 6.7.2024]. Vgl. ferner Glückselig. War gestern, oder? Eine Aneignung. Programmheft brut nordwest / Lebendiges Tanzarchiv Wien, März / April 2023. 181 „ . . . jene wienerische Lust am Tanzen . . . “ Lokal? Volkstümlich? Populär? Denaturalisiertes Atmen: Lígia Lewis ’ Still not Still (2021) im Spiegel respirativer Zugehörigkeiten des frühen modernen Tanzes Julia Ostwald (Wien) Ausgangspunkt dieses Beitrags sind die choreografischen Atemlosigkeiten im Film Still not Still (2021) der Choreografin Lígia Lewis, die Anlass geben, das Atmen im Tanz als ein intersektionales, historisch wandelbares ästhetisches Mittel in den Blick zu nehmen. Prämisse ist, dass es einen Unterschied macht, wer, wann, wo und wie atmet. Als einer möglichen historischen Situierung und Spiegelung stelle ich Still not Still eine den frühen euro-amerikanischen modernen Tanz um 1900 dominierende Linie gegenüber, die Atmung auf Seiten von Vitalität und Natürlichkeit verortet; eine Linie, die thesenhaft als naturalisierter hegemonialer Atem bezeichnet wird. Exemplarisch dafür werden Genevieve Stebbins ’ und Isadora Duncans Konzepte und Praktiken des Atmens im Kontext von Delsartismus sowie Körper- und Tanzreform untersucht. Der Artikel fragt, wie über die Naturalisierung des Atems spezifische geschlechtliche, rassifizierte und nationalistische Zugehörigkeiten konstruiert und performt wurden und inwiefern es daher geboten ist, Verständnisse des Atmens in choreografischen Praktiken zu denaturalisieren und zu pluralisieren. Lígia Lewis, tänzerisch sozialisiert durch den Postmodern Dance und durch Choreograf: innen wie Alvin Ailey, Bill T. Jones und Urban Bush Women, kreist in ihren Choreografien um die kulturelle Bedingtheit und Unterdrückung marginalisierter Körper aus Perspektive Schwarzer amerikanischer Geschichte. 1 Ihr Anliegen beschreibt Lewis selbst mit folgenden Worten: Ich meine es ernst, wenn ich sage, ich interessiere mich dafür, was aus Unsinn entsteht [. . .] als einer weiteren Möglichkeit außerhalb der Vernunft. Das Theater erlaubt es mir zu träumen, aber meine Träume nehmen es mit den Albträumen auf, die wir Wirklichkeit nennen. 2 Die albtraumhafte Wirklichkeit, von der Lígia Lewis hier spricht, ruft unter anderem die letzten Worte Eric Garners, George Floyds und vieler weiterer, durch Polizeigewalt getöteter Afroamerikaner: innen ins Bewusstsein, die zum Protestruf der Black- Lives-Matter-Bewegung geworden sind: „ I Can ’ t Breathe “ . Die darin ausgedrückten vielschichtigen Erfahrungen von physischer wie struktureller Gewalt, denen eine lange rassistische Geschichte des Atemnehmens und der Atemnot vorausgeht, können als der Boden von Lewis ’ Arbeiten verstanden werden. Ihre Position ist entsprechend nicht auf die Gegenwart zu reduzieren, es ist vielmehr gerade die historische Perspektive auf strukturelle rassistische Ausschlüsse marginalisierter Personen aus Geschichte und Geschichtsschreibung, die Lewis ’ Ansatz auszeichnen. Trotz ihrer Aktualität fallen ihre Stücke ästhetisch, dramaturgisch und choreografisch im besten Sinn aus der Zeit: Sie sind bevölkert von Geistern und Untoten; Fragmente individueller wie kollektiver Geschichte(n) spuken in ihnen. Sie entlehnen Strukturen historischer ästhetischer Formate und arbeiten mit Bewegungen, die sich den Codes des sogenannten zeitgenössischen Tanzes entziehen. Dieses Aus-der-Zeit-Fallen, das mit Jacques Derrida als die „ Ungleichzeitigkeit der lebendigen Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 182 - 193. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0013 Gegenwart mit sich selbst “ beschrieben werden könnte, aus der eine bestimmte „ Verantwortlichkeit, jenseits jeder lebendigen Gegenwart “ 3 erwachse, möchte ich für diesen Beitrag aufgreifen. Wenngleich in diesem Themenschwerpunkt performative Zugehörigkeiten der Moderne im Fokus stehen, werde ich Lewis ’ Arbeit Still not Still (2021) als Ausgangspunkt nehmen, um sie spezifischen intersektionalen Konstruktionen respirativer Zugehörigkeiten im frühen Modernen Tanz als einer möglichen historischen Spiegelung gegenüberzustellen. Denn, dies sei als Prämisse vorangestellt, wie Atmen als ästhetisches Material produktiv gemacht wird, ist gebunden an historisch-kulturell wandelbare Diskurse und Praktiken, oder mit anderen Worten: Wer in Aufführungssituationen, wo und wie atmet, macht - so möchte ich behaupten - einen Unterschied. 4 Still not Still: Historische und gegenwärtige Atemlosigkeiten Bei Still not Still handelt es sich um eine knapp zehnminütige Filmfassung des gleichnamigen abendfüllenden Tanzstücks aus dem Jahr 2021, das aufgrund der Pandemie zunächst nicht aufgeführt werden konnte. 5 Den konzeptuellen Rahmen bildet der Ausschluss marginalisierter Personen aus der dominierenden Geschichtsschreibung und die Frage, inwiefern diese gewaltsame und lückenhafte Geschichte selbst als Leichnam „ zu Grabe getragen “ 6 werden kann. Sieben Performer: innen verkörpern in dystopischen Tableaux Vivants Szenen des Sterbens, oder vielmehr - im Sinne des Titels Still not Still - einen zugleich albtraumhaften wie komisch grotesken Zustand zwischen Leben und Tod. 7 Der Film ist ein Zusammenschnitt von fragmentarischen, aus verschiedenen Perspektiven aufgenommenen Szenen. Diese ethisch grundierten Perspektivwechsel deutet Lewis an, wenn sie ihr Stück beschreibt als „ eine Situation oder Meditation nach dem Motto ‚ Ich sehe dich, wie du siehst, wie ich sterbe oder leide ‘ . “ 8 So befinden sich die Zuschauenden des Films zunächst mitten unter den Performer: innen. Diese stoßen oder reißen ihre eigenen Körper und die der anderen; sie stolpern und fallen keuchend zu Boden. Die mit einem hohen Kraftaufwand ausgeführten Bewegungen gehen mit schwerem Ausatmen einher, sie lassen die Tanzenden außer Atem geraten. Die folgende Szene - initiiert vom Klang eines erschrockenen Einatmens - inszeniert das frontale Tableau einer nach Luft ringenden Gruppe. Hände tasten zur Kehle, Gesichter mit offenen Mündern versuchen unter sichtbarer Mühe einzuatmen. Atmung erscheint in diesen Szenen einerseits sicht- und hörbar - wobei Bild und Ton meistens nicht deckungsgleich sind, Atmen sich also loslöst von den sichtbaren Körpern. Andererseits kann das ungleichmäßige Außer-Atem-Sein auf die fragmentarische, disruptive Struktur der Szenen bezogen werden. Dominierend sind hier Formen von Atemlosigkeit: als exzessive Verausgabung in Verbindung mit Bewegungen des Fallens; als minimaler, verflachter Atem, der zur einzigen unruhigen Bewegung des Körpers im Stillstand gerät; als irreguläre Struktur von Zuviel und Zuwenig. Diese Formen von Atemlosigkeit haben starke Bezüge zu dem von Frantz Fanon im Kontext (post)kolonialer Unterdrückung geprägten Begriff des „ combat breathing “ . In seiner einschlägigen Studie Black Skin, White Masks von 1952 nennt er als Ursache für den Krieg der Vietnames: innen gegen die französische Kolonialmacht, „ because ‚ quite simply ‘ it was, in more than one way, becoming impossible for [them] to breathe. “ 9 Weiter schreibt er 1959 in A Dying Colonialism im Kontext des algerischen Unabhängigkeitskrieges: 183 Denaturalisiertes Atmen: Lígia Lewis ’ Still not Still (2021) there is not occupation, on the one hand, and independence of persons on the other. It is the country as a whole, its history, its daily pulsation that are contested, disfigured . . . under these conditions, the individual ’ s breathing is an observed, an occupied breathing. It is a combat breathing. 10 Combat Breathing verweist auf die tiefliegende Verflechtung von struktureller Unterdrückung und atmendem Körper. 11 Combat Breathing ist dabei eine doppelte Bedeutung eigen: besetztes, unterdrücktes Atmen als Symptom eines, mit Fanon gesprochen, verzerrten gesellschaftlichen Pulsschlages in einer Atmosphäre des Drucks; 12 Atemholen aber auch als Möglichkeitsbedingung widerständigen Aufbegehrens. Vor diesem Hintergrund kann der Titel von Lewis ’ Choreografie Still not still auch auf ihre ästhetische Verwendung des Atmens bezogen werden: Die differenzierten Atemlosigkeiten der hier inszenierten Körper sind Ausdruck ihrer Marginalisierung. Zugleich kann die aller Gewalt zum Trotz fortgeführte respirative Bewegung des Einatmens, Ausatmens, Innehaltens als Minimum eines körperlichen Widerstands verstanden werden. Wenn Atmung eine Figur der Transgression zwischen Leben und Tod ist, dann situiert der atemlose Atem in Lewis ’ Still not Still die Figuren in einem unentschiedenen, geisterhaften, unruhigen Grenzbereich dazwischen. Damit stellt Lewis sich meines Erachtens quer zu einer den euro-amerikanischen Bühnentanz seit dem späten 19. Jahrhundert dominierenden Linie, die Atmung auf Seiten von Vitalität und Natürlichkeit verortet. Diese Linie, auf die ich im Folgenden näher eingehen werde, bezeichne ich hier thesenhaft als naturalisierten hegemonialen Atem, der zugleich emanzipatorische Züge wie rassifizierte Ausschlüsse umfasst. In diesem Zusammenhang werde ich Still not Still exemplarisch Genevieve Stebbins ’ und Isadora Duncans performative Konzepte des Atmens um 1900 gegenüberstellen, um zu fragen, wie genau über die Naturalisierung des Atems geschlechtliche, rassifizierte und nationalistische Zugehörigkeiten konstruiert und performt werden. Delsartismus, Genevieve Stebbins und der ‚ natürliche ‘ Atem In meiner Recherche bin ich über eine Seite der Wiener Illustrierten Zeitung aus dem Jahr 1919 in der Rubrik „ Bilder der Woche “ förmlich gestolpert (Abb. 1). Das zentrale, fast seitenfüllende Bild trägt die Unterschrift „ Während der Waffenstillstandsverhandlungen an der Westfront: Drei farbige Engländer erhalten in ihrem Unterstand Nachricht vom Abschluß der Waffenruhe. “ 13 Auf dem von oben herab aufgenommenen Foto sind die Gesichter dreier Soldaten im Schützengraben zu sehen. Der untere Teil ihrer Körper ist nicht sichtbar, da in der Erde; sie sind umgeben von einem Durcheinander an Dingen: einem Gewehr, Helm, Patronenhülsen, möglicherweise einer Gasmaske. Das Bild ist - ohne jeglichen benannten Zusammenhang - gerahmt von einem Text mit dem Titel „ Delsartismus “ , in dem es heißt: Miss Stebbins gebührt das unschätzbare Verdienst, den Delsartismus [. . .] nach der allgemein gymnastischen Seite hin überhaupt praktisch verwendbar gemacht zu haben [. . .] benötigen wir doch alle, [. . .] eine Körperkultur, um uns von ererbten Schäden in Haltung und Gang, in Knochen- und Muskelapparat, in Stoffumsatz und Blutkreislauf selbsttätig zu befreien! Müssen wir doch alle durch Jahrhunderte verloren Gegangenes uns wiedererobern: bewusste Atmung [. . .]