eJournals Forum Modernes Theater 22/1

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0601
2007
221 Balme

Recht als Dis-Tanz: Choreographie und Gesetz in William Forsythes Human Writes

0601
2007
Gerald Siegmund
fmth2210075
Abb. 1: Von der Schwierigkeit, den Menschenrechten zur Geltung zu verhelfen. Fotograf: Dominik Mentzos Recht als Dis-Tanz: Choreographie und Gesetz in William Forsythes Human Writes Gerald Siegmund (Bern) 1. Jeder für sich und alle für eines Es klopft und hämmert, knarrt und knallt, scharrt und schleift. Ein Brausen erfüllt den Raum, der sich dem Besucher zunächst auf ungewohnt akustische Art und Weise eröffnet. Angelockt und gefangen genommen durch die insistierenden Geräusche, streift unser Blick über ein Meer von identischen Metalltischen, deren Oberflächen mit weißem Papier bespannt sind. In Reih’ und Glied sind sie angeordnet; sechzig waren es in der Zürcher Schiffbauhalle bei der Premiere im Oktober 2005, vierzig sind es ein Jahr später im Frankfurter Bockenheimer Depot. 1 Vorsichtig nähern wir uns den Tischen, an denen je ein Tänzer oder eine Tänzerin merkwürdig wirkende Bewegungen ausführen. Einer liegt auf dem Rücken auf der Tischplatte, die Arme eng an den Körper gepresst. In den Händen hält er zwei Kohlestifte, die durch die angespannt ruckelnden Auf- und Abbewegungen des Körpers dicke schwarze Linien auf dem weißen Papier hinterlassen. Nicht die Hände werden, wie in unserer Kultur üblich, zum Schreiben bewegt. Gerade sie verharren hier regungslos, während der übrige Körper durch Reibung an der Tischplatte in Bewegung versetzt wird. Eine Tänzerin steht vor ihrem Tisch und bewirft ihn mit einem Kohlestift, der kleine spitze Punkte auf dem Papier hinterlässt und beim Abprallen in kleine Stücke zerspringt. Beim näheren Hinsehen fällt auf, dass die Tische beschriftet sind. Mit dünnen, kaum sichtbaren Bleistiftlinien sind Worte, Phrasen, Sätze darauf geschrieben - in verschiedenen Sprachen, wie sich beim Inspizieren anderer Tische herausstellt. Die Kohlestriche oder -punkte zielen auf die Worte. Sie übermalen, verfehlen oder umschreiben sie jedoch mehr, als dass sie sie wirklich sichtbar machten. Die Formulierungen entstammen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die die Vereinten Nationen nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs 1948 in Genf verabschiedet haben. Dem Choreographen William Forsythe und dem New Yorker Rechtswissenschaftler Kendall Thomas dienen sie im wahrsten Sinn des Wortes als Grundlage für ihre Performance-Installation Human Writes, deren Titel mit dem Gleichlaut im Englischen von “Right”, dem Recht, und “Write”, Schreiben, spielt. Die Buchstaben des Gesetzes sollen von den Performern geschrieben werden. Das Recht bricht und spiegelt sich hier in der Schrift, das Wort am Fleisch, am Schreiben mit dem Körper und seinen Bewegungen. Das Recht bricht sich mithin an der Choreographie, mit der es, wie zu zeigen sein wird, eine enge Verbindung eingeht. Neugierig gehen wir durch die langen Gänge zwischen den Tischreihen hindurch. Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 75-93. Gunter Narr Verlag Tübingen 76 Gerald Siegmund Abb. 2: Die Befolgung einer allgemeinen Regel produziert tanzende Körper. Fotograf: Dominik Mentzos Abb. 3: Schrift und Körper beziehen sich aufeinander, ohne zu verschmelzen. Fotograf: Dominik Mentzos Kleine Grüppchen bilden sich und lösen sich dann nach geraumer Zeit wieder auf, die Blicke müde geworden von der Sisyphos- Arbeit der Tänzer, die sich bei der Ausführung ihrer Tätigkeit immer selbst im Weg zu stehen scheinen, und formieren sich in anderer Konstellation an anderen Tischen neu. Mittendrin haben wir den Überblick verloren. Der Raum teilt sich in vierzig kleine Performance-Räume, die alle unsere Aufmerksamkeit herausfordern. Es sind lauter kleine Territorien, Inseln im offenen Meer, die von einem Individuum bewohnt und bearbeitet werden. Nachdem wir eine Weile zwischen den Tischen auf und ab gelaufen sind, ändert sich die Szene. Die Dynamik der Aktivitäten steigert sich. Die Zuschauer werden von den Tänzern und Tänzerinnen aufgefordert, ihnen bei der Realisierung der Schrift zu helfen. Gemeinsam soll die Erklärung der Menschenrechte umgesetzt und ihr zur Geltung verholfen werden. Durch gemeinsames Arbeiten sollen die dünnen Bleistiftspuren der Menschenrechte dem Verschwinden und Vergessen entrissen und geborgen werden. An einem Tisch hat sich eine Kette von drei hintereinander stehenden Frauen gebildet, von denen nur die hintere die Augen geöffnet hat, die beiden anderen jedoch mit geschlossenen Augen vor dem Tisch stehen. Die Sehende schreibt die Buchstaben und Worte mit dem Finger auf den Rücken der vor ihr stehenden Frau, während diese den Bewegungen nachspürt und das, was sie erkannt zu haben glaubt, nun ihrerseits auf den Rücken der vor ihr stehenden Frau überträgt, die wiederum blind das Erspürte mit einem Stift zu Papier bringt. Dabei ruft ihr eine Tänzerin Anweisungen zu, links, rechts, hoch, runter, um den Strichen zur Form eines Buchstabens zu verhelfen. In diesem komplexen Spiel der Übertragungen und Übersetzungen vom Sehen zur Bewegung, vom Fühlen und Tasten zum Hören und Schreiben wird ein Kreislauf in Gang gesetzt, der von der Schrift ausgeht, durch die Körper der Teilnehmerinnen läuft, durch verschiedene Sinne kanalisiert wird, bis er im erneuten Schreiben der Buchstaben wieder zum Tisch zurückkehrt. Es ist eine Art Stille Post-Spiel, bei dem das, was vorne eingeben wurde, durch die Übertragung verändert und anders wieder zum Vorschein kommt. Ein junger Tänzer fordert mich auf, ihm zu helfen. Während ich versuchen soll, die Worte nachzuschreiben, wird er mich davon abhalten. Ich schreibe, er schlägt mir den Arm zur Seite. Später tauschen wir die Rollen. Jeder Performer legt sich seine eigenen Spiele zurecht. Er oder sie kann die Spiele nach Belieben ändern. Umstehende greifen ein, bis wir eine ganze Gruppe sind, die gleichzeitig schreibt und das Geschriebene wieder auslöscht. Recht als Dis-Tanz 77 Abb. 4: Die Geste des Körpers eröffnet Handlungsspielräume. Fotograf: Dominik Mentzos Abb. 5: Die Spuren der Bewegung auf den Tischen übermalen die Buchstaben. Fotograf: Dominik Mentzos “fear and want has been proclaimed the highest aspiration of the common people” steht auf unserem Tisch - gerade das Gegenteil von dem, was die Erklärung intendiert. Die beiden Worte “freedom from”, also die Freiheit von Furcht und Not, denen das höchste Streben der Menschen gilt, sind der Begrenzung des Tisches zum Opfer gefallen und abgeschnitten worden. Nach drei oder vier Stunden ist das anfangs so ordentlich gegliederte Feld komplett umgepflügt worden. Tische sind verrückt, hochkant und gegeneinander gestellt worden. Die Hände und Gesichter nicht nur der Tänzer haben sich schwarz eingefärbt, gerade so, als seien sie nach einem anstrengenden Arbeitstag aus der Kohlegrube gestiegen. Verbindungen zwischen den Tänzern und Zuschauern sowie zwischen den vormals isolierten Inseln sind entstanden; Situationen sind durch gemeinsames Handeln hervorgebracht worden und haben ihrerseits das Gesicht des Ganzen geprägt. Human Writes soll, so Forsythe und Thomas im Programmblatt zur Performance, dazu beitragen, über die “Rolle der Kunst in der Erstellung einer ‘Kultur der Menschenrechte’ nachzudenken”. 