Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2007
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BalmeKreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung
0601
2007
Jürgen Schläder
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Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung. Zur Dekonstruktion in Martin Kušejs Stuttgarter Fidelio Jürgen Schläder (München) Wenn Florestan, der Tenorheld in Beethovens Oper Fidelio, das Ende der Aufführung nicht lebend erreicht, sondern im Kerker von Pizarro mit raschem Schnitt durch die Kehle getötet wird, scheint die Nachsicht der Zuschauer mit den provozierenden Deutungen des zeitgenössischen Regietheaters über Gebühr strapaziert zu sein. Dass Florestan darüber hinaus als wandelnde, blutverschmierte “Leiche” seine Partie auf der Bühne zu Ende singt, grenzt an Skandal. Vor knapp zehn Jahren jedenfalls schockierte Regisseur Martin Kušej das Publikum in der Stuttgarter Staatsoper mit dieser Lesart von Beethovens musikalischem Drama 1 und handelte sich von einem Teil der Fachkritik unverblümte Rügen ein. Bernd Feuchtner, als einer unter zahlreichen Verächtern dieser Interpretationsstrategie, titelte in der Opernwelt: “Wiegenlied für eine Leiche” und attestierte dem Regisseur mit feinsinnigem Wortspiel ein genialisches, aber nicht geniales Regiekonzept, in dem der Coup der Aufführung, das Kerkerquartett im zweiten Akt, “szenisch nur halb gelungen” sei. 2 Von der Beliebigkeit der Bilder bis zur mangelnden Genauigkeit der Bühnenaktionen paradierten in Feuchtners Rezension die bewährten Sottisen, die sich in ähnlich drastischer Weise auch in zahlreichen anderen Premierenberichten fanden. Dass der Regisseur mit seiner Deutung möglicherweise den Einstieg in ein neues Interpretationszeitalter auf der Opernbühne geöffnet hatte, war den meisten Rezensenten und dem größten Teil des Publikums verborgen geblieben. Denn gerade der “Höhepunkt des Abends”, Florestans Ermordung durch Pizarro und Leonores Todesschuss, mit dem sie auch den verbrecherischen Gefängnis-Gouverneur zur Strecke bringt, offenbart den dekonstruktivistischen Ansatz der Partitur- Lektüre, die zwar noch nicht Beethovens Notentext, wohl aber die dramaturgische Zielspannung dieser Schlüsselszene veränderte und auf diese Weise eine neue Realitätserfahrung in der szenischen Interpretation der durch allzu bewährte Deutungsklischees belasteten Fidelio-Handlung etablierte. 3 Das Kerkerquartett in Beethovens Fidelio zählt zu jenen bewundernswerten Theaterszenen, die am Wendepunkt der Handlung die aufgebaute Konfliktspannung lange in der Balance halten und sie durch vielfach ineinander greifende Teilhandlungen noch beständig steigern. Das Potential der widerstreitenden Interessen und Kräfte ist so sorgsam austariert, dass jede der denkbaren Lösungen für eine oder mehrere Figuren den Sturz in die individuelle Katastrophe bedeutete. Ein Ausgleich ist nicht möglich. Die Konfiguration der Szene bildet zum ersten und einzigen Mal in der Handlung den Konflikt figürlich ab. Pizarro, der bislang durch seinen Handlanger Rocco im Staatsgefängnis tätig wurde, will den Mord an Florestan nun selber besorgen und sinnt darüber hinaus auf die Beseitigung Roccos und Fidelios, um sein Verbrechen zu vertuschen. 4 Er ist mit einem Messer bewaffnet, mit dem er im Laufe der Auseinandersetzung das Leben von Florestan wie von Leonore bedroht. Florestan besetzt zwar analog zur klassischen Figurendisposition der frühen romantischen Oper als Tenor die Rolle des Helden, doch vermag er diese Charakteristik lediglich in seiner idealistischen Leidensfähigkeit zu beglaubigen. Sie ist Thema seiner großen Kerkerarie am Beginn des zweiten Aktes. Als Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 61-73. Gunter Narr Verlag Tübingen 62 Jürgen Schläder ernst zu nehmender Widersacher Pizarros kommt Florestan jedoch nicht in Betracht. Die Freiheit des Handelns ist ihm als Gefangenem seit langem genommen; er ist auf die Hilfe seiner Ehefrau Leonore angewiesen, die alleim ihm Rettung zu bringen vermag. Das traditionelle Handlungspotential des Helden ist mit Leonores Geschlechtertausch folglich irreversibel verschoben und auf die weibliche Titelfigur der Oper konzentriert. Florestans Ehefrau ihrerseits ist in jeder Hinsicht am Ziel ihrer Suche. Sie hat den Gemahl gefunden und steht zugleich seinem Peiniger in unmittelbarer Konfrontation gegenüber, so dass sie nicht nur die Befreiung des Gefangenen besorgen, sondern auch Rache für erlittenes seelisches Leid nehmen kann. Sie besitzt mit der Pistole eine überlegene Waffe, die die körperliche Unterlegenheit der Frau im Kampf gegen Pizarro ausgleichen mag. Vor Einsatz der Handfeuerwaffe bedient sich Leonore freilich anderer “Waffen”, die ihre physiognomische Charakteristik mit einem erheblichen Überraschungsmoment verknüpft: Bei Pizarros erstem Mordversuch an Florestan wirft sie ihren Körper deckend vor den Gefangenen, beim zweiten gibt sie diesen Körper als weiblichen und sich selber als Florestans Ehefrau zu erkennen. Im ersten Fall reagiert Pizarro spontan mit handgreiflicher Gewalt, indem er den vermeintlichen Gefängnisgehilfen Fidelio beiseite schleudert, im zweiten verharrt er konsterniert ob der scheinbar ungleichen Konfrontation mit einer Frau, ehe er sich zum Doppelmord entschließt. 