Forum Modernes Theater
fmth
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Narr Verlag Tübingen
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2007
222
Balme(Un-)Glauben
1201
2007
Petra Maria Meyer
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(Un-)Glauben. Das Spiel mit der Illusion Nikolaus Müller-Schöll (Bochum) 1. These Glaubt man den Trendforschern der Theaterkritik und des Betriebs, so ist das Gegenwartstheater seit der Jahrtausendwende geprägt von der “Rückeroberung der Wirklichkeit auf der Bühne” (Theaterkanal/ Theatertreffen), 1 der “Rückkehr des Dokumentarstücks” (Süddeutsche Zeitung), 2 ja von einem “Théâtre sans illusion” (Critique). 3 Meine Hypothese lautet dagegen, dass dieses angebliche “Wirklichkeitstheater” Columbus gleichend, der Indien suchte und Amerika fand, tatsächlich nolens volens auf dem Wege seiner Suche nach dem Realen die unauflösbare Ambivalenz des Glaubens an die Illusion wiederentdeckt hat. Nicht “reality strikes back”, wie eine Konferenz des Düsseldorfer FFT im September 2006 mit Blick aufs Theater der Gegenwart behauptete, 4 sondern “illusion”. Mit ihr, einem angezählten “Motiv” im “postdramatischen Theater des Realen”, 5 wird hier gespielt. Kalkuliert oder im eigenen Kalkül gestört, enthüllen gerade die besonders an der Realität oder am Realen interessierten Theatermacher, was es heißt, ins Medium von Theater und Sprache gleichsam verstrickt zu sein. 6 Nach einem kurzen problemgeschichtlichen Abriss möchte ich dies an zwei besonders exponierten Beispielen des sogenannten “Wirklichkeitstheaters” etwas ausführlicher erläutern, an Stefan Kaegis “bulgarische(r) LKW-Fahrt durchs Ruhrgebiet […] Cargo Sofia Zollverein” sowie Walid Ra’ads Arbeiten My neck is thinner than a hair: engines und I feel a great desire to meet the masses once again. 7 Abschließend werde ich dann einige Vorschläge zu einem heutigen Verständnis der Illusion unterbreiten. 2. Problemgeschichtliche Rekapitulation Ein gerader Strohhalm, den wir, weil in Wasser getaucht, als geknickten sehen - an diesem vielzitierten Beispiel lässt sich schnell erläutern, was unter einer Illusion zu verstehen sei: Etwas, woran geglaubt wird, obwohl man weiß oder zu wissen glaubt, dass es der Wirklichkeit nicht entspricht, ein spontaner Glaube an Unglaubliches, oder, wie jüngst ein Philosoph schrieb, “wissensresistentes Wirklichkeitsbewusstsein von etwas, was nicht wirklich existiert”. 8 Die lückenlose Illusion herstellen, so lässt sich das Projekt und vielleicht zugleich Phantasma der Theatertheoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts auf den Punkt bringen. 9 Dieses Projekt entspringt in den Theorien des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts den Forderungen der Wahrscheinlichkeit, der Natürlichkeit, der Wahrheit und der Kausalnotwendigkeit der Handlung. Es entspricht dabei mal einer von Aristoteles abgeleiteten, angeblich ewigen Regel, mal der Doktrin der Vraisemblance, mal dem auf die Wirkung des Mitleids oder der moralischen Belehrung ausgerichteten Zweck und ist in jedem Fall auf Totalität aus: 10 Im Kunstwerk soll eine Welt angeschaut werden, 11 und der Betrachter soll dabei - mehr oder (im Falle Mendelssohns, Schillers und Goethes) weniger - vollkommen den Rahmen vergessen, der ihm diese Welt anschaulich werden ließ. 12 Aus dem Blickwinkel des 20. Jahrhunderts lässt sich das Projekt der Doktrinäre der französischen Klassik und der Ästhetiker des 18. Jahrhunderts als Teil eines teleologischen Prozesses beschreiben, der mit den Bühnenformen der Neuzeit seinen Anfang nahm Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 2 (2007), 141-151. Gunter Narr Verlag Tübingen 142 Nikolaus Müller-Schöll und dessen Teloi die Guckkastenbühne des 19. Jahrhunderts sind - beziehungsweise ihre Pendants ‘Kinoleinwand’ und ‘Fernsehbildschirm’. 