eJournals Forum Modernes Theater 22/1

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0601
2007
221 Balme

Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft

0601
2007
Doris Kolesch
fmth2210007
Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft. Perspektiven einer theaterwissenschaftlichen Emotionsforschung Doris Kolesch (Berlin) Für Erika Fischer-Lichte, eine leidenschaftliche Wissenschaftlerin Zur Konjunktur von Gefühlen Gefühle haben Konjunktur. Waren sie bis vor wenigen Jahren legitime Gegenstände von Psychologie und Psychoanalyse wie auch der Literatur- und Kunstwissenschaften, interessieren sich nunmehr verstärkt Disziplinen für die Erforschung von Emotionen, die diesen bislang eher eine marginale Rolle zugewiesen hatten. So entdeckt die Philosophie in den letzten Jahren zunehmend die Bedeutung von Emotionen insbesondere auch für kognitive Prozesse und für die Leistungen von Vernunft und Rationalität. In der Soziologie, aber auch in der Geschichtswissenschaft kommen Emotionen als soziales Bindegewebe von Gesellschaft in den Blick, als Formen sozialer Interaktion, die entscheidend zur Konstitution von Gruppen und Gemeinschaften beitragen, die Legitimität gesellschaftlicher Regeln, Normen und Institutionen stützen oder auch bedrohen und schließlich an Prozessen sozialer Ausgrenzung teilhaben. Doch nicht nur die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften beschäftigen sich mit der menschlichen Emotionalität, auch Biologie, Neurobiologie, Neurowissenschaften und Genetik - um nur einige führende Disziplinen zu nennen - suchen mit ihren Mitteln die Verfasstheit und Funktion von Emotionen zu ergründen. Und es sind nicht zuletzt die Erkenntnisse und Ergebnisse der naturwissenschaftlich orientierten Emotionsforschung - beispielsweise in Bezug auf Depressionen, Angst und Furcht oder auch Lust und Freude -, welche die geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächer, die sich bislang als rechtmäßige Experten für Gefühle und Affektivität verstanden hatten, unter Druck setzen. In dieser oft polemischen und einseitig überzeichneten Debatte, in der bisweilen gar die vollständige Ersetzung geistes- und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen durch die empirischen, vermeintlich “harten” Wissenschaften suggeriert wird, scheint gerade die Differenzierung und Bündelung unterschiedlichster Forschungsansätze, -methoden und -perspektiven unabdingbar. Ich bin davon überzeugt, dass solch komplexe Phänomene und Prozesse wie Emotionen nur durch die gemeinsame Anstrengung verschiedener Disziplinen adäquat erhellt werden können. Dies setzt zum einen eine wechselseitige Offenheit, Neugier und Gesprächsbereitschaft zwischen natur- und geistessowie sozialwissenschaftlichen Fächern voraus. Zum anderen aber erfordert es eine Schärfung und Stärkung der jeweiligen disziplinären Kompetenz bezüglich der Erforschung von Emotionen. Hier sehe ich eine besondere Chance für die Theaterwissenschaft, die sich historisch wie systematisch-analytisch in zentraler Weise mit Emotionen auseinandergesetzt hat bzw. setzt. Die nachfolgenden Ausführungen sind daher als Plädoyer zu verstehen, dass eine kulturwissenschaftlich orientierte Theaterwissenschaft in den derzeit virulenten Diskussionen um Emotionen ein gewichtiges Wort mitreden kann und auch mitreden sollte. Dabei soll der vielleicht etwas apodiktisch klingende Titel meines Beitrags, “Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft”, darauf hinweisen, dass ich die Beziehungen zwischen Theaterwissenschaft und Kulturwissenschaft nicht als mehr oder weniger friedliche Koha- Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 7-15. Gunter Narr Verlag Tübingen 8 Doris Kolesch bitation der beiden Disziplinen auffasse, sondern als Möglichkeit, die Theaterwissenschaft kulturwissenschaftlich zu perspektivieren ebenso wie die Kulturwissenschaft um theaterwissenschaftliche Methoden, Begrifflichkeiten und Orientierungen zu erweitern. Um diese wechselseitige Erhellung von Theater- und Kulturwissenschaft darzulegen und ihr Potential hinsichtlich der Erforschung von Emotionalität exemplarisch anzudeuten, gehe ich im Folgenden in drei Schritten vor: Zunächst