2 Worin könnte die Rolle der Kunst in der Sphäre des Politischen liegen? Sie liegt zum einen sicher in der Feststellung der Schwierigkeiten, vielleicht sogar der Unmöglichkeit einer vollständigen Umsetzung der Menschenrechte. Davon zeugen schließlich alle Aktionen an den Tischen, die die Buchstaben des Gesetzes bis zur Unkenntlichkeit verstellen. Sich mit dieser Beobachtung zu begnügen, hieße jedoch, die Situationen, die sich während der Zeitdauer der Performance ereignen, von vornherein mit dem Unterton der Resignation zu schließen. Am Ende der drei oder vier Stunden hat man aber durchaus nicht das Gefühl des Scheiterns. Im Gegenteil. Je länger man im Raum verweilt und je öfter man mitarbeitet, desto stärker hat man in der Tat das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Human Writes ist auch eine Ausgrabung dessen, was den Menschenrechten zugrunde liegt: der Körper des Menschen nämlich, der durch die Erklärung in seiner Unantastbarkeit geschützt werden soll. Die Frage, die die folgenden Überlegungen begleitet, zeichnet sich hier ab. Wie lässt sich dieser Körper als individueller Körper mit all seinen kulturell unterschiedlich geprägten, radikal subjektiven Erfahrungen und Empfindungen in die Allgemeinheit und Universalität einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufheben? Wie die Differenz erhalten, ohne den Anspruch des Allgemeinen aufzugeben? Diese Frage prägt heute nicht nur den Umgang der Kulturen und Religionen mit ihren unterschiedlichen Wertesystemen miteinander. Sie prägt auch 78 Gerald Siegmund William Forsythe, Human Writes, Fotograf: Dominik Mentzos. Gesellschaften in ihrem je spezifischen Spannungsfeld von individuellem Glücksstreben und dem Geltungsanspruch allgemeiner und damit symbolischer Regeln. Vor diesem Hintergrund möchte ich Human Writes als Denkmodell verstehen, das in der Sphäre der Kunst ein Nachdenken über den Zusammenhang von Individuellem und Allgemeinem in Gang setzt. Die Aufhebung des einen im anderen kann, so die Erfahrungen während der Vorstellungen, nie total sein. Dies als Scheitern zu begreifen, hieße allerdings, die Chance einer Politisierung der Körper in der Kunst zu verkennen. Denn der Ausnahmezustand, in dem wir uns während der drei oder vier Stunden Dauer der Performance befinden (für eine bestimmte Zeitdauer befinden wir uns an einem anderen, abgrenzten Ort, an dem wir Dinge sehen und tun, die wir normalerweise nicht auf diese Weise sehen und tun), macht den Spalt, den Abstand zwischen mir, meinem Körper und den Gesetzestafeln erfahrbar. Zugleich wird darin die Geltung des Gesetzes unterstrichen, ohne das es ‘mich’ und ‘meine’ besonderen Arten mich zu verhalten und zu bewegen gar nicht gäbe. Um diesen kritischen Abstand zwischen Körper und Gesetz, der das Besondere an Forsythes Human Writes ist, soll es im folgenden Text gehen. Dazu werde ich zunächst auf die körperliche Grundlage der Menschenrechtserklärungen eingehen, bevor ich in einem zweiten Schritt mit dem Begriff der Choreographie die Vorstellung eines Gesetzes auf den Bereich des Tanzes übertragen werde. Hier zeichnen sich zwei Wege ab, sich tanzend zum Gesetz zu verhalten: die (Über-)Erfüllung einer Einschreibung des Körpers ins Gesetz und das Herausfallen des Körpers aus dem Gesetz. Über die Distanz, die beide Formen kennzeichnet, komme ich zum Schluss zurück zu Human Writes, das ich als Formulierung einer choreographischen Grundsituation verstehen möchte. Recht als Dis-Tanz 79 2. Der Korpus der Menschenrechtserklärungen Gabriele Brandstetter hat in einem Vortrag über Forsythes Human Writes auf die Medialität des Körpers und dessen Unverrechenbarkeit im Hinblick auf das Gesetz hingewiesen. 3 Forsythe klagt den Körper vor dem Gesetz ein. Seit dem Habeas Corpus-Act aus dem Jahr 1679 gilt der Besitz des Körpers, seines eigenen Körpers, als unhintergehbarer Grund der Politik. Einen Körper zu haben, ist Voraussetzung personaler Autonomie. Im Besitz seines Körpers zu sein, der dem Gesetz gegenüber tritt, ist Voraussetzung dafür, Rechtsperson zu sein. Unverrechenbar ist dieser Körper, weil er der Souverän ist, dessen Unversehrtheit das Gesetz garantieren und schützen soll, der aber auch von diesem Gesetz, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, eingeschlossen und ausgeschlossen wird. Giorgio Agamben hat den Habeas Corpus- Act, der bereits seit Jahrhunderten gängige Rechtspraktiken in England nur mehr verschärft hat, als “Geburt der modernen Demokratie” bezeichnet. Das “Subjekt der Politik” ist der “corpus”, der Körper, der sich aus Anordnung vor Gericht zeigen muss. 4 Der Habeas Corpus-Act, “du mögest den Körper haben”, war ein vom englischen Parlament dem König Charles II abgetrotzte Verfügung, die dessen Willkür im Umgang mit Parlamentsbeschlüssen eindämmen sollte. Ein Untertan der englischen Krone durfte folglich ohne gerichtliche Verhandlung und ohne Nennung der Gründe nicht mehr in Haft gehalten werden. Zentral für Agambens Argument ist hierbei, dass der “Act” sich auf jeden Körper bezieht, “wie immer sein Name darin [im Gerichtsgebäude, Westminster, G.S] lauten mag”, 5 d.h. er bezieht sich auf Körper unabhängig vom “qualifizierten Leben des Bürgers”, 6 unabhängig von Stand oder Status, Rang und Namen der Person. Jeder muss gleichsam als “nackter”, insignienloser Körper vor Gericht erscheinen. Damit ist nicht nur ein Schutz der individuellen Rechte vor (souveräner) Willkür impliziert, sondern auch eine Übereignung des Körpers an das Recht, das ihn “haben möge”. Es gibt einen Körper “vor” dem Gesetz im doppelten Wortsinn: Bevor der Körper zum politischen Körper wird, und räumlich vor dem Richter, der sich des Körpers bemächtigt. Wenn es stimmt, dass das Gesetz für seine Geltung eines Körpers bedarf, wenn man in diesem Sinn von einem “Verlangen des Gesetzes nach dem Körper” sprechen kann, dann antwortet die Demokratie auf dieses Verlangen damit, daß sie das Gesetz verpflichtet, sich dieses Körpers anzunehmen. […] Corpus ist ein doppelgesichtiges Wesen, das sowohl Träger der Unterwerfung unter die souveräne Macht als auch der individuellen Freiheit ist. 7 Diese sich im und am Körper ereignende Spaltung, die für seinen Status in unseren modernen Demokratien grundlegend ist, 8 wiederholt sich in Bezug auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Déclaration des droits de l’homme et du citoyen), die der Marquis de Lafayette 1789 in der französischen Nationalversammlung einbrachte. Auch hier wird von einer reinen Existenz des Menschen ausgegangen, die nicht identisch ist mit derjenigen des Bürgers. Das Faktum der Menschlichkeit, das durch die Geburt hervorgebracht wird, (darauf bezieht sich der Begriff “l’homme”) steht dem Bürger (“citoyen”) als Prinzip der Souveränität des Staates gegenüber. Agamben verzahnt das Aufkommen der Idee der Menschenrechte mit der Entstehung der neuen, bürgerlichen Nationalstaaten. Das Prinzip der Geburt fällt mit dem der Souveränität in der Nation, im Volk zusammen. Die implizite Fiktion besteht darin, dass die Nativität unmittelbar Nation wird, sodass es zwischen den beiden Begriffen keinen Abstand geben kann. Die Menschenrechte werden dem 80 Gerald Siegmund Menschen zugeschrieben (oder entspringen ihm) nur in dem Maß, als er das unmittelbar wieder verschwindende (oder vielmehr gar nie als solches ans Licht tretende) Fundament des Bürgers abgibt. 9 Durch die kriegerischen Erschütterungen des 20. Jahrhunderts beginnt sich diese Fiktion aufzulösen. Der Flüchtling ist für Agamben die Figur, die die Fiktion der Identität von Geburt und Nation zerschlägt. In ihm klaffen das natürliche Leben und der Status als Bürger auseinander. “Der Flüchtling, der den Abstand zwischen Geburt und Nation zur Schau stellt, bringt auf die politische Bühne für einen Augenblick jenes nackte Leben zum Vorschein, das deren geheime Voraussetzung ist.” 10 In der Figur des Flüchtlings wird das normale Funktionieren der Rechtsordnung außer Kraft gesetzt. Er befindet sich außerhalb des Rechts, obwohl doch sein nacktes Leben dessen Grundlage bildet. Als Ausschluss ist er in es eingeschlossen. Das nackte Leben bildet eine weg- und verschlossene Kammer, eine Stanze, 11 innerhalb des Gesetzes, eine Kammer, deren Wände und Grenzen immer wieder neu gezogen werden müssen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, auf die sich William Forsythe und Kendall Thomas in Human Writes beziehen, steht demnach in einer langen Tradition dieses eingeschlossenen Ausschlusses. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verabschiedet. Obwohl sie als Erklärung keinen völkerrechtlichen Charakter besitzt, betrachtet man sie in der Regel doch als Bestandteil des Rechts der Vereinten Nationen und als Völkergewohnheitsrecht. Der universale transnationale Anspruch, das nackte Leben zu schützen, wird rückgebunden an das Recht auf Staatsangehörigkeit - wobei das übernationale, nackte Leben der Verwaltung durch humanitäre Organisationen zukommt, während das politische, das von ihm abgelöst scheint, nach wie vor in der Souveränität der Nation verweilt. 