5 Beide logisch-rationalen Lösungen dieser aus drastischen Konfrontationen gefügten Konfiguration bereiteten der Handlung ein unbefriedigendes Ende, das im künstlerisch-gesellschaftlichen Diskurs des frühen 19. Jahrhunderts kaum denkbar war: Gelänge es Pizarro, Leonore und Florestan zu töten, hätte die Unmoral obsiegt; das Recht, worin auch immer begründet, 6 auf Seiten Florestans würde mit Füßen getreten; Leonores beispielhafter Mut fände keine Erfüllung, ihre Ideale würden gründlich zerstört - eine Lösung, die die emotionale Lenkung der Handlung und die Zeichnung der Figurencharaktere in allen voraufgehenden Szenen nun ins glatte Gegenteil verkehrte. Wäre Leonore hingegen zum Äußersten gezwungen und erschösse Pizarro, wie sie ihm androht, wäre zwar der Bösewicht der Handlung bestraft und der unschuldige Florestan gerettet, doch entstünde für Leonore das ethische Problem, gezwungenermaßen Böses getan zu haben, um Gutes zu bewirken. Nur der Totschlag an Pizarro, und sei es in Notwehr, hätte ihr und ihrem Ehemann das Leben und die Freiheit gesichert - ein Makel von nicht geringem Gewicht, der einer idealistischen Heldin nicht gut anstünde. Der finale emphatische Jubel über “ein solches Weib”, das Florestan errungen, stünde quer zur Figurencharakteristik und ihrer idealistischen Botschaft oder müsste entschieden gedämpfter ausfallen. Die Logik der Handlung setzt jedoch an die Stelle der situationsgerechten Lösungen die metaphysische Variante, das Walten der Vorsehung, also jener die Welt beherrschenden Macht, die in nicht beeinflussbarer und nicht zu berechnender Weise das Leben der Menschen bestimmt und lenkt. Dieses Wesen der Vorsehung bezeichnet das Vertrauen der Menschen in eine umfassende Weltordnung, die Recht und Moral als Maßstäbe des Handelns propagiert, den Lauf der Welt nach böse und gut scheidet und trotz dauerhafter Irritation der Betroffenen schließlich unbeirrt die unumstößlich richtige Entscheidung trifft. Der Mensch selber mag in der Krise getrost die Autonomie des Handelns aus der Hand geben, weil die irrationale Instanz der Vorsehung im Sinne einer humanen Ordnung die für ihn zuträglichen Lösungen bereit hält. Nicht das wankelmütige Schicksal regiert in der nachrevolutionären Phase des frühen 19. Jahrhunderts, in der napoleonischen Zeit das menschliche Leben, sondern Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung 63 die weise und gütige Vorsehung. Der utopische Charakter einer solchen Weltordnung ist unverkennbar; ebenso ihre reaktionär-idealistische Struktur, die dem Leben nach den Wirren der Revolution verlässliche Koordinaten einzieht. Leonore weist dem um sein Leben bangenden Florestan unmittelbar vor Pizarros Auftritt eigens und mit Nachdruck den Weg der Hoffnung im Vertrauen auf die Existenz und die Wirksamkeit dieser Vorsehung. 7 Das unmittelbar folgende Kerkerquartett bestätigt Leonores blindes Vertrauen in die metaphysische Instanz und formuliert die Gültigkeit, ja die Existenz dieser utopischen Weltordnung als Realität. Das probate dramaturgische Kunstmittel einer effektvollen fiktionalen Gestaltung von dramatischen Augenblicken, in denen die Vorsehung waltet, ist die unerwartet eintretende glückliche Lösung in schier auswegloser Situation, mithin die überraschende räumliche und zeitliche Koinzidenz disparater Ereignisse. Auf diesem Handlungsmuster fußen die beiden prominentesten Theaterformen in den nachrevolutionären Jahrzehnten und im Vormärz: auf der typischen Dramaturgie der Rettungsoper und des Rührstücks. 8 Im Kerkerquartett des Fidelio erlangt die Vorsehung gar einen charakteristischen Klang und eine konkrete Gestalt: die Trompetenfanfare und die Figur des Ministers, des höchsten republikanischen Staatsvertreters, der sich denken lässt. Die Staatsgewalt trifft zwar nicht überraschend und gänzlich unerwartet zur Inspektion des Staatsgefängnisses ein. Pizarro war gewarnt und traf die nötigen Vorkehrungen. 9 Dennoch rückt durch die steigende Spannung des Kerkerquartetts und durch die Akzentuierung der Zeitproblematik das Erklingen des Trompetensignals in den dramaturgischen Rang einer Deus-exmachina-Lösung. Pizarros und Leonores Wettlauf gegen die Zeit wird durch die rechtzeitige Ankunft des Ministers zugunsten der heldenmütigen Ehefrau entschieden, ohne dass sie nach den Buchstaben der Opernhandlung diese Wendung beeinflussen könnte oder müsste. Dramaturgie der Handlung und Figurencharakteristik durchkreuzen jedoch einander in dieser Kerkerszene, weil das konventionelle Handlungsmuster, eben die unantastbare Herrschaft einer numinosen Vorsehung, unvermittelt auf eine moderne Figurengestaltung trifft, in der sich, zumindest für das Bühnengenre Oper am Beginn des 19. Jahrhunderts, innovative Identitätsstrukturen offenbaren. Vor allem die Antagonisten Pizarro und Leonore akzentuieren in diesem Quartett mit Nachdruck ihre Identität, aus der sie jeweils autonomes - und in der Logik der Handlung selbstverständlich antagonistisches - Handeln ableiten: Pizarro als personifizierter Wüterich, der Genugtuung und sadistischen Genuss aus der Selbstpräsentation vor seinem wehrlosen Opfer Florestan findet; Leonore als heldenhaft mutige Frau, die den notwendigen Rollentausch und die daraus resultierende Verkleidungskomödie 10 just in diesem Augenblick erst beendet und in Verkehrung der eigentlichen Rollenfunktionen zum gleichwertigen Gegenspieler des mächtigen Pizarro avanciert. Unter Identitätsaspekten sind die dramatischen Ereignisse der gesamten Kerkerszene (von Florestans Arie Nr. 11 zu Beginn des zweiten Aktes über Nr. 12 Melodram und Duett sowie das Terzett Nr. 13 bis zum Ende des Kerkerquartetts Nr. 14) redundant. Die Präsentation der nunmehr gültigen und korrekten Figurenidentitäten ist kaum als spielinterne Information für die handelnden Figuren vonnöten, geschweige denn als externe Aufklärung der verschlungenen Ereignisse für den Zuschauer. Leonore hat Florestans Feind längst identifiziert, ehe sie in den Kerker hinabsteigt (vor Rezitativ und Arie “Abscheulicher, wo eilst du hin” im ersten Akt), und Florestan wird von Rocco noch vor Pizarros Auftritt im Kerker (im Sprechdialog vor dem Terzett) von der Identität seines Peinigers unterrichtet. Insofern rekapituliert die Quartett- 64 Jürgen Schläder Handlung im Wesentlichen bekannte Fakten. Einzig Leonores Selbstidentifikation als Florestans Ehefrau markiert für die drei beteiligten Männerfiguren den Augenblick höchster Überraschung, ja Bestürzung. Dieser coup de théâtre avanciert freilich zum bedeutsamsten Augenblick der gesamten Opernhandlung, weil die harmlos-oberflächliche Beendigung einer Verkleidung koinzidiert mit dem gewichtigen Kern des heroischen Dramas. Leonores Rollentausch markiert einen dramaturgischen Paradigmenwechsel, weil die tradierten Heldenattribute der charakterlichen Lauterkeit, der Idealität von Handlungsgründen und vor allem der Autonomie des