entfalte ich in der gebotenen Kürze das interdisziplinäre Forschungsfeld der Theaterwissenschaft, die ihren Gegenständen meines Erachtens nicht gerecht werden kann, wenn sie sich ausschließlich als Kulturwissenschaft versteht, sondern nur dann, wenn sie sich zugleich als Kunst-, Medien- und Kulturwissenschaft profiliert. Die diesbezüglichen einleitenden Ausführungen sollen mithin vermeiden, dass der Titel meines Beitrags als zureichende Bestimmung theaterwissenschaftlichen Tuns missverstanden wird. Vor diesem Hintergrund kann dann im zweiten und dritten Schritt meiner Überlegungen die Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft im Zentrum stehen, deren Leistungsfähigkeit am Beispiel der Theatralität von Emotionen erwiesen werden soll. Dabei zeige ich zunächst an einem zentralen Text der schauspieltheoretischen Debatten des 18. Jahrhunderts, nämlich Denis Diderots Paradoxe sur le Comédien, dass eben diese Berücksichtigung der Theatralität von Emotionen erlaubt, das Paradoxe als mehr und anderes denn eine Reflexion über das Schauspiel zu lesen, nämlich als kulturtheoretischen Entwurf über die Bedingungen bürgerlicher Subjektivität. Unter Rekurs auf aktuelle Phänomene der Alltagskultur wie auch auf die derzeitige Theoriebildung zu Emotionen lege ich schließlich im dritten und letzten Schritt dar, welche innovativen Einsichten ein theaterwissenschaftlich geschulter Blick auf Emotionen nicht nur für historische Gegenstände, sondern gerade auch für gegenwärtige Problemstellungen vermitteln kann. Theaterwissenschaft als interdisziplinäres Forschungsfeld Wie schon erwähnt, soll die in diesem Beitrag vorgenommene Fokussierung auf Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft keineswegs suggerieren, Theaterwissenschaft könne hinreichend oder gar ausschließlich als Kulturwissenschaft betrieben werden. Daher seien hier in aller Kürze die kunst- und medienwissenschaftlichen Perspektivierungen von Theaterwissenschaft zumindest angesprochen, bevor im Weiteren die Möglichkeiten und Chancen einer kulturwissenschaftlich orientierten Theaterwissenschaft im Zentrum stehen. Eine Theaterwissenschaft, die sich als Kunst-, Medien- und Kulturwissenschaft versteht, ist kein Sammelbekken, keine Addition dieser drei Disziplinen, sondern hat sowohl aus ihrer recht jungen institutionellen Geschichte als auch aus den spezifischen Gegenstands- und Phänomenbereichen, die sie in den Blick nimmt, gelernt, dass es der interdisziplinären Verknüpfung dieser drei unterschiedlichen Perspektivierungen bedarf, um der Komplexität von Theater und theatralen Situationen gerecht zu werden. Damit, das sei hier en passant erwähnt, ist die Theaterwissenschaft konstitutiv auf Forschungen anderer Disziplinen angewiesen, zugleich bietet sie sich aufgrund dieser interdisziplinären Ausrichtung und aufgrund der Tatsache, dass theatrale Aufführungen häufig nicht nur Kunstereignisse darstellen, sondern auch soziale, politische, wirtschaftliche oder gar religiöse Ereignisse, für die Kooperation mit anderen Fächern in besonderer Weise an. Die starke Beteiligung theaterwissenschaftlicher Kolleginnen und Kollegen an interdisziplinären Forschungsprojekten und Forschungsverbünden bestätigt diesen Umstand. Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft 9 Die kunstwissenschaftliche Orientierung der Theaterwissenschaft kann bis zu ihrer Gründung im deutschsprachigen Raum zu Beginn des letzten Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Es war der Germanist Max Herrmann, der mit der Differenzierung von Drama und Aufführung letztere als genuinen Gegenstand der Theaterwissenschaft bestimmte, und zwar in Absetzung von der dramenorientierten Literaturwissenschaft. In seinen Forschungen zur Deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance kritisiert Herrmann im Jahre 1914, dass selbst die Spezialisten des Theaters noch immer dramatische Dichtung einerseits und Bühnenwesen oder Theateraufführung andererseits durcheinander werfen. 