Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2007
221
BalmeSchauspiel durch Medien um 1900
0601
2007
Wolf-Dieter Ernst
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Schauspiel durch Medien um 1900. Die verdeckte Funktion der Techne bei Konstantin Stanislawski und Alexander Moissi Wolf-Dieter Ernst (München) Schauspiel durch Medien: Ein Plädoyer, die theatrale Repräsentation als rhetorische Techne zu begreifen Schaut man sich die aktuelle Theaterlandschaft an, so scheint die ‘Medienfrage’ in den darstellenden Künsten ihren experimentellen Status verlassen zu haben. In aktuellen Inszenierungen der etablierten Theater jedenfalls wird der Schauspieler mehr denn je von Medienapparaten begleitet. Videokameras nehmen sein Spiel ab, wie in jüngeren Arbeiten von Frank Castorf und Stefan Pucher zu sehen. Großaufnahmen zitieren besonders eindrucksvolle Mimiken. Vorher gestaltetes Material bereichert als elektrische Teichoskopie den Ort des Geschehens um einen Ort der Erinnerung. Mikro-Ports und Sound-Editing sind ebenso Standard wie Drehbühne und Lichtdesign. So die häufigsten medialen Effekte, mit denen die Experimente der Performance Kunst, Video Art und Closed Circuit Installationen ins Erzähltheater Einzug halten. Dabei scheinen sich im aktuellen Theater zwei Verfahren des Medieneinsatzes heraus zu bilden. Zum einen der Einsatz als dramaturgisches Mittel, zum anderen der Einsatz als rhetorische Technik. Als dramaturgisches Mittel dienen mediale Effekte der Darstellung, helfen den Spannungsbogen zu etablieren. Als rhetorische Technik sind Medien selbst der Raum der schauspielerischen Darstellung. Sie sprengen die geschlossene Form auf und spielen sich selbst als Quasi-Akteur in den Vordergrund. Im Folgenden geht es nun nicht um die Wiederaufnahme möglicher normativer Bestimmungen oder gar um eine Wertung dieser Verfahren. Nicht also, ob der Medieneinsatz der einen oder anderen Art dem Schauspiel dienlich sei, soll hier zur Diskussion stehen. Vielmehr wird die Unterscheidung von dramaturgischen Mitteln und rhetorischen Techniken bemüht, um die Medienfrage nicht als aktuelles Phänomen, sondern eher als strukturelles Problem jeder szenischen Darstellung und ihrer Technik zu diskutieren. Technik meint hier freilich nicht einen Technizismus, der den jeweiligen Stand der Medientechnik zum Inbegriff der Erkenntnis erklärt. Differenzierter gedacht, wäre von Medientechnik als einer darstellungstheoretischen Größe auszugehen, insofern eine Darstellung immer bereits technisches Denken und Entwerfen erfordert und aktualisiert. Die jeweiligen apparativen Konfigurationen, die Leinwände, Bildschirme und Lautsprecher auf der Bühne sind dann lediglich als spezifische Ausformulierungen dieses Denkens anzusehen. Als rhetorische Technik verstanden ist Technik also nicht Mittel, dient nicht der Darstellung, sondern sie trägt selbst Züge einer Darstellung. Man findet sie immer dort, wo sich Produktionsweisen herausgebildet haben, die die Unabhängigkeit der Bühnenmittel propagieren. Anders formuliert: Es wird dann nicht mehr eine zuvor verfasste Geschichte dargestellt, sondern der Prozess des In-Szene-Setzens selbst als einem fragilen Zusammenspiel der Elemente des Theaters vollzieht sich. Ein Lichteinsatz, eine Kamera nehmen den gleichen Stellenwert ein, wie ein Schauspieler oder ein Regisseur. Solcher Art haben wir es mit einer Darstellung des Darstellens zu tun. Sie ist daran erkenntlich, dass keines der Elemente ersetzbar wäre durch ein Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 33-45. Gunter Narr Verlag Tübingen 34 Wolf-Dieter Ernst anderes Bühnenmittel, ohne die Darstellung grundlegend zu ändern und weiterhin daran, dass für die Darstellung und als Darstellung die Standards vorhandener Techniken aufgebrochen, unterlaufen oder weiter entwickelt werden. Diese Verfahren könnten als Schauspiel durch Medien bezeichnet werden, um klar zum Ausdruck zu bringen, dass die Technisierung und Medialisierung notwendige Bedingungen der Darstellung und des Nachdenkens über die Darstellung sind. Von Schauspiel durch Medien wäre die begriffliche Addition Schauspiel und Medien zu unterscheiden, in welchem Medien als optionale Mittel eines an sich unveränderlichen Darstellungsmodells genutzt werden. Die rhetorischen Mittel ließen sich niemals auf technische Effekte im Sinne der Industrie reduzieren, sondern waren immer auch Techne, d.h. Wissen, Listen und Verfahren im Sinne der Künste. 1 Wie Anselm Haverkamp erläutert, ist Technik keine Entwicklung des offenkundigen Funktionierens oder Nichtfunktionierens […], sondern - rhetorisch, wie sie ist - die Geschichte eines weitgehend verdeckten Funktionierens. […] Das rhetorische Axiom, das in der technischen Halbierung der Rhetorik [auf ‘persuasive Kommunikation’ und ‘Anwendung’, W.D.E.] verdeckt liegt, besteht in nichts anderem - nicht mehr und nicht weniger - denn der prinzipiellen Verdecktheit der Mittel aller Rhetorik oder, genauer, dem dialektischen Wechselspiel von Verdeckung und Aufdeckung in der Mittelbarkeit rhetorischer […] Mittel. 2 Haverkamp verdeutlicht diesen Befund am Beispiel der Pygmaliongeschichte, deren Pointe darin bestünde, den Effekt der Verlebendigung des Marmors in Form der Statue nicht nur vorzuführen, sondern ihn als Verfahren zu beschreiben, in Szene zu setzen. Dieser Prozess der In-Szene-Setzung kann jedoch nur als Latenz von Sein und Schein gelingen, in der “ästhetisch perfekten, untergründig unheimlichen Belebung der Phantasmen”. 