Handelns auf eine Frauenfigur konzentriert werden. Leonore ist nicht nur Pizarros dramatische Gegenspielerin auf Augenhöhe, sie ist zugleich die positive Oppositionsfigur zum Bösewicht und nimmt in der Antinomie von Gut und Böse die überlegene Position ein. Darin offenbart sich in diesem Augenblick das Thema der Opernhandlung. Die Komposition des Quartetts bildet diesen dramaturgischen Coup ab und stellt deshalb der ausführlichen Identifikation des weiblichen Helden, die notwendig ist, noch einmal den bösen Antagonisten in einer ebenso ausführlichen Selbstrepräsentation am Beginn der Szene gegenüber. Die musikalische Dramaturgie des Quartetts partizipiert an den innovativen Gliederungsmustern der italienischen Oper um 1800, die in Beethovens musikalischer Sprache unterschiedliche Modelle der Ensembletechnik und der Affektdarstellung mit avancierten sinfonischen Verfahren verknüpfen. Der Grad an musikalischer Individuation entspricht der Bedeutung des dramatischen Augenblicks, dessen Attraktionspunkte durch formale Besonderheiten und harmonische Eigenwilligkeiten akzentuiert werden. Die Szene lässt sich insgesamt, auch wenn sie von Beethoven nicht so benannt wurde, als Rezitativ mit nachfolgendem Quartett begreifen, deren innerer Zusammenhalt von einer zu Beginn ausführlich exponierten und im weiteren Szenenverlauf stets an herausgehobenen Formgrenzen rekapitulierten sinfonisch-musikalischen Figur garantiert wird. 11 Die drei harmonisch geschlossenen Sätze, der Pezzo agitato als Entwicklung der dramatischen Konfliktspannung, der Pezzo concertato als Ort der allgemeinen Kontemplation und die abschließende Stretta als Ausdruck der Spannungslösung und Konfliktbewältigung, stehen in der Haupttonart D-Dur. 12 Das einleitende Accompagnato-Rezitativ und die Tempi di mezzo, in denen die Affekte der geschlossenen Sätze vorbereitet und begründet werden, gewinnen freilich über diese Gelenkfunktion hinaus wegen ihrer extremen harmonischen Spannungen und ihrer quantitativen Ausdehnung erhebliche strukturelle Bedeutung. 13 Beethovens Komposition konzentriert sich nicht, im Unterschied zur italienischen Usance, auf die Präsentation der geschlossenen Sätze, deren Affektdarstellung in den Vorbildern bisweilen notdürftig und oberflächlich motiviert wird, sondern auf die Darstellung einer sehr komplexen Steigerungsform aus dialogisch-aktionalen und reflexiven Abschnitten mit sorgsam vorbereiteter Zielspannung auf die Stretta (s. S. 65 oben). 14 Vier Aspekte sind für die individuelle Dramaturgie dieses Opernensembles signifikant. Zum einen der doppelte Diskurs des eröffnenden Pezzo agitato, in dem der Antagonismus von skrupellosem Bösewicht und idealistischer Heroine, von Pizarro und Leonore, nicht gesetzt, sondern als musikdramatische Entwicklung formuliert wird. Die sinfonische Musik präsentiert eine in ihrer Spannungskurve sich steigernde musikalische Handlung, also ein Aktionsstück im eigentlichen Sinn. Dem in Accompagnato und Pezzo agitato I vorgetragenen Selbstporträt Pizarros (T. 1-60) folgt als korrespondierendes Ereignis Leonores Identifikation im zweiteiligen Tempo di mezzo und im Pezzo agita- Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung 65 to II (T. 60-127). Architektonisch strukturell sind die Korrespondenzen unverkennbar; im Detail unterscheiden sich die analogen Passagen erheblich. Die beiden Pezzi agitati manifestieren mit musikalisch-satztechnischen Mitteln die tatsächliche Figurenkonstellation, eben den Antagonismus von Pizarro und Leonore. Dem solistischen ersten Pezzo agitato des Gouverneurs (T. 38-60) folgt der duettierende zweite (T. 106-127), der nur von Pizarro und Leonore bestritten wird. Im Dialog tritt die Konfrontation offen zu Tage; 15 der Duettsatz unterscheidet die Stimmen motivisch, ist jedoch keineswegs kantabel gearbeitet, sondern bewahrt einen streng rhythmisch gegliederten heroischen Deklamationston für beide Rollen. Die emotionale Anspannung, ja Konfusion der Figuren teilt sich in den Pezzi agitati vornehmlich durch defekte Formen mit, deren kadenzieller Schluss durch Trugschlüsse aufgebrochen wird. Harmonische Spannungen als klangliche Chiffre der seelischen Verwirrung und unkontrollierten Rage wird in den syntaktisch offenen Passagen des Accompagnatos und der beiden Tempi di mezzo durch wüste, unlogische Modulationen gespiegelt, die weit entfernte Tonarten miteinander verknüpfen und in Sequenzen verminderter Septakkorde dem musikalischen Satz eine polyvalente, schwankende Basis verleihen. Der nach traditioneller Figurendisposition als (Tenor-)Held besetzte Florestan ist als pantomimisch und dialogisch Handelnder in diesem ersten Teil des Quartetts suspendiert. In Pizarros Solo ist sein Part auf einen knappen Einwurf reduziert (“Ein Mörder steht vor mir” - T. 50-53), dessen kurze Phrase an der Öffnung des geschlossenen Satzes zur Dominante eher funktionale als inhaltliche Bedeutung gewinnt und in Pizarros Rede keinerlei Reflex provoziert. Beethovens Komposition ist beredter Ausdruck von Florestans Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht, denn auch in den Tempi di mezzo bleibt ihm lediglich ein iteratives Stammeln (“O Gott, mein Gott! ” - T. 61, 71 und 75-78) und eine banale Erkennungsfloskel (“Mein Weib? Leonore! ” - T. 82 und 86). Erst in der Vorbereitung der Duettpassage partizipiert Florestan, ähnlich wie Rocco, wieder am musikalischen Dialog (“Vor Freude starrt mein Blut! ” - T. 99-106). Bis zum Eintreffen des Ministers beschreibt das Ensemble mithin eine sich zuspitzende Konfrontation der Antagonisten, die notgedrungen einer Lösung zutreibt. Takt Tempo Satz Tonart 1-38 Allegro Accompagnato D A 7 38-60 Pezzo agitato I D A [E] 60-80 Tempo di mezzo I Cis / G Es 81-106 Tempo di mezzo II Es 7 D 106-127 Più moto Pezzo agitato II D 127-132 Un poco sostenuto Trompetensignal I B 133-141 Pezzo concertato B F 7 141-146 Trompetensignal II B [Sprechdialog] 147-197 a tempo Stretta D (Allegro più moto) 197-213 Presto 66 Jürgen Schläder Signifikant für die Handlung des gesamten Pezzo agitato - dies ist der zweite individualisierende Aspekt - sind die