. Fehler der Atmung und Haltung, ebenso wie Wohlbeleibtheit sind als Quelle latenter Selbstvergiftung anzusehen! 14 184 Julia Ostwald Abb. 1: „ Delsartismus “ , in: Wiener Illustrierte Zeitung, 15 (1919), S. 258 - 259, hier S. 259. 185 Denaturalisiertes Atmen: Lígia Lewis ’ Still not Still (2021) Die postulierte „ Selbstvergiftung “ durch falsches Atmen und falsche Haltung steht in perfidem Gegensatz zum Bild und dem darin resonierenden Atmoterrorismus - um Peter Sloterdijks Begriff für die moderne Vereinnahmung und Vergiftung der Luft im Gaskrieg zu entlehnen. 15 Was hier in der Anordnung von Bild und Text zunächst wie ein zufälliger Zynismus erscheint, kann - so möchte ich behaupten - weiter gefasst auch als Inbegriff eines spezifischen Zusammenhangs von Luft und Atmen in der Moderne verstanden werden: Den kriegerischen, aber auch den industriellen und sozialen toxischen Vereinnahmungen der Luft 16 steht seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine wahre Obsession für Praktiken des Atmens in den transnationalen Bewegungen von Körperkultur und Tanz gegenüber. In diesen werden, wie ich zeigen möchte, spezifische Zugehörigkeiten hinsichtlich Geschlecht, Race und Klasse konstruiert. Entscheidende theoretische Grundlage für die vielgestaltigen Körperpraktiken um 1900 - wie Gymnastik, Turnen, freier Tanz - und deren Bezüge zum Atmen bildet ein neues thermodynamisches Verständnis des Körpers, der weniger mechanistisch, sondern vielmehr energetisch konzipiert wird. Die Entwicklung der Thermodynamik Mitte des 19. Jahrhunderts ist nicht nur Motor für die industrielle Revolution, sondern rückt in ihren physiologischen und expressiven Rezeptionen die Frage nach der Energie des Körpers ins Zentrum, die sich unter anderem in zeitgenössischen Diskursen zu Vitalkraft und Ermüdung ausdrückt und aufs Engste mit Fragen der Atmung verbunden wird. 17 Der US-amerikanische Delsartismus nimmt unter den diversen Körperkulturbewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für den Tanz eine herausragende Bedeutung ein: Delsartismus ist ein enorm populäres, spezifisch US-amerikanisches, fast ausschließlich weibliches Phänomen. Unter dem Überbegriff des Studiums von „ expression “ umfassen die verschiedenen Ausprägungen des Delsartismus zunächst rhetorische Vortragskunst und in der Hochzeit von 1880 bis 1900 dann vor allem sogenannte harmonische Gymnastik, die Atem- und Entspannungsübungen sowie „ statue posing “ (das Posieren in antikisierten Posen) und „ drills “ (Abfolgen von Posen) lehrt. Prägend für den Delsartismus ist die Idee eines Körpers, der sich ‚ harmonisch ‘ , 18 das heißt ohne unnötige Kraftanstrengung und in diesem Sinn ‚ natürlich ‘ , ausdrückt - oder, wie ein Zeitgenosse das Anliegen beschreibt: „ to reduce the body to a natural, passive state, and from that point to train it to move in harmony with nature ’ s laws. The movements are without nervous tension, and all feats and exertions are discouraged. “ 19 Delsartismus beruft sich auf die vom Pariser Gesangs- und Schauspielpädagogen François Delsarte (1811 - 1870) Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte Systematik menschlichen Ausdrucks. Delsartes mit universellem wissenschaftlichem Anspruch formulierte Gesetze betonen die unauflösbare Verbindung von Körper, Geist und Seele. Sie klassifizieren Körper und Bewegung entsprechend einer christlich-spirituell grundierten Dreiteilung. 20 Sicht- und Unsichtbares, Innen und Außen werden in einem komplexen System verschränkt, was die weitreichende Konsequenz hat, jeglichen Ausdruck und auch die Atmung lesbar zu machen. Nancy Lee Chalfa fasst diese Idee folgendermaßen zusammen: any thought, intention, psychological state, character trait, emotion - or ‘ spiritual function ’ - will have a bodily manifestation; and conversely, gesture, facial expression, voice, carriage, physical mannerism, rhythm, breathing - or any ‘ function of the body ’ - cannot help but reflect or express some kind of meaning. 21 186 Julia Ostwald Delsartismus wird damit zu einem entscheidenden Knotenpunkt, an dem zeittypische Diskurse zum tiefen Atmen aus Ästhetik, Medizin, Körperkultur, Kleiderreform und Metaphysik einander annähern. 22 Genevieve Stebbins (1857 - 1934) ist eine der bekanntesten Vertreterinnen des US- Delsartismus. Sie entwickelt ihn weiter zu einer vitalistischen Bewegungstechnik, die über ihre 1893 gegründete The New York School of Expression und zahlreiche Publikationen wie Dynamic Breathing and Harmonic Gymnastics - A complete System of Psychical, Aesthetic and Physical Culture große Popularität erfährt. Stebbins propagiert, die Kunst zu lehren, „ of being able to always express the true self [. . .]. It is the art of graceful dynamic presentation of self under all possible circumstances. “ 23 In ihrem spirituellen System konzipiert Stebbins Atmung als „ mysterious, yet universal essence “ 24 . Ein- und Ausatmen verbänden, argumentativ im thermodynamischen Gesetz vom Erhalt der Energie verankert, den Menschen mit Natur, Kosmos und Gott. 25 Als Scharnier zwischen Körper und Geist ist Atmung für Stebbins ein Mittel der Selbstermächtigung und Überwindung von Konflikten, wie sie in zwei Punkten zusammenfasst: First, that various states and conditions of respiration in the natural state are owing to certain manifestations of mind. Second, that, seeing that certain states of respiration are the outcome of certain states of mind, we are led to infer that with the powerful aid of the imagination and a systematic rhythmic breathing we can stimulate the mental powers and through the ready response of the organism overcome many of the discords of life. 26 In ihren Übungen folgt Stebbins erstens Delsartes Klassifizierung des Atmens in drei spezifische, von der Einatmung adressierte Körperbereiche: Einatmung in den oberen Brustkorb wird mit dem Mentalen verknüpft und verweise auf einen unausgeglichenen, hysterischen Geist; tiefere Einatmung ins Zwerchfell ist mit dem Moralischen und Spirituellen verbunden und wird in Stebbins System als präferierte Atemweise gelehrt, da es mit dem Gefühl von Hoffnung korrespondiere; Bauchatmung ist dem Vitalen/ Physischen im Sinne des Unbewußten, Naiven zugeordnet. 27 Das sogenannte Harmonische äußert sich auch in einem möglichst ausgewogenen Rhythmus, bei dem Ein- und Ausatmung die gleiche Dauer haben und mit einem ‚ normalen ‘ Herzschlag korrespondieren. 28 Eine zweite zentrale Quelle ihres Systems ist Stebbins ’ Yoga-Rezeption. Als Grundlage ihres Buches Dynamic Breathing vermerkt sie Unterricht bei einem Hindu-Lehrer in London und weitere Forschung, geht aber nicht über diesen zeittypisch vagen Verweis auf das Orientalische hinaus. Das Aufgreifen indischer Atemtechniken - wie in einer „ Yoga-Breathing “ genannten Übung 29 - erscheint hier als eine Form von Orientalismus, die das ‚ Exotische ‘ nicht explizit performt, sondern sich seiner epistemologisch bedient, um über den Rückgriff auf behauptetes altes Wissen die Performance eines neuen - westlich und weiß markierten - Frauenbildes zu legitimieren. 30 Die Amerikanistin Mary Yoshihara beschreibt diesen Mechanismus folgendermaßen: Their partition in Orientalist discourse offered many American women an effective avenue through which to become part of a dominant American ideology and to gain authority and agency which were denied to them in other realms of sociopolitical life. By embracing Asia, women gained material and affective power [. . .], which brought new meanings to their identities as white American women. 31 Stebbins ’ vom Atem durchdrungener Delsartismus verschränkt spezifische Vorstellungen eines ‚ natürlichen ‘ und harmonischen Körpers mit emanzipatorischen Ideen. 187 Denaturalisiertes Atmen: Lígia Lewis ’ Still not Still (2021) Durch Kontrolle von Körper und Geist verspricht ihr System Entspannung, Gesundheit und eine gesellschaftlich akzeptierte körperliche Ausdrucksform. Es verhilft US-Amerikanerinnen der Mittel- und Oberschicht im Kontext von Kleider- und Bewegungsreform nicht nur zur Befreiung vom Korsett, 32 sondern auch zur performativen Einübung eines neuen, spirituell grundierten, emanzipatorischen Konzepts von Femininität. Handlungsmacht atmen Der bei Stebbins wie in weiten Kreisen der Atemkultur des 19. Jahrhunderts unterstrichene Topos des tiefen Atmens 33 eines vitalen Körpers bekommt eine perfide Wendung, betrachtet man die rassistischen medizinischen Diskurse der Zeit. In ihrer Studie Breathing Race into the Machine zeigt Lundy Braun, wie mit Hilfe des sogenannten Spirometers die - teils bis heute 34 - behauptete rassifizierte Differenz ‚ weißer ‘ und ‚ schwarzer ‘ Lungen vorgeblich wissenschaftlich belegt wird. Das Spirometer gilt als Gradmesser der allgemeinen vitalen Kapazität eines Körpers. Diese Technik dient im 19. Jahrhundert der pseudowissenschaftlich legitimierten weitreichenden Benachteiligung Schwarzer Amerikaner: innen. Vor diesem Hintergrund erhalten Stebbins ’ Übungen zum tiefen Atmen für Delsartismus-Gruppen afroamerikanischer Frauen eine gänzlich andere Bedeutung. Während Delsartismus in der bisherigen Forschung primär als Phänomen der weißen Oberschicht beschrieben wurde, verweist Carrie Streeter am Beispiel der Flanner Guild Delsarte Classes in Indianapolis auf verdrängte Praktiken Schwarzen Delsartismus ’ und deren Bedeutung als „ Breathing power and poise “ 35 , das heißt einer Form von Ermächtigung, die sich gegen interdependente Marginalisierungen richtet. Durch die diskursive Verschränkung von Atmung und Kraft performen die Flanner Guild-Delsartistinnen eine Vitalität, die, entgegen gegenderter und rassifizierter Ordnungen der Zeit, gesellschaftliche Teilhabe reklamiert. 