3 Die Kunst bestehe also darin, ihre eigene Technik in die Latenz von Zeigen und Verbergen zu bringen, was so ziemlich das Gegenteil der aktuellen Debatte um “die Medien” und deren Präsentationsleistung darstellt. Die Frage wäre daher, ob in aktuellen Inszenierungen tatsächlich Experimente gewagt werden, die sich diesem verdeckten Funktionieren der Technik widmen, die Latenz erzeugen, oder ob lediglich der mediale Effekt vom Schauspieler verstärkt wird. Werden die Mittel ausgereizt, gar erweitert, oder helfen mediale Apparaturen dort aus, wo der dramaturgische Bogen des Literaturtheaters nach einer affektiven Intensität ruft, die sich mit der Deklamation der Verse nicht mehr einstellen will? Eine grundlegendere Problematisierung der Technik müsste also den Aspekt der Nicht-Verfügbarkeit von Technik als einem wesentlichen Charakteristikum künstlerischer Experimente stark machen. Im Moment der Nicht-Verfügbarkeit, dem verdeckten Funktionieren der Technik, sehe ich daher auch die Parallele von ‘neuerer’ Szenografie mit audiovisuellen Medien und ‘älterem’ Schauspieler-Theater, die im Folgenden mein Thema sein werden: Beide Darstellungsweisen können als rhetorische Technik auf die Momente ihrer verdeckten Funktion hin betrachtet werden. Die Rollenverkörperung als Technik Wie aber sieht diese verdeckte Funktion der Körpertechnik des Schauspielers aus? Diese Frage soll hier auf die visuelle Rhetorik des Schauspiels, die Arbeit mit den so genannten “Vorstellungsbildern” 4 , bzw. den Bildkonzepten der antiken Mnemotechnik eingegrenzt werden. Was wird im Akt der Rollenverkörperung übertragen? Die Norm des Literaturtheaters würde dies etwa wie folgt festschreiben: “Der Sprechende lässt die befreiende und formende Kraft des dichterischen Werkes auf sich einwirken und umgekehrt das Schauspiel durch Medien um 1900 35 Kunstwerk durch seine Persönlichkeit Gestalt werden”. 5 Aber dieser Mechanismus zwischen Dichterwerk und Bühnengestalt funktioniert so nicht. Die Figur ist ja kein “Container”, wie es Richard Foreman einmal ausdrückte, in welchem das Dichterwort zum Ohr des Zuschauers transportiert wird. Was jede Praxis anschaulich macht und jede Dialektik von Innen und Außen in der Schauspieltheorie schon formulierte, ist doch dies, dass es in der Arbeit an der Rolle immer um spezifische Über- und Unterbietungen eines idealen Modells gehen muss, mithin also um Experimente mit per se offenem Ausgang. Man schaut sich die x-te Wiedergabe einer bekannten Rollenfigur ja nur deshalb an, weil es immer auch um die spezifische Übertragung selbst geht. Man muss also im Sinne der rhetorischen Technik die Latenz der Übertragung selbst als eine Darstellung der Darstellung bedenken. Diese Latenz der Übertragung kann auf die Körpertechnik des Schauspielers bezogen unter dem bildrhetorischen Begriff der visuellen Energie diskutiert werden. Das mediale Szenario und die mediale Problematik bestehen dann genauer gesagt in dem Vorhaben, die visuelle Energie des Vorstellungsbildes als ein Mittel der Übertragung nutzen zu wollen und - so die Eigenlogik der Medien - nicht auf einen Nutzen reduzieren zu können. Diese mediale Problematik zeigt sich an der Oberfläche. Keineswegs nämlich haben wir es bei visueller Energie mit einer stummen oder untergründigen Kraft etwa der Psyche oder des Körpers zu tun, wie es in der Anwendungsliteratur gerne kolportiert wird. Energie selbst ist immer die Relation von Aufladung und Hemmung. Der Zusatz “visuell” macht uns daher darauf aufmerksam, dass die Mittel in der Lage sind, eigene, nicht geplante Sichtbarkeiten zu generieren, die dem Ideal des Rollenbildes zu wider laufen. Bevor dieses mediale Szenario der Aufladung und Enthemmung näher beleuchtet wird, scheinen einige Bemerkungen zur historischen Perspektive angebracht, auf die der Titelzusatz ‘um 1900’ anspielt und die uns die Bedeutung von Konstantin Stanislawski und Alexander Moissi als historische Figuren erhellen können. Für die methodische Entwicklung ist dieser Zeitraum von gewaltigen Reformbestrebungen und heftigen Debatten gekennzeichnet, mit denen versucht wird, die darstellungstheoretischen Ideen des bürgerlichen Literaturtheaters mit den neuen Erkenntnissen der Psychologie und Anthropologie zu versöhnen. Vielfach wurde auf die epistemische Wende im Zeichen technischer Medienentwicklung hingewiesen, von der die Reformen des Schauspiels beeinflusst sind. Gabriele Brandstetter hat in ihrer Studie zu den Körperkonzepten der frühen Avantgarden auf die grundlegende “Wahrnehmungskrise” 6 des Fin de Siècle aufmerksam gemacht. Im Bereich der darstellenden Künste tritt hier die Generation nach 1871 an den Start, um neue Theater zu gründen und neue Ästhetiken als Retheatralisierung des Theaters auszuprobieren. Je näher man sich freilich mit den technischen, ästhetischen und epistemischen Umbrüchen befasst, desto deutlicher wird, dass eine genaue Datierung dieser Umbruchsituation nicht möglich und sinnvoll ist. Die Jahreszahl also markiert eine problemgeschichtliche Setzung. ‘Um 1900’ ist zum einen die Zeit der Pädagogisierung der Schauspielausbildung, der Gründung wichtiger Schauspielschulen und der Erprobung von Schauspielmethoden. 1890 gründet Nemirowitsch-Dantschenko das Moskauer Künstlertheater, ab 1907 beginnt Stanislawski mit Skizzen für seine Schauspielmethodik. 1905 werden Schauspielschulen in Düsseldorf, Köln und Berlin gegründet, Jacques Dalcrozes Lehre der rhythmischen Gymnastik wird publik. Verkörperung als ein Theaterprinzip erlangt neue Aufmerksamkeit über die Re- 36 Wolf-Dieter Ernst formbewegung (und Reformpädagogik), die sich auch in Bewegungen wie dem freien Tanz niederschlagen. Zugleich stehen die Bestrebungen zur Methodisierung der Schauspiel- und Körperausbildung im Zeichen des Energiediskurses. Elektrische Energie als Phänomen war zwar durch Galvani und Volta bereits um 1800 beschrieben worden, das mathematische Verständnis dieser Effekte jedoch nahm erst durch die ab 1850 einsetzende Erweiterung der Newtonschen Mechanik durch die Thermodynamik eines Robert Mayers (1842) und Hermann von Helmholtz (1855) Konturen an. Ihren kulturellen Einfluss kann man etwa mit der Verbreitung elektrischer Beleuchtung der Großstädte und ihrer Verknüpfung durch diverse Tele-Techniken ab 1880 festmachen. Vereinfacht gesagt: ‘Energie’ hat um 1900 die Konjunktur wie heute vielleicht ‘Medien’ und führt gar wie bei Wilhelm Ostwald zur Spekulation über die “Energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft”. 