13 Pointiert: Theater und Bild- Medien arbeiten vom 18. bis 20. Jahrhundert daran, die Utopie des 17. Jahrhunderts, das von der ungestörten Illusion nur träumen kann, zu verwirklichen: Technische Veränderungen wie die Abschaffung der illusionshemmenden Bühnenbänke, Gas- und später elektrische Beleuchtung der Bühne bei gleichzeitiger Verdunkelung des Saales und darüber hinaus die Gestaltung des Bühnenbildes als Illustration im Dienst der Fiktion tragen dazu bei, dass sich das Theater vom diskursiven Versammlungsraum der gekreuzten Blicke (17. Jahrhundert) zu jenem illusionsstiftenden Bildraum entwickelt, 14 dem dann, im frühen 20. Jahrhundert, die theaterpraktischen Rebellionen der Avantgarden gelten werden. Den Wendepunkt in der Geschichte der theatralen Illusion wie ihrer Störung stellen Brechts praktische Übungen und seine theoretischen Überlegungen zum Umgang mit ihr dar. Seine Wendung gegen die Illusion ist bekannt: Das Theater soll die Distanz zur illusionierten Sache darstellen, indem es bei ihrer Vorstellung die eigene Realität seiner Mittel - den Körper des Schauspielers, die Scheinwerfer, etc. - nicht in Vergessenheit geraten lässt. Doch bereits die im bruchstückhaft übermittelten Lehrdia-, bzw. -polylog des “Messingkaufs” überlieferte Position ist komplexer als dieser im Brechtismus zur Doktrin erhobene Anti-Illusionismus. 15 Die womöglich als Kapiteltitel vorgesehene Formulierung “abbau der illusion und der einfühlung”, 16 die nicht zuletzt auf den Ort des Gesprächs anspielen dürfte, eine Bühne, “deren dekoration von einem bühnenarbeiter langsam abgebaut wird”, 17 beschreibt zugleich treffend, dass hier eine in 200 Jahren aufgebaute Ideologie wieder abgebaut, der “Vormarsch […] zurück zur Vernunft” angetreten werden soll. 18 Doch nur, wo etwas aufgebaut worden ist, kann abgebaut werden, und so geht auch Brechts forsches Nein zu Illusion und Einfühlung mit einem verhaltenen Ja einher, hier wie an anderen Orten: “es kann nicht schlechtweg behauptet werden, dass diese Dramatik oder irgendeine Dramatik ganz und gar auf alle illusionären Elemente verzichten kann”, 19 schreibt er einmal, und der Philosoph, sein alter ego im Messingkauf, gesteht dem Zuschauer eine schwache Einfühlung zu, obwohl er damit doch riskiere, dass “dem ganzen alten unfug wieder ein türlein” geöffnet wird. 20 In ihrer Distanz zur propädeuticumsnotorischen Brechtschen Distanz eröffnet die in Brechts Schriften zu findende Position des Abbaus der Illusion einen Spielraum, den die am Realen interessierte Theaterpraxis der vergangenen Jahre auslotete. 