drei Wendepunkte, die als eklatante Überraschungsmomente fungieren. Sie markieren jedoch keine Volten in der Ereignisfolge, sondern verschärfen Mal um Mal die aus den unerwarteten Ereignissen resultierende Spannung der Figurenkonstellation. Die Musik bildet diese dramaturgischen Eklats nach dem gleichen Muster ab: durch Zerbrechen der Form, das durch den hörbaren Defekt das dramatische Ereignis akzentuiert. In zwei Fällen koinzidiert diese Formgrenze - ungewöhnlich genug - mit einem Trugschluss in die Mediante, also mit einer besonders drastischen Klangwirkung: Leonores Schutz für Florestan, noch in der Maske Fidelios, mit der Wendung nach Cis-Dur in schwebender Sextakkordstellung anstelle des erwarteten E-Dur (T. 60); das erste Trompetensignal in B-Dur anstelle des eigentlich logischen D-Dur (T. 127). Anders die klangliche Akzentuierung der Selbstidentifikation: Die Sopranstimme wird in gleichsam auskomponierter Fermate unbegleitet und als forcierter Spitzenton auf der offenen, unaufgelösten Dominante der neuen Tonart Es-Dur exponiert (T. 79-81), die selber mediantisch zum G-Dur des ersten Tempo di mezzo steht. Alle drei Tonarten, Cis-, Es- und B-Dur, chiffrieren klanglich die Ungeheuerlichkeit der Ereignisse und den krassen Bruch mit der Konvention, mit dem Erwarteten, durch denkbar weite Entfernung von der Tonika des Quartetts. Gleichwohl eröffnen die beiden ersten Eklats die Rückkehr zur dramatischen Basis der Szene. Cis wie Es dienen als Ausgangspunkt einer harmonischen Normalisierung und Rückführung über die Subdominante G-Dur zurück zur Tonika. Einzig der dritte Eklat, das Trompetensignal, exponiert eine neue harmonische Welt, aus der der musikalische Satz nicht mehr zurückfindet. Der langsame Satz des Quartetts, der Pezzo concertato, eröffnet also - zum dritten - jene dramatische Utopie, von der die Oper handelt und die wenig später, in der Stretta des Quartetts und im Finale des zweiten Aktes, in einer dem Quartett strukturell ähnlichen mehrsätzigen Anlage aus Pezzo agitato, Pezzo concertato und Stretta klanglich zum allgemeinen heroischen Jubel gesteigert wird. Gerahmt von den beiden identischen Trompetenfanfaren, entfaltet sich in den neun Takten des kontemplativen Ensembles (T. 133-141) jene Vision von Rettung durch Gerechtigkeit und Walten einer gütigen Vorsehung, die vor dieser Entscheidungsszene von Leonore beschworen wurde, aber bange Momente hindurch nicht realisierbar schien. Beethovens Musik verleiht dem Augenblick seinen untrüglichen Sinn: So drastisch das erste Trompetensignal auf dem mediantischen Trugschluss nach B-Dur in das musikalische Geschehen des Pezzo agitato II einbricht, so selbstverständlich eröffnet es den harmonischen Klangraum eines nahezu homophonen Quartettsatzes, dessen Stimmverteilung die Figurenkonstellation exakt spiegelt: Leonore und Florestan, Sopran und Tenor sind im homophonen Duettsatz geführt, während die beiden tiefen Männerstimmen, Pizarro und Rocco, mit eigener rhythmischer Faktur ausgestattet sind, die bei Pizarro eigenständiges, vom Oberstimmenduett abweichendes Profil gewinnt - ein satztechnisch realisiertes Stimmenverhältnis von 2: 1: 1, das sich in der abschließenden Stretta in analoger Funktion wiederholt. In vergleichbarer Affektspannung ist die Äußerungsweise der Figuren individuell profiliert. Entscheidend ist jedoch der Wiedereintritt des Trompetensignals in B-Dur, das nun nicht mehr als (mediantischer) Eklat erklingt, sondern als logische harmonische Konsequenz von der Dominante F-Dur zur neuen Tonika B-Dur (T. 140f.). Der Sinn der traditionellen Kadenz ist unverkennbar: Das Überraschungsmoment ist nun Gewissheit, ja Selbstverständlichkeit. In der Logik der Rettungsdramaturgie löst sich die intensive emotionale Spannung des Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung 67 Concertatos, das gleichsam atemlose Innehalten des Erstaunens und Erschauerns über das Walten der Vorsehung, im finalen Jubel, der der Gewissheit der Rettung beredten Ausdruck verleiht. 16 Die dramaturgische Disposition des gesamten Kerkerquartetts - dies ist der vierte Aspekt der musikdramatischen Individualisierung - kehrt in der abschließenden Stretta die fulminante Zielspannung der gesamten Szene mit musikalischen Mitteln hervor. Der 51taktige Vokalsatz (T. 147- 197) gewinnt, nach probatem italienischen Vorbild, seine formale Signatur durch Wiederholungen und thematische Analogien in simplen harmonischen Zusammenhängen: T. 159-169 T. 169-176 in der Tonika D-Dur T. 176-180 T. 181-184 auf dem verminderten Septakkord über ais T. 185-188 T. 189-193 in der Dominante A- Dur Der Rest ist Modulation in die Tonika (T. 147-158) und deren schematische kadenzielle Bestätigung (T. 193-197). Diese Stretta stellt weniger den Aufruhr der Seelen dar; sie vermittelt vielmehr in aufdringlicher Weise die Möglichkeit, ein Ende zu machen, die Ungewissheit der zuvor erlebten Ereignisse eindrucksvoll zu lösen und das glückliche Ende der Handlung zu präfigurieren. Nichts trübt, so scheint es, das Hohelied der Vorsehung, das hier gesungen wird, obgleich Pizarro und selbst Rocco durch die Ankunft des Ministers in emotionale, ja existenzielle Zweifel gestürzt werden. 17 Deren Artikulation wird im lärmenden Stretta-Getöse allerdings erstickt. Die subtile musikdramatische Individualisierung des Agitato- und Concertato- Satzes setzt sich in der Stretta nicht fort - im Gegenteil: Die mäßig profilierte, nahezu homophone Stimmführung des Vokalsatzes und die Dominanz der Kadenzschritte suggerieren eine Totalisierung des Affekts auf alle Individualfiguren, die im Finale der Oper in die kollektive Affirmation gesteigert wird. Der krasse stilistische Niveauunterschied zwischen Concertato und Stretta weckt freilich Zweifel an der Plausibilität dieser Lesart. Die strukturellen Widersprüche in Beethovens Komposition lassen sich nicht mit dem Hinweis auf eine Kolportagehandlung und auf die Funktionsfähigkeit einer Rettungsdramaturgie erklären, in deren Zentrum die metaphysische Instanz der Vorsehung die Akzeptanz der erzählten Ereignisse gewährleistet. Auch gattungs- und genrespezifische