7 Das hat Folgen für die zeitgleich entworfenen Methoden des Schauspiels wie es uns als so genannter “psychologischer Realismus” auch heute noch geläufig ist. In die energetische Vorstellung vom Schauspiel fließt nämlich nicht nur das Wissen der antiken Rhetorik ein, die Arbeit mit den visiones, 8 oder imagines agentes. 9 Die Vorstellung einer bewegenden Kraft der Bilder - das kann hier nur angerissen werden - speist sich in dieser Zeit ebenso aus der physiologischen Psychologie eines Theodule Ribot, 10 aus dem Behaviourismus eines Iwan Petrowitsch Pawlow, rekurriert auf die Humboldtsche Auffassung der Sprache als Tätigkeit (Enargeia), 11 und auf Spekulationen über die Wirkung der unsichtbaren elektrischen Energie, die bis in den Okkultismus einer Helena Petrovna Blavatsky reichen. 12 Alle diese Einflüsse lassen sich beispielsweise in den Schriften Stanislawskis nachweisen. Wenn Alexander Moissi anlässlich seines Moskauer Gastspiels 1928 den Theaterpädagogen als “geliebten - wie einen lieben Vater geliebten Stanislawski” 13 ehrt, Stanislawski umgekehrt die baldige Rückkehr des großen Sohnes an sein Haus wünscht, so ist damit nicht nur eine Generationenfolge in einer ‘Theaterfamilie’ bezeichnet. Es zeichnet sich zugleich ein Zusammenhalt der beiden Protagonisten des psychologischen Rollenspiels gegen die massiven politischen und medialen Umwälzungen ab, die die Kohärenz des von ihnen praktizierten und favorisierten Theatermodells bedrohen. Moissis vergebliche Versuche im Filmbusiness Fuß zu fassen, legen von diesem Kohärenzverlust des psychologischen Rollenmodells ebenso Zeugnis ab, wie Stanislawskis Abwehr des revolutionären “Theateroktobers” eines Meyerhold, Majakowski und Tretjakow - ehemalige Regiekollegen in seinem Haus. Die Versuche einer quasi-wissenschaftlichen Methodisierung des Schauspiels und der Institutionalisierung der Ausbildung finden also just in der historischen Epoche statt, in welcher die traditionelle Weitergabe des schauspielerischen Wissens und Könnens vom Vater auf den Sohn - von Kainz und Reinhardt auf Moissi etwa - nicht mehr garantiert werden kann. Damit wäre der historische Rahmen der folgenden Ausführungen zur Schauspieltechnik grob umrissen: Es geht um die visuelle Energie als eine rhetorische Technik und deren Aspekt der Unverfügbarkeit als sein Wirkungsmechanismus. Das Schauspiel um 1900 als Arbeit mit visueller Energie werde ich in drei Schritten entwickeln. 1. Erläuterung zur visuellen Energie als einer rhetorischen Technik 2. Die Funktion dieser Technik in der Darstellungstheorie am Beispiel Stanislawski 3. Die Wirkung dieser Technik in Franz Kafkas Beschreibung eines Auftritts von Alexander Moissi (1912). Schauspiel durch Medien um 1900 37 1. Visuelle Energie als rhetorische Technik Energie ist eine Relation. Dies zeigt die vielschichtige Entstehungsgeschichte der Mnemotechnik ebenso wie die semantische Überkreuzung von energeia und enargeia, bzw. deren durch Cicero erfolgten lateinischer Übersetzung als evidentia. 14 Immer geht es dabei um ein Wechselspiel an sichtbarer Form, bzw. sichtbarem Eindruck und basaler Kraft oder Grundlage der Sichtbarkeit. In der Ausbildung des Redners beschreibt Quintilian die Arbeit mit visueller Energie am Beispiel einer Rede vor Gericht in einem Bild: Ich habe Klage zu führen, ein Mann sei erschlagen. Kann ich da nicht all das, was dabei, als es wirklich geschah, vermutlich vorgefallen ist, vor Augen haben? Wird nicht plötzlich der Mörder hervorbrechen? Nicht das Opfer voll Angst aufschrecken? Wird es schreien, bitten oder fliehen? Werde ich nicht den Schlag fallen, das Opfer zusammenbrechen sehen? Wird sich nicht sein Blut, seine Blässe, sein Stöhnen und schließlich sein letzter Todesseufzer meinem Herzen tief einprägen? 15 Quintilian malt ein Schreckensbild aus, dramatisiert den Fall vor Gericht über tatsächliche oder eben vorgestellte visuelle Details. Angesprochen ist hier die Kraft der Vorstellungsbilder, eine eigene Realität zu suggerieren, einen anderen Aufmerksamkeitszustand zu generieren, den “Fall zu gebieten”, wie es im lateinischen Lehrsatz fortis imaginato generat causum heißt. 16 Diese Kraft der meist gewaltsame Szenen beinhaltenden Vorstellungsbilder macht man sich in der Schauspielausbildung zu nutze. Dabei geht es überhaupt noch nicht um Überredung oder Manipulation des Zuschauers, wie ein häufig geäußerter Verdacht der Rhetorik gegenüber lautet. Die Kraft, den Fall zu gebieten, wird tatsächlich als Prinzip der Aufladung gedacht, ist der Beginn eines Darstellungsprozesses, nicht die Darstellung selbst. Die bedarf, um zu gelingen, immer eines Maßes, einer Hemmung sowie des Abgleichs der Wirkung an den Reaktionen jener, die über den Fall zu Gericht sitzen. Das Verfahren Quintilians wird von Konstantin Stanislawski aufgenommen. In Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst lässt er einen fiktiven Schauspielschüler zum Zeugen eines Verkehrsunfalls werden, um zu zeigen, wie dieser schreckliche Anblick zur überzeugenden Darstellung einer pathetischen Szene zu nutzen wäre. So berichtet der Schüler: Vor mir lag in einer großen Blutlache ein alter Bettler mit zermalmtem Unterkiefer. Die Hände und ein halber Fuß waren abgetrennt worden. Das Gesicht des Toten sah furchtbar aus, der gebrochene Unterkiefer mit den alten, faulen Zähnen war ausgerenkt und hing vor dem blutigen Schnurrbart. Die Hände lagen getrennt vom Körper, und es sah aus, als hätten sich die Arme in die Länge gezogen und vorgestreckt, um Gnade zu erflehen. Der eine Finger stand empor, als drohe er irgendwem. Die Schuhspitze mit Knochen und Fleisch lag auch für sich. Der Straßenbahnwagen stand neben seinem Opfer und wirkte riesig und furchtbar. Wie ein Tier schien er die Zähne zu fletschen und den Toten anzufauchen. 