36 Die Sprechkunstpädagogin Josephine Silone-Yates (1852 - 1912) formuliert das gesellschaftliche Ziel in diesem Zusammenhang als „ transforming the atmosphere “ 37 . Stebbins ’ Neuerung expressiver Bewegung wird zwar tanzgeschichtlich grundlegende Bedeutung für den Modernen Tanz zugeschrieben, dabei aber übersehen, dass der Zugang nur manchen vorbehalten war. Ein Transfer auf die Bühne und damit die Anerkennung der Praktiken als Kunst bleibt afroamerikanischen Künstler: innen im antischwarzen Klima der Zeit größtenteils verwehrt. Auf der Bühne selbst bleibt nur die Parodie des Delsartismus, wie Jayna Brown formuliert: Upperand middle-class white dress reformers and feminists championed the Delsartian approach, as they sought in their politics to reclaim for the woman a right to her own mind, soul, and body and to reestablish a connection between them. But new forms of physical cultivation — health spas, diets, and other nutritional philosophies — were not meant to be confused with increasing the bodies ’ efficiency or productive abilities. These cultivated bodies were constructed against the (racialized) working body. New emancipatory body politics did not extend evenly to those bodies assigned the task of labor. African American dancers spoofed on this absurdity and the lofty claims of new health regimes. Appearing in a skit as ‚ Delsartean dancers ‘ in Black Patti ’ s Troubadours of 1896, Stella Wiley, Bob Cole, Henry Wise, and Tom McIntosh satirized the development of such body philosophies, which were moving certain kinds of dance, and only certain dancing bodies, to the concert stage. 38 Dieser Liste an Ausschlüssen wäre hinzuzufügen: Es wurden nur spezifische Konzep- 188 Julia Ostwald tionen und Praktiken des Atmens auf die Bühne gebracht und im Modernen Tanz weiterentwickelt. Gänzlich in den Hintergrund rückten dabei nicht nur andere ästhetische Bedeutungen und Praktiken des Atmens, wie sie etwa Ashon T. Crawley in seinem Buch Blackpentecostal Breath unter dem Begriff „ Black Pneuma “ als non-normative Stilisierungen (statt Naturalisierungen) des Atmens beschreibt. 39 Unhinterfragt bleibt im Zuge der Naturalisierung des Atmens auch seine gesellschaftliche Bedingtheit, wie es Christina Sharpe in ihrem Buch In the Wake pointiert in der Frage zusammenfasst: „ But who has access to freedom? Who can breathe free? “ 40 Isadora Duncans Rassifizierung und Amerikanisierung des Atems Die sogenannten Pionierinnen des Modernen Tanzes, emanzipierte weiße Tänzerinnen wie Isadora Duncan, Ruth St. Denis und Doris Humphrey (alle drei vertraut mit Stebbins ’ Delsartismus), verfestigten in unterschiedlichen Ausprägungen die Verknüpfung von Atmung, Vitalität und Natürlichkeit. Atmung wird in den Ansätzen der drei Tänzerinnen zum poetologischen Movens des Tanzes, das spirituell aufgeladene, sichtbare Bewegung mit unsichtbaren metaphysischen Kräften verbindet. Ruth St. Denis (1879 - 1968) und Isadora Duncan (1877 - 1927) sind stark geprägt vom Delsartismus, den sie aber über jeweils spezifische Bezüge zum ‚ Anderen ‘ der westlichen Moderne transformieren zum sogenannten Freien Tanz: wie im expliziten Orientalismus von St. Denis, deren Yoga-Übungen Anya P. Foxen zufolge primär Delsarte-Übungen darstellen, 41 oder in Duncans phantasmatischer Verschränkung von Natur, griechischer Antike und Amerika, auf deren Bezug zum Atem ich abschließend eingehen möchte. In ihrer vielzitierten autobiografischen Beschreibung des nahezu religiösen Initiationsmoments ihres Tanzes heißt es: I spent long days and nights in the studio seeking that dance which might be the divine expression of the human spirit through the medium of the body ’ s movement. For hours I would stand quite still, my two hands folded between my breasts, covering the solar plexus. [. . .] I was seeking and finally discovered the central spring of all movement, the crater of motor power, the unity from which all diversities of movements are born, [. . .] — it was from this discovery that was born the theory on which I founded my school. 42 In dieser Beschreibung wird nicht nur eine orientalistisch gefärbte Kontemplation 43 mit dem modernen westlichen Verständnis des Körpers als Motor verschränkt. Mit dem Solarplexus, der sich in der Körpermitte auf Höhe des Zwerchfells befindet, situiert Duncan die Antriebsquelle ihres Tanzes zudem genau in jener mittleren Atemzone, wie sie von Stebbins präferiert wird und auch von Duncan in Delsart ’ scher Argumentation als Sitz der Seele und des Moralischen bezeichnet wird. 44 An anderer Stelle beschreibt sie den Solarplexus - und implizit die mit dem Bereich korrespondierenden Atembewegungen - als Impulsgeber für den Rhythmus ihres Tanzes. Diesen Rhythmus verankert sie diskursiv und performativ im Natürlichen, indem sie ihn mit Rhythmen der Natur, wie den Wellen des Wassers, assoziiert (eines ihrer populärsten Soli in Wien und Berlin ist Blue Danube 1905). Es ist jener mutmaßlich natürliche Bewegungsrhythmus, auf dem sie ihre Ästhetik begründet: Charakteristisch für Duncans Tanz sind wellenartiges Vor- und Zurückbewegen des Körpers, ein Zusammenziehen und Ausdehnen initiiert von der Zone des Zwerchfells bzw. des Solarplexus, gewissermaßen ein visualisiertes Atmen. Diesen mit Natur assoziierten Rhythmus ihres Tanzes grenzt sie in einem späteren 189 Denaturalisiertes Atmen: Lígia Lewis ’ Still not Still (2021) Text scharf gegenüber mit Jazz und ‚ dem Wilden ‘ assoziierten Tänzen ab, denen sie in pejorativer Geste einen Rhythmus von der Taille abwärts attestiert. Der ‚ wahre ‘ amerikanische Tanz will contain no Jazz rhythm, no rhythm from the waist down; but from the solar plexus, the temporal home of the soul, upwards to the Star-Spangled Banner of the sky which arches over that great stretch of land from the Pacific, over the Plains, over the Sierra Nevadas, over the Rocky Mountains, to the Atlantic. [. . .] It seems to me monstrous for anyone to believe that the Jazz rhythm expresses America. Jazz rhythm expresses the South African savage. 45 Der mutmaßlich ‚ beseelte ‘ Rhythmus, der dem Solarplexus entspringe, wird in diesem Zitat durch die Abwertung anderer - ‚ südafrikanisch ‘ attribuierter - Rhythmen als einzig gültiger Ausdruck des ‚ Amerikanischen ‘ konstituiert. Wenn Duncan ihren Tanz der Zukunft (1903) zwar dezidiert als feminin und natürlich theoretisiert, klingt in obigem Zitat zugleich eine rassifizierte nationalistische Instrumentalisierung bestimmter Rhythmen und damit verknüpfter Atempraktiken an, die im Duktus der Vogelperspektive gleichsam die gesellschaftliche Atmosphäre zu beherrschen und zu bewahren versucht. Mit Bezug auf den tanzhistorisch den Kanon bestimmenden naturalisierten Atem um 1900 ist eine diskursive wie performative Verschränkung von Natur, Femininität, Moral und latenter Rassifizierung wirksam, die bewegungsanalytisch bestimmte ‚ harmonische ‘ Rhythmisierungen und Mobilisierungen des ganzen Körpers im Wechsel von An- und Entspannung präferiert. Dieses Verständnis hat zwar emanzipatorischen Charakter für die sogenannten Pionierinnen des Modernen Tanzes, ist aber gleichzeitig innerhalb der kolonialen Matrix situierbar. Jenseits seiner Frühphase finden sich Naturalisierungen des Atems in unterschiedlichen Formen des Modernen Tanzes, insbesondere etwa im deutschen Ausdruckstanz. 46 So wäre darüber hinaus zu fragen, inwiefern Atmen als unhinterfragtes, mutmaßlich universelles und ‚ harmonisches ‘ tänzerisches Mittel tendenziell im von somatischen Praktiken geprägten zeitgenössischen Tanz fortlebt, ermöglicht gerade durch die im frühen Modernen Tanz vorgenommene Naturalisierung bestimmter Verbindungen von Atmen, muskulärer Entspannung und Rhythmus. 47 Atmen denaturalisieren Im Gegensatz zu diesen vitalistisch-naturalistischen Verständnissen des Atems, operieren Lewis ’ choreografische Atemlosigkeiten, wie eingangs beschrieben, in einem irregulären Zuviel und Zuwenig. Dieses Atmen ist Teil ihrer performativen Mittel, die auf ambivalente Weise vermitteln zwischen gewaltsamer Geschichte und Möglichkeiten anderer, solidarischer Beziehungen oder wie Lewis es formuliert: I point toward other possibilities of being with and for one another, in and through affective relations that don ’ t occlude historical violence but, through sliding, dancing, falling, touching, breathing, become a movement toward a formlessness that invites the indeterminacy of play, however temporary this might be. 48 In diesem Zusammenhang können Lígia Lewis ’ choreografische Atemlosigkeiten - über ihren inhaltlichen Bezug zu gewaltsam erstickten und aus der Geschichte ausgeschlossenen Körpern hinaus - als Aufforderung verstanden werden, erstens kanonisierte vitalistische Ästhetiken des Atmens im euro-amerikanischen Tanz (seit) der Moderne ihrem Status als implizitem, unausgesprochenem Wissen zu entreißen; 49 190 Julia Ostwald und sie zweitens zu denaturalisieren. Vor dem Hintergrund des von mir hergestellten historischen Bezugs zwischen Still not Still und Naturalisierungen des Atems im frühen Modernen Tanz möchte ich daher dafür plädieren, den Fokus von dem Atem - in seinen tendenziell metaphorischen, universellen und metaphysischen Verständnissen 50 - auf das Atmen als jeweils sehr spezifisch situierten Akt zu verschieben. Im Anschluss an die eingangs formulierte These, dass es einen Unterschied macht, wer, wann, wo und wie in performativen Situationen atmet, erwächst daraus nicht zuletzt ein aktivistischer Zugang zum Archiv, 51 dessen Aufgabe es wäre, plurale Verständnisse und Praktiken des Atmens außerhalb oder an den Peripherien des westlichen Kanons herauszuarbeiten. Um im Sinne von Lewis denen, deren unruhiges, atemloses Atmen in Geschichte und Gegenwart resoniert, Gehör zu verleihen und potenziell neue, andere Beziehungen zu ermöglichen. Anmerkungen 1 Ich danke Evelyn Annuß und Nicole Haitzinger für Anmerkungen zu ersten Fassungen dieses Artikels. 