Forum Modernes Theater
fmth
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0601
2007
221
BalmeEditorial: Das Theater als Medium
0601
2007
Christopher Balme
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Editorial: Das Theater als Medium Mit der vorliegenden Nummer von Forum Modernes Theater erscheint das erste Heft der Zeitschrift unter neuer redaktioneller Leitung und mit einem neuen Herausgebergremium. Im Folgenden soll die Neuausrichtung kurz skizziert werden, die, so ist die Hoffnung, an die Errungenschaften der ersten Herausgebergeneration anschließt und doch neue Akzente setzt. Insbesondere die personelle Besetzung des Beirats soll diese Neuausrichtung der Zeitschrift dokumentieren. War unter den ersten Herausgebern nur Hans- Peter Bayerdörfer hauptamtlicher Theaterwissenschaftler, so setzt sich der neue Beirat ausschließlich aus TheaterwissenschaftlerInnen zusammen, die zentralen Forschungsansätzen des Fachs Rechnung tragen und darüber hinaus eine breite Palette an dramen- und theatergeschichtlichen Interessen vertreten. Vor einundzwanzig Jahren, im Jahr 1986, erschien die erste Nummer einer vom Bochumer Anglisten Günter Ahrends begründeten Theaterzeitschrift. Der Titel war bereits Programm. Im Vergleich zu einer noch stark historisch ausgerichteten (aber bereits im Wandel begriffenen) Theaterwissenschaft sollte das Theater der Moderne im Vordergrund stehen. Der aus Hans-Peter Bayerdörfer (Germanistik und Theaterwissenschaft), Marianne Kesting (Komparatistik), Herta Schmid (Slavistik) und Karlheinz Stierle (Romanistik) bestehende Herausgeberbeirat - später kamen Rudolf Münz (Theaerwissenschaft) und Wilfried Floeck (Hispanistik) hinzu - deckte die Dramenliteratur der modernen europäischen Theatergeschichte beinahe flächendeckend ab. Blickt man auf Einzelhefte (und die dazugehörige Schriftenreihe) zurück, so lässt sich unschwer eine einzigartige dramenkomparatistische Forschungsleistung erkennen. Die Tatsache, dass neben Deutsch auch Englisch und Französisch zugelassene Publikationssprachen waren, hat maßgeblich zur Internationalisierung der Zeitschrift beigetragen. Die Gründung der Zeitschrift fiel mit der Expansion des Fachs Theaterwissenschaft in den 1980er und 1990er Jahren zusammen, so dass FMT bald zum führenden Organ des sich neu konstituierenden Fachs wurde. Die Neuformierung manifestierte sich zum einen in einer Erschließung neuer theatertheoretischer und aufführungsanalytischer Diskussionskontexte (hier war Erika Fischer-Lichtes dreibändige Semiotik des Theaters (1983) ein Schlüsselwerk), zum anderen in einem grundsätzlichen Verständnis des Theaters jenseits nationalphilologischer Traditionsbestände. So wurde FMT dem Umstand gerecht, dass bei allen nationalen Spezialinteressen das Theater der Moderne seit seinen Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert ein internationales Phänomen war. Vor allem zeichnete sich die moderne Dramatik durch eine eindrucksvolle Mobilität aus: Die großen Namen des modernen Dramas - Chekhov, Ibsen, Strindberg, Synge, Lorca, Pirandello, Shaw, Brecht, u.v.a.m. - wurden bald zum festen Bestandteil eines weltweit gespielten Kanons anspruchsvoller Dramatik. Dass Theater und Drama in der europäischen Theatertradition eine fast unzertrennliche Einheit bilden, bedarf keiner besonderen Erläuterung. Diesem Bündnis hat auch FMT auf hervorragende Weise Rechnung getragen. Besonders im deutschsprachigen Raum zeichnete sich jedoch eine theaterästhetische Trendwende ab, bei der, wenn nicht eine Abkehr von der Vorrangstellung des Dramentextes, so doch zumindest ihre dezidierte Infragestellung unübersehbar wurde. Die seit dem Erscheinen von Hans-Thies Lehmanns Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 1-4. Gunter Narr Verlag Tübingen 2 Editorial international rezipiertem Standardwerk unter dem Namen ‘Postdramatisches Theater’ (1999) bekannt gewordene Tendenz macht