17 Die Parallelen zur visuellen Detailtreue des von Quintilian beschriebenen Totschlags sind auffallend. Die Zergliederung des ganzen Körpers, die Farbsymbolik, die hier bemüht wird, ebenso wie die Geste der flehenden Hände wirkt geradezu malerisch komponiert und zielt auf maximale Schock-Wirkung. Das Auge soll überquellen wie eine Schale. Mit dem Perspektivenschwenk auf die Straßenbahn finden wir auch das Mittel der Verlebendigung. Die Maschine wird zum Raubtier, das nach erfolgreicher Hatz, bereits eingeleitet durch die doppelte Verlebendigung der Leichenteile (die flehenden Hände, der drohende Finger), sein Mahl einnimmt. Der Aufbau dieses Bildes folgt der Sinnfigur der Augenscheinlichkeit, der energeia: Eine Darstellungsweise, der es gelingt, das Dar- 38 Wolf-Dieter Ernst Abb. 1: Das Schema des Systems. Aus: Konstantin Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd. 2, Berlin 1981, S. 316, © Henschel-Verlag. gestellte detailliert und energetisch, d.h. in Wirksamkeit begriffen, vorzuführen. 18 2. Arbeit mit visueller Energie im System der Verkörperung nach Stanislawski Die Arbeit mit Vorstellungsbildern wird von Stanislawski unter dem Begriff des affektiven Gedächtnisses entwickelt. Es macht jedoch wenig Sinn, die visuelle Energie bei Stanislawski allein an diesem Element aufzeigen zu wollen. Denn diese Form des Gedächtnisses, welches in speziellen Erinnerungsaufgaben zu trainieren sei, kann leicht als Motivationsinstrument des Schauspielers missverstanden werden - und wurde in seiner Rezeption durch Lee Strasberg auch als ‘emotionales Gedächtnis’ verkürzt. Die visuelle Energie jedoch durchzieht alle Stufen des Systems und dies deshalb, weil sie sich jeweils an szenischen Details heraus kristallisiert. Die Fabulierlust Stanislawskis lässt sich gar nicht jenseits der visuellen Energie betrachten. Auch die Tatsache, dass das System niemals vollendet wurde, spricht dafür, dass wir es mit einem Überschuss an Motivation zu tun haben, welche das Schauspielen als Objekt der Systematisierung offensichtlich mit sich bringt. Das Funktionieren der visuellen Energie im System Stanislawskis ist also nicht ein Baustein des Systems. Aber es zeigt sich, verdeckt, beiläufig in einem aus didaktischen Gründen erstellten Schema des Systems. Das Diagramm nämlich, welches Stanislawski zur Verdeutlichung seiner Überlegungen zeichnet, ist zugleich ein Bild für visuelle Energie. Als Schema gelesen, verdeutlicht das Diagramm das Zusammenspiel jener psychischen und physischen Aspekte, die im Schauspiel zum Tragen kommen. 19 Als Bild betrachtet, wird hier der Fluss der Körpersäfte bemüht, um den schauspielerischen Vorgang zu verdeutlichen, oder wie Stanislawski schreibt, die “Funktionslinien der Antriebskräfte für das psychische Leben” 20 darzustellen. Der Fluss der Säfte jedoch widerspricht gerade dem logischen Aufbau des Schemas und macht aus ihm ein Bild (mit Unschärfe). Denn die Kanäle, in denen die Säfte aufsteigen, verästeln sich bis zu unbezeichneten Übergängen, an der lediglich die Nummer “11” zu sehen ist. Die Form der Darstellung legt nahe, dass man eigentlich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr verfolgen kann, was im Prozess der Verkörperung passiert. In der russischen Ausgabe sind die Kanäle in grün und schwarz gefärbt, um noch einmal die Kräfte des Schauspielerkörpers von denen der Rolle zu unterscheiden. 21 In der Legende findet sich unter der Nummer 11 eine Auflistung von “Eigenschaften, Fähigkeiten, Begabungen, natürlichen Talenten, schauspielerischen Fertigkeiten und psychotechnischen Methoden” und der Hinweis “Beachten Sie Schauspiel durch Medien um 1900 39 bitte, dass in der Zeichnung jedes Element seine besondere Farbe” 22 erhalten solle. Man muss sich also diesen Übergang bei 11, den Stanislawski auch mit dem Superlativ des “innere[n] Bereich[s] unserer Seele” 23 umschreibt, als bunt pointillierte Fläche vorstellen, die eine logische und methodische Verfolgung der Körperkräfte gerade nicht abbildet, sondern bildlich darstellt. Ich verzichte mit diesem Hinweis auf die Unschärfe im System selbst auf eine weitere systematische Betrachtung und möchte vielmehr die Arbeit mit Vorstellungsbildern an zwei konkreten Darstellungsaufgaben beschreiben, der Entwicklung szenischer Spielideen und der Gestaltung einer lebendigen Sprache auf der Bühne. Dabei beziehe ich mich auf Stanislawskis Lehr-Inszenierung von Molières Tartuffe, an der der Theaterpädagoge bis zu seinem Tode 1938 arbeitete und von denen wir umfangreiche Probenskizzen haben, die sein Lieblings-Schauspieler Wassili Ossipowitsch Toporkow verfasste. Die Entwicklung szenischer Spielideen muss man sich ganz konkret vorstellen. Im Tartuffe etwa wollen die Verwandten den verblendeten Orgon daran hindern, seine Tochter Marianne unglücklich zu verheiraten. Die Ereignisse überstürzen sich, als Orgon bereits mit dem fertigen Kontrakt durchs Haus stürmt und jeden Moment auf der Szene erscheinen wird. Wie aber stellt man Erregung, stürmische Beratung und Handlungsdruck einer Menschenmenge dar, ohne Chaos zu verursachen? Stanislawski wählt dafür das Bild des “Verrückten mit einem Messer”. “Er sucht seine Tochter, um sie zu erstechen”. Er dramatisiert also den Fall, um ihn sogleich an konkreten Details plastisch zu machen: “Durch welche Tür kann der Verrückte eindringen? Auf diese Tür konzentrieren Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit oder, noch besser, nicht auf die Tür, sondern auf ihre Messingklinke”. 