12 Agambens politische und rechtsphilosophische Argumentation nimmt ästhetische Phänomene nicht in den Blick. Eine Übertragung seines Nachdenkens über den Status des Körpers auf das Feld der Kunst scheint von daher nicht ohne weiteres möglich. Mein Text strebt daher auch keineswegs eine Gleichsetzung zwischen den Erfahrungen eines Flüchtlings in einem Lager und den Teilnehmern an einer Performance in einem Theaterraum an. Obwohl man sowohl die Kunst als auch das Lager mit gewissem Recht als Ausnahmezustände beschreiben kann, bleibt jener der Kunst doch immer noch ein symbolischer Akt. Agamben selbst hat in seinem Text Hinweise darauf gegeben, dass die Unhintergehbarkeit des Körpers im Habeas Corpus-Act sich in der Bedeutung des Körpers für die Philosophie des späten 17. Jahrhunderts spiegelt. 13 Eine Übertragung seines Körperdenkens scheint demnach insofern gerechtfertigt, als man die beschriebene Struktur als grundlegenden Rahmen begreift, innerhalb dessen wir Körperkonzepte entwerfen können. Die Struktur des eingeschlossenen Ausschlusses prägt sowohl unser Denken vom Körper als auch unser Verhältnis zu uns selbst und zu den Institutionen, in die wir eingebunden sind. Insofern der Souverän, der einst die Spaltung als homo sacer in sich austrug, heute das Volk und damit jeder von uns ist, “verstreut” sich das heilige Leben “in jedem einzelnen Körper”. 14 Diese Körper bilden das vorgeprägte Material von Tanz und Theater, deren Einsatz sie sind. In der Übertragung auf den Tanz, dessen Instrument der Köper ist, bildet dabei ein Begriff die entscheidende Schnittstelle zwischen Körper und Gesetz: der der Choreographie. Um ihn soll es im Folgenden daher gehen. Recht als Dis-Tanz 81 3. Choreographie als Gesetz des tanzenden Körpers Die Bedeutung des Wortes “Choreographie”, das Schreiben (gr. graphein) des Tanzes oder Reigens (gr. choros), wird heute in der Regel mit “künstlerische Gestaltung und Festlegung der Bewegungen und Schritte eines Balletts” wiedergegeben. Es ist aber die, laut Duden, frühere Bedeutung des Wortes, nämlich “graphische Darstellung von Tanzbewegungen- und haltungen”, 15 die im Zusammenhang des Gesetzes eine deutlichere Sprache spricht. Choreographie stellt dem älteren Gebrauch gemäß ein Verfahren der Verschriftlichung, des Aufschreibens von Tanzbewegung dar. 16 Die “graphische Darstellung” bindet den tanzenden Körper an die (Schrift-) Zeichen, die ihm regulierend vorschreiben, was er tun muss, um ein “guter” Tänzer zu sein. In dieser Formulierung wird die Verbindung zum Gesetz bereits mehr als deutlich. Choreographie ist mithin das Gesetz des sich bewegenden Körpers. Eine direkte Verknüpfung dieser Verbindung hat André Lepecki in seinem Buch Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement hergestellt. 17 Lepecki geht in einer brillanten Analyse zurück zur frühneuzeitlichen Urszene der Choreographie, zu Thoinot Arbeaus 1588 erschienenes Buch Orchésographie. 18 Die Begründung der Choreographie erfolgt darin in einem Dialog zwischen einem Mathematiker, Tanzmeister und Priester, Arbeau, und seinem Schüler, dem Juristen Capriol, der nach Jahren der Abwesenheit nach Lengres zurückkehrt, um von Arbeau die Kunst des Tanzes zu erlernen. 19 Nach einer Erörterung antiker Autoren und deren Verhältnis zum Tanz stellt Arbeau fest, dass man über die Tänze der Alten nichts wisse und dass auch die neuen Tänze der Nachwelt nicht erhalten bleiben werden, woraufhin Capriol vorschlägt, sie doch aufzuschreiben. Gegen Arbeaus “Il le faut ainsi coniecturer”, man müsse sie erahnen oder gar erraten, setzt Capriol die Schrift: “mettez en quelque chose par escript”. 20 Der Zweck der Niederschrift der Tänze ist ein zweifacher. Auf der einen Seite ermöglicht sie dem Schüler auch in Abwesenheit des Lehrers allein in seinem Zimmer zu üben und die Tänze einzustudieren. “Vray est que vostre methode d’escripre est telle, qu’en votre absence, sur vos theoriques & perceptes, vn disciple pourra seul en sa chambre apprendre vos enseignements”. 21 Auf der anderen Seite erlaubt sie es dem Lehrer beim Aufschreiben, sich wieder in der Gesellschaft seiner Jugend zu wähnen: “en escriuant, il vous semblera raieunir & auoir les mesmes compagnies qu’auiez en vostre jeunesse”. 22 Lehrer und Schüler treten gleichsam über die Abwesenheit des körperlichen (tänzerischen) Aktes, dessen Lücke die Tanzschrift ausfüllt, in Kontakt zueinander. 23 Choreographie entsteht demnach in der Verbindung zweier gesetzgebender Instanzen, dem Priester und dem Rechtsanwalt. Lepecki definiert Choreographie daher auch “as an answer to a call from and for the law”. 24 At the critical point where dance finds its new destiny as choreography, we find the joint labours of a lawyer and a priest. Here is a powerful foundational duo to consider choreography’s ontohistorical relationship to the force of law. […] The young lawyer’s desire for a dance as a mode of socialisation initiates a project that is as much kinetic as it is textual, as much social as it is subjective, as much corporeal as it is a writing project: orchesography. 25 Lepeckis Argumentation deckt wichtige historische Voraussetzungen des Choreographiebegriffs auf, indem sie Choreographie als männliche Machtstruktur und Struktur der Ersetzung des Körpers durch Zeichen und deren Erinnerungsfunktion rekonstruiert. Dabei läuft er aber letztendlich Gefahr, Choreographie auf das ihr inhärente Moment der Unterdrückung von Körperlichkeit zu reduzieren, die Machtfrage also einer dem Tanz und 82 Gerald Siegmund dem tanzenden Körper externen Instanz zuzuschreiben (dem Priester und dem Rechtsanwalt). Politisch sind für Lepecki in Folge dann jene Tanzstücke und Performances, die mit nicht-kodifizierbaren, nicht regulierbaren Bewegungen arbeiten, Bewegungen also, die sich der Choreographie als Vor-Schrift widersetzen. Stillstand und Stolpern, Kriechen und Verlangsamung, das Kippen der vertikalen Ausrichtung der Körper auf der Bühne und der Zuschauerblicke in die Horizontale des Bodens sind Verfahren, die in der Choreographie eingeschriebene normative Repräsentation von Körpern zu umgehen. Doch auch der Rechtsanwalt, der allein in seiner Kammer das Tanzen nach Vorschrift übt, tut dies mit seinem Körper. Auch der alte Tanzmeister und Priester, der die Tänze notiert, erinnert sich zumindest an seine körperliche Praxis des Tanzens. Mit Agamben kann man daher sagen, dass auch das choreographische Gesetz einen Körper voraussetzt, den es, habeas corpus, zugleich ein- und ausschließt. Das Gesetz kümmert sich um diesen Körper, weshalb er auch nicht in einer einfachen Geste der Umkehr als widerständig aus ihm ausgeschlossen werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung kann man die Anrufung des Körpers durch das Gesetz und nach den Erfordernissen des Gesetzes im Tanz noch weiter denken. Hierzu gilt es das Ziel der Choreographie noch einmal in den Blick zu nehmen. Capriol möchte in der Kunst des Tanzens unterrichtet werden, um “cette ciuilité” 26 zu erlernen, den perfekten gesellschaftlichen Umgang, der es ihm ermöglicht, sich vor allen den jungen Frauen zum Zwecke der Heirat zuzuwenden. “[P]our complaire aux damoiselles” 27 ist es unabdingbar, Tanzen zu lernen, weil, so Arbeau in einer Replik auf Capriols Wunsch, die Tänze deshalb praktiziert würden, um sicherzustellen, dass die Verliebten auch gesund seien und über ihre Körper verfügten (“dispos de leurs membres”). Beim Tanzen könne man feststellen, ob man sich gegenseitig riechen könne, ob der andere einen faulen Atem habe oder gar stinke, was Arbeau mit dem Ausdruck “l’espaule de mouton”, Hammelschulter, belegt. Auch Capriol hat seinerseits Sorge, ohne den Tanz nur Tier zu bleiben. Keiner solle ihm vorwerfen können “que j’aye vn coeur de porc & une teste d’asne” 28 , dass er eine feiges Schweineherz und den Kopf eines Esels habe. Der Tanz sei demnach absolut notwendig, “pour bien ordonner vne societé”. 29 Damit der Rechtsanwalt, der vor dem Priester die Choreographie erfindet, das Gesetz, das als Forderung an den Körper schon vor der Choreographie existieren muss (schließlich hat man auch vor der Etablierung der Choreographie als Schrift auf dem gesellschaftlichen Parkett getanzt), einhalten kann, wird es an die Schrift rückgebunden. Das Geschriebene “sera cause que j’apprendray ceste ciuilité”. 