2 Astrid Kaminski im Gespräch mit Lígia Lewis, „ Meine Träume nehmen es mit den Albträumen auf, die wir Wirklichkeit nennen. “ https: / / berlinartweek.de/ artikel/ meinetraeume-nehmen-es-mit-den-albtraeumenauf-die-wir-wirklichkeit-nennen/ , 2.9.2021, [Zugriff am 22.3.2023]. 3 Jacques Derrida, Marx ’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main 1995, S. 11 - 12. 4 In diesem Kontext fordert die Geschlechterforscherin Magdalena Górska ein Queeren des Atems: „ Parallel to the way in which queer studies have problematized the naturalized understanding of sex and gender by deconstructing relations of matter and meaning, breathing needs to be understood as a material-semiotic and a political phenomenon. In that sense, the understanding of breath needs to be queered. The queering I refer to here is not merely a form of identity politics but rather a process of reformulating the material and social conditions of power relations, as they are enacted bodily, affectively, socially and environmentally. Such queering of breath needs to take place in social, symbolic, and material manner. “ Magdalena Górska, “ Why Breathing is Political ” , in: lambda nordica 1 (2021), S. 109 - 117, hier S. 109. 5 Der Film ist abrufbar unter https: / / www.he bbel-am-ufer.de/ programm/ hau4/ ligia-lewis -still-not-still-film, [Zugriff am 22.3.2023]. 6 https: / / www.hebbel-am-ufer.de/ programm/ pdetail/ ligia-lewis-still-not-still-film [Zugriff am 22.3.2023]. 7 Formell hat Lewis sich u. a. an Abbildungen mittelalterlicher Totentänze orientiert sowie an der populären französischen, seit dem Mittelalter existierende Form narrativer Klagelieder, der Complainte. Complainte sind narrative, theatralisierte Klagelieder, die über den Ausdruck von Schmerz hinaus „ die gesamte Auseinandersetzung mit einer als leidvoll erfahrenen Situation “ umfassen, also „ die Darstellung und Erläuterung des erlittenen Unrechts [. . .], so daß die Complaintes z. B. Forderungen, Empfehlungen, Warnungen enthalten “ . Monika Wodsak, Die Complainte. Zur Geschichte einer französischen Populärgattung, Heidelberg 1985, S. 28 - 29. 8 Kaminski, „ Meine Träume “ . Siehe in diesem Zusammenhang auch Saidiya V. Hartman, Scenes of Subjection. Terror, Slavery, and Self-Making in Nineteenth-Century America, New York, Oxford 1997. 9 Frantz Fanon, Black Skin, White Masks, London 1986, S. 226. 10 Frantz Fanon, A Dying Colonialism, New York 1965, S. 65. 11 Christina Sharpe beschreibt diesen Zusammenhang bezugnehmend auf Fanon als “ weather ” : „ To explicate Fanon, it is not the specifics of any one event or set of events that are endlessly repeatable and repeated, 191 Denaturalisiertes Atmen: Lígia Lewis ’ Still not Still (2021) but the totality of the environments in which we struggle; the machines in which we live; what I am calling the weather. “ Christina Sharpe, In the Wake. On Blackness and Being, Durham 2016, S. 111. 12 Vgl. Fanon, A Dying Colonialism, New York 1965, S. 65. 13 o. A., „ Delsartismus “ , in: Wiener Illustrierte Zeitung, 15 (1919), S. 258 - 259, hier S. 259. 14 Ebd., Herv. J. O. 15 Vgl. Peter Sloterdijk, Luftbeben. An den Quellen des Terrors, Frankfurt a. M. 2002. 16 Siehe dazu u. a. Górska, Why Breathing is Political, 2021; John Durham Peters, „ The Media of Breathing “ , in: Lenart Š kof / Petri Berndtson (Hg.), Atmospheres of Breathing, New York 2018, S. 179 - 198, hier S. 188 - 189; Irma Kinga Allen, „ Thinking with a Feminist Political Ecology of Air-and-breathing-bodies “ , in: Body & Society. Special Issue: Interdisciplinary Perspectives on Breath, Body and World 26 (2020), H. 2, S. 79 - 105, hier S. 83 - 84. 17 Siehe dazu u. a. den Band von Philipp Sarasin und Jakob Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998; spezifischer zu geänderten Bewegungskonzepten: Claudia Jeschke, „ Neuerungen der performativen Technik um 1900. Eleonora Duse und Isadora Duncan “ , in: tanzdrama 48 (1999), S. 6 - 10. 18 Zum Begriff des ‚ Harmonischen ‘ im Kontext von Delsartismus und Gymnastik des 19. Jahrhunderts siehe Anya P. Foxen, Inhaling Spirit. Harmonialism, Orientalism, and the Western Roots of Modern Yoga, Oxford 2020, S. 130 - 144. 19 Zit. n. Nancy Chalfa Ruyter, „ American Delsartism: Precursor of an American Dance Art “ , in: Educational Theatre Journal 25 (1973), S. 420 - 435, hier S. 424. 20 Siehe zu Delsarte u. a. Nancy Lee Chalfa Ruyter, „ The Delsarte Heritage “ , in: Dance Research: The Journal of the Society for Dance Research 1 (1996), S. 62 - 74. 21 Ebd., S. 63 - 64. 22 Vgl. Foxen, Inhaling Spirit, S. 142. 23 Genevieve Stebbins, Dynamic Breathing and Harmonic Gymnastics. A Complete System of Psychical, Aesthetic and Physical Culture, New York 1892, S. 70. 24 Ebd., S. 12. 25 Vgl. Ebd. S. 5, S. 22. 26 Genevieve Stebbins, The Genevieve Stebbins System of Physical Training, New York 1913, S. 27. 27 Vgl. Genevieve Stebbins, Delsarte System of Expression, New York 1887, S. 187 - 188. 28 Vgl. Stebbins, Dynamic Breathing and Harmonic Gymnastics, S. 83. 29 Vgl. ebd., S. 86. 30 Stebbins ’ System, in das darüber hinaus Elemente der Schwedischen Gymnastik nach Pehr Henrik Ling einflossen, wird allgemein bestimmt durch einen Rückgriff auf ein phantasmatisches ‚ Urwissen ‘ , das Stebbins in universalisierender Geste in unterschiedlichen Kulturen und Zeiten verortet: „ Every motion in our exercises is ancient. The system of Ling is found in a more crude condition in the ‘ Cong Fou ’ of China; the system which bears the name of Delsarte was the common property of every ancient Greek; while the breathing-exercises are probably as old as the history of the human race. “ Stebbins, Dynamic Breathing and Harmonic Gymnastics, S. 66. 31 Mari Yoshihara, Embracing the East: White Women and American Orientalism, New York 2003, S. 6. 32 Zum Korsett und Weiblichkeitsmodellen im Kontext von Physiologie, Gymnastik und Vitalismus des späten 19. Jahrhunderts, siehe Foxen, Inhaling Spirit, S. 120 - 130. 33 Exemplarisch sei hier ein von Stebbins angeführter zeitgenössischer Atemtherapeut zitiert: „ A full-breathing pair of lungs are a full measure of life-giving and life-supporting organs. Endurance means the quantity of oxygen the lungs can take in, and the quantity the tissues can store in their recesses. “ zitiert nach Stebbins, Dynamic Breathing, S. 72. 34 Vgl. Lundy Braun, Breathing Race into the Machine. The Surprising Career of the Spirometer from Plantation to Genetics, Minneapolis 2014, besonders S. xiii - xxix. 192 Julia Ostwald 35 Vgl. Carrie Streeter, „ Breathing Power and Poise. Black Women ’ s Movements for Self- Expression and Health, 1880 s - 1900 s “ , in: Australasian Journal of American Studies, 39 (2020), H. 1, S. 5 - 46. Streeter formuliert diesen Ausdruck in Anlehnung an Hallie Q. Brown, Elocution and Physical Culture: Training for Students, Teachers, Readers, and Public Speakers, Wilberforce um 1900. 36 Vgl. Streeter, „ Breathing Power and Poise “ , S. 20. 37 Josephine Silone-Yates zitiert nach Streeter, „ Breathing Power and Poise “ , S. 20. 38 Jayna Brown, Babylon Girls: Black Women Performers and the Shaping of the Modern, Durham / London 2008, S. 177. 39 Vgl. Ashon T. Crawley, Blackpentecostal Breath. The Aesthetics of Possibility, New York 2016, S. 43. Siehe dazu auch Sarah Jane Cervenak, „‚ Black Night is Falling ‘ : The ‚ Airy Poetics ‘ of Some Performance “ , in: TDR: The Drama Review 62 (2018), H. 1, S. 166 - 169. Cervenak spricht im Kontext von Black Performances von „ quilted pneuma “ . In diesem Sinn versteht sie Luft und Atmen als planetarisches Gemeingut, als irreduzible Verbindung von fleischlichen Körpern, Pflanzen, Ozeanen und Atmosphären: „ we do not know the shape one ’ s exhalation takes, where and who are its expressions and conditions, the path it follows from ocean to tear to blossom, from one dying woman ’ s last breath to the first wail of another. “ ebd., S. 167. „ Quilted pneuma “ stellt Cervenak einem eher weißen-westlichen Verständnis gegenüber, das den Atem in einem individualisiert gedachten Körper privatisiere. 40 Sharpe, In the Wake, S. 112. 41 Vgl. Foxen, Inhaling Spirit, S. 10. 42 Isadora Duncan, My Life, New York 1927, S. 75. 43 Vgl. John Martin, „ Isadora Duncan and Basic Dance “ , in: Dance Index. A New Journal on Dancing, 1(1942), H. 1, S. 4 - 12, hier S. 6. 44 Vgl. Foxen, Inhaling Spirit, S. 174. 45 Duncan zitiert nach. Foxen, Inhaling Spirit, S. 173. 