24 Als diese Anweisung noch nicht die gewünschte szenische Dynamik zeitigt, löst sich Stanislawski von der Textvorlage und erfindet ein Spiel: “Niemand der im Zimmer Anwesenden hat das Recht, sich von der Stelle zu rühren, bevor sich die Türklinke bewegt. Verstecken Sie [das Mädchen], wohin sie wollen, aber machen Sie es so, daß sie verschwunden ist, wenn die Tür aufgeht”. 25 Das Schreckensbild der Verrückten mit dem Messer ist also in zwei Schritten in eine szenische Aktion übersetzt worden. Zunächst wird ein visuelles Detail (die Klinke) zum Träger des Affekts, sodann wird dieses Detail zum Auslöser und Zeit-Rahmen eines Spiels (Verstecken der Marianne). Die Pointe ist natürlich, dass das Spiel nicht gewonnen werden kann, dass wir es also mit einem Affekt und einer Aufladung der Bewegung zu tun haben, die sich gerade aus dem Nicht-Gelingen speist. Das steht im Widerspruch zu allen Überlegungen von der Maßhaltigkeit und der harmonischen Form, die Stanislawski an anderen Stellen propagiert und als “Überaufgabe” aus der literarischen Vorlage heraus präpariert. Wie das Beispiel zeigt, gibt es nur die Alternative zwischen affektiver Entladung im Spiel und der Deklamation des Textes. Die experimentelle Offenheit zeigt sich jedoch auch in der Arbeit am Vers selbst, also an jener Vorschrift, die eigentlich die Systematik und Hierarchie der Theatermittel garantieren soll. Auch für das Sprechen empfiehlt Stanislawski den Einsatz der dramatisierenden Vorstellungsbilder als Subtext der gesprochenen Verse. Die Kontrahenten Cleant und Orgon mögen sich so verhalten, als säßen sie “auf der heißen Herdplatte”. 26 In der daraus resultierenden Hitze sollen auch die Verse vorgebracht werden und wieder geht es bis ins Detail einzelner Kommata. Sie machen in dem Satz ‘Ja, würden Sie den Mann nicht lieben, Schwager’ hinter ‘Ja’ eine Pause. […] Welchen Gedanken will Orgon denn hier ausdrücken? ‘Ja, würden Sie den Mann nicht lieben, Schwager, den Sie getroffen hätten wie ich ihn? ’ Sie liebten ihn, statt ihn zu hassen, das will Orgon hier sagen. 40 Wolf-Dieter Ernst Warum sollte er also eine sinnlose Pause hinter ‘Ja’ machen? Das haben Sie sich zur Ausschmückung der Phrase ausgedacht. 27 So Stanislawski kolportiert durch Toporkow. Die Situation auf der Herdplatte verträgt sich klar nicht mit der Ausschmückung, welche Stanislawski an anderer Stelle auch als die “rhetorischen Ergüsse Cleants” erkennt und welche überwunden werden müssten. Die Ironie des Systems freilich liegt nun darin begründet, dass Stanislawskis Idee einer lebendigen Sprache wiederum der antiken rhetorischen Konzeption der energeia entspricht, also der Rede, die die Dinge scheinbar vor Augen stellt. In eben jener Weise der Quasi-Übertragung der Dinge im Bild gestaltet Stanislawski das Deklamieren der Repliken, wenn er den Schauspielern rät, “sich gegenseitig mit Vorstellungsbildern” 28 zu überschütten. Sehen Sie den Augenausdruck mit denen [ihr Partner] sie anschaut. Sie müssen erreichen, daß dieser Ausdruck anders wird, daß sein Blick sich aufhellt. Sie müssen ihm Ihre Vorstellungen vermitteln. Er muß alles mit Ihren Augen sehen. 29 Stanislawski denkt die Repliken tatsächlich als eine Art Containerverkehr, mit dem sich visuelle Energie übertragen lässt und die das “lebendige Wort” entstehen lässt. Aber wiederum geht seine Beschreibung des Darstellungsvorgangs über das intendierte Ziel hinaus. In metaphorischer Beschreibung sagt er an anderer Stelle: “Das lebendige Wort besitzt einen inneren Gehalt, es hat ein bestimmtes Gesicht”. 30 Was Stanislawski hier als Gesicht bezeichnet, ist freilich nichts anderes als die Medialität des gesprochenen Wortes selbst, wie sie nach der sprechtechnischen Analyse erscheint. Vergessen wir nicht, dass Stanislawski auch Gesangsunterricht nahm, sich in Operettenrollen versuchte und entsprechend einen musikalisch-analytisch Zugriff auf Lautbildung und Stimmsitz kannte. 31 In den entsprechenden Passagen zur Artikulation spricht er auch davon “den Ton so weit wie möglich in die Maske zu verlegen” 32 , also dem gedachten Resonanzraum des Schauspielers, aus dem der Ton verstärkt hervor tritt. Aber das Wort selbst wird nicht nur im Gesicht geformt und vom Dialogpartner aufgenommen, es tritt - und darauf kommt es an - gleichsam als ein Drittes zwischen die Dialogpartner. Um dieses Dritte, dieses dazwischen zu beschreiben, braucht man Medientheorie. Denn es geht um eine Übertragung, die es schafft, als Übertragung selbst sinnstiftend zu sein, eigene “Gesichter-Worte” zu kreieren. Diese Worte, die uns mit einem “bestimmten Gesicht” anblicken, sind jedoch nichts anderes als Sprach-Bilder, also wiederum energetische Überschüsse einer rhetorischen Technik, die den literalen Wortgehalt überborden. 4. Moissi rezitiert: Ein Szenario der Übertragung Eben diesem energetischen Überschuss der Übertragung sieht sich am 28. Februar 1912 Franz Kafka ausgesetzt, als er einen Vortragsabend des Reinhardt-Schauspielers Alexander Moissi besucht. Drei Tage später notiert er in seinem Tagebuch Er [Moissi] sitzt scheinbar ruhig, hat womöglich die gefalteten Hände zwischen den Knien, die Augen in dem frei vor ihm liegenden Buch und lässt seine Stimme über uns kommen mit dem Athem eines Laufenden. 