Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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BalmeHenrik Jungaberle, Jan Weinhold (Hgg.): Rituale in Bewegung. Rahmungs- und Reflexionsprozesse in Kulturen der Gegenwart. Performanzen: Interkulturelle Studien zu Ritual, Spiel und Theater – Performances: Intercultural Studies on Ritual, Play and Theatre, Bd 11. Berlin: LIT, 2006, 262 Seiten.
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2007
Wolf-Dieter Ernst
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100 Rezensionen in den Hintergrund. Die Theaterbühne weitete sich für allerlei technische Hilfsmittel, wie Projektionen, verschiedenerlei Apparate und Massenszenen. Der Krieg wurde zum “farbenprächtigen Spektakel mit abenteuerlichen, ‘didaktischen’ und offen politischen Inhalten […], für welches das umfangreiche Bühnenpersonal, die gesamte verfügbare Menagerie und aufwendige Bühneneffekte eingesetzt wurden.” (180) Die Faszination der Technik bzw. eine Ästhetik der Zerstörung, die in keinem Verhältnis zu den Erlebnissen der Kriegsteilnehmer stand, verweisen auf eine innere Verwandtschaft zwischen dem Unterhaltungstheater und der Historischen Avantgarde - man denke nur an den italienischen Futurismus -, die man bislang vornehmlich metaphorisch gedeutet hatte. Mit seinen Ausführungen zeigt Baumeisters Studie einen Weg, der die weitere Forschung zur Avantgarde sehr bereichern könnte. Der zweite große Block der Arbeit fokussiert das Theater der Soldaten. Hier stellt Baumeister neben diversen Formen der “Truppenunterhaltung”, die durch Gastspiele professioneller Bühnenkünstler angeboten wurden, Theaterformen, die von den Soldaten selbst entwickelt wurden. Zu dieser Gruppe gehören verschiedene Komiker, wie Weiß Ferdl oder Willy Riedel, die mit deutlichem Lokalkolorit sich profilierten. Daneben treten Formen des Transvestismus, die erstaunlicherweise kaum Anstoß oder auch nur Aufmerksamkeit erregten. Baumeister deutet dies in dem Sinne, dass diese Darstellungen weniger als erotische Momente verstanden wurden, als dass sie vielmehr “eine ‘andere’ Welt ins Kriegsgebiet, d.h. auch ‘Normalität’, Heimat und Frieden”, (268) brachten. Dass Medien und Formen symbolischer Öffentlichkeit in Zeiten von Krieg und Bedrohung ihre Multiplikatorenfunktion in affirmativer Weise wahrnehmen und eine konstitutive Funktion der Stabilisierung erfüllen, ist aus der jüngsten Gegenwart mehr als präsent. Es gelingt Martin Baumeister aber in seiner materialreichen Studie die unterschiedlichen Ausprägungen und das Mäandern populärer Formen am historischen Beispiel aufschlussreich nachzuzeichnen. Dabei erhellt er, ohne den Blick auf seinen Gegenstand zu verlieren, auch Forschungsdesiderate der Theatergeschichtsschreibung, die doch in den letzten Jahren nur sehr wenig zur Kenntnis der Unterhaltungstheater beigetragen hat. So wird die Fallstudie der historischen Krisensituation auch zu einem wichtigen Werk zur Populärkultur, denn was Baumeister über den Zirkus, Künstler wie Otto Reutter, oder Intendanten wie Meinhard & Bernauer zu sagen hat, ist bislang tatsächlich unbekannt. So belegt Baumeister aber auch, dass es an einer Grundlage für einen wechselseitig befruchtenden Dialog zwischen Theater- und Geschichtswissenschaft nicht fehlt und dass er ausgesprochen viel versprechend ist. Man muss ihn nur führen wollen. Mainz P ETER W. M ARX Henrik Jungaberle, Jan Weinhold (Hgg.): Rituale in Bewegung. Rahmungs- und Reflexionsprozesse in Kulturen der Gegenwart. Performanzen: Interkulturelle Studien zu Ritual, Spiel und Theater - Performances: Intercultural Studies on Ritual, Play and Theatre, Bd 11. Berlin: LIT, 2006, 