1 Wenn Herrmann angesichts dieser Situation betont: “Bei der Theaterkunst ist die Aufführung das Wichtigste”, 2 wird damit eine Perspektive eröffnet, die vor allem seit den späten 1960er Jahren die Theaterwissenschaft nachhaltig geprägt hat. Erforscht werden Fragen der ästhetischen Verfasstheit von Aufführungen, Aspekte ihrer produktionswie rezeptionsästhetischen Spezifik, aber auch kunstkomparative Dimensionen, wie das - bis heute nicht wirklich geklärte - Verhältnis von dramatischem Text und Aufführungstext, die Ikonographie von malerischem bzw. photographischem Bild und theatraler Szene oder die Relation von Schauspieltheorie zu Literatur-, Musik- oder auch Bildtheorie. Nun zeichnet sich Theater durch das strukturierte Zusammenspiel verschiedenster Medien und Materialien aus. Eine medienwissenschaftlich orientierte Theaterwissenschaft untersucht vor diesem Hintergrund den Einsatz unterschiedlicher, nicht nur technischer Medien auf der Bühne. Sie thematisiert Möglichkeiten und Grenzen des Medienwechsels ebenso wie das Verhältnis von Theater und theatralen Situationen zu historischen Medienumbrüchen, beispielsweise zu neuen technischen Medien wie Film, Fernsehen, Video, aber auch zu darstellungs- und wahrnehmungstheoretischen Innovationen wie der Zentralperspektive. In den letzten Jahren schließlich konnten Forschungen zur Intermedialität, also zur Frage, wie Theater Darstellungsmuster und Wahrnehmungskonventionen anderer Medien zitiert, imitiert, reflektiert oder auch kommentierend transformiert, innovative Impulse setzen. Eine so perspektivierte Theaterwissenschaft rückt von bis heute sowohl in einem Teil der Theaterpraxis als auch der Theorie anzutreffenden medienpuristischen Vorstellungen ab, die Theater auf die konkrete leibliche Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern beschränken und den Einsatz technischer Medien wie Film, Video, Mikrophon weitgehend minimieren wollen. Eine medienwissenschaftlich informierte und sensibilisierte Theaterwissenschaft hingegen betrachtet produktive Medienkollisionen in historischer wie struktureller Hinsicht als konstitutiv für jegliche Form von Theater und ist entsprechend gefordert, in einen produktiven Dialog mit Medientheorie wie Mediengeschichte zu treten. Mit diesen äußerst knappen Skizzen einer kunst- und medienwissenschaftlichen Perspektivierung der Theaterwissenschaft ist nun, so hoffe ich, der Entwurf einer kulturwissenschaftlich orientierten Theaterwissenschaft ausreichend im Kontext des interdisziplinären Forschungsfeldes der Theaterwissenschaft situiert. Weder ist dabei davon auszugehen, dass die drei hier genannten Dimensionen klar voneinander geschieden werden können, noch, dass immer alle drei Aspekte gleichberechtigt und gleichgewichtig behandelt werden können oder gar müssen. Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft beruht auf einer grundlegenden Öffnung der Theaterwissenschaft, die Erscheinungsweisen, Gebäude und Institutionen des Kunsttheaters im engeren Sinn verlässt, um sich auch den vielfältigen Formen und Funktionen von Theatralität, verstanden als grundlegendem kulturellen und kulturkonstituierenden Fak- 10 Doris Kolesch tor, zuzuwenden. Damit schwärmt die Theaterwissenschaft gleichsam in außerkünstlerische Bereiche der Gesellschaft aus und untersucht alle Arten von cultural performances (Milton Singer) wie Feste, Rituale, Spiele oder Sportveranstaltungen, aber auch alltägliches soziales Verhalten, das der Soziologe Erving Goffman schon in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts unter Rekurs auf Theaterbegrifflichkeit analysiert hat. Auch für die Kulturgeschichtsschreibung sind die Forschungen zu Theatralität relevant, insofern zum einen das Verhältnis von Theater zu anderen Genres kultureller Aufführungen im geschichtlichen Verlauf thematisiert wird, zum anderen aber auch die Relation von Theater zu alltäglichen theatralen Verhaltensformen. Aus diesem Spektrum einer möglichen kulturtheoretischen wie kulturgeschichtlichen Neuperspektivierung zentraler Begrifflichkeiten und Phänomene unseres sozialen Lebens stammt auch das Beispiel, auf das ich mich im Folgenden beziehe, um die Leistungsfähigkeit und das Potential von Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft aufzuzeigen, nämlich die Theatralität von Emotionen: Emotionen erscheinen als hervorragend geeigneter Gegenstandsbereich einer kulturwissenschaftlichen