33 Dem Eindruck folgt eine Gedankenstrich und sodann eine nüchterne Analyse des Stimmeffekts. Gute Akustik des Saales. Kein Wort verliert sich oder kommt auch nur im Hauch zurück, sondern alles vergrößert sich allmählich als wirke unmittelbar die längst anders beschäftigte Stimme noch nach, es verstärkt sich nach der ihm mitgegebenen Anlage und schließt uns ein. 34 Schauspiel durch Medien um 1900 41 Was Kafka im zweiten Teil beschreibt, ist der Saal als eine Verstärkeranlage der menschlichen Stimme des Schauspielers. Kafka denkt also die energetische Übertragung relational und man kann seine Beschreibung durchaus als Einspruch gegen die uni-direktionale Gerichtetheit der Ansprache Moissis lesen, wenn er ihn als “[w]idernatürlicher Anblick” beschreibt, den er hin und her gerissen verfolgt. Unverschämte Kunstgriffe und Überraschungen, bei denen man auf den Boden schauen muß und die man selbst niemals machen würde: Singen einzelner Verse gleich im Beginn z.B. Schlaf Mirjam mein Kind, ein Herumirren der Stimme in der Melodie; rasches Ausstoßen des Mailiedes, scheinbar wird nur die Zungenspitze zwischen die Worte gesteckt; Teilung des Wortes November-Wind, um den ‘Wind’ hinunter stoßen und aufwärts pfeifen lassen zu können. Schaut man zur Saaldecke, wird man von den Versen hochgezogen. 35 Kafka beschreibt rückblickend das, was man medientheoretisch als Immersion bezeichnet, Eintritt in den Datenraum und zum Teil eines medialen Dispositivs werden. Die Klangbilder, die Moissi produziert, gebieten den Fall und Kafka windet sich aus dem “uns” des Publikums, dessen Teil er doch ist. Zugleich sind seine Beobachtungen der Machart dieser Darstellung bereits distanziert und analytisch, zuweilen auch ironisch. Wenn er etwa von der Zungenspitze spricht, die zwischen die Worte gesteckt wird, so hat das Ähnlichkeit mit jener analytischen Sprachbehandlung, wie man sie in sprecherzieherischen Übungsbüchern für Schauspieler findet: “W Stimmhafter Engellaut. Unterlippe gegen Oberzahnreihe […]; geringe Kieferöffnung; Zunge liegt flach, Zungenspitzenkontakt mit den unteren Schneidezähnen”. 36 Das ist natürlich eine unerhörte Reduktion der Sprachmusik. Moissi arbeitet nach allen Regeln der Kunst, und Kafka, der werdende Künstler der Moderne, schaut bereits von einer Meta-Ebene auf diese Regeln der Darbietung Moissis, gleichsam noch berührt, jedoch bereits medial aufgeklärt, antiillusionär. Der entscheidende Punkt jedoch ist, dass Kafka in der nach geordneten Reflexion des Vortrags auf jenes mediale Szenario des vor Augen-Führens einer Dritten Gestalt stößt. Er schreibt: Der Künstler, scheinbar unbeteiligt, sitzt so wie wir, kaum dass wir in seinem gesenkten Gesicht die Mundbewegung hie und da sehn und lässt statt seiner über seinem Kopf die Verse reden. - Trotzdem so viele Melodien zu hören waren, die Stimme gelenkt schien wie ein leichtes Boot im Wasser, war die Melodie der Verse eigentlich nicht zu hören. 37 Damit ist der qualitative Umschwung des Verses bezeichnet, der uns hier in Gestalt eines “leichten Bootes im Wasser” erscheint und dies ist nichts anderes als ein energetischer Überschuss, der durch die Unverfügbarkeit der Technik evoziert wird. Kafka lässt - freilich mit unüberhörbarer Skepsis - die Entstehung eines neuen Bildes, einer eigenen Vision zu, welche dem nicht mehr glaubhaften Bild des rezitierenden Moissis an die Seite gestellt wird: Die Stimme schien gelenkt “wie ein leichtes Boot im Wasser”. Ich möchte rhetorisch (an)schließen: Gibt es ein schöneres Bild für visuelle Energie als das einer Stimme über dem orakelndem Körper, die leicht gelenkt wie ein Boot den Raum erfüllt? Fazit Verlassen wir Kafka und Stanislawski für einen Moment und besinnen uns auf einige grundsätzliche Bemerkungen zur Arbeit mit visueller Energie im Schauspiel. Wie gezeigt wurde, lassen sich die Spuren dieser Arbeit sowohl in der Produktion des Schauspielers - aufgezeigt an der wohl umfänglichsten und einflussreichsten methodischen Schrift der Jahrhundertwende - als auch in der Rezeption zumindest eines Moissi durch Franz 42 Wolf-Dieter Ernst Kafka nachweisen. Mit der visuellen Energie wurde hier eine Suchformel vorgestellt, die die Debatten um die Erweckung und Kontrolle von Affekten durch den Schauspieler neu positioniert. Diese kreisten seit je um eine Verortung des Affekts, wahlweise in der Physis oder der Psyche des Schauspielers, ohne freilich den energetischen Aspekt derart erklären zu können - geschweige denn ihn methodisch zu erfassen. Die Re-Lektüre von Stanislawski und durch sie der antiken Rhetorik nimmt gerade diesen Aspekt von Unverfügbarkeit als Indiz für die Sache selbst. Es bietet sich folglich an, visuelle Energie als negative Bestimmung, als Überschreitung und zugleich Unterbietung von Begrifflichkeit und Regelhaftigkeit im Schauspiel zu lesen, um das Phänomen Schauspiel neu zu beleuchten. Anders gesagt: Die historischen Debatten, Paradoxien und Widersprüche sind selbst bereits von der Rhetorik - und damit von einer Bildlichkeit - gekennzeichnet, die sie zu erklären vorgeben. In Hinblick auf aktuelle Tendenzen eines Theaters durch neuere Medientechnik - und hier schließt sich der Bogen - lassen sich hoffentlich Konstanten erkennen. Wie die Diskursgeschichte des Begriffs der Energie zeigt, entspricht dem ‘Mysterium der Energie’ um 1900 in groben Zügen das ‘Mysterium der Medien’ heute. In beiden Fällen haben wir es mit ästhetischen und epistemischen Wandlungsprozessen zu tun, die gerade eines nicht bieten: eine objektive Bestimmung und Beschreibung von außen. Diese Unübersichtlichkeit trifft wohl auch einen Kern der Praxis und Reflexion aktuellen Theaters durch Medien: Wer sich heute aufmacht, um mit Handkamera und Videoschirm eine Inszenierung zu gestalten, wird das Wechselspiel von versprochener Verfügbarkeit und erfahrener Un-Verfügbarkeit, ja Unkontrollierbarkeit technischer Mittel kennen, wenn nicht gar sich darin verlieren. Nichts anderes finden wir in Stanislawskis Suche nach dem System des Schauspiels, wenn er sich bei Kommata und Tonhöhe der Deklamation aufhält und schließlich im ‘pointillierten’ Übergang zwischen Körper