262 Seiten. Seit den Forschungen Gregory Batesons und Erving Goffmans kann menschliches Verhalten als eine Aufführung verstanden werden, welche innerhalb bestimmter Rahmen (frames) vorgeführt wird und zu beobachten ist. Die Frametheorie - so unterschiedlich ihre Entwicklungsgeschichte auch sein mag - führt seit Anbeginn also eine Theatermetapher mit sich, ganz explizit bei Goffman als Modulation von Modulationen beschrieben. In der Verwendung des Framekonzepts, besonders in der Untersuchung von rituellem Verhalten und ritueller Aufführungen, überlagern sich also soziologische und kulturpsychologische Ansätze mit theater- und performanceanalytischen Forschungen, so auch in dem von Henrik Jungaberle und Jan Weinhold herausgegebene Band Rituale in Bewegung. Der Band versammelt eine Reihe theoretischer und begrifflicher Überlegungen zum Frameansatz, Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 1 (2007), 100-102. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 101 verknüpft mit Fallstudien aus heterogenen Bereichen, die einen “empirischen Bogen von Ritualen des Drogengebrauchs bis zur Veränderung dörflicher Ritualstrukturen im urbanen Migrationskontext von Aleviten, von der Frage, ob Technopartys als Rituale gefasst werden können bis zu feinen Details im Prozess freimaurerischer Ritualdurchführung” (9) reichen. Ansatzpunkt der Überlegung ist die Frametheorie, mit welcher der historische Wandel und die Dynamik von Ritualen theoretisch erfasst werden soll. Dynamik ist dabei sowohl als Veränderung von Traditionen gemeint. Mit Dynamik wird zugleich auch ein theoretischer Befund bezeichnet, welcher auf ein erweitertes Verständnis der Funktion und Wirksamkeit von Ritualen abzielt. In dem Maße nämlich, wie die Bedingungen und Grenzen der ‘rituellen Überzeugungskraft’ gerade in der westlichen Welt hinterfragt werden, wie “‘fremdkulturelle’ Rituale migrieren”, so Jungaberle und Weinhold in der Einführung, hängt die “Wirkung und Wirksamkeit von Ritualen von einer ‘Resonanz’ zwischen gelungenem performativem Geschehen mit den unbewussten und bewussten Dispositionen der Akteure ab”. (10) Anstelle einer Würdigung der einzelnen materialreichen und durchweg lesenswerten Beiträge, möchte ich zwei Fragestellungen erörtern, die charakteristisch für die Lektüre des Bandes sind. Sie betreffen zum einen den methodischen Ansatz der Beobachtung von Ritualen und Ritualerfahrung und damit verknüpft das theoretische Konzept der Performanz. In der Einleitung wird die Erforschung von Ritualen auf das Spannungsverhältnis von Kultur und Einzelnem hin perspektiviert: “Im Mittelpunkt der Beschreibung und des Verstehens ritueller Prozesse steht hier nicht mehr nur die den Einzelnen formende ‘Kultur’ (das Überindividuelle), sondern der kulturformende Einzelne” (8) Die Rückwirkung von einzelnen Akteuren auf Rituale sei dabei bei zu recht nicht mit dem “‘Individuum’ westlich-eurozentrischer Provenienz” (ebenda) zu verwechseln, nichts desto trotz müsse es gerade aus der Interessenlage der Kulturpsychologie um Begriffe des Erlebens und der Erfahrung von Ritualen gehen, die - so der Vorschlag - in Begriffen der “Personhood” (8) untersucht werden können. So spannend, wie dieser Hinweis auf die rituelle Erfahrung in methodischer Hinsicht ist, so widersprüchlich wird er in den folgenden Beiträgen aufgegriffen. Denn hier stehen unvereinbar Konzepte der empirischen Beobachtung (vgl. der Beitrag von Henrik Jungaberle) neben Ansätzen, die Rituale grundsätzlich als kulturellen Text auffassen, der auf Momente der Übertragung (etwa in der Metapher des Rahmens, vgl. der Beitrag von Burckhard Dücker, S. 116f.) gelesen werden kann