deutlich, dass Theater nicht mehr vornehmlich über die Dramenliteratur erschlossen werden kann. Will man dieser Neuausrichtung eine begriffliche Umrahmung geben, so wäre die Bezeichnung ‘Theater als Medium’ eine Etikettierung, die der neuen redaktionellen Philosophie gerecht wird. Ohne hier eine ontologisch wasserdichte Definition der medialen Konstituenten des Theaters vornehmen zu wollen, signalisiert die methodische Ausrichtung ‘Theater als Medium’ eine möglichst große Bandbreite an Forschungsperspektiven, die von Kunsttheater über Kulturwissenschaft bis hin zu Berührungspunkten mit anderen Medien reichen. Die hier abgedruckten Artikel stammen von neuen Mitgliedern des Herausgeberbeirats und sollen einige dieser Perspektiven aufzeigen. ‘Theater als Medium’ signalisiert zunächst eine programmatische Öffnung hin zu den anderen ‘Sparten’, Tanz- und Musiktheater. Beide genießen zuweilen den Ruf, die innovativsten Spielarten des Theaters zu sein, was beim Musiktheater sowohl hinsichtlich der Opernregie als auch in seiner postdramatischen Ausformung eine gewisse Berechtigung hat. In seinem Beitrag zeigt Jürgen Schläder z.B. anhand von Martin Kušejs Fidelio-Inszenierung, dass für die heutige Opernregie hergebrachte Deutungstraditionen und Sehkonventionen nicht mehr sakrosankt sind, und dass dekonstruktivistische Verfahren auch hier zur Anwendung kommen. Dekonstruktion bedeutet in diesem Zusammenhang keine Änderung der Noten, sondern eine mit szenischen Mitteln arbeitende radikale Neudeutung und Anpassung an zeitgenössische Denkmuster. Dass seit Pina Bausch Theatertanz (im weitesten Sinne des Begriffs) zahlreiche Choreographen hervorgebracht hat, die beständig die Grenzen des Theatermediums testen und diese immer wieder neu ziehen, kann nicht einmal als umstritten gelten: Der Beitrag von Gerald Siegmund zu William Forsythes Performance-Installation Human Writes zeigt, dass Forsythe nicht nur mit Gattungsgrenzen experimentiert, sondern auch grundsätzliche politische und philosophische Fragen über den Zusammenhang von Individuellem und Allgemeinem stellt, um “die Chance einer Politisierung der Körper in der Kunst” neu zu diskutieren. ‘Theater als Medium’ signalisiert auch eine Forschungsperspektive, die seit Anfang der 1990er Jahre in erster Linie unter dem Label Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft diskutiert worden ist. Für die Theaterwissenschaft bedeutete dies eine Öffnung zu theatralen Phänomenen hin, die nicht mit der reinen Kunstfunktion des Theaters zu erfassen waren. Dies geschah vor allem über die Begriffe ‘Theatralität’ und ‘Performativität’, die einerseits im Zentrum des herkömmlichen Theaterbegriffs stehen, andererseits weit über dieses Zentrum in zahlreiche nichtästhetische Felder hineinreichen. Diese Expansion machte vor allem deutlich, dass die Theaterwissenschaft eine multipolare Wissenschaft ist, die sogar das Etikett ‘Kulturwissenschaft’ sprengt. In ihrem Beitrag “Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft. Perspektiven einer theaterwissenschaftlichen Emotionsforschung” argumentiert Doris Kolesch, dass die Theaterwissenschaft ihren Gegenständen nicht gerecht werden könne, “wenn sie sich ausschließlich als Kulturwissenschaft versteht, sondern nur dann, wenn sie sich zugleich als Kunst-, Medien- und Kulturwissenschaft profiliert.” Das Feld der Emotionsforschung sei geradezu prädestiniert, nicht nur diese verschiedenen Seiten der Theaterwissenschaft zu zeigen sondern auch unter Beweis zu stellen, dass das Fach in einem wichtigen interdisziplinären Forschungsfeld einen signifikanten Beitrag leisten könne. Anhand der wohl meist diskutierten schauspieltheoretischen Schrift der europäischen Theatergeschichte, Diderots Das Theater als Medium 3 Paradoxe sur le Comédien, zeigt Kolesch, wie Diderots Essay über die Theatralität von Emotionen nicht nur als eine Reflexion über die Schauspielkunst, sondern