Aspekte vermögen die ästhetischen Brüche des Partiturtextes nur partiell zu begründen. Da sie gleichwohl virtuelle Bestandteile des Textes sind, verlohnt die Suche nach ihrem Sinn, nicht zuletzt in dem Bestreben, Martin Kušejs szenische Interpretation zu würdigen, die gerade an den ästhetischen Brüchen dieses Quartetttextes ansetzt und seinen vermeintlichen Defekt für die Entfaltung einer modifizierten Deutung nutzt. Die Inszenierung betreibt mithin eine exemplarische Dekonstruktion der Partitur, die das Verhältnis von Pezzo concertato zu Stretta neu definiert und aus dem gewandelten Verständnis ein verändertes Thema der Opernhandlung folgert. Dekonstruktion meint hier im umfassenden, textkritischen Sinn das Verfahren, in einem Diskurs “auf[zu]zeigen, wie er selber die Philosophie, die er vertritt, bzw. die hierarchischen Gegensätze, auf denen er ruht, unterminiert, indem man die rhetorischen Verfahren nachweist, die die angenommene Basis der Beweisführung, den Schlüsselbegriff oder die Voraussetzung erst schaffen.” 18 Demzufolge werden die in Texten aller Art angelegten Widersprüche und Ambiguitäten nicht mehr, wie im traditionellen historiographischen Verständnis üblich, zugunsten einer mutmaßlichen Autorintention in der Rezeption übergangen oder durch das Wirken gesetzmäßiger Strukturen, etwa diejenige einer Gattung, eines Genres oder einer Funktion, erklärt, sondern “als Problem und Chance der Lektüre ins Zentrum der Aufmerksam- 68 Jürgen Schläder keit” gerückt. Darin liegt das “provokative Potential” der Dekonstruktion, die “den Prozess der Lektüre nicht mehr nur als Entschlüsselung von Bedeutung [begreift], sondern als virtuellen Bestandteil der Texte, in ihnen angelegt als Mangel und Anspruch, durch jeweils neue Deutungen anders entfaltet zu werden.” 19 Damit avanciert das veränderte Funktionsverständnis von Textlektüre zum Interpretationsverfahren. Die textimmanenten Brüche im Kerkerquartett des “Fidelio” lassen sich in dramaturgische und kompositorisch-tektonische Aspekte zusammenfassen. Die Kürze des Concertatos, das mit 20 Takten nicht einmal den zehnten Teil des gesamten Quartetts einnimmt und auch durch das langsamere Tempo (Un poco sostenuto) kaum an quantitativem Gewicht gewinnt, verhindert die strukturelle Balance der drei Quartett-Sätze. Unter dem affirmativen Brio der Stretta wird die Wirkung der Kontemplation verschüttet. Auch der innere Zusammenhang der beiden Sätze und somit die sinnstiftende inhaltliche Verknüpfung der dramatischen Augenblicke ist in Beethovens Musik, im Unterschied zum äußerlichen Gang der Handlung, nicht formuliert. Keine harmonische Logik, keine sinfonische Überleitung, kein klanglicher Anschluss leitet vom kontemplativen Erschauern in den finalen Jubel. Vom Pezzo concertato zur Stretta führt kein Weg. Der Schlusssatz setzt ein (T. 147) mit abrupter Rückung um einen Halbton aufwärts und auf einem verminderten Septakkord, der zu Beethovens Zeiten die schrillste Dissonanz und die ambivalenteste harmonische Figur bedeutete. Trennend zwischengeschaltet ist die Identifikation des Trompetensignals durch Jacquino, der den Minister im Sprechdialog ankündigt. Die Komposition hebt die äußerliche Lösung des dramatischen Konflikts, die Ankunft des Ministers, nicht auf das ästhetische Niveau der voraufgegangenen musikdramatischen Darstellung, sondern ruft vor Einsatz der Stretta die hybride Form der Gattung, das Singspiel, wieder auf. So lapidar die Begründung für die Stretta im Sprechdialog, so konventionell ihr Stil und ihre musikalische Aussage. Die in der äußerlichen Handlung einsichtige Conclusio der dramatischen Ereignisse, die Gewissheit der Befreiung, die den Affektwechsel vom Concertato zur Stretta handlungslogisch motiviert, findet in Beethovens Komposition jedoch keine Entsprechung. Anstelle eines B-Dur-Finales, das sich unzweifelhaft auf das Concertato bezöge und den utopischen Raum der Kontemplation auch zum inneren, klingenden Handlungsort des finalen Jubels werden ließe, folgt die Tonika des Quartetts, D-Dur. Das Argument, Beethoven habe aus historischen und ästhetischen Gründen kaum anders komponieren können, weil italienische Stretten traditionell von schier endlosen Motivwiederholungen lebten, von der oft unlogischen Nivellierung der Individualcharaktere zugunsten eines totalen Brio-Effekts und einer konkreten harmonischen Rückbindung an die Ausgangstonart der Nummer, verfängt nicht. Eine Komposition, die zwei Sätze lang die Individualisierung des musikalischen Ausdrucks, die eigentümliche Formbehandlung und die singuläre dramaturgische Gliederung zum künstlerischen Prinzip erhebt, hätte vor der Stretta-Konvention nicht kapituliert, wenn Innovation und Individualität auch hier notwendig erschienen wären. Offensichtlich aber stiftet gerade der Bruch der Stilmittel und die Vereinzelung der musikalischen Darstellungsebenen den Sinn der Szene, ja der gesamten Handlung. Vor diesem faktischen Hintergrund irritiert die Deutungstradition der letzten hundert Jahre, die mit Blick auf die leitende Kategorie der Vorsehung die Stretta des Kerkerquartetts als Bestätigung der metaphysischen Ordnungskraft interpretiert und den musikalisch-heroischen Gestus ihrer Musik umstandslos auf das Finale der Oper bezieht, in Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung 69 dem sich dieser Gestus in entschieden größeren Formen und nun tatsächlich vom Individualistenquartett in die kollektive Totale gesteigert wiederholt. Überdeckt werden in dieser Lektüre jene Widerstände und Ungereimtheiten des Sujets, auf die Beethovens Komposition mit Nachdruck hinzuweisen scheint: Eine Vorsehung bedarf zu ihrer Wirkung kaum der realistischen Beglaubigung, wenn man ihr nicht die Aura des Außergewöhnlichen und Überirdischen nehmen will; und die idealistische Handlungsautonomie von Heldenfiguren, die im Finale der Oper lautstark affirmiert wird, verliert ihrerseits den Anspruch der Außergewöhnlichkeit, wenn sich die Gloriole der heldenhaften Tat nicht auf die Handlungsautonomie der Figuren, sondern lediglich auf das Walten der Vorsehung stützt. Insofern steht