30 Nur weil es die Choreographie gibt, kann ich den richtigen gesellschaftlichen Umgang lernen. Sie ist der Grund für mein richtiges Verhalten, weil sie mir einen Körper gibt, in dem mein nicht gesellschaftsfähiger, tierischer Körper aufgehen kann. Dieser neue Körper ist ein allgemeiner, gesellschaftlicher Körper, der jedem offen steht, der kein Schweineherz und keinen Eselskopf haben will. Er setzt Männer in einem ersten Schritt mit sich und dem Gespenst des anderen Mannes, des Lehrers, und in einem zweiten Schritt auch mit Frauen in Beziehung und schafft so gesellschaftliche Verbindungen, die das zukünftige Leben der Gesellschaft garantieren. Das Gesetz der Choreographie produziert und perpetuiert diese Allgemeinheit aufgrund der Schriftzeichen, die ihren Wert rein konventionell und relational erhalten. In deren Netz verfängt sich der Körper und wird dadurch, das legen Arbeaus Tiervergleiche nahe, erst zum Menschen, der ohne den signifikanten Einschnitt des symbolischen Gesetzes auch körperlich nicht existiert. Die Choreographie ist das allgemeine (kodifizierte) Recht auf einen gesellschaftlich anerkannten Körper. Recht als Dis-Tanz 83 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Choreographie als Gesetz zwar den tanzenden, sich bewegenden Körper reguliert, doch sie bringt ihn auch als solchen hervor, indem sie ihn stützt und dadurch zum menschlichen Körper macht. Sie ist nicht nur ein Mittel zur Kontrolle und Unterdrückung von niederen Gerüchen, Affekten und nicht verwertbaren Bewegungen, die das phantasmatische Bild des Körpers ausschließen muss, sondern eröffnet erst den Raum für deren Produktion und Übertragung. 4. Kurbel, Knochen und Muskel, oder: Die Verkörperung des Allgemeinen Zieht man in Betracht, dass Ludwig XIV spätestens seit der Gründung der Académie Royale de danse 1661 mit dem Körper Politik gemacht hat, gewinnt die Verbindung zwischen Choreographie und Gesetz mehr als nur metaphorischen Charakter. Aufgabe der Akademie war es, den französischen Tanz zu kodifizieren und ihn als Teil der Zentralisierungsbestrebungen der Macht der königlichen Kontrolle zu unterstellen. Das Mittel, diese Kontrolle zu garantieren, war ein choreographisches Notationssystem, das Beauchamps von 1674 an auf königliches Geheiß entwickeln sollte. Resultat war das 1699 von Raoul-Auger Feuillet veröffentlichte Buch Chorégraphie ou l’art de décrire la danse, par caractères, figures et signes démonstratifs, in dem Feuillet Arbeaus Pionierleistung in Sachen Choreographie explizit anerkennt. Das universelle Notationssystem hatte den Vorteil, dass autorisierte Tanzmeister in Paris und in der Provinz mit seiner Hilfe kommunizieren konnten. Tänze anderer Länder und Höfe konnten mit seiner Hilfe aufgeschrieben, publiziert und bekannt gemacht werden. Umgekehrt konnten sie auch “französisiert” werden, indem man sie adaptierte. Wie Jean-Noel Laurenti festgestellt hat, mündete die Verschriftlichung der Tänze in eine Praxis, die die Choreographie völlig unabhängig von der körperlichen Praxis des Tanzes machte. [T]he city’s dancing masters are shut up in a room with paper, writing desk, ‘mathematics case etc.’, as if for a written examination; they compose choreographies for balls or ballets, which are then sent to Paris to be judged and classified by the Academy; only afterwards comes the practical test, or ‘execution’. 31 In der Ausführung antworten die Tänzer dem Gesetz, indem sie es in ihren “natürlichen” Körpern materialisieren. Sie üben einen vom König autorisierten Körper ein, um mehr zu werden als “nacktes” (unbedeutendes) Leben, nämlich Gesellschaftskörper. Zumindest im Hinblick auf den Tanz ist Agamben und Foucault zu widersprechen, wenn sie das “nackte Leben” im ancien régime als “politisch belanglos” einstufen. 32 Der kreatürliche Körper, wenn auch nicht der breiter Schichten des Volkes wie seit der Französischen Revolution, so doch zumindest der des Adels (oder des Rechtsanwalts Capriol), ist schon insofern wichtig, als dass gerade er es ist, der überführt werden soll in einen hierarchisch gegliederten Gesellschaftskörper, dem der König als Kopf vorsteht. Es ist eine Ordnung, die sich gleichzeitig tanzend hervorbringt und repräsentiert. Die Verkörperung des Gesetzes, der Choreographie, im Tanz leistet mithin dem Vorschub, was Agamben als Fiktion bezeichnet hat, nämlich der Fiktion, dass die Geburt den Körper unmittelbar der Nation unterwirft. Die beiden Körper sollen zu einem phantasmatischen Körper zusammengeschlossen werden, in dem das symbolische Gesetz und die es vorstellig machenden Körperbilder unmittelbar Körper werden und den realen Körper mit seinen üblen Gerüchen, Hammelschultern und Eselsköpfen für immer verdeckt. Die folgenden Überlegungen sind lediglich grobe Skizzen, denen viele einzelne Untersuchungen und Analysen folgen müssen. Sie eröffnen jedoch, auch über die Grenzen 84 Gerald Siegmund einer Tanzwissenschaft im engeren Sinn hinaus, Möglichkeiten für die Theaterwissenschaft, über die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Sprache auf der Bühne nachzudenken. Dass sich im zeitgenössischen Sprechtheater die Register des Körperlichen, Stimmlichen und Sprachlichen (im Sinne des gesprochenen Textes) zunehmend auseinander dividieren, lässt sich nicht nur in Aufführungen von René Pollesch bis hin zu Michael Thalheimer beobachten. Derartige Dissoziationen von Rollenfiguren und Handlungsstrukturen sind in den vergangenen zehn Jahren seit dem performative turn in der Theaterwissenschaft als Produktion phänomenologischer Effekte von Körperlichkeit, Stimmlichkeit oder als Herstellen von Atmosphären beschrieben worden - Effekte, die auf die Materialität der Aufführung und ihre spezifische Raum-Zeitstruktur verweisen und die Theater jenseits von festgefügten Bedeutungszuschreibungen für den Rezipienten zu einem Feld möglicher Erfahrung machen. 33 Vielleicht lassen sich durch die hier vorgeschlagene Fragerichtung an den performative turn anknüpfend weitergehende Erkenntnisse zum Verhältnis von Körper und Sprache im Theater gewinnen? Wenn die Integration von Körper, Sprache und Bild zu dem, was Günther Heeg das “Phantasma der natürlichen Gestalt” genannt hat, 34 immer häufiger unterlaufen wird, wenn also aus der Vorstellung einer Verkörperung von Sinn eine Ent-Körperung der Elemente wird, wie ist der Körper dann rückgebunden an die Sprache? Welche je spezifischen Ent- Körperungen entstehen zu welchem Zweck, wenn die Körper der Darsteller immer öfter aus ihrer Verankerung in der Sprache herausfallen? Greift man die Spuren, die Human Writes legt, hier auf, kann man die Ent-Körperung auch als Re-Politisierung des ansonsten bloß verwalteten Rests ‘Körper’ begreifen, als Notwendigkeit und Aufforderung, ihn als individuellen Körper in ein neues Verhältnis zum sprachlichen Gesetz zu bringen. Letzteres entbindet ihn von seinem Status als bloß faktischem Ding und eröffnet ihm aus der Distanz heraus Vorstellungsräume, in denen das Allgemeine in Bezug auf das Individuelle erscheinen kann. Statt sprachlich vermittelte Inhalte gegen den Theaterraum als körperlich-sinnlichen Erfahrungsraum auszuspielen, gilt es hier gerade an der Sprache als Instanz des Körpers festzuhalten. Bevor ich zu William Forsythes Human Writes als einer bestimmten Form der Ent- Körperung zurückkomme, möchte ich zwei prinzipielle Richtungen umreißen, über Tanz und Choreographie in Bezug auf das Subjekt, das sich seinem Gesetz unterwirft, nachzudenken. Auf der einen Seite steht seit Einsetzung der Choreographie als Schrift das Ideal einer perfekten Verkörperung des Gesetzes, mithin ein Aufgehen des kreatürlichen Körpers im Gesetz. Die Register des Symbolischen, Imaginären und Realen fallen in einer Art Realpräsenz der Ordnung im Moment des Tanzens zusammen. So ist die Unsicherheit beim Tanzen Ludwigs XIV bei einer Ballettaufführung im Garten von Versailles, die Gérard Corbiau in seinem Film aus dem Jahr 2001, Der König tanzt, inszeniert, nicht bloß ein Zeichen für die Krise der Ordnung, sondern diese Krise selbst. Die Figur, die geduldig am Horizont dieses Wegs wartet, um den tanzenden Körper zu empfangen, ist die der Marionette oder des Automaten. Auf der anderen Seite steht die Möglichkeit einer Distanz des Körpers zum Gesetz, mithin ein Herausfallen des tanzenden Körpers aus der Choreographie, was in der Agambenschen Begrifflichkeit die Dissoziation von natürlichem Leben und politischem Körper zur Folge hätte. Dies führte in Teilen der Tanzmoderne seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer Fülle veränderter imaginärer Körperbilder, die sich auf die vermeintliche Natürlichkeit der Bewegung in dem Sinne beziehen, dass sie den Sitz der Bewegung im biologischen Körper (und nicht Recht als Dis-Tanz 85 mehr in der Geometrie des symbolischen Raums) und seinen physiologischen Voraussetzungen suchen. 