des Schauspielers und Gesicht der Rollenfigur sein System aus den Augen verliert. Hier ist die rhetorische Technik am Werk, die gleichsam parasitär an jeweils spezifischem Erfahrungswissen und dem allgemeinen (theoretischen) Wissen partizipiert, selbst aber nicht eigentlich zu bestimmen ist. Technik das meint eben immer künstlerische, technologische und listige Handgriffe, eine Praxis des Werdens, 38 die sich gerade nicht in der Anwendung und Reproduktion vorhandener Mittel erschöpfen darf. Im Sinne der Technik als einer Latenz und Unverfügbarkeit des Technischen und ‘der Medien’ ginge es darum, theatrale Repräsentation - und das meint auch das hier verhandelte Schauspiel durch Medien - als immer schon medialisiert und technisiert, als Theater durch Medien zu begreifen. Anmerkungen 1 Techne bezeichnet “jede Art von Können, Geschicklichkeit, Kunst(fertigkeit) und […] Wissen” (Der kleine Pauly. Lexikon der Antike, München 1975, S. 552); Technitai wurden im frühen Hellenismus die so genannten “Festkünstler” genannt, zu denen “Schauspieler von Tragödien, Komödien, Satyrspiel, Choreuten, Chorlehrer, Tänzer, Sänger und Instrumentalmusiker aller Art, Herolde, Dichter Kostümverleiher und Bühnenrequisiteure” gehörten (ebd). Vgl. auch zum Verhältnis von Technik und Künsten: Hannes Börringer, “Das hölzerne Pferd”, in: Ars Electronica (Hg.), Philosophien der neuen Technologie, Berlin 1989, S. 7-26, S. 10. 2 Anselm Haverkamp, “Repräsentation und Rhetorik. Wider das Apriori der neuen Medialität”, in: Georg Stanitzek, Wilhelm Vosskamp (Hg.), Schnittstelle. Medien und kulturelle Kommunikation, Köln 2001, S. 77-84, S. 77. 3 Haverkamp, “Repräsentation und Rhetorik”, S. 77. Schauspiel durch Medien um 1900 43 4 Konkret zu finden bei Konstantin Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd. 1, Berlin 1986, S. 85, auch Anm. 20, worin der Begriff der ‘inneren Vorstellungsbilder’ auch auf akustische Eindrücke ausgedehnt wird und mit dem Konzept des emotionalen Gedächtnisses in Beziehung gebracht wird. Stanislawskis Rekurs auf Bilder ist zudem durch die Medientechnik seiner Zeit beeinflusst, etwa wenn er die Reihe von Vorstellungsbildern als “Film” umschreibt. 5 Wolf Aderhold, Sprecherzieherisches Übungsbuch, Berlin 1989, S. 22 “Atmung und Dichtung”. 6 Gabriele Brandstetter, Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt am Main 1995, S. 18; S. 51-52. 7 Wilhelm Ostwald, Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft, Leipzig 1909. Vgl. hierzu Wolf-Dieter Ernst, “Animalische Animation. Der Diskurs der Energie und die mimische Ausdrucksbewegung bei Warburg und Stanislawski”, in: Kati Röttger (Hg.), Theaterwissenschaft zwischen Visual Culture und Iconic Turn, Bielefeld 2007 (im Erscheinen). 8 Mit Visionen übersetzt Quintilian den Aristotelischen Begriff der Phantasie. “Jeder, der das, was die Griechen nennen - wir könnten ‘visiones’ (Phantasiebilder) dafür sagen -, wodurch die Bilder abwesender Dinge so im Geist vergegenwärtigt werden, dass wir sie scheinbar vor Augen sehen und sie wie leibhaftig vor uns haben: jeder also, der diese Erscheinungen gut erfasst hat, wird in den Gefühlswirkungen am stärksten sein.” Marcus Fabius Quintilian, Ausbildung des Redners, Bd. 2, hg. v. Helmut Rahn (= Buch I-VI), Darmstadt 1972, S. 709 (= I V , 2, S. 29). 9 Vgl. Marcus Tullius Cicero, De Oratore. Über den Redner, übers. u. hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 1991, S. 437, sowie Anonymus, Rhetorica ad Herennium, hg. u. übers. v. Theodor Nüsslein, München, Zürich 1994, S. 177. 10 Théodule Ribot, Der Wille. Pathologisch-psychologische Studien, Berlin 1893. 11 Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaus, Wiesbaden 2003 (1836). 12 Die aus der Ukraine stammende Blavatsky gründete zusammen mit Henry Steel Olcott 1875 in New York die Theosophical Society. Sie gilt als Vermittlerin fernöstlicher Körperpraxen wie dem Yoga. Bekannt geworden ist sie vor allem als Medium und Figur der okkultistischen Bewegung. Vgl. hierzu: Wilhelm Bruhn, Theosophie und Anthroposophie, Leipzig 1921; vgl. medienhistorisch auch Wolfgang Hagen, “Der Okkultismus der Avantgarden um 1900”, in: Siegrid Schade et al. (Hg.), Konfigurationen zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 338-357; zur Rezeption fernöstlicher Körperpraxen um 1900 auch Brandstetter, Tanz-Lektüren, S. 246ff. (= Bewegungsrausch und Trance-Tanz). Zu den Verknüpfungen der theosophischen Bewegung mit Franz Kafka, dessen Mitgliedschaft im Kreis von Berta Fanta und Ida Freund sowie der dort gemachten Bekanntschaft mit okkultistischen Seancen, vgl. Ernst Pawel, Das Leben Franz Kafkas, München 1986, S. 169. 13 Konstantin Stanislawski, Aufsätze, Regie, Äußerungen, Notizen, Erinnerungen 1917-1938, Moskau 1959, S. 193. Die Ironie dieser Bemerkung liegt auch darin begründet, dass Moissi sich seit Mitte der 20er Jahre fast ausnahmslos dem Tournee-Geschäft widmete und mit einigen wenigen Paraderollen reüssierte. Diese marktkonforme Variante des Schauspielers als internationaler Star freilich widerspricht der Idee einer durchgehenden dramatischen Rolle, welche Stanislawski nicht müde wird zur eigentlichen Kunst des Schauspielers zu stilisieren. Vgl. zu Moissis Biografie Rüdiger Schaper, Moissi. Triest, Berlin, New York. Eine Schauspielerlegende, Berlin 2000. 14 Rüdiger Campe weist darauf hin, dass die Aristotelische energeia einem ontologischdynamischen Sprachkonzept entstammt und zunächst einmal eine Bewegung meint. Die enargeia hingegen ist immer schon visuell gedacht. Das Konzept geht auf die Stoiker zurück und beschreibt im Sinne eines repräsentationslogisch-statischen Sprachkonzepts die Deutlichkeit, Klarheit einer Sache: Eine Sache, die deutlich und klar ist, habe einen bleibenden, materiellen Abdruck auf die Seele, gleich einem Siegelstempel. Vgl. dazu Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der Literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, S. 230. 