Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2007
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BalmeMartin Baumeister: Kriegstheater. Groß stadt, Front und Massenkultur 1914–1918. Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. Neue Folge. 18. Essen: Klartext Verlag, 2005; 320 Seiten.
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2007
Peter W. Marx
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98 Rezensionen (119). Im einleitenden Kapitel, “,Reinhardt goes global! ’ Tourneen, Gastspiele, Expansionen”, skizziert der Verfasser anhand einer detaillierten Beschreibung der 1911 in der Londoner Olympia Hall herausgebrachten Großrauminszenierung von The Miracle, mit der Reinhardt “aus dem deutschen Sprachraum auf das internationale Parkett” (135) trat, wie Reinhardts Theater sich “zu einer Kunstform entwickelte, die konsequent den Horizont nationaler, bürgerlicher Kunst überschritt” (119). Bemerkenswert ist das Kapitel, in dem Marx sich mit den wenigen Arbeiten Reinhardts für die Filmindustrie beschäftigt. In Anbetracht der weiten Bandbreite ästhetischer und technischer Mittel, zu denen Reinhardt in seinen Inszenierungen griff, kann man allerdings eine intensive Wendung des Regisseurs zum aufgehenden Medium Film vermuten. In der Tat aber ist es Reinhardt trotz einigen Versuchen nicht gelungen, im Kino an seine Theatererfolge anzuknüpfen. Von Reinhardts ‘Rendezvous’ mit dem Film ‘profitierte’ hauptsächlich der Film, der aus seinen Arbeiten starke Impulse bezogen hat. Der enorme Erfolg Reinhardts, auf den im Buch immer wieder hingewiesen wird, wirft die Frage nach den wirtschaftlichen Grundlagen seiner Unternehmungen sowie nach Strategien, deren Einsatz die Nivellierung der für die bürgerliche Gesellschaft charakteristischen Gegenüberstellung von Kunst und Ökonomie ermöglichte, auf, der im Band ebenfalls nachgespürt wird. Anschließend müssen auch die Schlusskapitel des Bandes, die das Theater von Max Reinhardt im Kontext und als Teil der deutsch-jüdischen Geschichte und “als historisches Lehrstück, das zentrale Züge der historischen Entwicklung offenbart” (211) diskutieren und die das Bild des Reinhardtschen Schaffens plastisch vollenden, erwähnt werden. Der Gesamteindruck, der nach der Lektüre entsteht: eine präzise, kenntnisreiche, klar strukturierte, elegant geschriebene und gut zu lesende Arbeit. Berlin S VETLANA J UKANITSCHEWA Martin Baumeister: Kriegstheater. Groß stadt, Front und Massenkultur 1914-1918. Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. Neue Folge. 18. Essen: Klartext Verlag, 2005; 320 Seiten. Die Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts ist in den letzten Jahren ein wenig stiefmütterlich behandelt worden. Zwar sind eine Reihe von wichtigen Einzelmonographien erschienen bzw. fanden einzelne Aspekte eine Würdigung, Arbeiten aber, die in größerem Maßstab darauf zielen, Theater (mit all seinen Formen und Schattierungen) in seiner Wirkung auf den kulturellen und sozialen Kontext zu beschreiben, haben nur wenige sich zur Aufgabe gemacht. Martin Baumeister wendet sich in seiner Studie Kriegstheater diesem Zusammenhang zu, wenn er das Verhältnis von Theater und theatralen Formen und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bzw. der ‘mentalen Aufrüstung’ im Vorfeld untersucht. Es ist nicht ohne Ironie, oder wenn man es ernster formulieren will, symbolische Bedeutung, dass ein solch wichtiger Anstoß, eine solche kreative Weiterung des historiographischen Blicks nicht von einem Theaterwissenschaftler, sondern von einem Historiker kommt. Verzichtet man allerdings auf disziplinären Lokalpatriotismus, kann man sich vor allem daran freuen, dass hier der so oft beschworene interdisziplinäre Blickwinkel eindrucksvoll sein Potenzial unter Beweis stellt. Theater, so der Ausgangspunkt von Baumeister, hatte entscheidenden Anteil an der Mobilisierung der Bevölkerung, die für einen Massenkrieg wie den Ersten Weltkrieg unverzichtbar war. So einleuchtend dies auf den ersten Blick sein mag, methodisch erfordert ein solcher Fokus einen beständigen Grenzwechsel zwischen der sog. Hoch- und Populärkultur. Dies aber ist nur möglich, wenn man seine Begriffe grundsätzlich hinterfragt: Populäre Kultur lässt sich dementsprechend weniger durch ästhetisch-moralische Kategorien bestimmen, wie sie ihre zeitgenössischen Gegner ins Feld führten und die noch bei wissenschaftlichen Diskussionen um die ‘Trivialliteratur’ und das ‘Trivialtheater’ im Vordergrund standen, sondern mehr durch ihren über den Markt vermittelten demokratischen Charakter. (16) Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 98-100. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 99 Baumeister entwirft eine kulturwissenschaftliche Historiographie, wie sie bislang in der deutschsprachigen Theater- und Literaturwissenschaft leider nur sehr selten zu finden ist, denn er definiert Theater nicht mehr über seinen Kunstcharakter, sondern als “Form von Öffentlichkeit, als Forum, in dem gesellschaftliches Engagement und Partizipation an den Kriegsanstrengungen zum Ausdruck kommt.” (19) Dieser weite Blickwinkel lässt das Kunsttheater als exklusiven Bezugspunkt hinter sich und so kann das konkrete Interesse am Ersten Weltkrieg zum Musterfall einer sich modernisierenden Gesellschaft werden. Die Mobilisierung der Bevölkerung für den Krieg stellt sich in diesem Blick als ein Extremfall einer grundsätzlichen kulturellen Verschiebung dar. Es ist vor dem Hintergrund dieser Anlage nur logisch, dass sich Baumeister in seiner Arbeit Künstlern, Ensembles und Phänomenen zuwendet, die in der traditionellen Geschichtsschreibung nur eine nachgeordnete Rolle spielen und allenfalls enzyklopädisch (oft als Beispiele schlechten Geschmacks) aufgeführt werden. Hierzu gehören etwa die zu Unrecht vergessenen Theaterleiter Meinhard & Bernauer oder der Couplet-Sänger Otto Reutter. Schließlich wertet Baumeister auch das sich in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität Köln (Schloss Wahn) befindliche Kriegstheaterarchiv aus, wobei es ihm gelingt, die Funktionsweisen und die innere Bedeutung von Theaterspielen für das Leben der Soldaten aufzuschlüsseln. Dass dies durchaus nicht nur von anekdotischer Bedeutung für die Theatergeschichte ist, kann man etwa am Engagement Erwin Piscators erkennen, der als Soldat während des Ersten Weltkriegs als Schauspieler tätig war. Man erahnt, wie sehr diese Erfahrungen sein Verständnis politischen Theaters in der Weimarer Republik prägten. Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil widmet sich dem Theater in Berlin von 1914 bis 1918. Hier stehen die Entwicklung des Spielplans sowie die Versuche, den Krieg im populären Unterhaltungstheater zu thematisieren im Vordergrund. Während der offizielle Diskurs sich darüber entzündete, ob und in welcher Form es angemessen sei, den Krieg auf dem Unterhaltungstheater zu präsentieren, erprobten die Akteure unterschiedliche Formen, wobei vor allem die Persistenz erfolgreicher Muster des Unterhaltungstheaters in Auge sticht. So organisierten sich viele der eilig geschriebenen Stücke um tableauartige Genrebilder, die das Geschehen zu einem verdichteten, symbolischen Ausdruck führten. Baumeister kann anhand dieser vermeintlich so traditionellen Muster auch zeigen, wie sich durch die Tableaux der Rahmen der Handlung für Zeitsprünge aufschloss, um zum einen den siegreichen Ausgang des Krieges zu imaginieren, zum anderen aber auch um historische Kontinuität zum Krieg 1870/ 71 herzustellen. So öffnete sich das populäre Theater dem Tagesgeschehen, um es in einem historischen Horizont einer übergreifenden Deutung zuzuführen: Der Krieg ist nicht das Neue, Unbekannte, Unerhörte, sondern Teil der nationalen Geschichte, bis in Geste und Pose wiederzuerkennendes Handlungsmuster, verbunden mit sofort abrufbaren Erwartungen und Bedeutungen, die ihn in ein festes Kontinuum zwischen Vergangenheit und Zukunft stellen. (120) Mit dem Fortdauern des Krieges und dem Verfliegen blinder Kriegseuphorie musste auch das Unterhaltungstheater seine Thematisierung des Krieges verändern. Baumeister diskutiert dies exemplarisch an Otto Reutters Heimatfronttheater und den Kriegspantomimen im Zirkus. Während Reutter als Couplet-Sänger sich bis heute einer gewissen Bekanntheit erfreut, sind seine Versuche als Theaterleiter fast unbekannt. Reutter, der 1914/ 15 das Palast-Theater am Zoo mit immerhin 2.400 Plätzen übernahm, verband Muster seiner Soloauftritte und Chansons mit einer eher locker gefügten Dramenhandlung. Durchgängig ist sein konservativer Deutungszugriff, der die Nöte der Zeit, die vor allem sein Zielpublikum, die Mittelschichten, subjektiv besonders hart trafen, als einigendes Band der nationalen Gemeinschaft verstand. Im Gegensatz zu diesen Formen der Thematisierung, die letztlich auf einer