35 Am Ende dieses Weges, der noch nicht zu Ende beschritten ist und der sich aufgrund der aller Orten beklagten Krise des Symbolischen (der Ordnung, der Werte, der Moral, der Politik, an die niemand mehr so recht glauben will) zusehends radikalisiert, wartet die Figur des Monsters. Die Choreographie verhindert, dass Capriols Körper zu einem hybriden, monströsen Körper, halb Mensch, halb Tier wird. Heinrich von Kleist beschreibt in seinem rätselhaften Essay “Über das Marionettentheater” die letzte Konsequenz der Identität von Gesetz und tanzendem Körper als die Realität der Marionette. Herr C., erster Tänzer an der Oper, versucht darin bekanntermaßen im ersten Argument den Ich-Erzähler davon zu überzeugen, dass die Marionette der perfekteste Tänzer sei, “daß in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut erhalten sein könne, als im Bau des menschlichen Körpers”. 36 Das Ideal des Tanzes, das er dabei formuliert, ist das des romantischen Balletts, das ab 1831 an der Pariser Oper Erfolge feiern sollte. Doch das Antigrave, die Bewegung, die die Schwerkraft aufhebt, die den Boden nur streift, um sich über die träge Materie zu erheben, findet überraschenderweise genau in dem Moment ihr Korrelat in einem leblosen Ding, das nur allzu materiell ist, in dem sie ganz bei sich ist. Die geschwungene Linie, die im Text als “Weg der Seele des Tänzers” beschrieben wird und an deren Ende “ein Gott” steht, wird dadurch zur Ideallinie, wenn sich der Maschinist in den Schwerpunkt hineinversetzt, wenn also Schwerpunkt der Bewegung, die Seele (vis motrix) und Maschinist eins sind. Geschieht das, werden nicht nur alle Glieder der Puppe “tot, reine Pendel”, sondern der Maschinist selbst kann durch ein Ding, eine Kurbel, ersetzt werden, bis der ganzen Konstellation aus Körpern, Linien und Kräften jeglicher Geist ausgetrieben worden ist. Inzwischen glaubte er, daß auch der letzte Bruch von Geist, von dem er gesprochen, aus den Marionetten entfernt werden, daß der Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte hinüberspielt, und vermittelst einer Kurbel, so wie ich es mir gedacht, hervorgebracht werden könne. 37 Ziel des Ideals der Schwerelosigkeit ist die vollkommene Beseelung oder Vergeistigung der Materie, deren äußere Zeichen Grazie und Anmut des tanzenden Körpers sind. Just in dem Moment aber, in dem der Körper mit diesem Ideal, das ein göttliches, mithin ein symbolisches ist, verschmilzt, sich selbst transparent wird als Geist, der den Körper abgestreift hat, wird er zurückverwiesen auf das, was die Erscheinung der symbolischen Ordnung stützt: ein Ding, das im romantischen Ballett in der Tat ein harter Gegenstand ist, der Holzkeil des Spitzenschuhs nämlich. Ist bei Kleist die Seele letztlich eine Kurbel und der Tänzer eine Marionette, so findet sich bei Hegel die Formulierung “daß das Sein des Geistes ein Knochen ist”. 38 Slavoj Žižek liest diese Stelle aus der Phänomenologie des Geistes als Positivierung der Unmöglichkeit des Subjekts, sich selbst als Substanz gegeben zu sein. [D]as Gefühl der absoluten Unangemessenheit, des Widerspruchs, welches das Urteil ‘der Geist ist ein Knochen’ in uns hervorruft, ist paradoxerweise die einzige ‘adäquate’ Vorstellung des Subjekts als der reinen Kraft der Negativität. Das Objekt - der Knochen - funktioniert in dieser Gleichung nur als positivierter Mangel: Es füllt das Leere, die Unmöglichkeit, die das Subjekt selbst ist. Das Äquivalent des Subjekts im Anderen ist das Objekt, das leblose Moment, welches das Loch im Anderen ausfüllt. 39 Gerade weil der Körper des Gesetzes lediglich eine (gesellschaftlich notwendige) Fiktion ohne Ontologie ist, kann auch eine Kurbel für ihn einstehen. “Das Subjekt, welches sich vollkommen im sprachlichen Medium verliert (die Sprache der Gesten und Grimassen, 86 Gerald Siegmund die Sprache der Schmeichelei), findet sein gegenständliches Korrelat in der Leblosigkeit eines nicht-sprachlichen Objekts (Schädel, Geld)”. 40 Das tanzende Subjekt, das sich in seinen Figuren ganz dem Gesetz der Choreographie unterwirft, findet sein gegenständliches Korrelat in einem nicht-bewegten, leblosen Ding, der Marionette, oder, um es zu pointieren: der Elongation des Spitzenschuhs. 5. Verhandlungen vor dem Gesetz Der zweite Weg der Distanznahme, den ich oben kurz umrissen habe, folgt unmittelbar aus dem eben skizzierten. Denn das, was als letztes Hindernis auf dem Weg zur völligen idealen Transparenz des Ballettkörpers steht, seiner Durchlässigkeit von innen und außen, von Geist, Seele, Gefühl auf der einen und dessen Darstellungsmodi für andere im Aufführungszusammenhang auf der anderen Seite, ist genau jenes Ding, das die Möglichkeitsbedingung des Subjekts präsentiert. Nur weil es dieses Ding als harten Kern gibt, kann ich mich auf das Gesetz beziehen, ohne mit ihm identisch zu werden, ohne ins Objekt zu fallen und bewusstlose Marionette zu werden. Ohne diesen Spalt, diese Lücke, diesen Abstand, der es ‘mir’ ermöglicht, ‘mich’ im Hinblick auf den Anderen zu imaginieren, um ein Bild von mir zu erhalten, um Handeln und Scheitern zu können, gäbe es kein Subjekt. Vor diesem Hintergrund nimmt die Funktion von Choreographie als syntagmatische Struktur, der die tanzenden Körper folgen müssen, eine andere Bedeutung an. Sie ist nicht, wie bei Lepecki, einseitig zu verstehen als Unterdrückung des “Körpers”, sondern auch als Ermöglichung von Subjektivität. Sie bringt hervor und produziert, gerade weil sie uneinholbarer Widerstand und Reibungspunkt ist. Dadurch ermöglicht sie es dem Subjekt, sich aus seinem Solipsismus zu lösen und sich als gesellschaftliches Subjekt in ihrem Signifikantennetz zu verhaken. Die politische Dimension von Bewegung tritt also nicht dann zutage, wenn Choreographie aufgehoben wird, sondern in einem radikalen Zuende-Gehen des Wegs, bis die Körper jenseits der marionettenhaften Verschmelzung mit der Ordnung auf der anderen Seite wieder in Distanz zur Struktur geraten. Dieser Weg steht natürlich auch dem (neo-)klassischen Ballett offen, in dem trotz der gepflegten Idealvorstellung von der perfekten Ausführung von Choreographie prinzipiell ein Freiraum zwischen mechanischer Exekution und Interpretation durch die Tänzerin oder den Tänzer besteht. Schließt sich der Abstand, wird die Aufführung meistens als schlecht, d.h. als eben zu mechanisch empfunden. Auf der anderen Seite entsteht diesseits der Choreographie ein Raum, in dem Beziehungen zur Choreographie körperlich, im Tanzen oder im Bewegen ausgehandelt werden. Roger Copeland hat schon 1981 in einem wenig beachteten Essay auf die Verwandtschaft zwischen Performance-Strategien der (Neo-)Avantgarden und neo-klassischen Strömungen der Tanz- und Theatergeschichte hingewiesen. 41 Die Choreographin und Filmemacherin Yvonne Rainer, die Anfang der 1960er Jahre im Umfeld der New Yorker Judson Church Gruppe zu arbeiten begann, hat diese Strategie in einem Text, der die geistige Tätigkeit zwar nicht als Knochen oder Kurbel, so doch dem Tanz angemessener als Muskel begreift (“The Mind is a Muscle”), wie folgt beschrieben: The artifice of performance has been reevaluated in that action, or what one does is more interesting and important than the exhibition of character and attitude, and that action can best be focused on through the submerging of personality; so ideally one is not even oneself, one is a neutral ‘doer’. 