Theaterwissenschaft, weil Gefühlen in Theaterpraxis wie Theatertheorie schon immer ein zentraler Stellenwert zukam. Darüber hinaus spielen Emotionen eine grundlegende Rolle für die Konstitution sowohl von Subjektivität als auch von Sozialität, ja in ihnen durchdringen sich beide Ordnungen unauflöslich. Zum einen kann man mit Fug und Recht das abendländische Theater als Gefühlsmaschinerie bezeichnen. Emotionen kommen dabei als Gegenstand von Repräsentation und Darstellung in den Blick, aber auch als intendierte Wirkungsabsicht beim Publikum. In produktionsästhetischer Perspektive geht es um die Frage, welche Gefühle von einem Schauspieler oder einer Schauspielerin auf welche Weise dargestellt werden können bzw. dürfen; problematisiert werden in diesem Zusammenhang spezifische Inhalte, aber auch bestimmte Formen der Darstellung. In rezeptionsästhetischer Perspektive wird gefragt, welche Gefühle in welcher Form beim Zuschauer einer theatralen Aufführung erzeugt werden können und dürfen. Von der antiken Rhetorik, die den Redner in kritische Analogie zum Schauspieler setzt und zur affektiven Überwältigung des Publikums empfiehlt, die zu erzeugenden Emotionen zunächst im Rhetor oder im Schauspieler selbst zu erregen, über die 1727 veröffentlichte Schrift Dissertatio de Actione Scenica des Jesuitenpaters Franciscus Lang, die als Summa der Bühnen- und Schauspielpraxis des jesuitischen Schultheaters im 17. und 18. Jahrhundert gelten kann und die die Schauspielkunst bestimmt als “die schickliche Biegsamkeit des ganzen Körpers und der Stimme, die geeignet ist, Affekte zu erregen”, 3 über die Debatten im 18. und 19. Jahrhundert über den kalten Schauspieler oder das natürliche Gefühl bis hin zur Werbekampagne eines großen deutschen Stadttheaters, das in der letzten Saison verkündete: “Hier können sie Gefühle abonnieren”, sind Theater und Emotion auf engste miteinander verknüpft. Zum anderen müssen Emotionen als Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschung ernst genommen werden, insofern sie zu jeder Zeit und in jeder Kultur vorkommen, wenn auch mit erheblichen Differenzen und Akzentuierungen. Wir können Gefühle gestalten und stilisieren, wir können sie unterdrücken oder auch stimulieren und bewusst erzeugen, doch können wir nicht nicht fühlen. Wir haben Gefühle und sind uns zugleich in ihnen gegeben, wir sind Subjekt und Objekt unserer Emotionen in einem. In Emotionen erfahren wir in komplexer, leiblicher Weise unser In-der-Welt-Sein und unsere soziale Einbindung, unsere Interaktion mit anderen Menschen wie auch unsere Abhängigkeit von ihnen. Eine theaterwissenschaftlich geschulte Perspektive auf Emotio- Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft 11 nen ist nun, so meine These, in besonderer Weise geeignet, die bis heute dominante bürgerliche Gefühlskultur zu beleuchten und Einsicht in die Gemachtheit, die Inszeniertheit und Theatralität von Emotionen zu vermitteln, welche vom noch immer vorherrschenden psychologischen und innerweltlichen Gefühlsverständnis eher verdeckt wird. Gemachte Gefühle Ich komme damit zum zweiten Teil meiner Ausführungen: dem kulturwissenschaftlich perspektivierten Blick auf historische Phänomene von Theaterpraxis wie Theatertheorie, den ich exemplarisch an Denis Diderots Paradoxe sur le Comédien, einem Schlüsseltext des sich etablierenden bürgerlichen Theaters entfalten möchte. Im 18. Jahrhundert wandelt sich die Auffassung von Emotionalität grundlegend, die bis dato gültige Affektenlehre wird abgelöst von einer Theorie der Gefühle, die letztere als individuelle psychologische Zustände eines Subjekts konzipiert. Diese Veränderungen schlagen sich nicht zuletzt in der zeitgenössischen Schauspieltheorie nieder. Diderots Paradoxe, geschrieben zwischen 1769 und 1778, jedoch erst 1830 im Druck veröffentlicht, gilt neben Francesco Riccobonis 1750 publizierter L’art du théâtre und Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik aus dem Jahre 1785 als innovativer und moderner Gegenentwurf zu der bis dahin vorherrschenden rhetorischen Tradition des empfindungsvollen, des - metaphorisch gesprochen - heißen Schauspielers, wie sie von Rémond de Sainte-Albine (Le Comédien von 1747), aber zuvor auch