und jenen Ansätzen zu einer Phänomenologie des Rituals, die Beobachtung, Erfahrung und Reflexion miteinander verschränken und letztlich damit Erkenntnis durch die Erhebung empirischer Daten in Frage stellen (vgl. der Beitrag von Rudolph, 155f.). Es wäre für die Lektüre sicher hilfreich, dieses Nebeneinander methodischen Vorgehens, welches am Erfahrungsbegriff sich heraus schält, expliziter als bestehende Kontroverse zu markieren, zumal damit auch wichtige Hinweise zur Wissenschaftsgeschichte der ‘Krise des Beobachters’ stärker eingebettet wären, etwa der Beitrag von Oliver Krüger zu Gregory Batesons Verbindung zur Kybernetik 2. Ordnung und zum Einfluss der Phänomenologie Alfred Schütz’ auf Erving Goffman. Damit ist ein theoretischer Hinweis verknüpft, welcher die Performanz von rituellen Prozessen betrifft. Auf das Konzept der Performanz in seiner unterschiedlichen Provenienz zwischen Spechakttheorie, Ritualtheorie und Theatertheorie wird in diesem Band immer wieder Bezug genommen allerdings wird sein epistemischer Wert immer dort reduziert, wo eine statische Bestimmung von Performanz versucht wird, ganz explizit etwa wenn Jungaberle von “‘Performanztheorie’/ n [als] “monoperspektivische Theorie” spricht (61). ‘Performanz’ als notwendig umstrittenes Konzept verstanden zielt jedoch auf Momente des Gelingens und Scheiterns, der Wirksamkeit und zugleich Widerständigkeit gesellschaftlichen Wandels und schließt damit eine begriffliche Fixierung eigentlich aus. Statt also die “Fragmentarisierung” und “Zersplitterung” des Rahmenbegriffs zu diagnostizieren, zielt das Denken der Performanz gerade auf “Wahrnehmung durch Ambivalenzen” (Köpping/ Rao, zitiert in Rudolph, 146) und auf Prozesse des “Reframing” (149) als notwendige Unschärfe in der wissenschaftlichen Beobachtung 102 Rezensionen und Beschreibung der Dynamik von Ritualen. Besonders augenscheinlich werden diese Prozesse der kontroversen Neubestimmung von Ritualen am Beispiel des Scheiterns. Der Beitrag von Oliver Krüger zum World Harmony Konzert des indischen Gurus Sri Chinmoy sei hier hervorgehoben. Chinmoy “beherrscht ganz offensichtlich keines der von ihm in den folgenden 80 Minuten ‘bespielten’ Saiten- oder Flöteninstrumente und Keyboards, zeigte auch kein erkennbares Verständnis für Tonarten oder Harmonien.” (54) Im Rahmen des von Chinmoy behaupteten Rituals jedoch stehen die Anhänger des Guru normalen Zuschauern kontrovers gegenüber, gibt es unversöhnliche Interpretationen dessen ‘was eigentlich vor sich geht’ und diese innere Spannung erst macht es notwendig, von Dynamik und Performanz zu sprechen. Ebenso einsichtig sind in dieser Hinsicht die Analysen Michael Rudolphs zur “mehrfachen Auslegbarkeit […] und absichtvollen Manipulation” (145) der “Erntefeste” von Taiwans Ami. Der Autor beschreibt das Reframing eines Rituals als eine mediale Inszenierung durch eine intellektuelle Elite, die zugleich den Wissenschaftler selbst, also Rudolph als ‘Verbreitungsmedium spiritueller Medien’ in ihr Kalkül einbezieht (vgl. 149, Fn. 12) - eine eindrucksvolle Erfahrung der Performanz von Ritualen, die sich auch in die Strategien ihrer Beobachtung und Beschreibung einschreibt. Der Band “Rituale in Dynamik” lohnt sich gerade für jene, die die immer wieder kehrende Frage nach der rituellen Erfahrung (in Kult, Ekstase, Drogengebrauch, Tanz) und der Stellung des Einzelnen in Ritualen aufnehmen möchten. In den hier skizzierten Problemlagen der Performanz und Beobachtung wie auch in einigen Hinweisen zur Wissenschaftsgeschichte des Framekonzepts stellt er zugleich einen wichtigen Beitrag zur interdisziplinären Ritualforschung dar. München W OLF -D IETER E RNST