21 In ihr dient der Einsatz von neueren Medien nicht mehr der weiteren Optimierung der Illusion, sondern vielmehr ihrer Unterbrechung oder aber dem Spiel mit ihr. Wir entdecken den Rahmen, den wir gerade vergessen müssten, ginge es um die Perfektionierung der Illusion und dies vermittelt - über die nicht enthüllende, sondern nur anders verhüllende Video-Aufnahme im Theater bei Castorf, 22 - über die Nachahmung nicht-illustrativer Filmhandlungen oder Choreographien auf der Bühne bei der Wooster Group, die ein unvermitteltes Gebaren der gelernten Illusionschauspieler verhindert, 23 - über den kalkulierten Konflikt zwischen dem Timing der Musik und dem Timing des Tanzes bei Grace Ellen Barkey, etwa in ihrer Produktion Chunking , - oder über den unklärbaren Status des Filmes, der - vielleicht live - das verdeckte Geschehen des Abends in den Theatersaal übermittelt, etwa bei Heiner Goebbels. 24 Ich könnte die Reihe noch fortsetzen, doch die Beispiele dürften zeigen, dass es eines (Un-)Glauben. Das Spiel mit der Illusion 143 neuen Begriffs bedarf, um die gegenwärtige Tendenz des fortwährenden Entzugs der einen Illusion bei gleichzeitigem Spiel mit den Möglichkeiten von Illusion überhaupt pointiert auf den Punkt zu bringen. In Anlehnung an Jacques Derridas Formulierung, wonach es in der Dekonstruktion darum gehe, zu begreifen, dass wir in “plus d’une langue” verstrickt sind - in mehr als eine Sprache und zugleich in überhaupt keine mehr - 25 könnte man davon sprechen, dass es im Theater des Abbaus der Illusion immer um plus d’une illusion geht: Mehr als eine, gar keine mehr. Dafür möchte ich nun zwei besonders eindrückliche Beispiele etwas ausführlicher betrachten. 3. Cargo Sofia Zollverein (Rimini-Protokoll, Stefan Kaegi) Ihrem Anspruch nach entfalten die Arbeiten von Rimini-Protokoll als dem, so Theater der Zeit, “Begründer eines neuen Reality Trends auf den Bühnen”, 26 das theatrale Potential der heutigen Wirklichkeit. Dies geschieht, indem entweder Experten aus den unterschiedlichsten Bereichen auf die Bühne geholt, oder aber Orte zum Spielplatz einer Erkundung mit Mitteln des Theaters umdefiniert werden, an denen eine ebenfalls theatral verfasste Wirklichkeit zu betrachten ist. Produktionen wie Zeugen! Ein Strafkammerspiel, Sabenation. Go home & follow the news oder Deutschland 2 sind so umfangreich in Artikeln und Aufsätzen dokumentiert und analysiert, dass ich mir hier die weitere Vorstellung der Gruppe spare, nicht ohne auf ihre eindrucksvolle Homepage zu verweisen. 27 Was den Reiz von Stefan Kaegis Produktion Cargo Sofia Zollverein ausmacht, die ich hier diskutieren möchte, ist zunächst, dass sie eine der überzeugendsten Antworten auf die Frage gibt, wie man etwas über die heutigen ökonomischen Vorgänge erzählen, wie man deren namenlose Akteure in Szene setzen, wie ihre letztlich nicht ganz erschließbaren Gesetze beleuchten kann - und zwar ohne ihre Komplexität zu reduzieren, aber auch ohne sie als gänzlich unbekannte zu dämonisieren und in untätige Kontemplation zu verfallen. Die Arbeit ging nach der Premiere im Mai 2006 auf Tour durch ganz Europa. Eine der Stationen war das Essener choreographische Zentrum “PACT Zollverein”. 28 47 Zuschauer werden einen Abend lang auf die zur Tribüne umgebaute Ladefläche eines LKWs geladen, um von dort aus, gleichsam als Ware, chauffiert von zwei bulgarischen Truckern, die Umgebung zu erkunden und dabei mit der Welt jener Lohnsklaven in Berührung zu kommen, die im Auftrag deutscher Unternehmer zu bulgarischen Löhnen Fracht aus den Billiglohnländern des europäischen Ostens in die Metropolen des Westens fahren. Eine Seite des Lastwagens ist verglast und mutiert so buchstäblich zur vierten Wand, hinter der sich abspielt, was die Zuschauer aus ihrem Guckkasten heraus dann betrachten können: Der Parcours führt an