von Jean Baptiste Dubos (Réflexions critiques sur la poésie et la peinture von 1719) oder von Johann Georg Sulzer noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts vertreten wird (Allgemeinen Theorie der schönen Künste, 1794). Das Paradoxe gehört zu den wohl wichtigsten und meistdiskutierten schauspieltheoretischen Texten der Neuzeit. Gleichwohl ist die Forschungslage zu dieser Schrift erstaunlich wenig differenziert. Zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vertreten bis heute die These, im Paradoxe sur le Comédien ginge es um den Konflikt zwischen Gefühls- und Verstandesschauspieler, und der erste Gesprächspartner des als Dialog formulierten Textes repräsentiere Diderots Position, während der zweite Gesprächspartner sozusagen als Sprachrohr von Antonio Sticotti fungiere, der 1769 eine Schrift mit dem Titel Garrick, ou les acteurs anglois publiziert hatte, gegen die sich Diderot scharf wendet. 4 Das im Titel formulierte Paradox erweist sich im Laufe des Textes als Bündelung verschiedener paradoxer Konstellationen. Hier seien nur die wichtigsten genannt: 1) Damit das Theater die Illusion von Wirklichkeit erzielen kann, darf es diese nicht einfach imitieren, darf auf der Bühne nicht einfach Alltagshandeln stattfinden. 2) Der kalte, emotional unbeteiligte Schauspieler erregt und überzeugt den Zuschauer mehr als der selbst erregte und emotional beteiligte Schauspieler. 3) Der Schauspieler ist nur Schauspieler, weil und insofern es ein Publikum gibt; ebenso ist der Zuschauer nur Zuschauer, weil und insofern es Schauspieler und ein von ihnen gezeigtes Schauspiel gibt. Beide Tätigkeiten - Schauspielen wie Zuschauen - sind keine unvereinbaren Wesenheiten, sondern Funktionsdifferenzierungen, die dem Menschen je nach Situation offen stehen. So wie wir im Dialog - und nicht zufällig ist das Paradoxe sur le Comédien als Dialog verfasst - sowohl Sprecher als auch Zuhörer sind, argumentiert Diderots Text gewitzt und mit Verve dafür, dass der Mensch, und zwar im Theater ebenso wie in der Gesellschaft, niemals nur Schauspieler oder nur Zuschauer ist, sondern immer beides, mal Zuschauer, mal Schauspieler, häufig abwechselnd, bisweilen aber auch simultan. Entsprechend lese ich Diderots Paradoxe nicht nur als schauspieltheoreti- 12 Doris Kolesch schen Text, der er unzweifelhaft ist, sondern auch als anthropologisches und kulturtheoretisches Modell der Ausbildung einer modernen, aufgeklärten Subjektivität. Denn das Theater kommt im Paradoxe als ästhetische Praxis der Erzeugung und Selbsterfahrung des bürgerlichen Individuums in den Blick, für das Darstellen und Zuschauen keine sich ausschließenden Gegensätze bilden, sondern komplementäre, sich wechselseitig bedingende Momente der eigenen Identität. In der Kunst des Theaters wachsen der Schauspieler im Schauspiel und der Zuschauer beim Zuschauen über sich selbst als einzelnes Individuum hinaus, was Diderot als Wahrheit des Spiels bezeichnet. Für den Akteur bedeutet dies, dass ihm Handlungen und Verhaltensweisen möglich werden, die nichts mit seiner historischen Person und mit seinem jeweils individuellen Charakter zu tun haben müssen. Dem Zuschauer eröffnet dies die Chance, dass ihm etwas einsichtig gemacht wird, was er in bloßer Beobachtung oder Reflexion seiner selbst nicht - oder zumindest nicht so leicht - erkennen könnte. “Empfindsam sein ist etwas anderes als empfinden. Das eine ist eine Sache der Seele, das andere eine Sache der Urteilskraft”. 5 Um Empfindsamkeit als Form von Urteilskraft geht es Diderot, und er will dieses moralischpolitische Erziehungsprogramm des Bürgers mithilfe des Theaters verwirklichen. Denn die Konstitution von Subjektivität ebenso wie die Ausbildung von Empfindsamkeit werden im Theater durch eine ästhetische Praxis eingeübt, in der Darstellung, also Schauspiel, und Wahrnehmung, also Zuschauen und Zuhören, untrennbar aufeinander bezogen sind. Kühler Schauspieler und erregter Zuschauer kommen so als die beiden Seiten des bürgerlichen Subjekts in den Blick, die zusammengehören wie die zwei Seiten einer Medaille. Im Laufe des Textes dreht, wendet und spiegelt Diderot beständig die Beurteilung von kaltem Schauspiel und empfindsamer Wahrnehmung. Denn die Fähigkeit zur kühl-kalkulierenden Täuschung ebenso wie zum unreflektierten empfindsamen Überschwang wird von Diderot je nach Positionierung im Spielfeld von Individuum und Gesellschaft gegensätzlich bewertet. Was beim Schauspiel gesellschaftlicher Repräsentation moralisch zweifelhaft erscheint, nämlich das kalte Herz des Galanten, erweist sich beim Bühnenschauspiel als Geist und Genie; was beim Empfindsamen im Kreis der Gesellschaft geistige Schwäche signalisiert, macht ihn als Zuschauer im Theater zum kongenialen Prototyp des tugendhaften Menschen. 