die Stretta des Kerkerquartetts ebenso quer zum voraufgegangenen Concertato wie das Finale der Oper zu eben dieser Kerkerszene. Es bleibt in Beethovens Komposition offen, ob die Vorsehung in zwei Perspektiven erscheint, in einer metaphysischen (des B-Dur-Concertatos) und einer realistischen (der D-Dur-Stretta) oder ob das vermeintliche Wirken einer gütigen Vorsehung im Verlauf einer glücklichen Rettungsgeschichte nur ein visionärer, wenngleich beglückender Moment der Realitätsüberwindung bleibt, dessen utopischer Charakter in der Stretta herabgestimmt wird auf die lärmende Affirmation einer realistischen Heldenverehrung. In diesem Fall dürfte man der Sinnstiftung der Komposition gar noch extremere strukturelle Bedeutung beimessen: Das Kerkerquartett findet im B-Dur-Concertato sein Ende, das nicht über sich hinausweist, sondern offen und unvollendet bleibt. Nach dem Sprechdialog setzt mit dem wieder aufgenommenen Quartettsatz eine neue Geschichte ein, die die kollektive Heldenverehrung des Aktfinales präfiguriert. An dieser Lektüre des Partiturtextes orientiert sich Kušejs Inszenierung, in der zum Ende des Pezzo agitato II jene verhängnisvolle Konfiguration aufgebaut wird, die während des Concertatos unverändert erhalten bleibt und nach dem zweiten Trompetensignal in die Katastrophe führt: Pizarro hat sein Messer an Florestans Hals gesetzt, und Leonores Pistolenmündung weist aus kürzester Entfernung auf Pizarros Kopf. Die szenische Interpretation stellt einen lückenlosen Zusammenhang der Pezzi agitati mit dem kontemplativen Ensemble her. Der Gefangene selber gibt das Stichwort zu seiner Ermordung, indem er in die Stille nach dem letzten Trompetenton hinein, als Wiederholung seines Gesangstextes, Leonores Namen flüstert und damit ein letztes Mal seine Chance zur Rettung benennt. Während Pizarro als Reaktion auf diesen Hoffnungsschimmer dem wehrlosen Florestan die Kehle durchschneidet, wird er von Leonores Pistolenschuss in den Kopf getroffen. Beide sind sofort tot - eine Lösung der antagonistischen Konfiguration, die ebenso plausibel erscheint wie die Unterlassung jeglicher Totschlags- oder Mordaktion. Im Anschluss wird Jacquinos und der Soldaten Auftritt im Kerker ersetzt durch eine Pantomime der Ratlosigkeit und des Entsetzens. Leonore betrauert den toten Florestan und schließt ihm die Augen, Rocco deckt Pizarros Leichnam nachlässig mit einem Mantel und anderen Kleidungsstücken aus Florestans Gefängniszimmer zu. Beide reagieren also mit ritualisierten Handlungen, die ihnen die Bewältigung des schrecklichen Augenblicks nicht erleichtern, denn Rocco schaut verständnislos auf die Leiche des Gefangenen, während Leonore sich gegen die rechte Zimmerwand wendet und mit apathischer Verzweiflung beide Hände auf eine Stuhllehne stützt. Schwarzblende. Noch während des Blackouts setzt die Orchestermusik der Stretta ein, deren Vokalsatz die vier Figuren stehend bestreiten, ehe auch diese starre Konfiguration zum Presto- Nachspiel aufgelöst wird: Pizarro kriecht in die hinterste Ecke des Zimmers und elimi- 70 Jürgen Schläder niert sich aus der Konfiguration, Rocco läuft verzweifelt von einer Wand zur anderen, Florestan verfällt erneut in jene autistischen Gänge quer durchs Zimmer, die seine Aktionen seit Beginn der Kerkerszene, also schon während seiner Arie bestimmen, und Leonore ergreift vom Bett eines ihrer Kleidungsstücke, die dem gefangenen Ehemann zuvor als Erinnerungspotential an glücklichere Zeiten in Freiheit und Gemeinsamkeit mit der Ehefrau dienten, und “rettet” es gleichsam hinüber in das neue Bewusstsein. Leonore und Florestan verlassen nämlich das als Kasten im schwarzen Bühnenraum aufgebaute Gefängniszimmer und stellen sich auf dem originalen Bühnenboden vor dieser Dekoration zum Duett “O namenlose Freude” auf. Die Inszenierung übernimmt den stilistischen und ästhetischen Bruch zwischen Pezzo concertato und Stretta in ihre Bildersprache. Der Augenblick der Erlösung und Befreiung wird in sein Gegenteil verkehrt, in die realistische Katastrophe von zwei Opfern. Leonore nimmt, gleichsam in Notwehr, Rache an Pizarro, vermag jedoch ihren Ehemann nicht zu retten. Die Behauptung von Beethovens Musik und Sonnleithners Text in der Stretta, die Stunde der Rache sei gekommen und man müsse sie als Sieg affirmieren, nimmt die Inszenierung wörtlich und zeigt die verheerenden Folgen dieser ethisch unhaltbaren Tat: Entsetzen, Ratlosigkeit und fürchterliche Leere der Empfindung. Mit Einsetzen der Stretta beginnt tatsächlich eine neue Handlung oder doch ein neuer Abschnitt der soeben in der Katastrophe gescheiterten Handlung. Die szenischen Zeichen sind unmissverständlich: Die Schwarzblende vor Einsatz der Stretta, die “Auferstehung” der Ermordeten und das Heraustreten der beiden Hauptfiguren aus dem bisherigen szenischen Ambiente in eine neue theatrale Erzählebene lösen das Folgende vom Vorhergehenden ab, indem nicht mehr die konkrete Befreiungsgeschichte zu Ende erzählt, sondern die Rezeption des bislang Erlebten und die Deutung des Geschehens durch die Nachwelt als neue Dimension der theatralen Handlung eröffnet wird. Auch dies formuliert die Inszenierung in ihrer Bildersprache unmissverständlich: Die in das Gefängniszimmer einströmende moderne Gesellschaft, in der Männer durch ihren Brustpanzer über der klischeehaft schwarzen Gesellschaftskleidung nach bewährtem Rollenmuster Männer sind und Frauen in ihren weißen Ballkleidern Frauen, bestaunt Florestan und Leonore während des Duetts wie Fossilien einer versunkenen Welt. Das gesellschaftliche Kollektiv begreift das Geschaute und formuliert sich sein eigenes Verständnis und seine eigene Identität, freilich konzentriert auf Leonore allein. Sie sinkt am Ende des Duetts an der Rampe ohnmächtig zusammen, um im Kontext des Gesellschaftsbildes nach einer weiteren Schwarzblende neu zu erwachen, während Florestan zurücktaumelt in sein Gefängniszimmer und hinter dem sich schließenden Zwischenvorhang mitsamt seiner konkreten Geschichte von der weiteren Handlung suspendiert, ja eigentlich entsorgt wird. Zum großen dreisätzigen Finale erwacht Leonore aus