46 Siehe dazu Nicole Haitzinger, „ Das Phantasma des ‚ deutschen ‘ Modernen Tanzes “ , in: Irene Brandenburg / Nicole Haitzinger / Claudia Jeschke (Hg.), Tanz & Archiv: ForschungsReisen. Kaleidoskope des Tanzes 7 (2017), S. 76 - 91. Anzuführen ist hier außerdem Wilhelm Pragers und Nicholas Kaufmanns ‚ Kulturfilm ‘ Wege zu Kraft und Schönheit (1925), in dem an verschiedenen Stellen ein Gegensatz konstruiert wird zwischen einer spezifisch ausgedeuteten ‚ natürlichen ‘ Atmung und Urbanität, Nervosität, Intellektualität sowie Krankheit. Darüber hinaus sind als Beispiele des naturalisierten Atems im deutschsprachigen Kontext zu nennen: die von Otto Hanisch begründete sogenannte Mazdaznan-Lehre (vgl. Karoline von Steinaecker, Luftsprünge. Anfänge moderner Körpertherapien, München / Jena 2000, S. 94 - 102) und ab den 1930er Jahren die nationalsozialistische Berliner Tanzschule von Jutta Klamt. Deren je eigene Konzeptionen bedürften weiterer Ausdifferenzierung. 47 Vgl. Doran George, der Ähnliches für den ‚ natürlichen ‘ Körper in somatischen Tanztrainings herausarbeitet: Doran George, The Natural Body in Somatics Dance Training, hg. von Susan Leigh Foster, New York 2020. Hier sei außerdem darauf verwiesen, dass durchaus auch andere Linien zu dechiffrieren wären, wie etwa die respirative Verausgabung, die Antonin Artaud in seiner Gefühlsathletik entwirft. Diese ist allerdings in der kanonisierten Historiografie des Modernen Tanzes wenig bis kaum präsent. 48 Lígia Lewis, https: / / umbau.hfg-karlsruhe.de/ posts/ this-is-a-body, [Zugriff am 22.3.2023]. 49 Vgl. Laura Karreman, „ Breathing Matters: Breath as Dance Knowledge “ , in: Susan Manning / Janice Ross / Rebecca Schneider (Hg.), The Futures of Dance Studies, Madison 2020, S. 94 - 112, hier S. 94. 50 Vgl. ebd. 51 Siehe zu Fragen von Atmen und dekolonialen Verständnissen von Archiv u. a. Sharpe, In the Wake, S. 109; Arjun Appadurai, „ Archive and Aspiration “ , in: Joke Brouwer / Arjen Mulder (Hg.), Information is Alive, Rotterdam 2003, S. 14 - 25; Lotte Bode / Timmy de Laet, „ Breathing Air into the Archive “ , in: Performance Research 26 (2021), S. 163 - 170. 193 Denaturalisiertes Atmen: Lígia Lewis ’ Still not Still (2021) Rezensionen Noémie Ndiaye. Scripts of Blackness. Early Modern Performance Culture and the Making of Race. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2022, 376 Seiten. Der Begriff der Dekolonialisierung ist mittlerweile so sehr in den Alltagsdebatten und politischen Auseinandersetzungen unserer Tage angekommen, dass die eingenommenen Positionen mithin weniger von einer sachlichen Auseinandersetzung geprägt zu sein scheinen, als dass sie vielmehr zu einem Erkennungszeichen politischer Haltungen werden. Dabei gefährden vor allem konservative und rechtskonservative Positionen aus einem Geist grundsätzlicher Gegnerschaft zu dem, was diffamierend als „ woke “ bezeichnet wird, auch ehedem konsensuale Positionen. Dabei hat die Debatte Deutschland vergleichsweise spät erreicht, weil hierzulande allzu leichtfertig die vermeintlich nur marginale Kolonialgeschichte Deutschlands als Begründung einer grundsätzlichen „ Nicht-Zuständigkeit “ heranzitiert wurde. Dass dies historisch wie gegenwärtig falsch ist und selbst eine alarmierend simplifizierende Haltung mit eindeutigem politischem Interesse ist, tritt an vielen Stellen deutlich zu tage. Drängend aber bleibt die Frage, wie es eigentlich die Kulturwissenschaften mit dieser Anrufung halten, wenn sie nicht einfach durch eilfertiges Zitieren anerkannter postkolonialtheoretischer Theoretiker: innen abgetan werden soll. Hier offenbart sich tatsächlich ein substanzieller Nachholbedarf für die Forschung. Zwar wird etwa von Seiten der Jüdischen Studien - etwa durch Shulamit Volkov - schon seit langem eine historiografische Neuorientierung gefordert, eine entsprechende Einlösung steht mithin noch aus. Umso wichtiger ist der Blick auf den internationalen Forschungsdiskurs, in dem schon seit Längerem Positionen formuliert werden, die grundsätzliche Bedeutung haben. Das vorliegende Buch von Noémie Ndiaye ist ein solcher Meilenstein. Es handelt sich um ein wichtiges Buch, das zentrale Begriffe formuliert und in methodischer Hinsicht Maßstäbe für künftige Forschungen setzt. Dabei ist es hilfreich, sich die Größe des Unterfangens einer Dekolonialisierung oder Diversifizierung der Kulturgeschichte vor Augen zu führen. Hier seien nur zwei entscheidende Arbeiten genannt: 2008 hat Imtiaz Habib mit seiner Studie Black Lives in the English Archive, 1500 - 1677 (Routledge 2008; 2020) ein Standardwerk vorgelegt, das in akribischer Archivarbeit die Präsenz Schwarzer Menschen im England der Frühen Neuzeit aufzeigt. Gleichzeitig formulierte Habib Ansätze für eine Neudeutung von Archivarbeit, um die durch hegemoniale Strukturen erzeugte Unsichtbarkeit aufzubrechen. Olivette Otele wiederum hat in ihrer Studie African Europeans. An Untold Story (Hurst & Co. 2020) die Grundzüge afro-europäischer Biografien und die Konstellationen, in denen sie stehen, von der Spätantike bis in die Gegenwart nachvollzogen. Dabei wird schnell deutlich, wie sehr die Abwesenheit oder besser Unerwähntheit afroeuropäischer Menschen auch Folge der Konstruktion von Nationen als ethnisch homogener Entitäten ist. Noémie Ndiaye nun legt eine Studie vor, die sich explizit in den Horizont der Theatre/ Performance History stellt. Dies prägt sowohl die Gegenstände ihrer Untersuchung als auch ihre methodische Herangehensweise. Diese ist von einer beispielhaften theoretischen Klarheit, so dass schon die Einleitung ein ganz eigenständiges historiografisches Progamm aufstellt, wenn sie ihren Ausgangspunkt benennt: „ In this book, I ask: what did performative blackness do for early modern Europeans? “ (3) Damit wird Blackness als kulturelle Konstruktion begriffen, die aber nicht einfach nur als semiotisch-ästhetisches Phänomen begriffen wird oder im Hinblick auf die Legitimität von Darstellungen, sondern als ein grundsätzlich machtpolitisches Phänomen: „ Race is not the same thing in the fifteenth and in the twentyfirst century, or in Spain or in India, but it does the same thing: it hierarchizes difference in service of power. “ (6) Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 194 - 195. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0014 Scripts of Blackness bezeichnet dabei performative Routinen, mit denen Blackness im frühneuzeitlichen Europa (re-)präsentiert wurde und eine Geisteshaltung mitbeförderte, die das Machtgefälle festigte bzw. neu ausrichtete. In diesem Sinne, so Ndiaye, gehen vordergründige Fragen der Mimesis oder Glaubwürdigkeit völlig an der kulturellen Realität dieser Skripte vorbei. Ndiaye baut ihre Arbeit grundsätzlich komparatistisch auf - ein Ansatz, der der kulturellen Realität der Frühen Neuzeit besonders gut Rechnung trägt, denn die Rückprojektion nationalstaatlicher Ordnungsräume erzeugt eine systematische Verkürzung. Leider sind solche komparatistischen Studien heute immer noch eine Ausnahme, was nicht zuletzt an den hohen Sprachanforderungen liegt. Ndiayes Ansatz aber, der England, Frankreich und Spanien miteinander vergleicht, zeigt, welche Zusammenhänge sichtbar werden, wenn man die Fixierung auf einzelne Konstellationen aufgibt. So erscheint das Elisabethanische England in vielerlei Hinsicht eher als Ausnahme denn als Regel. Dass Ndiaye sich für ihr Thema nicht (vornehmlich) auf literarische Texte stützen kann, lenkt den Blick unmittelbar auf die Machtstrukturen, die schon der Praxis der Überlieferung eingeschrieben sind. Die Gliederung ihres Arguments erfolgt vielmehr in drei Schritten: Black- Up, die materielle Praxis des Schwarz-Schminkens und ihre unterschiedliche Bedeutung, Blackspeak, die Repräsentation von Blackness auf der Ebene gesprochener Sprache, und schließlich Black Moves, die Körpersprache von Blackness, die sich als paneuropäischer Code ausbreitete. Als methodisches Grundproblem konstatiert sie: “ This book ‘ s transverse structure also allows me to bring to the fore two regimes of racialization - the acoustic and the kinetic - that have received hardly any scholarly attention in early modern performance studies, because the Western understanding of early modern performance relies so heavily on the supremacy of the visual, or scopic, regime. ” (24) Die Sorgfältigkeit, methodische Präzision und Originalität in der Analyse von unterschiedlichsten Quellen lässt ein Modell theaterhistorischen Arbeitens erkennen, das die Spannung von Materialität und kultureller Praxis auf der einen Seite und kritischer Textlektüre, die die Spuren performativer Praktiken sichtbar werden lässt, auf der anderen Seite in einen produktiven Dialog überführt. Dabei werden performative Elemente erkennbar, die politische und soziale Realität ermöglichen, wie etwa Rassismus und Sklaverei. Dabei versagen Kategorien wie Authentizität oder Intentionalität, wie Ndiaye in ihrer Analyse der black dances unterstreicht: “ Thus, I use the term black dances to refer to dances that, regardless of authenticity, were defined as black in the imagination of the dominant segment of European populations that enthusiastically consumed and replicated them. [. . .] To translate: black dances are aesthetically foreign, indissolubly attached to the practice of slavery in lands begging to be colonized, characterized by genital fixation, and performed perhaps half of the time by Afro-diasporic people and half of the time by white people. ” (190) Die Lektüre eröffnet neue Wege historischen Denkens und regt an, bestehende Paradigmen in Frage zu stellen - gleichzeitig aber lässt sie den: die Leser: in mit der beunruhigenden Einsicht in die Aktualität des Themas zurück. Köln P ETER W. M ARX Theresa Schütz. Theater der Vereinnahmung. Publikumsinvolvierung im immersiven Theater. Berlin: Theater der Zeit 2022, 342 Seiten. Theresa Schütz geht in ihrer rezeptionsästhetischen Untersuchung Theater der Vereinnahmung Fragen der Publikumsinvolvierung in immersiven Theaterformen nach. Sie beschreibt Strategien der Vereinnahmungen anhand von affekttheoretischen Analysen von Paulus Mankers Alma, Punchdrunks Sleep no More, Scruggs/ Woodards Projekt 3/ Fifths - Supremacy Land und den Arbeiten Das halbe Leid, Das Heuvolk und Wir Hunde von SIGNA. Sie erweitert den Immersionsbegriff innerhalb der deutschsprachigen Theaterwissenschaft um Überlegungen aus der schon früher einsetzenden englisch- und französischsprachigen Diskussion (z. B. mit Jose- Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 195 - 197. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0015 195 Rezensionen phine Machon, Adam Alston, Gareth White, Marcel Freydefont, Julie Sermon u. a.). Die Kernthese ihrer Studie ist es, dass Modi der Publikumsinvolvierung im immersiven Theater wirkungsästhetisch auf eine Vereinnahmung der Zuschauer*innen abzielen und dies oftmals über die Etablierung von fiktional und narrativ angelegten diegetischen Ordnungen geschehe. Schütz beginnt ihre Studie mit einem sehr breiten Bezug auf sogenannte immersive Formate in Kunst, Kino, Literatur, Gaming und Unterhaltungs-industrie und damit in Korrespondenz mit dem von Oliver Grau aus kunsttheoretischer Perspektive 2001 genannten „ Prinzip Immersion “ (18). Sie beschreibt, dass die vom spätlateinischen Substantiv immersio abgeleitete primäre Bedeutung „ Eintauchen “ in alternative, simulierte, virtuelle Welten seit den 1970er Jahren ein wiederkehrendes filmisches Sujet sei. In Abgrenzung zur bestehenden Forschung wolle sie Immersion, inspiriert durch Estelle Sohier, über die Dimension von Worldbuilding-Prozessen denken und damit zeigen, wie immersives Theater bestimmte Selbst-/ Weltverhältnisse nicht nur präge, sondern auch hervorbringen könne. Als Merkmale „ immersiver Theaterdispositive “ (50 f.) benennt Schütz geteilte Bühnenräume (53) und die Aufhebung einer starren Trennung von Bühnengeschehen und Publikum. Sie nennt „ die Asymmetrie zwischen beteiligten Performer*innen und involvierten Zuschauer*innen “ (56), eine „ systemische Desorientierung und Verunsicherung “ (57) und eine „ fiktive Narration “ (71) als weitere Merkmale und betont, dass die von ihr beschriebenen Aufführungen „ komplexe Affizierungs- und Emotionalisierungsprozesse “ (66) hervorrufen würden. Deutlich wird, dass die als immersiv benannten, partizipativen Theaterformen, die Schütz beschreibt, oftmals mit den Behauptungen einhergehen, kohärente Illusionsräume gesellschaftlichen oder gemeinschaftlichen Zusammenseins zu simulieren. Mit Blick auf den Forschungskontext, konkludiert auch Schütz gut nachvollziebar, hat Alston in seiner Studie Beyond Immersive Theatre (2013) die neoliberalen Logiken und Ökonomisierungsmechanismen von künstlerischen Erfahrungen innerhalb der letzten vier Jahrzehnte benannt und diese in Zusammenhang mit Theaterformen wie Lundahl & Seitl, Ray Lee, Punchdrunk, Half Cut und anderen gebracht, welche oftmals zu einer hochgradigen Vereinzelung von Erfahrung beitragen. Auch Natalie Alvarenz (2018) problematisiert die Asymmetrie zwischen Performer*innen und Publikum und die damit verbundenen Ambivalenzen von Immersion, wenn sie immersive Formate als oftmals in eine hegemoniale Wissensproduktion eingeschriebene bezeichnet. Vor diesem Hintergrund wird die Frage der Reflexion der Teilnehmenden und die Frage der Totalität von Kunst virulent. Im letzten Teil der Arbeit beschreibt Schütz sechs spezifische Involvierungsmodi: anhand von Paulus Mankers Alma die räumliche und figurenperspektivische Involvierung, anhand von Punchdrunks Sleep no more das Soundscape, bei SIGNAs Das halbe Leid die olfaktorische Involvierung, bei SIGNAs Das Heuvolk die konkreten Handlungsanweisungen, bei SIGNAs Wir Hunde das körperliche Berühren und abschließend auf die Verwendung von Zeichen, Diskursen und Bedeutungen bei 3/ Fifths - Supremacy Land von Scruggs/ Woodard. Mit Das Heuvolk geht sie dabei eindrücklich der konkreten Fragestellung nach, welche Funktionen die oftmals autoritären Handlungsanweisungen während der sechsstündigen Performance, die Schütz als stattfindendes Ritual beschreibt (209), hätten. Entlang ihrer Beobachtungen formuliert sie Involvierung einerseits innerhalb des relationalen Aufführungsgeschehens und andererseits innerhalb der fiktionalisierten Lebenswelt der Himmelfahrer Glaubensgemeinschaft, die das Publikum für sechs Stunden an einem Abend auf dem Gelände des Benjamin Franklin Villages in Mannheim besucht. In einer detaillierten Szenenbeschreibung erläutert sie die wechselseitige Affizierung als Teilnehmerin mit der Performerin der Figur der Davina (Marie S. Zwinzscher). Kritisch merkt Schütz an, dass die Teilnehmenden sich innerfiktional durch ihr aktives Mitwirken an dem hierarchisch formierten System der Glaubensgemeinschaft der Himmelsfahrer beteiligen (218). Die Autorin bezieht sich auf die sich zeigenden Machtverhältnisse in Form gezielter Desorientierung, Vereinzelung der Teilnehmenden sowie die Tendenzen von Totalität in SIGNAs Arbeiten; auch wenn sie die Arbeiten insgesamt 196 Rezensionen sehr wohlwollend und fasziniert beschreibt und die Frage nach der emotionalen Verantwortung gegenüber den Darsteller*innen, aber auch gegenüber dem Publikum nur skizziert. In Bezug auf die auch von Alston formulierten gesellschaftspolitischen Überlegungen fragt Schütz abschließend, ob die Suche nach Desorientierung, Vereinzelung und Überforderung Teil des In-der-Welt-Seins für Generation Y und Z markieren und die Sehnsucht nach temporärer Gemeinschaft und emotionaler Bindung, wenn auch autoritär dirigiert, Gründe für die Begeisterung eben jener Personengruppe für die untersuchten Künstler*innen und künstlerischen Arbeiten seien. Es ist die Überlegung, ob das bewusste Zulassen der emotionalen Verführbarkeit (287) durch eine situative oder eine Selbsterkenntnis ex post der Teilnehmenden den Reiz der Erfahrung ausmachen. Schütz konkludiert, dass sich das von ihr beschriebene Theater der Vereinnahmung als eine „ emotionale Begegnungs- und Selbsterfahrungsmaschine, die ihr Publikum dazu anregen kann, sich der eigenen autoritären, affektiven Dispositive bewusst zu werden “ (288) darstellen lasse. Neben diesen gesellschaftspolitisch zentralen Überlegungen bleibt kritisch anzumerken, dass die Autorin in der Theoriebildung stellenweise zu synoptisch verfährt. Bei der Einführung des Denkens von Inder-Welt-Sein (29, 59), das für die Argumentation der Worldbuilding-Prozesse große Relevanz hat, macht sie keinen Bezug auf die Philosophie Heideggers und spricht die Weiterentwicklungen bei Latour, Nancy, Haraway nur knapp an (60). Auch die Diskussion darüber, Theater als Dispositiv zu verstehen, hätte an einer detaillierteren Auseinandersetzung mit Foucault und Agamben gewonnen. Denn daran ließe sich der Gedanke weiterverfolgen, ob die beschriebenen Aufführungsformen nun unter dem vorgeschlagenen, aber immer auch vage bleibenden Begriff eines immersiven Theaters zusammengefasst werden können, oder aber letztlich das Dispositiv, welches sie hervorbringt, anders und neu definieren. Ist es nicht die Vagheit und die Unschärfe des Immersionsbegriffs selbst (49), mit dem in ihren Einzelheiten unendlich singuläre Theater- und Kunstpraktiken verallgemeinert und damit in ihrer Singularität unscharf werden? Immersives Theater könnte jedoch als methodischer Begriff das Wechselverhältnis von Bühnenform und Dispositiv diskutieren und damit über eine deskriptive Begriffsverwendung, wie sie Programmschriften und Theaterkritiken prägen, hinausgehen. Am Ende der Studie ist es schlüssig, dass sich Schütz selbst zunehmend auf den Begriff der Vereinnahmung stützt und sich damit einerseits in die Forschung um das immersive Theater einordnet, aber andererseits Tendenzen der Simplifizierung von allzu unterschiedlichen Theaterarbeiten, -formen und -praktiken unter dem Begriff des immersiven Theaters problematisiert. Vereinnahmung charakterisiert Schütz nie rein passiv, sondern konstitutiv reziprok und relational (87). Vereinnahmende Wahrnehmung, so die entscheidende affekttheoretisch inspirierte Überlegung der Studie, bleibt singulär, hochgradig unverfügbar und situativ zu verorten. Frankfurt am Main E VA D ÖHNE Frank Schmitz. Spiel-Räume der Demokratie. Theaterbau in der Bundesrepublik Deutschland 1949 - 1975, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2022, 383 Seiten. Angesichts aktueller Debatten um die Modernisierungsbedürftigkeit kommunaler Spielstätten - prominent die langjährige Kontroverse um die Zukunft der Frankfurter ‚ Doppelanlage ‘ - , die auch in den wissenschaftlichen Diskurs ausstrahlen, verliert der Theaterbau zunehmend an Selbstverständlichkeit. Wo hat Theater seinen zeitgemäßen Ort? Welche Öffentlichkeit versammelt die Bauaufgabe Theater? Wie korrespondieren Theaterauffassungen und Architekturen? Mit Frank Schmitz ‘ architekturgeschichtlichem Band liegt nun eine umfassende Historisierung und Würdigung des bislang wenig beachteten bundesrepublikanischen Theaterbaus vor, die derartige Komplexe für die Nachkriegszeit erhellt. Das Interesse der Studie gilt dem Verhältnis von Architektur und demokratischer Gemein- Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 197 - 199. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0016 197 Rezensionen schaftsbildung, das sie anhand einer vergleichenden Analyse von 38 exemplarischen Baulösungen des Booms der 1950er bis 1970er Jahre - dargestellt im Katalogteil der Arbeit - auslotet. Angelehnt an ein Verständnis von Theater als „ formalisiertes Spiel “ (S. 11), konturiert Schmitz dafür in Erweiterung etablierter kunsthistorischer Perspektiven um architektursoziologische und diskursanalytische Ansätze eine Lesart von Theaterarchitektur, die „ alle sozialen Vorgänge in und um ein Theatergebäude als ‚ Spiel ‘“ (S. 12) versteht - programmatisch gefasst im titelgebenden Kompositum der „ Spiel-Räume “ . So befragt die Untersuchung ebenso die architektonische Gestaltung wie Entstehungskontexte und öffentliche Vermittlungsprozesse hinsichtlich der Wechselwirkungen von Architektur, Politik und Gesellschaft. Eine bemerkenswerte Diversität von Quellen- und Bildmaterial verdichtet Schmitz dabei zu einer eingängig komponierten Skizze der Bauaufgabe Theater als „ Medium einer kulturellen und letztlich politischen Selbstdefinition der Bundesrepublik “ (S. 27). Den in der Forschung wiederholt bemerkten Rückgriff auf tradierte Theaterbauvorstellungen (vgl. u. a. den Band von Blümle/ Lazardzig (Hg.): Ruinierte Öffentlichkeit. Zürich 2012) perspektiviert die Studie in einer einleitenden Darstellung des hohen Stellenwerts der öffentlichen Bauaufgabe als Effekt kollektiver Aushandlungsprozesse (Kap. 2). Ein konziser Abriss zeichnet das Avancieren technisch-flexibilisierter Repräsentationsbauten zum Symbol des kulturellen Neubeginns nach, wobei sich eine hohe kulturpolitische Wertschätzung von Theater als gleichsam populäre wie sinnstiftende Instanz sowie der unbefragte Anschluss an die seit den 1920er Jahren etablierte Kommunalisierung als wesentliche Faktoren der Abkehr von den räumlichen Provisorien und Experimenten der ersten Nachkriegsjahre erweisen. Rekurrierend auf Fachdebatten sowie die öffentliche Bau- und Planungspraxis beleuchtet Schmitz Diskursorte der Neubestimmung einer verbindlichen Bauform, die in dezidiert moderner Ästhetik Abgrenzung zu höfischen wie nationalsozialistischen Theaterbauformen suchte (Kap. 3). Instruktive Einsichten in die komplexen Akteurs-Gefüge von Politik, Fachleuten sowie städtischen Öffentlichkeiten gibt insbesondere die systematische Analyse der „ expertokratischen “ Entscheidungsstrukturen der demokratischen Planungskultur (Kap. 4), in der einem engen Fachkreis maßgeblicher Einfluss zukam. Die Einordnung von Kontinuitäten durch NS-Verflechtungen von Protagonisten wie dem Theateringenieur Walther Unruh oder Gerhard Graubner, produktivster Theaterarchitekt der Nachkriegszeit, aber auch institutioneller, planerischer und baulicher Art - die zahlreichen Wiederaufbauten und Rekonstruktionen historischer Theater klammert die Studie weitestgehend aus - , erscheint trotz der akzentuierten Argumentation verkürzt. Das zentrale Analysekapitel wendet sich den Bauten zu und befragt die innere Struktur, räumliche Organisation und ästhetische Gestaltung der Publikumsbereiche „ Foyer, Saal und Bühne “ im Kontext zeitgenössischer Diskurse und Intentionen (Kap. 5). Als Kristallisationspunkt des Bemühens um ein architektonisches Abbild einer egalitären Gesellschaftsordnung widmet die Studie Zuschauerräumen spezifische Aufmerksamkeit und nimmt sie zum Ausgangspunkt, um Rekursen auf historische Bauformen und ein tradiertes Repertoire theaterbaulichen Wissens - prävalent der griechisch-antike Theaterbau und die Entwurfstheorie Manfred Sempers (1904) - weiter nachzugehen, aber auch ästhetische Fluchtlinien zwischen Architektur und zeitgenössischer Szenografie zu ziehen. Neben dem Festhalten an der Guckkastenbühne erweist sich der Topos der Festlichkeit als Traditionsmoment, dem die mit den Bauten assoziierte, implizite Definition des Wesens von Theater als Kunstgattung eingeschrieben ist (S. 292). Auch im Spiel mit Raumgrenzen, das die Untersuchung als originär theatrales Mittel anhand der Foyer-Gestaltung diskutiert, artikuliert sich der Einfluss dieses Theaterverständnisses. So zeigt Schmitz, inwiefern gerade das Spannungsverhältnis von Bestrebungen zu einer Öffnung zu städtischem Raum und Gesellschaft, einerseits, und der Markierung einer anderen Welt sowie Fokussierung auf das Spiel, andererseits, die architektonische Rahmensetzung für „ Prozesse temporärer Gemeinschaftsbildung “ und ihrer Inszenierung im urbanen Raum bildet (S. 291 f.). Schließlich weitet die Analyse die verwobenen Perspektiven Diskurs und Ästhetik auf das Außen aus und befragt die gemeinschaftsstiften- 198 Rezensionen de Bedeutung von Theaterbau als Medium gesellschaftlicher und politischer Repräsentation (Kap. 6 u. 7). Anhand aufschlussreicher Betrachtung von Bauten wie den Theatern in Bonn und Gelsenkirchen, dem Ruhr-Festspielhaus Recklinghausen, dem Nationaltheater Mannheim oder der Deutschen Oper Berlin - als Gegen- Bau zur Ost- ‚ Deutschen Staatsoper ‘ - , die neben stadträumlichen Bezügen auch die Funktionalisierung von Theaterbauten, z. B. als Postkartenmotive und Ausstellungsexponate einbezieht, arbeitet Schmitz die identitätsstiftende Rolle der prestigeträchtigen Bauaufgabe auf kommunaler, staatlicher wie internationaler Ebene heraus. Mit Blick auf ein Wiederaufleben des Nationaltheater-Konzepts in der Nachkriegszeit, das sich im Bau von National- und Staatstheatern manifestiert, figuriert Theaterbau so als Schauplatz der Legitimation und Konturierung der BRD als Kulturstaat im Kontext politischer Konkurrenzsituationen. In der breiten Anlage, die das Forschungsfeld erstmals überblickshaft und methodologisch differenziert erschließt, bildet der Band eine einschlägige Lektüre zur Architektur- und Kulturgeschichte von Theater in der Nachkriegszeit. Auch wenn Programmierung und Nutzung der Bauten ebenso wenig Teil der Reflexion sind wie dezidierte Gegenwartsbezüge, leistet die Studie einen substantiellen Beitrag zu aktuellen Diskursen um Aufführungsarchitekturen sowie die Neubewertung des Bau-Erbes der Nachkriegsmoderne und informiert als historische Folie lokale Debatten. Gemäß dem Anspruch, das „ Narrativ von der erfolgreichen Demokratisierung “ nicht grundsätzlich zu bezweifeln (S. 10 f.), stellt Schmitz der seit den 1970er Jahren etablierten publizistischen wie künstlerischen Kritik ein harmonisierendes Korrektiv gegenüber. Aspekte, die ob der typologischen Herangehensweise zurücktreten - wie auch die Relevanz von Theatertechnik und ideologische Implikationen des Theater-Wiederaufbaus - , geben vielfältige Impulse für nuancierte Anschlussbetrachtungen. Berlin M ARIE -C HARLOTT S CHUBE 199 Rezensionen Autor: innen Patrick Aprent is a PhD candidate at the University of Vienna with his PhD project focussing on theatre mobilities in 19th Century Germanspeaking theatre. As a theatre historian he was involved in a number of research projects at the Austrian Academy of Sciences (OeAW), the University of Vienna, the Theatermuseum Wien and the Don Juan Archiv Wien. Currently he is a team member of the ERC-funded ‘ T-Migrants ’ project at the LMU Munich. Aprent ’ s research interests and areas of work include female theatre managers, theatre mobilities and migration, theatre topography of the long 19th Century, theatre architecture, digital humanities, mapping and other means of data visualisation. Barbara Babi ć ist Musikhistorikerin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Mobilität des europäischen Musiktheaters im langen 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Boulevards bzw. der Vorstadttheaterkulturen in Paris und Wien, der italienischen Oper und dem Kulturleben in den habsburgischen Gebieten Südosteuropas. Sie war Stipendiatin von verschiedenen Programmen (DAAD, ÖAW), Universitätsassistentin für Historische Musikwissenschaft an der Universität Wien und Visiting Research Fellow am Centre Georg Simmel der EHESS in Paris. Seit Dezember 2021 ist sie Post-Doc im ERC-Projekt Opera and the Politics of Empire in Habsburg Europe, 1815 - 1914 an der Universität Leipzig. Magret Berger is a PhD candidate at the University of Vienna and is working on her dissertation project ‘ Mobile Frauen/ Theater/ Leben. Theaterunternehmerinnen in der Habsburgermonarchie, 1850 - 1914 ’ ( ‘ Mobile Women/ Theatre/ Lives. Female theatre managers in the Habsburg Monarchy, 1850 - 1914 ’ ) at the Institut für Geschichte des ländlichen Raumes (Institute of Rural History) in St. Pölten. Her research interests include theatre history, social and women ’ s history as well as mobility and biography research in the context of the 19th century. Anke Charton ist Professorin für Theaterwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Promotion zu Geschlechterrollen in der Oper, Habilitation zu Geschichtsnarrativen und Theaterpraxis des spanischen Siglo de Oro. Ihre Forschung bewegt sich interdisziplinär zwischen Theater- und Musikwissenschaft sowie intersektionaler Geschlechterforschung, mit aktuellen Schwerpunkten in dekolonial informierter Theaterhistoriografie sowie Macht/ Missbrauch im Kulturbetrieb. Sie ist Board Member für das Jahrbuch Musik und Gender und für das Forschungsnetzwerk Elfriede Jelinek. Eva Döhne, Dr. des., ist PostDoc am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Gender- und Repräsentationsfragen, queer-/ feministische Literaturtheorie, Avantgarden, Neuer Materialismus. Theresa Eisele ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien sowie assoziierte Senior Researcher am Ludwig Boltzmann Institute for Digital History (LBIDH). Zuvor war sie u. a. an der Universität Wien und am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur - Simon Dubnow sowie als Dozentin in Berlin, Leipzig und Erlangen tätig. Ihre Forschung zentriert auf die kulturwissenschaftliche und historische Theaterforschung, mit einem Schwerpunkt in jüdischer (Theater)Kulturgeschichte. Stefan Hölscher (PD Dr.), geboren 1980 in Frankfurt am Main, ist Projektleiter beim Türkischen Bund in Berlin-Brandenburg (TBB). Zuvor arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen (2009 - 2013) sowie als Postdoc an der Akademie der Bildenden Künste in München (2014 - 2017) und am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum (2018 - 2022). Darüber hinaus ist er Forum Modernes Theater, 35/ 1-2, 201 - 203. Gunter Narr Verlag Tübingen DOI 10.24053/ FMTh-2024-0017 seit 2009 an verschiedenen anderen Orten als Dozent tätig. Er promovierte am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen (2015) und habilitierte sich an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum (2022). Dieser Beitrag ist aus seinem im Dezember 2022 gehaltenen Habilitationsvortrag heraus entstanden. Marion Linhardt ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth und langjährige Mitarbeiterin des Forschungsinstituts für Musiktheater. 