6 Denn so wie der erste Sprecher vom Schauspieler im Theater “sehr viel Urteilskraft”, kühle und ruhige Beobachtung, sowie “Scharfblick”, aber “[k]eine Empfindsamkeit” verlangt, 7 damit er das Publikum überzeuge, fordert er in einer alltäglichen Situation wie dem Gespräch unter Freunden spontane innere Bewegung, eine versagende Stimme, Weinen und tiefe innere Empfindung, um bei den Gesprächspartnern “Staunen und Rührung” zu wecken. 8 Diese Spiegelungen führt Diderot schließlich so weit, dass der empfindsame Zuschauer im Theater als reale Emotion erlebt, was der Schauspieler auf der Bühne als Illusion authentischen Empfindens kühl kalkulierend konstruiert. Die rationale Darstellung wird zur Voraussetzung dafür, dass der Zuschauer sich in seiner Empfindsamkeit selbst gewahr wird. Damit geht es Diderot gerade nicht um ein Auseinanderdividieren von Rationalität und Emotionalität, nicht um eine Trennung von Reflexion und Unmittelbarkeit, sondern um die Möglichkeit authentischer Erfahrung als Resultat der Beobachtung (des reflektierten Verhaltens) anderer, man könnte auch sagen: um Unmittelbarkeit als Effekt von Mittelbarkeit. 9 Emotionsszenarien Ich komme damit zum dritten und letzten Punkt meiner Ausführungen, der vom Nut- Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft 13 zen der Theaterwissenschaft für die Erforschung des fundamentalen kulturellen Phänomens der Emotionen handelt. Dabei verlasse ich das 18. Jahrhundert und nehme auf aktuelle Beispiele und Theorien Bezug. Zu den wesentlichen Klischees über Gefühle in unserer Kultur zählt, dass Gefühle spontan und unkontrollierbar seien, dass sie innere Zustände eines Subjekts und bloßes, oft störendes Ornament von Verhaltensweisen, Handlungen oder Situationen seien, dass sie ein evolutionär rudimentäres Moment menschlicher Vermögen darstellen und dass sie schließlich das Gegenteil von Verstand und Rationalität bilden, weshalb man sich nicht zu sehr und - wenn überhaupt - nur in bestimmten Situationen auf sein Gefühl verlassen soll. Eine solche, bis heute im Alltagsverständnis dominierende Auffassung kann als Kern der bürgerlichen Gefühlskultur präzisiert werden, wie sie sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in Europa herausgebildet hat, wenngleich, wie ich am Beispiel Diderots zu zeigen versuchte, schon am Beginn der bürgerlichen Gesellschaft ein anderes und weit komplexeres Verständnis des Gefühlsgeschehens und seiner Leistungen existierte. Die Schriften Jean-Jacques Rousseaus stehen exemplarisch für die Ablösung des bis dato gültigen Erfahrungswissens der Affektenlehre und einer rhetorisch disziplinierten eloquentia corporis, die allmählich durch ein psychologisch fundiertes Ausdrucks- und Aufrichtigkeitskonzept ersetzt wird, das eine quasi-natürliche, das vermeintliche Innere des Menschen offenbarende eloquentia cordis postuliert. Nicht erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts lassen sich jedoch vielfältige Ablösungs- und Transformationsprozesse beobachten, die dazu führen, dass etablierte Muster emotionalen Verhaltens brüchig werden und dass das gewohnte, über Generationen weitgehend konstante Gefühlsrepertoire mit seinen jeweiligen Formen des Handelns, Wahrnehmens und Interpretierens allmählich schwindet oder entwertet wird, ohne dass eine neue Ordnung (oder Unordnung) der Emotionen schon wirklich Kontur gewonnen hätte. Aufgeregte Diskussionen über emotionale Intelligenz, Ratgeberliteratur, die in der Manier eines Kochrezepts beschreibt, was zu tun und zu lassen sei, um romantische Liebe zu erleben, oder die exhibitionistische Ausstellung vermeintlich intimster Gefühle vor