ihrer Ohnmacht, zunächst orientierungs- und verständnislos, zu einer neuen Existenz, die ihr durch die Bildersprache vom Kollektiv diktiert wird. Zurückverwandelt in die Frau, die zum Mann mutierte und auszog, eine mutige Tat zu begehen, wird sie nun aus dem Kollektiv heraus als moderne Heldin geboren und in einem Popanz in der Tiefe der Bühne gefeiert, während sie allein auf der Bühne zurück bleibt. Kušejs Inszenierung dekonstruiert die musikdramatische Handlung von Beethovens Oper in zwei Schritten. Das Misstrauen gegen die metaphysische Instanz der Vorsehung, deren Akzeptanz einem postmodernen Verständnis kontingenter Realitätserfahrung zuwider läuft, suspendiert die Koinzidenz von Rettungschance und Gewissheit der Befreiung. Der Utopie-Diskurs der nachrevolu- Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung 71 tionären Geschichte im frühen 19. Jahrhundert, in den sich die Fidelio-Handlung nahtlos einfügt, ist für den Zeitgenossen der Postmoderne obsolet geworden, weil sich die rhetorischen Verfahren von Beethovens Komposition heute als wenig plausibel erweisen. Vorsehung repräsentiert kein brauchbares Konzept der Weltdeutung und Realitätserfahrung mehr. Der dramaturgische Kunstgriff, in der fiktionalen Handlung der Oper die glückliche Auflösung einer schier ausweglosen Gefahr als wahrhaftig zu beglaubigen, hat seine Überzeugungskraft eingebüßt. An seine Stelle tritt die Drastik der Realität, die dem Katastrophenerlebnis zuneigt und nicht der metaphysischen Beglückung und Tröstung. Der Partiturtext selber liefert mithin den Schlüsselbegriff für die Integration des historischen Textes aus dem 19. Jahrhundert in einen modernen Diskurs über Freiheit, Helden, Gewalttaten und Affirmation von Idealismus. Darüber hinaus aktualisiert die moderne Lektüre des Partiturtextes die ästhetischen Brüche der Kernszene, des Kerkerquartetts, zur Absicherung des veränderten Diskurses. Die Inszenierung begreift die Stretta des Kerkerquartetts nicht als Conclusio der Heldentat, sondern als Begründung eines neuen Diskurses über kollektive Erfahrung von Katastrophenbewältigung. 20 Nicht wegen Leonores mutiger Opposition gegen Pizarro, sondern trotz des Widerstandes wird sie zur Heldin stilisiert. An die Stelle der Vorsehung, die im frühen 19. Jahrhundert einem mutigen, ja heldenhaften Rettungskonzept zum Erfolg verhalf, tritt in der postmodernen Gesellschaft die Kreation neuer Heldenmythen und der Glaube an ihre Gültigkeit und Wirksamkeit zur Bewältigung von Katastrophenerfahrungen. Sehr konkret dekonstruiert die Inszenierung den musikalischen Text des Kerkerquartetts, indem sie keine Note der Komposition ändert, wohl aber den textimmanenten ästhetischen Bruch zwischen Concertato und Stretta pointiert und nicht als verklärende Deutung überdeckt. Damit öffnet sie vom Beginn der Stretta an nicht nur eine modifizierte Perspektive der brisanten Konfliktlösung, sondern trifft den Sinn der Fidelio-Handlung in ihrer bis zum Chorfinale fortschreitenden musikalischen Abstraktion aus modernem Verständnis heraus genauer als die bislang in der Deutungsgeschichte als rührseliges Klischee tradierte Akzentuierung der Kolportage-Handlung. Anmerkungen 1 Premiere am 15. März 1998. Musikalische Leitung: Michael Gielen; Inszenierung: Martin Kušej; Bühnenbild: Martin Zehetgruber; Kostüme: Gerda Storch; Licht: Reinhard Traub. Gespielt wurde die dritte Fassung der Oper von 1814, freilich entgegen den historischen Fakten mit der zweiten Leonoren- Ouvertüre als Eröffnungsmusik. Alle analytischen Bemerkungen zu Libretto und Partitur beziehen sich deshalb auf die Fassung von 1814. 2 Bernd Feuchtner, “Wiegendlied für eine Leiche. In Stuttgart gewinnt ‘Fidelio’ mit Michael Gielen politische Wut, aber Leonore verliert Florestan”, in: Opernwelt, Mai 1998, S. 6. Worin die andere Hälfte im Gelingen hätte bestehen können oder sollen, verriet Feuchtner leider nicht. 3 Bis in die späten 1990er Jahre betrachteten selbst die avanciertesten Vertreter des Regietheaters die überlieferten Partituren vor allem aus dem späten 18., dem 19. und 20. Jahrhundert als sakrosankt. Eingriffe in die musikalische Substanz des überlieferten Textes lagen noch außerhalb des Vorstellungsvermögens, wodurch der Partitur, anders als den übrigen Textschichten einer Oper oder Operette, auf diese Weise ein eigentümlicher Werkcharakter zudiktiert wurde. Freilich setzten um die Jahrtausendwende vermehrt die kritischen Lesarten auch der Partituren ein, so dass heute, knapp zehn Jahre später, auch musikalische Dekonstruktionsverfahren keine Überraschung mehr darstellen. Als offenbar willkommene Wegweiser dieser philoso- 72 Jürgen Schläder phisch-künstlerischen Verfahren fungierten zunächst vornehmlich Operetten-Inszenierungen, weil die locker gefügte musikalische Struktur der Komposition und die oftmals ambivalente dramaturgische Gliederung der Operettenhandlung den Eingriff in den musikalischen Text begünstigten. Prominente Beispiele der Dekonstruktion von Partituren sind, neben zahlreichen anderen, etwa Christoph Marthalers La Vie Parisienne nach Jacques Offenbach 1998 an der Berliner Volksbühne, Hans Neuenfels’ Fledermaus von Johann Strauß Sohn bei den Salzburger Festspielen 2001 oder, im Repertoire der Oper, Peter Konwitschnys Don Giovanni- Inszenierung 2003 an der Komischen Oper Berlin. 4 Vgl. den Sprechdialog vor dem Kerkerquartett im Textbuch von 1814, in: Ludwig van Beethoven, Fidelio. Texte, Materialien, Kommentare, hrsg. von Attila Csampai und Dietmar Holland, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 69: “PIZARRO: Die muß ich mir noch heute beide vom Halse schaffen, damit alles verborgen bleibt.” 