Fortführung oder Transformation bekannter Muster und Motive beruhte, bildeten die Zirkuspantomimen und Technik-Spektakel eine gänzlich eigenständige Form der Auseinandersetzung. Das verbindende Moment der Fabel oder die Identifikation mit einzelnen Figuren/ Schauspielern trat zugunsten der überwältigenden Wirkung szenischer Effekte 100 Rezensionen in den Hintergrund. Die Theaterbühne weitete sich für allerlei technische Hilfsmittel, wie Projektionen, verschiedenerlei Apparate und Massenszenen. Der Krieg wurde zum “farbenprächtigen Spektakel mit abenteuerlichen, ‘didaktischen’ und offen politischen Inhalten […], für welches das umfangreiche Bühnenpersonal, die gesamte verfügbare Menagerie und aufwendige Bühneneffekte eingesetzt wurden.” (180) Die Faszination der Technik bzw. eine Ästhetik der Zerstörung, die in keinem Verhältnis zu den Erlebnissen der Kriegsteilnehmer stand, verweisen auf eine innere Verwandtschaft zwischen dem Unterhaltungstheater und der Historischen Avantgarde - man denke nur an den italienischen Futurismus -, die man bislang vornehmlich metaphorisch gedeutet hatte. Mit seinen Ausführungen zeigt Baumeisters Studie einen Weg, der die weitere Forschung zur Avantgarde sehr bereichern könnte. Der zweite große Block der Arbeit fokussiert das Theater der Soldaten. Hier stellt Baumeister neben diversen Formen der “Truppenunterhaltung”, die durch Gastspiele professioneller Bühnenkünstler angeboten wurden, Theaterformen, die von den Soldaten selbst entwickelt wurden. Zu dieser Gruppe gehören verschiedene Komiker, wie Weiß Ferdl oder Willy Riedel, die mit deutlichem Lokalkolorit sich profilierten. Daneben treten Formen des Transvestismus, die erstaunlicherweise kaum Anstoß oder auch nur Aufmerksamkeit erregten. Baumeister deutet dies in dem Sinne, dass diese Darstellungen weniger als erotische Momente verstanden wurden, als dass sie vielmehr “eine ‘andere’ Welt ins Kriegsgebiet, d.h. auch ‘Normalität’, Heimat und Frieden”, (268) brachten. Dass Medien und Formen symbolischer Öffentlichkeit in Zeiten von Krieg und Bedrohung ihre Multiplikatorenfunktion in affirmativer Weise wahrnehmen und eine konstitutive Funktion der Stabilisierung erfüllen, ist aus der jüngsten Gegenwart mehr als präsent. Es gelingt Martin Baumeister aber in seiner materialreichen Studie die unterschiedlichen Ausprägungen und das Mäandern populärer Formen am historischen Beispiel aufschlussreich nachzuzeichnen. Dabei erhellt er, ohne den Blick auf seinen Gegenstand zu verlieren, auch Forschungsdesiderate der Theatergeschichtsschreibung, die doch in den letzten Jahren nur sehr wenig zur Kenntnis der Unterhaltungstheater beigetragen hat. So wird die Fallstudie der historischen Krisensituation auch zu einem wichtigen Werk zur Populärkultur, denn was Baumeister über den Zirkus, Künstler wie Otto Reutter, oder Intendanten wie Meinhard & Bernauer zu sagen hat, ist bislang tatsächlich unbekannt. So belegt Baumeister aber auch, dass es an einer Grundlage für einen wechselseitig befruchtenden Dialog zwischen Theater- und Geschichtswissenschaft nicht fehlt und dass er ausgesprochen viel versprechend ist. Man muss ihn nur führen wollen. Mainz P ETER W. M ARX Henrik Jungaberle, Jan Weinhold (Hgg.): Rituale in Bewegung. Rahmungs- und Reflexionsprozesse in Kulturen der Gegenwart. Performanzen: Interkulturelle Studien zu Ritual, Spiel und Theater - Performances: Intercultural Studies on Ritual, Play and Theatre, Bd 11. Berlin: LIT, 2006, 262 Seiten. Seit den Forschungen Gregory Batesons und Erving Goffmans kann menschliches Verhalten als eine Aufführung verstanden werden, welche innerhalb bestimmter Rahmen (frames) vorgeführt wird und zu beobachten ist. Die Frametheorie - so unterschiedlich ihre Entwicklungsgeschichte auch sein mag - führt seit Anbeginn also eine Theatermetapher mit sich, ganz explizit bei Goffman als Modulation von Modulationen beschrieben. In der Verwendung des Framekonzepts, besonders in der Untersuchung von rituellem Verhalten und ritueller Aufführungen, überlagern sich also soziologische und kulturpsychologische Ansätze mit theater- und performanceanalytischen Forschungen, so auch in dem von Henrik Jungaberle und Jan Weinhold herausgegebene Band Rituale in Bewegung. Der Band versammelt eine Reihe theoretischer und begrifflicher Überlegungen zum Frameansatz, Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 100-102. Gunter Narr Verlag Tübingen