einem Massenpublikum im Fernsehen sind nur einige wenige Indizien für eine solche Veränderung. Auch die mediale Inszenierung großer Gefühle bei so unterschiedlichen Ereignissen wie Wahlkämpfen, Fußballweltmeisterschaften, Naturkatastrophen oder den Trauerfeierlichkeiten für Papst Johannes Paul II. ist kaum mehr mit den angestammten Begriffen und Modellen bürgerlicher Gefühlskultur angemessen zu beschreiben. Meine These ist nun, dass diese aktuellen Beispiele der Populärkultur durch einen theaterwissenschaftlich geschulten Blick erhellt werden können, insofern dieser die Gemachtheit, die Inszeniertheit, ja die Aufführung von Emotionen zu thematisieren erlaubt. Gefühle kommen somit nicht als innere Zustände eines Subjekts in den Blick, die ausgedrückt werden, so wie man den Saft einer Zitrone ausdrücken kann, sondern als Effekte komplexer Prozesse des - bewussten oder unbewussten - Wahrnehmens und Darstellens, des Zeigens, Beobachtens und Interpretierens, bei denen verschiedene Materialien, Medien und symbolische Systeme zusammenwirken. Entsprechend geht Ronald de Sousa in seiner einflussreichen philosophisch-kulturtheoretischen Studie zur Rationalität des Gefühls davon aus, “dass unsere Gefühle eher erlernt werden, etwa so wie eine Sprache, und dass sie eine wesentlich dramatische Struktur haben. […] Solche ursprünglich fixierenden Dramen nenne ich Schlüsselszenarien”. 10 Die Rede von der dramatischen Struktur ist dabei mehr als eine erhellende Metapher. 14 Doris Kolesch Ich interpretiere de Sousas Ausführungen so, dass er darunter eine intelligible Form, eine Verkettung von Handlungs-, Reaktions- und Bewertungsmustern versteht, die menschliches Verhalten bedingt und hervorbringt. Diese Form jedoch existiert paradoxerweise nur im Moment ihres jeweiligen Vollzugs und im Modus beständiger Veränderung und sozialer Aushandlung. Wir haben es mit einem Ineinander von materieller Verfestigung und gleichzeitiger Verflüssigung, mit so flüchtigen wie prägenden Gesten, Handlungen und Körperhaltungen zu tun. Schlüsselszenarien wären damit theatrale Szenen, die kurzzeitig eine bestimmte Konfiguration von Erfahrungen, Verhaltensweisen, Normen, Traditionen und Werten in einem anschaulichen Tableau vivant inkorporieren. In Schlüsselszenarien werden Emotionen exponiert; sie werden so einsehbar, wahrnehmbar und nachahmbar. Gleichzeitig aber können sie dadurch auch der Kritik oder gar Parodie ausgesetzt werden und möglichen Veränderungs- und Historisierungsprozessen unterliegen. Noch einmal de Sousa: Wir werden mit dem Gefühlsvokabular vertraut gemacht, indem wir es mit Schlüsselszenarien assoziieren lernen. Anfangs, solange wir klein sind, beziehen wir diese Szenen aus unserem alltäglichen Leben; später verstärkt aus Geschichten, Kunst und Kultur. Noch später werden sie, in Lesekulturen, ergänzt und verfeinert durch Literatur. 11 Die Szenen des alltäglichen Lebens, in denen das Kind durch Interaktion mit seinen Mitmenschen und seiner Umwelt die Wahrnehmung und Darstellung differenzierter Gefühle ebenso erlernt wie den normativen Umgang mit ihnen, sind theatral im Sinne einer konkreten raumzeitlichen Szene, in denen Personen leibhaftig und in Kopräsenz agieren. Sicherlich vermitteln in “Lesekulturen” Literatur und sprachliche Diskurse dem heranwachsenden wie auch dem erwachsenen Menschen ein äußerst vielfältiges und nuanciertes Gefühlsvokabular. Der französische Moralist La Rochefoucauld (1613-1680) betont bereits im späten 17. Jahrhundert in seinen Maximen: “Es gibt Leute, die nie verliebt gewesen wären, wenn sie nie von der Liebe hätten sprechen hören”. 