5 Das Textbuch sieht für Pizarro in dieser Passage der Handlung nur zwei Sätze vor, die nahezu unmittelbar aufeinander folgen und den Umschwung seiner Emotionen drastisch formulieren: “Soll ich vor einem Weibe beben? […] So opfr’ ich beide meinem Grimm” (ebd., S. 70). Das Libretto fasst die Opposition der Reflexe so knapp wie möglich. Beethovens Komposition freilich verleiht dem Augenblick eine eigene, spannungsvolle Dramaturgie, weil sie die Zeit zwischen Leonores Lüftung ihres Inkognitos (“Töt erst sein Weib! ”) und dem ersten Trompetensignal auf 47 Takte dehnt, die mit Textwiederholungen aller Figuren gefüllt und in nahezu gleich lange Abschnitte geteilt sind: 25 Takte für Pizarros Überraschung, die er mit Rocco und Florestan teilt; 22 Takte für Pizarros neuerlichen mörderischen Aktionismus (vgl. Beethoven, Fidelio. Große Oper in zwei Aufzügen, Klavierauszug hrsg. von Kurt Soldan, Frankfurt am Main [o.J.], S. 145-147). Bei annähernd gleichem Tempo (Allegro und ab T. 106 Più moto) nimmt dieser Augenblick mehr als ein Drittel des Quartetts bis zu diesem Zeitpunkt ein; allein quantitativ wird die Bedeutung dieser Reflexionspassage somit erheblich akzentuiert. 6 In allen drei Fassungen der Oper wird nicht präzisiert, welcher Verbrechen sich Pizarro schuldig gemacht hat und welche Sanktionen Florestan vorschwebten. Zur abstrakten Struktur der dramatischen Handlung vor allem in der dritten Fassung von 1814 gehört auch die lediglich strukturelle und nicht individuell präzisierte juristisch-politische Konfrontation von Pizarro und Florestan. 7 Vgl. Textbuch, S. 68, Ende von Szene II, 2. 8 Vgl. zum ambivalenten Begriff der Rettungsoper und einschlägigen historischen Beispielen: Sieghart Döhring, “Die Rettungsoper. Musiktheater im Wechselspiel politischer und ästhetischer Prozesse”, in: Beethoven. Zwischen Revolution und Restauration, hrsg. von Helga Lühning und Sieghart Brandenburg, Bonn (Beethoven-Haus) 1989, S. 109-136; dort auch der knappe Hinweis auf die französischen Rührstück-Analogien Fait historique und Mélodrame, deren Schauspieldramaturgie die Rettungsoper zahlreiche Anregungen verdankt (S. 110). 9 Vgl. Pizarros Sprechmonolog vor und nach der Arie “Ha, welch ein Augenblick! ” (Szene I, 5), Textbuch, S. 50f. 10 Die Debatte um den stilistischen Bruch vom Singspiel bzw. der musikalischen Komödie zur heroischen Oper noch in der Expositionsphase des ersten Aktes ist vielfältig und scheint längst nicht abgeschlossen. Den traditionellen, wenngleich angreifbaren Positionen der Forschung neigt Wolfgang Osthoff zu in seinem Fidelio-Artikel in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Band 1, München 1986, S. 217. 11 Der Versuch, das einleitende Orchestermotiv, das in drei aufeinanderfolgenden auskomponierten Doppelschlägen den D-Dur-Tonraum vom Grundton zur Septime abwärts durchläuft und somit modulierend einsetzt (D e, e H), als Pizarros Personalmotiv oder als musikalische Chiffre für die Macht und den Triumph des Bösen zu begreifen, ist vielfach unternommen worden, am eindringlichsten von Willy Hess, Das Fidelio-Buch. Beethovens Oper Fidelio, ihre Geschichte und ihre drei Fassungen, Winterthur/ Schweiz 1986, S. 191-194 (Paraphrase des Quartetts). Die vielfache, Kreation von Heldenmythen statt Walten der Vorsehung 73 inhaltlich nicht homonyme Rekapitulation dieses Motivs, insbesondere seine Verwendung als Orchesternachspiel, in dem wohl nicht Pizarros Personalkonstante dominieren dürfte, wecken Zweifel an seiner dramatischsemantischen Bedeutung. Näher liegt das Verständnis seines strukturellen oder dramaturgischen Sinns als musikalisch einheitsstiftendes Element der komplexen zerklüfteten Szene, das wichtige interne Formgrenzen markiert: die Öffnung des Pezzo agitato I zum Mittelteil (T. 53f.), die Gliederung des Tempo di mezzo I (T. 69f.), den gesamten Pezzo agitato II (T. 106-127) und schließlich das Orchesternachspiel (T. 197-213). Taktzahlen nach der Klavierauszugausgabe von Soldan (vgl. Anm. 5), S. 140-153. 12 Vgl. zur Terminologie der Nummerndramaturgie in der italienischen Oper, auch mit konkreter Bezugnahme auf das zweite Finale des Fidelio: Sieghart Döhring / Sabine Henze- Döhring, Oper und Musikdrama im 19. Jahrhundert, Laaber 1997, S. 95; dort weitere Literatur. 13 Die rezitativischen Passagen bis zum Beginn der Stretta umfassen mit 83 Takten fast 60 Prozent des Agitatos und des Concertatos, was die traditionellen Verhältnisse eines italienischen Opernensembles ins Gegenteil verkehrt, und selbst auf das gesamte Quartett einschließlich der syntaktisch geschlossenen Stretta berechnet, nimmt die rezitativische Darstellung fast 40 Prozent ein. 14 Takt- und Tempoangaben der nachfolgenden Synopse nach dem Klavierauszug von Soldan (vgl. Anm. 5), S. 140-153. 15 “PIZARRO: Soll ich vor einem Weibe beben? So opfr’ ich beide meinem Grimm. Geteilt hast du mit ihm das Leben, so teile nun den Tod mit ihm” - “LEONORE: Der Tod sei dir geschworen. Durchbohren musst du erst diese Brust! Noch einen Laut - und du bist tot! ” (Textbuch, S. 70) 16 Die zweifelsfreie Erlösung Florestans von seinen Qualen und der Sieg der Gattenliebe schon in der Kerkerszene finden sich nur in der zur sinfonischen Abstraktion tendierenden dritten Fassung der Oper von 1814. Die beiden früheren Fassungen von 1805 und 1806 beließen durch den überstürzten Abgang aller Figuren außer Leonore und Florestan sowie der Sicherstellung von Leonores Handfeuerwaffe durch Rocco für die Dauer des nachfolgenden Duetts die Ungewissheit des möglichen Scheiterns. Vgl. den Libretto-Vergleich etwa bei Hess, Das Fidelio-Buch, S. 318. 17 “PIZARRO: Verflucht sei diese Stunde! O Gott, was wartet mein? Verzweiflung wird im Bunde mit meiner Rache sein” - “ROCCO: O fürchterliche Stunde! O Gott, was wartet mein? Ich will nicht mehr im Bunde mit diesem Wütrich sein” (Textbuch, S. 71). 18 Jonathan Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, aus dem Amerikanischen von Manfred Momberger, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 96. 19 Vgl. Patrick Primavesis Artikel “Dekonstruktion” in: Metzler Lexikon Theatertheorie, hrsg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat, Stuttgart 2005, S. 63-67, hier S. 64. 20 Das dekonstruktive Verfahren dieser szenischen Interpretation verfolgt den avancierten Ansatz einer politischen und zugleich intellektuellen Strategie, Realitätserfahrungen und ihre Diskursivität aus der frühen Romantik in die Gegenwart zu transformieren. Vgl. zu diesem Verfahren Jonathan Culler, Dekonstruktion, Kapitel “Dekonstruktion” (S. 95- 256).