Nicht-Orten wie einem Container-Hafen oder einem von LKW-Fahrern bevorzugten Parkplatz am Stadtrand vorbei, 29 macht die banale Autobahn zum alltäglichen Theater und das Theater zum vergnüglichen Unterricht in Sachen Globalisierung. Auf einer Leinwand, die herunterfährt, wenn es draußen gerade nichts zu sehen gibt, wird die Geschichte des schwäbischen Unternehmers Willi Betz erzählt, der nach dem Umbruch im Osten das einstige staatliche bulgarische Transportunternehmen SOMAT kaufte und mit erlaubten und unerlaubten Mitteln (Lohndumping, Bestechung, illegale Zulassungen) das LKW- Geschäft billig und für alle Beteiligten gefährlich machte. Ein Autobahnpolizist erzählt von seinem Alltag bei der Kontrolle übermüdeter Lastwagenfahrer und gefährlich aussehender Frachten. In einer Spedition wird den Zuschauern von einem Mann im Anzug auf der Laderampe die komplexe Logistik der Transporteure vermittelt, in vom Band eingespielten Statements erfahren sie en passant, was 144 Nikolaus Müller-Schöll wäre, wenn man die LKW-Fahrer wieder anständig honorieren würde: Die Transportkosten würden steigen, die Auslagerung großer Teile der Produktion sich nicht mehr lohnen, der Abbau von Arbeitsplätzen hierzulande gestoppt. Man kann Cargo Sofia Zollverein als eine Art ‘Sightseeing’ wahrnehmen und sich wundern, wieviel Fremdes in unmittelbarer Nähe des Vertrauten in Bezirken einer Stadtlandschaft wartet, die man sonst allenfalls im Vorbeifahren wahrnimmt. Man kann darin auch einen “sinnlich gestalteten, unakademischen Seminarabend” sehen, in dessen Verlauf man erfährt, dass in einem Container 10000 Anzüge transportiert oder zwei Gastarbeiter untergebracht werden können, dass die Kohle auf den Gleisen des Güterbahnhofs mitten im einstigen ‘Kohlenpott’ Ruhrgebiet aus China kommt und 7000 Sattelzüge in Westeuropa mit osteuropäischen Fahrern zu osteuropäischen Löhnen unterwegs sind. Man kann sich anhand der Geschichten der zwei Fahrer ein Bild von den kleinen Vergnügungen und der großen Einsamkeit des Lastwagenfahrerdaseins machen, sieht die Prostituierten am Straßenstrich, den Kollegen, der alte Autos nach Georgien transportiert und sich den freien Abend mit einer Flasche Schnaps vertreibt und hört von den erlaubten und unerlaubten Mitteln, mit denen sich die Fahrer wach halten. Das ist die eine Seite. Doch die interessante Begegnung mit einer fremd gewordenen Nachbarschaft bliebe Volkshochschul-kompatible Heimatkunde, wäre sie nicht Teil eines klugen Samplings von insgesamt fünf Geschichten, die auf kunstvolle Weise synchron erzählt werden und einander beständig wechselseitig unterbrechen: Da ist zum ersten die Geschichte einer fiktiven LKW-Fahrt von Sofia nach Essen, die von Bulgarien über Serbien, Italien und die Schweiz führt. Sie setzt sich aus Anekdoten und ‘Originalgeräuschen’ zusammen, die durch Filmausschnitte illustriert werden und zusammen ein dichtes Bild der fiktiven Reise mit ihren Wartezeiten auf Autobahnen und ihren kleinen Abenteuern mit korrupten Zöllnern an blockierten Grenzübergängen ergeben. Zum zweiten wird die Kriminalgeschichte des expandierenden schwäbischen Unternehmens erzählt, in kleinen Happen, die von der Firmengründung in den 50er-Jahren bis zum kuriosen Bau der Privatvilla des Unternehmers inmitten des Firmengeländes und zu einer schon legendären Großrazzia im Jahr 2003 reicht. Zum dritten zeigen die zwei Fahrer Familienbilder und erzählen