12 Allerdings muss aus theater- und kulturwissenschaftlicher Perspektive betont werden, dass sich de Sousas oben zitierte Darstellung zu stark und vor allem zu einseitig am Modell der Schrift- und Textkultur orientiert. Wie nämlich Gefühle verkörpert werden, wie sie sich körperlich manifestieren, welche Mimik, welche Gesten und welche Körperhaltungen jeweils mit bestimmten Emotionen assoziiert werden, welche Haltung beispielsweise bei Freude erlaubt, ja geradezu angezeigt ist, bei Trauer hingegen tabuisiert wird, dafür ist nicht nur die Literatur zuständig. Hier spielen - neben biologischen Gegebenheiten - theatrale Konstellationen und performative Prozesse in allen gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen, im Alltag ebenso wie bei herausgehobenen Festlichkeiten, Zeremonien und Feiern, eine fundamentale Rolle. Denn in diesen Situationen des gleichzeitigen Zeigens und Beobachtens, des Vorführens, Inszenierens und Wahrnehmens von Stimmungen und Gefühlen werden Werte, Normen, Auffassungen und Vorstellungen in und durch Körperakte aktualisiert und inkorporiert. Der Körper kommt dabei in vielfältiger Weise ins Spiel: als leibliches Spüren auf der phänomenologischen Ebene; als Agens der Konstitution und als Medium der Symbolisierung und affektiven Besetzung sozialer Beziehungen, aber auch individueller wie kollektiver Identitäten; als Ort der Austragung, der Aushandlung und zugleich Wirkung gesellschaftlicher Machtverhältnisse; sowie schließlich als treibende Kraft und Träger von Emotionen. Bei politischen, religiösen oder kulturellen Festen und Zeremonien, bei der Zelebrierung von Messen, bei militärischen Paraden, bei schauspielerischen Darstellungen im Theater, beim Tanzen auf Theaterwissenschaft als Kulturwissenschaft 15 einem öffentlichen Ball, bei Prüfungssituationen in Schule und Universität, bei Sportveranstaltungen wie auch bei alltäglichen Gesten der Begrüßung, der höflichen Aufmerksamkeit oder des Abschieds - um nur einige wenige Beispiele zu nennen - werden in und mit jeweils spezifischen Körpervollzügen und Körperhandlungen auch jeweils spezifische Vorstellungen von Gemeinschaft, Geschlecht, Klassenzugehörigkeit, sozialem Status und normativen Gefühlsrepertoires performativ hervorgebracht und zugleich verkörpert. Derartige theatrale gesellschaftliche Prozesse vollziehen sich als Re-Produktion, als wiederholende Aktualisierung und als davon gleichzeitig differierende Neuformierung kultureller Werte und Normen. Damit eröffnet ein theatralitäts- und performativitätstheoretisch orientiertes Konzept von Emotionalität ein Verständnis von Kultur und gesellschaftlichem Zusammenleben, welches das Tun vor die Idee, die Handlung vor das Konzept setzt oder zumindest beide als gleichursprünglich und sich wechselseitig fundierend auffasst. Gerade die genuinen Perspektiven und Methoden der Theaterwissenschaft erweisen sich, so hoffe ich gezeigt zu haben, als viel versprechende Mittel, um einen entscheidenden Beitrag zu einer kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung zu leisten. Anmerkungen 1 Vgl. Max Herrmann, Forschungen zur Deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin 1914, S. 3-4. 2 Herrmann, Forschungen zur Deutschen Theatergeschichte, S. 118. 3 Franciscus Lang, Dissertatio de Actione Scenica cum Figuris eandem explicantibus, et Observationibus quibusdam de arte comica / Abhandlung über die Schauspielkunst, übers. und hrsg. von Alexander Rudin, Nachdruck der Ausgabe Ingolstadt 1727, Bern u.a. 1975, S. 163. 4 Sticottis Schrift ist eine Übersetzung von John Hills The Actor, die unter anderem die auch von Rémond de Sainte-Albine vertretene Ansicht propagierte, dass die Darstellung von Liebe am besten den Schauspielerinnen und Schauspielern gelänge, die selbst verliebt (ineinander) seien. 5 Denis Diderot, “Das Paradox über den Schauspieler”, in: Denis Diderot, Ästhetische Schriften. Bd. II, hrsg. von Friedrich Bassenge, Berlin 1984, S. 481-539, S. 530. 6 Vgl. Hermann Kappelhoff, Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004, S. 74. 7 Diderot, “Paradox über den Schauspieler”, S. 484. 8 Diderot, “Paradox über den Schauspieler”, S. 490. 9 Ohne dass dies hier weiter ausgeführt werden kann, sei zumindest angemerkt, dass ein wesentliches Dispositiv des Diderotschen Theaterverständnisses, die Vierte Wand, ebenfalls ein Mittel zur Herstellung von Unmittelbarkeit darstellt, insofern die künstliche Distanzierung der Schauspieler vom Publikum dazu führt, dass das Publikum intellektuell wie emotional desto stärker in das Bühnengeschehen hineingezogen wird. 10 Ronald de Sousa, Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt/ M. 1997, S. 12. 11 de Sousa, Rationalität des Gefühls, S. 298. 12 La Rochefoucauld, Maximen und Reflexionen, Stuttgart 1983, Maxime 136, S. 21.