1999 - 2008 Fachbeirätin für Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2010 - 2014 Schriftleitung der Nestroyana. Seit 2013 Herausgeberin (mit B. Müller-Kampel) von LiTheS. Buchpublikationen u. a.: Residenzstadt und Metropole. Zu einer kulturellen Topographie des Wiener Unterhaltungstheaters (1858 - 1918) (2006); Stereotyp und Imagination. Das ‚ türkische ‘ Bühnenkostüm im europäischen Theater vom Barock bis zum frühen Historismus (2021). Arbeitsschwerpunkte u. a.: Stadtforschung und Theatertopographie, Unterhaltungskulturen der Neuzeit. Matthias Mansky, Projektleiter am Fachbereich Germanistik der Paris Lodron Universität Salzburg, FWF-Projekt: Der „ Theatermacher “ Ferdinand Raimund, Geschäftsführer der Internationalen Nestroy-Gesellschaft, Mitherausgeber der historisch-kritischen Ausgabe der Werke Ferdinand Raimunds, Redakteur und Mitherausgeber der Fachzeitschrift Nestroyana. Blätter der Internationalen Nestroy-Gesellschaft (gemeinsam mit Christian Neuhuber), derzeit Vorbereitung der interdisziplinären Habilitationsschrift: „ Österreichs “ Schiller. Formen und Aspekte einer theatralen Rezeptionsgeschichte (1787 - 1905). Peter W. Marx ist Professor für Medien- und Theaterwissenschaft an der Universität zu Köln und Direktor der Theaterwissenschaftlichen Sammlung. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Theatergeschichte (Frühe Neuzeit bis zur Gegenwart), Shakespeare in Performance und kritische Medienhistoriographie. Lisa Niederwimmer ist Marietta Blau-Stipendiatin an der University of Exeter, UK. Von 2020 - 2024 war sie als Universitätsassistentin (PraeDoc) am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien tätig. Sie promoviert zur Repräsentation von Arbeiter*innen am Wiener Unterhaltungstheater im 19. Jahrhundert. Weitere Forschungsinteressen: Geschichte von Arbeit, Macht und Missbrauch im Theater. Friederike Oberkrome ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sie promovierte am Sonderforschungsbereich Affective Societies 1171 zum Thema Recherche und Erkundung. Über die Wiederkehr des Botenberichts im Theater der Migration (Neofelis 2022) und beschäftigt sich aktuell in feministischer Perspektive mit Fragen von Autorschaft in Theater und Performance. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen dokumentarische Ästhetiken, Theater in der Migrationsgesellschaft, Formen von Intermedialität sowie Theater und Feminismus. Julia Ostwald ist Postdoc im ERC-Projekt Olfac zur Performativität des Olfaktorischen an der Kunstuniversität Linz. Zuvor war sie u. a. im Fachbereich Gender Studies der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, an der Universität Salzburg sowie der Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien tätig. Ihre Forschung umfasst historische und gegenwärtige Verflechtungen von Ästhetik und (Körper-)Politik im Kontext von Tanz, Choreographie und Bewegung mit aktuellem Fokus auf Atem und Sinne. Sie hat in Tanzwissenschaft promoviert zu Choreophonien. Konstellationen von Stimme und Körper im Tanz der Moderne und der Gegenwart (2024). Nadja Rothenburger ist Projektmitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft und Mitglied der Graduate School of the Arts and Humanities (GSAH) des Walter Benjamin Kollegs der Universität Bern. Nach einem B. A. (FU Berlin) und M. A. (Universität Bern) in Tanz-, Theater- und vergleichender Literaturwissenschaft forscht sie an ihrer tanzhistoriografischen Dissertation zum Thema Auto_Choreo_Grafie. Anna Sacher studierte Szenische Künste an der Universität Hildesheim und Theater-, Film- und 202 Autor: innen Medienwissenschaft an der Universität Wien. Sie forscht zu queer-feministischen Ansätzen von Autor*innenschaft und Authentizitätsinszenierungen in theatralen und filmischen Settings. Marie-Charlott Schube war wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt Theaterbauwissen am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin (2020 - 2023). Sie promoviert zur Akademisierung von Theaterbaulehre im Kalten Krieg anhand der Lehr- und Bautätigkeit des Architekten Gerhard Graubner. Forschungsinteressen liegen im Bereich der Wissens- und Architekturgeschichte von Theater sowie dem Verhältnis von Theater und Gesellschaft. Lotte Schüßler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt Rohstoffe der Geisteswissenschaften. Materielle Provenienzen von Arbeitsmedien am Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie wurde mit der Studie Theaterausstellungen. Spielräume der Geisteswissenschaften um 1900 (Wallstein 2022) promoviert. Zu ihren Forschungsinteressen gehören Medien und Materialien in der Geschichte der Geisteswissenschaften sowie feministische Perspektiven auf Theater- und Mediengeschichte. 203 Autor: innen BUCHTIPP Ausgehend von den theaterwissenschaftlichen Teilprojekten des Mainzer Sonderforschungsbereichs 1482 Humandifferenzierung versammelt das Themenheft unterschiedliche Beiträge zu der Frage, welche Identitäten und Humandifferenzierungen in Theater und Performance der Gegenwart auf welche Weise verhandelt und erzeugt werden. Theater kann hier nicht allein als Spiegel der Gesellschaft und kulturelle Organisation, sondern auch als Ort und Praxis kollektiver Erfahrung und Orientierung (Ahmed), der Dis/ identi kation (Muñoz) sowie eines utopischen Un/ Doings und World-Buildings fungieren. Staging Differences verweist mithin auf vergangene und gegenwärtige, aber auch zukünftige Verhandlungen von normativen sowie nicht-normativen (feministischen, queeren, crip, neuroqueeren und PoC-) Positionierungen und Praktiken der Humandifferenzierung im Sinne ihrer Kritik, DeKonstruktion und ReProduktion. Friedemann Kreuder, Benjamin Wihstutz (Hrsg.) Staging Differences: Orientierungen, Kategorisierungen und Identitätspolitiken in Theater und Performance Forum Modernes Theater, Vol. 61 1. Au age 2024, 264 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-381-11781-9 eISBN 978-3-381-11782-6 DOI 10.24053/ 9783381117826 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ info@narr.de \ www.narr.de Aus dem Inhalt Berenika Szymanski-Düll (München) Editorial ....................................................................................................................................5 Aufsätze Nadja Rothenburger (Bern) „Wer bin ich eigentlich? “ - Auto_Choreo_Grafie in Barbara Lubichs Tanzdokumentation Im Umbruch ..................................................................................................7 Eva Döhne (Frankfurt am Main) Ins Licht getauchte Körper und gespiegelte Blicke. Gob Squads Creation (Pictures for Dorian) ....................................................................................................................................23 Patrick Aprent (Vienna/ Munich), Magret Berger (Vienna) Female Theatre Managers in ‘Peripheral Spaces’. Re-Mapping the 19 th -Century Habsburg Monarchy Theatre Landscape ...........................................................................39 Stefan Hölscher (Bochum) Geschichte und die Krise der dramatischen Form: Handlungsfäden und Handlungsgewebe zwischen Hauptmanns Die Weber (1892), Brecht, Szondi und Polleschs Passing (2020) .......................................................................................................55 Matthias Mansky (Salzburg) Die Verkörperlichung der Sprache als groteske Entfesselung: Herbert Fritschs Raimund .................................................................................................................................71 Anke Charton, Theresa Eisele (Wien) Performances of Belonging. Verflechtungen von Theater, Gesellschaft und Moderne ...91 Anna Sacher (Wien) Performative Zugehörigkeiten. Levke Harders’ ‚doing belonging‘ in Justitia! Identity Cases (2022) ...........................................................................................................100 Barbara Babić (Leipzig) Longing to Belong: Performing Habsburg Loyalty across Zara, Vienna, and Zagreb c. 1814 ......................................................................................................................114 Lisa Niederwimmer (Wien) „Das ist eine kleine Welt, in welcher nur Glückliche leben! “ Konstruktionen von Gemeinschaft in Carl Elmars Liebe zum Volke (1850) ...................................................126 Friederike Oberkrome, Lotte Schüßler (Berlin) Die Frauenbewegung in Kulturbild und Sozialdrama. Inszenierungen der Teilhabe kurz vor 1900 .......................................................................................................................145 Marion Linhardt (Bayreuth) „. . . jene wienerische Lust am Tanzen . . .“ Lokal? Volkstümlich? Populär? Die Zugehörigkeiten der Grete Wiesenthal .....................................................................160 Julia Ostwald (Wien) Denaturalisiertes Atmen: Lígia Lewis’ Still not Still (2021) im Spiegel respirativer Zugehörigkeiten des frühen modernen Tanzes ...............................................................182 Rezensionen ISBN 978-3-381-12621-7