44 Wolf-Dieter Ernst 15 Quintilian, Ausbildung des Redners, S. 711 (= VI, 2, S. 31). 16 Sie geht zurück auf die von Aristoteles in De Anima entwickelte Idee der Vorstellungsbilder, die das Denken notwendig begleiten und es vermögen, die Seele in der gleichen Weise zu bewegen, als stünden die wirklichen Dinge vor Augen. “Der denkenden Seele sind die Vorstellungsbilder wie Wahrnehmungseindrücke gegeben. Wenn sie sie als gut oder schlecht bejaht oder verneint, so flieht oder erstrebt sie sie. Darum denkt die Seele niemals ohne ein Vorstellungsbild.” Aristoteles, Von der Seele (= De Anima), Zürich 1950, S. 336 (= 431 A 13). 17 Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd. 1, S. 196. 18 Aristoteles zeigt dies bei Homer auf, wenn jener Unbeseeltes als Beseeltes darstellt, etwa vom “stürmenden Erz” spricht, der “die Brust durchbohrt”. Homer, Ilias, XV 542 und Aristoteles, Rhetorik. III Buch, München 1980, 1411 b S. 24ff. (= Gestaltung und Gliederung der Rede). 19 Die Darstellung folgt einem logischen Aufbau, welcher sich aus den Schritten der Rollenerarbeitung ergibt. Sie beginnt unten mit der Rolle als notierter Vorschrift und endet oben mit der Überaufgabe der Rollendarbietung durch den Schauspieler als dem Ziel der Übung. Zwei Wege der Bearbeitung dieser Aufgabe werden ersichtlich, links der emotionale Weg, als “Erleben” und “inneres Befinden” markiert, rechts der motorisch-sensuelle Weg als “Verkörpern” und “äusseres Befinden” bezeichnet. Mehre Instanzen der Filterung des Dargestellten - “Gefühl”, “Wille” und “Verstand”, schließlich eine Definition Puschkins zum Realismus und das Primat der physischen Handlung/ Aktion sollen bewirken, dass die Darstellung aus der affektiven Impulshaftigkeit in bewusstes Handeln überführt wird. 20 Konstantin Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd. 2, Berlin 1986, S. 317. 21 Vgl. Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Moskau 1955, S. 361. 22 Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd.2, S. 317. 23 Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd.2, S. 317. 24 Wassili Toporkow, “K.S. Stanislawski bei der Probe. Erinnerungen”, in: Konstantin Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle, Berlin 1981, S. 279-541, S. 480. 25 Toporkow, “Stanislawski bei der Probe”, S. 480. 26 Toporkow, “Stanislawski bei der Probe”, S. 500. 27 Toporkow, “Stanislawski bei der Probe”, S. 503. 28 Toporkow, “Stanislawski bei der Probe”, S. 506. 29 Toporkow, “Stanislawski bei der Probe”, S. 502. 30 Stanislawski Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd.2, S. 49. 31 Vgl. Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd.2, Abschnitt Stimme und Sprechen, S. 39-107, und Anm. 5; ferner S. 281ff. (= Über die Musikalität des Sprechens). 32 Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd.2, S. 45. 33 Franz Kafka, Tagebücher 1912-1914, Frankfurt am Main 1994, S. 48, vgl. zu diesem Auftritt Moissis Schaper, Moissi. Triest, Berlin, New York, S. 91ff. 34 Kafka, Tagebücher 1912-1914, S. 48. Die angegebenen Stücke, soweit überliefert, sind: Schlaflied für Mirjam von Richard Beer-Hofmann, Novemberwind von Emile Verhaerens, vgl. Schaper, Moissi. Triest, Berlin, New York, S. 94. 35 Über Kafkas Suche nach der “litterarischen Bestimmung” (Kafka, Tagebücher 1912-1914, S. 47, = Eintrag vom 2.3.1912) als sein Thema in dieser Zeit ist viel geschrieben worden, ebenso wie auch bekannt ist, dass Kafka sich selbst mit dem Rezitieren und dessen Scheitern befasste. Vgl. Kafka, Tagebücher 1912- 1914, S. 11 (= Tagebucheintrag vom 4.1.1912 über das Vorlesen vor seinen Schwestern, Kafka, Tagebücher 1912-1914, S. 35 (= Eintrag vom 25.2.1912) zu Kafkas Vortrag über jüdischen Jargon am 18.2.1912. 36 Aderhold, Sprecherzieherisches Übungsbuch, S. 36. Die Beschreibung der Konsonantenbildung erfolgt nach der “physiologischen Bildungsnorm” (S. 10), welche auf dem Atlas deutscher Sprachlaute von H.-H. Wängler aus dem Jahre 1958 basiert. 37 Kafka, Tagebücher 1912-1914, S. 49. Was Kafka hier beschreibt, ist die rhetorische Figur der Schauspiel durch Medien um 1900 45 Prosopopoiia, d.h. einen Text als Stimme und Person lesen, die von einem Abwesenden, Toten herrührt. Und das ist das Gegenteil zur alten Vorstellung von der Verwandlung, bei der der Schauspieler als ‘Gestalt der Dichtung’ spricht. Persona ist hier nicht die Maske “wohindurch es hallt” (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt am Main 1991, S. 347), sondern eine rhetorische Figur, die etwas bewirkt, die also vor dem Ertönen angeordnet ist. Vgl. hierzu Bettine Menke, Prosopopoiia, München 2000, S. 140. Die Differenz von Textstimme und Theatermaske wird von Menke richtig gesehen, lässt sich aber auch vom Theater des Lesens auf das Schauspiel ausweiten. Allerdings bezöge sichdie Exegese dann nicht auf den dramatischen Text allein, sondern immer auch auf die gültigen Regel- und Methodentexte des Schauspiels, die ebenfalls eine Stimme und Person bewirken. In diesem Sinne wäre die Theatermaske nicht akustisch, sondern rhetorisch zu verstehen. 38 So unterscheidet Klaus Bartels einen statischen und dynamischen Begriff der antiken Techne bei Aristoteles. “Die Bewegung der Werkzeuge enthält den Begriff der Techne und in ihm den der Form des Hergestellten […]. Die Bewegung der Werkzeuge ist die Tätigkeit (Energeia: das ‘Am-Werk-Sein’) der Techne, die Techne die Form des Herstellens.” Klaus Bartels, “Der Begriff der Techne bei Aristoteles”, in: Hellmut Flashar, Konrad Gaiser (Hg.), Synusia. Festgabe für Wolfgang Schadewaldt zum 15. März 1965, Pfullingen 1965, S. 275-287, S. 282.