Anekdoten aus ihrem Leben, was via Headphone und qua Kamera direkt aus dem Führerhaus in den Laderaum übertragen wird. Eine vierte Geschichte ist diejenige der Fahrt, an der die Zuschauer gerade teilnehmen. Die fünfte Geschichte aber ist jene, die alle anderen Geschichten ins Zwielicht rückt, die der Inszenierung. Während man bei den meisten früheren Arbeiten der Gruppe in theatralischer Hinsicht schlichtes Einfühlungstheater mit Laien geboten bekam, wird hier beständig mit Beginn und Enden der Illusion gespielt: Immer wieder begegnet der LKW mit den Zuschauern einer jungen Frau, die mal live in einem Park singt, mal einige Pakete auf dem Trottoir neben der Straße mit dem Fahrrad transportiert. Nachdem man vom Autobahnpolizisten verabschiedet worden ist und die Spedition verlassen hat, begegnen der Polizeiwagen und ein Laster der Spedition dem Publikum noch einmal auf der Autobahn, lassen die Grenze zwischen dem, was echt ist und dem, was den Eindruck der Echtheit produziert, fließend werden und nähren so den Zweifel am Dokumentarischen dieses ‘Dokumentartheaters’. Es wird deutlich, dass das Anliegen ein grundlegend anderes ist als etwa in den Stücken von Peter Weiss, Heinar Kipphardt oder Rolf Hochhuth: Es geht hier nicht einfach darum, Wirklichkeit abzubilden, sondern zugleich und im Verlauf des Abends zunehmend auch darum, über die Bilder der Wirklichkeit nachzudenken. Hatten (Un-)Glauben. Das Spiel mit der Illusion 145 frühere Arbeiten von Rimini Protokoll im Einklang mit der akademischen Theatralitätsforschung das alte Vorurteil bestätigt, die ganze Welt sei irgendwie auch eine Bühne, so lässt diese ahnen, dass das Theatrale der Wirklichkeit, nimmt man es ernst, dazu führt, dass es keine Aussage über die Wirklichkeit gibt, die nicht schon kontaminiert wäre von deren Inszenierung. 30 Am Ende wird so beides fragwürdig: Das Theater wie die Welt; weder nämlich ist es sicher, dass man Vorstellungen wie Cargo Sofia Zollverein zu Recht noch als ‘Theater’ bezeichnen kann, noch andererseits, dass man, was sie vorführen, noch als ‘Wirklichkeit’ betrachten sollte. Mit dem Zwielicht aber, in das Rimini Protokoll dergestalt taucht, was es vermeintlich doch bloß vorstellt, greift die Gruppe jenen epistemologischen Zweifel auf, den einst Brecht formulierte, als er davon sprach, dass eine “einfache ‘Wiedergabe der Realität’” weniger denn je “etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute”. Woraufhin er, der oben angedeuteten Logik folgend, festhält: “Es ist also tatsächlich ‘etwas aufzubauen’, etwas ‘Künstliches’, ‘Gestelltes’”. 31 Mit der Entdeckung, dass die Annäherung an die Wirklichkeit über die bloße Abbildung hinaus auch das Abbilden selbst zum Thema erheben muss, dass sie die Illusion nicht nur billigend in Kauf zu nehmen hat, sondern mit ihr kalkulieren muss, nähert sich Kaegi konzeptionell einer Arbeit an, deren beinahe einziges Thema zunächst das Abbilden, doch darüber vermittelt dann das Unabbildbare ist: den Photographien, Video- Arbeiten und Lecture-Performances des in New York und Beirut lebenden Libanesen Walid Ra’ad. 4. Walid Ra’ad - Erinnerung im Medium Walid Ra’ads Thema ist der Krieg - der im Libanon zwischen 1975 und 1991, mit dem er aufwuchs, wie auch der aktuelle gegen den Terror - daneben die mit dem Krieg verbundenen traumatischen Ereignisse, soweit sie eine kollektive historische Dimension haben, und bei alledem und vor