42 Das Zurücktreten der eigenen Person wird dadurch erreicht, dass die Tänzerinnen und Tänzer bestimmte Aufgaben erfüllen müssen, Recht als Dis-Tanz 87 die ihre Wahlmöglichkeit in der Gestaltung und Ausführung einschränken. Die Parallele des möglichst neutralen Vollziehens von Handlungen (nach bestimmten Vorgaben über die Bühne gehen etc.) zum neo-klassischen Ballett liegt offensichtlich nicht in den produzierten Körperbildern oder in den Bewegungsansätzen. Sie liegt vielmehr genau in der Beziehung dieser beiden auf den ersten Blick ganz unterschiedlich anmutenden Tanzformen auf ein Gesetz, auf ein objektives Korrelat, eine Struktur, der sich die Tänzerinnen und Tänzer unterwerfen, um zu handelnden Subjekten zu werden. William Forsythe und Kendall Thomas formulieren diese Regeln für Human Writes wie folgt: Das Niederschreiben der Erklärung der Human Writes unterliegt jedoch einer übergeordneten Regel: Das Schreiben muss mit einer gleichzeitigen Behinderung dessen einhergehen. Kein Strich oder Buchstabe darf direkt entstehen. Die Performer sind somit gezwungen, indirekte Strategien zu benutzen. Jedwede Markierung, die zu einer Entstehung des Buchstabens beiträgt, muss aus einer physischen Einschränkung, einer Belastung oder einem Widerstand entstehen. 43 Die Regel der indirekten Bezugnahme auf die Schrift erzählt auf der einen Seite, wie es Forsythe und Thomas selbst formulieren, von den “Schwierigkeiten vom humanitären ‘Verfassen’ in einer Welt der ‘unfassbaren Inhumanität’”. Auf der anderen Seite produziert sie aber unaufhörlich Bezugnahmen auf das Gesetz. Sie produziert gemeinsam handelnde Subjekte, deren Handeln gerade durch die Tatsache, dass ihre Individualität an allgemein sprachliche Grenzen stößt, möglich wird. Der choreographische Text, der dabei entsteht, liegt nun nicht mehr notwendigerweise in Form einer detaillierten Bewegungsvorschrift vor, wie sie Thoinot Arbeau im Sinn hatte. Doch auch bei einer Choreographie, die sich im Moment der Aufführung selbst entwickelt und verändert, ist das Entscheidende, dass diese Choreographie aufgrund von Verabredungen, von Vorgaben und Einschränkungen entsteht, die ein allgemeines Miteinander möglich machen. Es sind letztlich Verabredungen, wie die Tänzer miteinander und mit anderen, wie etwa den Zuschauern, in Beziehung treten. Die Beziehungen werden also aufgrund einer gleichsam gesetzlichen Vereinbarung getroffen, die für die Dauer der Aufführung allgemeine Gültigkeit besitzt und in die, wie in Yvonne Rainers Choreographie Trio A aus dem Jahr 1966, jeder, auch nicht ausgebildete Tänzer, eintreten kann - vorausgesetzt, er oder sie hält sich an die Spielregeln. 6. Human Writes als choreographisches Grund-Gesetz William Forsythe hat im Laufe seiner mittlerweile dreißigjährigen Tätigkeit als Choreograph alle hier beschriebenen Möglichkeiten der Verhandlung mit dem choreographischen Gesetz erprobt. Stand in den achtziger Jahren in vielen seiner Arbeiten für das Ballett Frankfurt (Artifact, 1984), für das Pariser Opernballett (In the Middle, Somewhat Elevated, 1987) oder für das New York City Ballet (Behind the China Dogs, 1988) der Code des neo-klassischen Balletts im Vordergrund, so wurde diese Sprache nie einfach nur nachbuchstabiert. So waren etwa die Gliedmaßen der Tänzer und Tänzerinnen in den beiden Pas de deux aus dem zweiten Akt von Artifact derart von der Körpermitte an die Peripherie dirigiert, dass in der Überdehnung der Gelenke plötzlich andere Übergänge zwischen den Figuren möglich wurden, bis sich die gehaltenen Posen selbst im Fluss der Bewegung aufzulösen begannen. Festgefügte Verknüpfungen zwischen den Schritten wurden umgestellt oder gar weggelassen, was zu anderen, bislang unbeachteten Möglichkeiten der Bewegung führte. 44 Bereits hier kann man von einer Distanz zum Gesetz sprechen, die dadurch hergestellt wird, dass die Tänzer 88 Gerald Siegmund es aufnehmen, um durch es hindurch zu gehen. Der Abstand zwischen der Choreographie als Vorschrift und der individuellen Ausführung durch die Tänzer vergrößerte sich in den neunziger Jahren in Stücken wie AlieN/ A(c)Tion (1992/ 93), Self Meant to Govern (1994) und Eidos: Telos (1995). Durch choreographische Verfahren und Methoden, die anderen Orts schon ausführlich beschrieben worden sind, 45 entstanden für die jeweiligen Stücke Grundstrukturen, die als Gerüste funktionierten, innerhalb derer die Tänzer und Tänzerinnen eigenständig entscheiden konnten, wie und mit welchem Bewegungsmaterial sie eine bestimmte Wegstrecke oder Zeitklammer füllten. Dadurch entsteht ein Zusammenspiel, das idealerweise bei jeder Aufführung anders aussieht, weil andere Entscheidungen getroffen worden sind. Die Entscheidungen der Tänzer in bestimmten Situationen für oder gegen bestimmte Ausführungsmodi verändern rückwirkend wiederum das Gesamtgefüge der Choreographie. In all diesen Arbeiten aber ist der Bezug zur Choreographie, an der jeder Tänzer aktiv mit gestaltet, Voraussetzung und Fluchtpunkt für das performative Handeln der Einzelnen. Forsythes Choreographien werden so, wie er selbst einmal in einem Interview sagte, zu “channels for the desire to dance”. 46 Damit ist das Grundproblem im Hinblick auf die Fragestellung nach Gesetz, Recht und Choreographie schon formuliert. Denn wie kann ein allgemeines Gesetz, ohne selbst zur diktatorischen Vorschrift zu werden, auf der einen Seite auf den Einzelfall angewendet werden, ohne etwa kulturelle Unterschiede zu nivellieren, und ohne sich auf der anderen Seite im Unverbindlichen aufzulösen, weil es jeden Einzelfall individuell regeln muss? Wie kann das Einzelne, Individuelle im Allgemeinen ‘sein’ Recht finden, ohne ‘sich’ als solches zu verlieren? Wie kann der unverrechenbare einzelne Körper, von dem Gabriele Brandstetter spricht, im Gesellschaftskörper aufgehen, ohne unterzugehen? Wie kann das “nackte Leben” Agambens als eingeschlossener Ausschluss seinen Abstand zum gesellschaftlichen Körper wiedergewinnen? Wie kann es seine Verhakung im Symbolischen, das letztlich der umfassenden real gewordenen Biopolitik zum Opfer fallen muss, wieder erlangen, ohne die es mit dem Objekt zusammen fiele, das prinzipiell auslöschbar ist? Forsythes Human Writes ist in gewisser Hinsicht eine Fortsetzung des Verhältnisses des einzelnen Tänzers zur Choreographie als Vorschrift, die er in allen seinen Stücken bearbeitet hat. Radikalisiert wird dieses Verhältnis durch Zweierlei. Zum einen geht es hier nicht mehr nur um Choreographie als strukturelles Korrelat zum juristischen Gesetz. Vielmehr wird die Sphäre des Rechts direkt in Form der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als sprachlicher formulierter und niedergeschriebener Grundlagentext für eine Choreographie in das Projekt und die Performancesituation einbezogen. Zum anderen müssen sich hier nicht mehr nur die Tänzer und Tanzstudierenden mit dieser Vorschrift auseinandersetzen, sondern auch das Publikum, das nach Ansage von klaren Vorgaben zusammen mit den Tänzern an der Bergung des Gesetzes arbeiten kann. Dass man dabei noch viel weniger von einer Verkörperung des Gesetzes als bei anderen Arbeiten Forsythes sprechen kann, ist aus meinen Ausführungen zu Beginn dieses Textes mehr als deutlich geworden. Die Ent-Setzung des Körpers, das Ent-Körpern der Choreographie, die als abstrakte Schrift auf den Tischen erscheint, auf die hin sich die körperlichen Aktivitäten der Tänzer und der Teilnehmer jedoch stets richten, eröffnet einen Zwischenraum, der die Fiktion der Einheit von Körper und Gesetz durchstreicht. Man könnte Human Writes daher auch als choreographische und tänzerische Grundsituation beschreiben, die die Anrufung des Körpers durch das Gesetz performativ in Szene setzt. In der Zürcher Schiffbauhalle, im Festspiel- Recht als Dis-Tanz 89 haus Dresden-Hellerau und im Bockenheimer Depot in Frankfurt/ Main werden wir vor die Buchstaben des Gesetzes zitiert, eines Gesetzes, das den Körper braucht und voraussetzt, weil es zu einem Schutz ausgerufen wurde, und ihn gleichzeitig aber, kommt man ihm zu nahe, in eine leblose Marionette zu verwandeln droht. Wir erhalten Achtung vor dem Gesetz im doppelten Sinn des Wortes als Warnung und als Verehrung. In den zahlreichen kleinen Aktionen, die sich auf, unter, neben oder zwischen den Tischen entspinnen, wird das