auch, oder gar vielmehr als “kulturtheoretischer Entwurf über die Bedingungen bürgerlicher Subjektivität” zu lesen wäre. Eine ähnliche, aber methodisch anders akzentuierte Verbindung von Schauspieltheorie, Theatergeschichte, Emotionen und Medien stellt Wolf-Dieter Ernst in seinem Beitrag “Schauspiel durch Medien um 1900. Die verdeckte Funktion der Techne bei Konstantin Stanislawski und Alexander Moissi” her. Ausgehend vom Begriff der ‘visuellen Energie’ stellt Ernst eine Suchformel vor, welche die Debatten um die Erweckung und Kontrolle von Affekten durch den Schauspieler neu positioniert. Anhand der Rezeption des Schauspielers Moissi durch Franz Kafka und einer Neubestimmung des antiken Begriffs der energeia entwickelt Ernst eine neuartige Perspektive auf das alte Problem der schauspielerischen Energie und ihrer Affizierungsmacht. Das Theater als Medium zu betrachten, bedeutet nicht einfach ein Interesse an der Beziehung zu anderen Medien, obwohl dies zurzeit allenthalben zu beobachten ist. Neben Regie, Dramaturgie, Bühnenbild, Licht und Kostüm gehört der Zuständigkeitsbereich ‘Video’ inzwischen zu den selbstverständlichen künstlerischen Gestaltungsfeldern des zeitgenössischen Theaters. Die Verwendung von Video bedeutet zunächst eine sinnliche Erweiterung der theatralen Darstellungsmittel wie Beleuchtung oder Bühnenbild. Diese Erweiterung spricht in erster Linie den Sehsinn an, was wie die letzten beiden Beiträge demonstrieren, immer wieder Irritationen in kritisch-diskursiven Einordnungen des Theaters als Kunstform auslöst. In seinem Beitrag zu Max Reinhardts legendärer Sommernachtstraum-Inszenierung spürt Peter Marx ein Geflecht genealogischer Linien und zeitgenössischer Bezüge auf, um die Inszenierung in die “Vielstimmigkeiten ihrer historischen Bezüge zu setzen.” Dazu gehört in erster Linie eine “ängstlich bestrittene Nähe zum Spektakel und damit zu zwar populären, aber kulturell als minderwertig betrachteten Theaterformen.” Diese Nähe war, wie Marx zeigt, deshalb so prekär, weil diese Verwandtschaft eben nicht klar räumlich und kulturell geschieden war, sondern sowohl in den prestigeträchtigen Hoftheatern als auch in den dezidiert kommerziellen Theaterformen zu finden war. Residuen der von Marx konstatierten kritischen Zurückhaltung gegenüber einer Überbetonung der visuellen Komponente des Theaters lassen sich heute noch beobachten. In ihrem Beitrag, “Wem gehören die Bilder? Bildpolitik und Medienkritik im Theater: eine Frage der Gewalten-Teilung” gehen Kati Röttger und Alexander Jackob der Frage nach, inwiefern das Medium Theater als “besonderer Ort der Bilder verstanden werden kann.” Sie gehen zunächst von dem kontroversen ontologischen Status medialer Bilder aus und diskutieren insbesondere die Frage der Gewaltdarstellung. In ihrer Argumentation ist das Theater durchaus ein Medium; es verfüge aber aufgrund der körperlichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern über Möglichkeiten, die mediale Gewalt in Bildern zu reflektieren, die Zuschauer in die Entscheidungsprozesse über die spezifische Macht der Medien und der Bilder aktiv mit einzubeziehen und damit eine kritischere Haltung zu ermöglichen. In Zukunft wird FMT abwechselnd Schwerpunkthefte und thematisch offene Nummern gestalten. Die Redaktion ist bemüht, Theater in seinen kulturellen, ästhetischen und geschichtlichen Erscheinungsformen, auch in Bezug zu benachbarten Disziplinen, zu diskutieren. FMT ist eine peerreview-Zeitschrift. Alle eingesandten Artikel werden einer Begutachtung durch Fachleute unterzogen mit dem Ziel, möglichst hohe wissenschaftliche Standards zu erreichen. 4 Editorial Eine Zeitschrift ist allerdings nur so gut wie ihre Inhalte. Daher werden alle interessierten KollegInnen aus den Theater-, Literatur-, und Medienwissenschaften aufgefordert, durch Ihre Einsendungen FMT noch besser zu machen. Christopher Balme, München, im Mai 2007.