Gesetz geborgen. Alle Versuche zielen letztlich darauf, die Erklärung der Menschenrechte zur Erscheinung zu bringen, ihnen buchstäblich wieder zu einer Vorstellung zu verhelfen und nicht zu einem substantiellen (biopolitischen) Sein, ihrer Idee wieder einen Bezug zum Körper und damit Wirkkraft zu geben, ohne die Lükke zwischen Buchstabe und Körper zu schließen. Vielleicht erscheinen die Wörter und Formulierungen des Gesetzestextes auf den Tischen deshalb immer nur bruchstückhaft. Selbst ganze Sätze aus der Erklärung sind oft um einzelne Wörter gekürzt. Das Ganze, um das es doch schließlich geht, gerät so nie wirklich in den Blick, hebt sich nie als Geschlossenes ins Bild. Selbst der Performanceraum als solcher, den man mit einem Daraufblick (der aber nicht möglich ist, sind wir doch immer irgendwie mitten darin) immerhin als Bild der Situation der Menschenrechte beschreiben könnte, bearbeitet an keinem der drei Aufführungsorte den gesamten Text der Erklärung, der lediglich als winziger Fluchtpunkt dem Geschehen entrückt am Eingang aufgehängt wird. Er bleibt Vorstellung. Durch die Lückenhaftigkeit ausgelöst, eröffnen sich den einzelnen Teilnehmern oder Gruppen an den Tischen aber Möglichkeiten des Verhaltens dem Text und anderen Menschen gegenüber. Haltungen werden gesucht und eingenommen, verworfen und verändert. Positionen werden definiert, die sich als nicht haltbar erweisen, die physisch unrealisierbar sind, die erschöpfen und zu anderen Strategien führen. Es sind in der Tat buchstäbliche Haltungen, die die Körper einnehmen: von den Buchstaben des Gesetzes infizierte Haltungen, die unsere Körper mit dem Gesetz verhaken, ohne dass wir in ihm aufgingen. Die Rückbindung des Körpers an die Schrift macht auch die mehr oder weniger spontanen Bewegungen der Teilnehmer zu einer Choreographie. Sie stellt sich her im Umgang mit der Schrift und kümmert sich weder um Aussehen und Perfektion der Agierenden noch um Gelingen oder Scheitern ihrer Strategien. Wenn ich von Haltungen gesprochen habe, die eingeübt werden, betont das den Unterschied zum Bild. Es geht nicht darum, sich ein Bild von einer wie auch immer gearteten Realität der Menschenrechte zu machen, es von der Erfahrung der eigenen oft schwierigen Haltung abzuziehen und gerahmt zu verschließen. Human Writes ist in diesem Sinn vollkommen unästhetisch. Solche Bilder behaupteten nur wiederum eine Realität, die, wenn denn in der komplexen aktuellen gesellschaftlichen Gemengelage genau das Realwerden von Bildern zum Problem wird, unseren individuellen Zugang zur Realität gerade verstellen, anstatt ihn zu öffnen. Solche Bilder kommen in Human Writes nicht vor. Dafür gibt es andere Bilder, Bilder, die die Spuren unserer Auseinandersetzung mit und vor dem Gesetz tragen - und nichts als die Spuren unserer sich widersprechenden Haltungen. Auf den Tischen entstehen durch die Aktionen mit den Kohlestiften palimpsestartige Übermalungen des Gesetzestextes, der mitunter ganz unter den Spuren vergangener kollektiver Aktionen verschwindet und unleserlich wird. Es sind gestische Einschreibungen in das Gesetz, Spuren unserer Körpers (und nicht sein Abbild), der sich in Bewegung auf das Gesetzt hinspannt, aber nicht mit ihm zusammenfällt. 90 Gerald Siegmund 7. Die Tragkraft der Geste Der Begriff der Geste, der hier auftaucht, erfreut sich im kritischen Diskurs seit geraumer Zeit größter Beliebtheit und ist bereits verschiedentlich auf zeitgenössische Choreographien und auch auf Forsythes Human Writes angewandt worden. 47 So kann man bei der Performance-Installation zunächst von einer Choreographie der Gesten sprechen, die dann einsetzt, wenn die Choreographie als Vorschrift entartikuliert, dekomponiert oder defiguriert wird. Es ist erneut Giorgio Agamben, dessen Definition der Geste als “Mittel ohne Zweck” im Diskurs vorherrschend geworden ist, der für diese Theorie der Geste Pate stand. Die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit [medialità], das Sichtbarmachen eines Mittels [mezzo] als solchem. Sie lässt das In-einem- Medium-Sein [l’essere-in-un-medio] des Menschen erscheinen und öffnet ihm auf diese Weise die ethische Dimension. 48 Agamben meint damit im Kontext seines Essays zunächst keineswegs die künstlerische Geste, sondern die gesellschaftliche Geste des Bürgers, der im ausgehenden 19. Jahrhundert seine Gesten verliert, was sich an zahlreichen Krankheitsbildern wie dem Tourette-Syndrom ablesen lässt. Die Gesten können nicht mehr zur Handlung oder zum Akt übergehen; sie teilen sich vielmehr als ihrem Zweck enthobene, mithin als zwecklose, selbstreferentielle Gesten mit. Agamben überträgt diese Feststellung in einem zweiten Schritt auf die Kunst, wo die Geste zunächst nichts anderes bedeutet als die Selbstreferentialität der Mittel. Die durch Dekontextualisierung entstehende Freisetzung der Mittel, der Bewegungen, der Körper, der Stimmen und der Zeichen sind in der modernen Kunst (denn darum geht es Agamben letztlich) Voraussetzung dafür, dass wir sie in ihrer Potenzialität anders und anderes an ihnen und durch sie wahrnehmen können. Kunst ist im Sinne einer Konsequenzverminderung ihrer Akte seit Kant, einer der Gewährsmänner Agambens, stets zweckfrei. Seine Beschreibung der Geste im Hinblick auf den Tanz erinnert dann auch stark an Mallarmé, Agambens zweiten Bezugspunkt für die Geste im Text, und dessen modernistische Bestimmung des Tanzes als reiner körperloser Bewegung. Die Geste im Tanz ist die “Austragung und Darbietung des medialen Charakters der Körperbewegungen” als solcher. 49 Banal genug, denn das gilt spätestens seit Mallarmés Begeisterung für Loïe Fuller für ausnahmslos jede Form des modernen Kunsttanzes. Das Erstaunliche dabei ist, dass von Seiten der Kritik gerne auf Agambens Gestenbegriff, der in dieser Lesart letztlich ein alter Gemeinplatz ist, zurückgegriffen wird, um ausgerechnet jene zeitgenössischen Phänomene zu beschreiben, die gerade nicht länger im selbstreferentiellen Modus der modernen autonomen Kunst verharren wollen, sondern die qua performativer Kraft handeln, herstellen und in gesellschaftliche Diskurse eingreifen wollen. Ihre Gesten sollen Handlungsspielräume eröffnen. Die Frage nach der Geste muss also mit Agamben anders gestellt werden. Die Choreographie von Human Writes ist nicht etwa deshalb ‘gestisch’, weil darin die Handlung suspendiert und der Sinn in der Schwebe gehalten wird, um in der permanenten Unterbrechung der Gesten der Teilnehmer die Gewalt und die “Unmenschlichkeit der Unterwerfung des Körpers unter den Signifikanten” zu artikulieren. 50 Im Gegenteil. Ohne Unterwerfung unter den Signifikanten gäbe es keinen Körper. In Human Writes mache ich nichts anderes, als im Hinblick auf das Gesetz zu handeln, und erhalte dadurch einen, meinen signifikanten Körper. Wenn Agambens Begriff der Geste hier einen Sinn haben soll, so deshalb, weil die Geste “das Inder-Sprache-Sein des Menschen als reine Mitteilbarkeit” 51 zum Vorschein bringt. Das “In-einem-Medium-Sein” 52 des Menschen Recht als Dis-Tanz 91 heißt nichts anderes, als dass wir immer schon Dazwischen sind. Als Menschen sind wir intermediale Wesen, deren Menschsein sich zwischen sprachlichem Gesetz, Körper und Bild ereignet. 53 Die Ethik der Geste rührt also daher, dass wir immer auf ein Anderes, Allgemeines (die Sprache) bezogen sind, dessen Korrelat in Human Writes die Choreographie als Schrift ist, innerhalb deren Ordnung wir die Spur unserer Verortung aufnehmen müssen. Auf der Suche nach Positionen, die man hier im tänzerisch-choreographischen Sinn durchaus wörtlich verstehen kann, im Rahmen des Gesetzes öffnet und trägt die Geste unseren Körper auf den Anderen zu. Human Writes stellt ein Modell bereit, mit unseren hilflosen und inadäquaten Gesten die Spur des Anderen aufzunehmen, und dies immer wieder zu tun zu müssen, um die totalitäre Erfüllung und Verkörperung des Gesetzes, die sein und unser Ende wäre, zu verhindern. Hier erhält Forsythes Vorgabe der “Unmöglichkeit”, die Aufgabe, die alle erfüllen müssen, um an der Arbeit am Gesetz teilnehmen zu können, noch einmal eine andere Bedeutung. Nicht um ein Scheitern der Menschrechte geht es hier. 54 Denn gerade der indirekte Bezug zum Gesetz, die Unmöglichkeit es direkt auszuführen und zu seiner Marionette zu werden, ist die Möglichkeitsbedingung unseres Handelns und damit unseres Zugangs zu ihm und der Welt. Human Writes fordert unseren kreativen und produktiven Umgang mit dem Gesetz, wobei Umgang hier immer auch wörtlich als Umgehen, als Vermeiden und als Einkreisen zu verstehen ist. Wir gehen um die Tische herum, schauen neugierig oder abwartend zu, weichen vielleicht einzelnen Aufforderung der Tänzer aus und nähern uns doch stets anderen Aspekten des Gesetzes am nächsten Tisch. In dieser Zone des Unbestimmten, die doch den Anspruch des Gesetzes an uns aufrecht erhält, entstehen Situationen, in denen der Bezug des Individuellen, Besonderen zum Allgemeinen möglich, vorstellbar und gemeinsam praktiziert wird. Der Erfahrungsraum, in dem der individuelle Körper involviert ist, und der Vorstellungsraum, der auf ein Abstraktes, Allgemeines zielt, das uns alle einschließt, überlagern sich. In dieser bestimmten Unbestimmtheit ereignen sich die ethische Dimension unseres Menschseins und das Gesetz gleichermaßen. Radikal subjektiviert wenden wir uns von den Gesetzestafeln auf den Tischen ab. Mit dem Rücken zum Gesetz zielen wir mit unseren Kohlestiften oft vorbei und treffen doch ins Schwarze. Anmerkungen 1 Die erste Aufführungsserie von Human Writes fand vom 23. bis 27. Oktober 2005 in der Zürcher Schiffbauhalle 1 statt. Die Performance- Installation wurde dann zur Eröffnung des Festspielhauses Hellerau vom 8. bis 10. und vom 13. bis 25. September 2006 in Dresden wiederaufgenommen. Eine weitere Aufführungsserie fand vom 14. bis 18. November 2006 im Bockenheimer Depot in Frankfurt am Main statt. Ich habe je eine Vorstellung in Zürich und Frankfurt besucht. 2 William Forsythe, Kendall Thomas, Programmblatt zur Performance-Installation Human Writes. 3 Gabriele Brandstetter, “Un/ Sichtbarkeit. Medialität und Medien-Performanz im zeitgenössischen Theater und Tanz”, Eröffnungsvortrag gehalten am 12. Oktober 2006 auf dem 8. Kongress der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, Theater & Medien, an der Universität Erlangen. 4 Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt/ M. 2002, S. 132. 5 Agamben, Homo Sacer, S. 132, Fußnote 1. 6 Agamben, Homo Sacer, S. 132. 7 Agamben, Homo Sacer, S. 133. 8 Agamben sieht sie in Ausweitung von Foucaults Konzept der Gouvernementalität als Grundlage der Biopolitik moderner Staaten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das “nackte” Leben zu verwalten. 92 Gerald Siegmund 9 Agamben, Homo Sacer, S. 137. 10 Agamben, Homo Sacer, S. 140. 11 Agambens Homo Sacer liegt die gleiche Denkfigur zugrunde, die der Autor 1977 in seiner literaturwissenschaftlichen Studie über das Phantasma des Wortes in der abendländischen Kultur ausgebreitet hat. Das Wort in seiner doppelten Funktion als Repräsentant des abwesenden, in einer Kammer weggeschlossenen Objekts und als phantasmatischer Genuss dieses Objekts übernimmt darin die gleiche Funktion wie das gespaltene Gesetz; vgl. Giorgio Agamben, Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur, Freiburg, Berlin 2005. 12 Was Agamben mit dem permanent gewordenen Ausnahmezustand beschreibt, kann in der Begrifflichkeit Lacans auch als das Verschwinden der symbolischen Instanz gelesen werden, die als Anderes, als allgemeines und daher ethisches Korrektiv der Biopolitik moderner Staaten fungieren könnte. Die geschlossene, weil absolut gesetzte und deshalb imaginäre Vorstellung der Erhaltung des Lebens, die das Leben verwaltet, wird direkt mit dem Realen (dem nackten Leben) kurzgeschlossen und gewinnt dadurch totalitären Charakter. Was Agamben auf der gesellschaftspolitischen Ebene beschreibt, findet daher sein Korrelat in den Medieninszenierungen und anderen gesellschaftlichen Praktiken, die das Register des Imaginären mit dem des Realen kurzschließen. Das Ergebnis, das wir alle tagtäglich beobachten können, sind unter anderem die Verkörperungen eines phantasmatischen Schönheitsideals. 13 Agamben, Homo Sacer, S. 133. 14 Agamben, Homo Sacer, S. 132. 15 Duden. Das Fremdwörterbuch, Mannheim, Wien, Zürich 5 1990, S. 146. 16 Vgl. dazu auch Gabriele Brandstetter, “Still/ Motion - Zur Postmoderne im Tanztheater”, in: Gabriele Brandstetter, Bild- Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin 2005, S. 55-72, hier S. 64. 17 André Lepecki, Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement, New York, London 2006, S. 25-29. 18 Thoinot Arbeau, Orchésographie, Réimpression précédée d’une Notice sure les Danses du XVIe siècle par Laure Fonta, Bibliotheca Musica Bononiensis, Nachdruck der Ausgabe Paris 1888, Bologna 1981. 19 Thoinot Arbeau (geb. 1519), ein Anagram für Jehan Tabourot, war Domherr in Lengres. 20 Arbeau, Orchésographie, S. 5 linke Seite. 21 Arbeau, Orchésographie, S. 5 rechte Seite. 22 Arbeau, Orchésographie, S. 5 linke Seite. 23 Lepecki betont hier das homosoziale Band zwischen den Männern, die sich gleichsam solipsistisch in ihren Zimmern einschließen, um mit einem melancholischen Gestus das Abwesende gespenstisch wieder aufleben zu lassen. 24 Lepecki, Exhausting Dance, S. 26. 25 Lepecki, Exhausting Dance, S. 26. 26 Arbeau, Orchésographie, S. 5 linke Seite. 27 Arbeau, Orchésographie, S. 3 linke Seite. 28 Arbeau, Orchésographie, S. 6 rechte Seite. 29 Arbeau, Orchésographie, S. 3 linke Seite. 30 Arbeau, Orchésographie, S. 5 linke Seite (meine Hervorhebung). 31 Jean-Noel Laurenti, “Feuillet’s Thinking”, in: Laurence Louppe (Ed.), Traces of Dance, Paris 1994, S. 81-108, hier S. 86. 32 Agamben, Homo sacer, S. 136. 33 Vgl. dazu exemplarisch Erika Fischer- Lichte, “Einleitende Thesen zum Aufführungsbegriff”, in: Erika Fischer-Lichte / Clemens Risi / Jens Roselt (Hg.), Kunst der Aufführung - Aufführung der Kunst, Berlin 2004, S. 11-26. 34 Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt, Frankfurt/ M. 2000. 35 Die anfängliche Affinität zahlreicher deutscher Ausdruckstänzer und -tänzerinnen zum Nationalsozialismus läge, will man Agambens Argumentation an diesem Punkt aufgreifen, in der gemeinsamen Biopolitik einer “Verwaltung des Lebens”. 36 Heinrich von Kleist, “Über das Marionettentheater”, in: Heinrich von Kleist, Werke und Briefe in vier Bänden. Band III: Erzählungen. Gedicht, Anekdoten, Schriften, Frankfurt/ M. 1986, S. 473-480, hier S. 477. 37 Kleist, “Marionettentheater”, S. 475. 38 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/ M. 1986, S. 260; das Zitat entspringt Hegels Diskussion der Physiognomik und der Schädellehre. Recht als Dis-Tanz 93 39 Slavoj Žižek, Die Nacht der Welt. Psychoanalyse und deutscher Idealismus, Frankfurt/ M. 1998, S. 103. 40 Žižek, Die Nacht der Welt, S. 114. 41 Yvonne Rainer, “The Mind is a Muscle”, in: Yvonne Rainer, A Woman Who …, Baltimore 1999, S. 32-33. 42 Roger Copeland, “The Neo-Classical Task”, in: New Performance, Hg. Michael O’Connor, 2 (1981), S. 50-58. 43 William Forsythe, Kendall Thomas, Programmblatt zur Performance-Installation Human Writes. 44 Gabriele Brandstetter hat dafür den Begriff “Defigurative Choreographie” geprägt; Gabriele Brandstetter, “Defigurative Choreographie. Von Duchamps zu William Forsythe”, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 1997, S. 598-623. 45 Gerald Siegmund (Hg.), William Forsythe - Denken in Bewegung, Berlin 2004. 46 Roslyn Sulcas, “William Forsythe: Channels for the Desire to Dance”, in: Dance Magazine 69 (1995), S. 52-59. 47 Vgl. dazu Patrick Primavesi, “Was schreibt die Geste? ”, in: Ballettanz 1 (2007), S. 54-57. 48 Giorgio Agamben, “Noten zur Geste”, in: Giorgio Agamben, Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg, Berlin 2001, S. 53-62, hier S. 60. 49 Agamben, “Noten zur Geste”, S. 60. 50 Ich nehme hier die Gegenposition zu Patrick Primavesi ein, der die Unterbrechung der Handlung als gestisches Moment in Human Writes stark macht, Primavesi, “Geste”, S. 54. 51 Agamben, “Noten zur Geste”, S. 61. 52 Agamben, “Noten zur Geste”, S. 60. 53 Diese Feststellung hat auch Auswirkungen auf die Vorstellung von Theater als Medium oder vom Theater als intermedialer Kunstform. 54 Vgl. Primavesi, Human Writes mache das “alltägliche Scheitern der Menschrechte körperlich erfahrbar”, “Geste”, S. 57.