allem die Art, wie Film, Video, Fotografie und Theater diese Ereignisse, überhaupt die psychologische und physische Gewalt zu repräsentieren beanspruchen. Die Repräsentation des Krieges unternimmt und untersucht er auf dem Weg eines beständigen Aufbaus der Illusion, Geschichte zu schreiben, Spuren zu sichern, Opfer zu identifizieren und kleine Geschichten am Rande der großen Geschichte zu archivieren. Alle seine Arbeiten könnten als historische Dokumente eines imaginären Archivs bezeichnet werden, das von einer fiktiven Stiftung, der Atlas group, unterhalten wird, als deren Gründungsmitglied Ra’ad sich bezeichnet - weitere Mitglieder sind allerdings nicht bekannt. Ra’ad macht meines Wissens nirgendwo explizit, was im Lauf der Betrachtung seiner vor allem in Kunsträumen ausgestellten ‘historischen Dokumente’ allmählich und in seinen Lecture Performances irgendwann schlagartig deutlich wird: dass es sich durchweg um fiktives, manipuliertes oder ‘gefälschtes’ Material handelt. 32 Ein, der Kürze der Zeit geschuldet, nur schlaglichtartig vorgestelltes Beispiel: In der Serie My neck is thinner than a hair: engines sind auf Tafeln an der Wand Fotografien von Motoren zu sehen, die inmitten mehr oder weniger zerbombter Stadtlandschaften liegen und von mal kleineren, mal größeren Gruppen von Leuten umringt werden. Neben den Fotografien ist deren Rückseite zu sehen, auf der amtlich aussehende Stempel, Notizen und Signaturen die Authentizität der Aufnahme zu bestätigen scheinen. Ra’ad ergänzt die Serie, die er auch in einer Lecture Performance vorführt, im Museum durch den Hinweis: Der einzige Teil, der nach der Detonation eines Autos übrig bleibt, ist der Motor. Er wird mehrere zehn, manchmal sogar Hunderte Meter weit geschleudert und landet auf Balko- 146 Nikolaus Müller-Schöll nen, Dächern oder in Nebenstraßen. Während der Kriege veranstalteten die Fotojournalisten einen Wettlauf, wer die Motoren zuerst finden und fotografieren würde. 33 Motoren, Reste, die, wie man auch liest, von den “Autobomben der Kriege übrig bleiben” (ebd.), werden hier gleichsam zu Allegorien des nicht dargestellten und in jeder Darstellung tendenziell verratenen, verfälschten, verkitschten und mit wohlfeiler Emotionalität aufgeladenen Leids und Schreckens der Detonationen, zu einer Wiederholung ohne Urbild, einer Repräsentation ohne Abbildcharakter, einer Schrift oder Spur, die, Ruinen gleichend, von der Gewalt hinterlassen wurde, als ein das Bildverbot wahrendes Mal der Zerstörung. Was wir über die Wirklichkeit erfahren, ist nicht auf den Bildern repräsentiert und nicht Gegenstand von Ra’ads das Bildmaterial präsentierender Installation. In seiner Lecture-Performance I feel a great desire to meet the masses once again, deren Premiere 2005 im Rahmen des Theater der Welt-Festivals in Stuttgart stattfand, 34 erzählt Ra’ad von einem längeren Verhör durch Polizei und FBI nach einer kurzen Flugreise in den USA bei der Ankunft am Rochester International Airport. Schnell gerät der Immigrant arabischer Herkunft unter Verdacht und - wie ihm retrospektiv klar wird - in Gefahr, wie viele andere gebürtige Araber (etwa der mittlerweile bekannt gewordene deutsche Staatsbürger Khaled el-Masri aus Neu-Ulm) verschleppt, verhört und gefoltert zu werden. Die weitere Performance trägt die nur notdürftig verschleierte Spur des 2005 noch weitgehend unbekannten Wirkens der amerikanischen Geheimdienste im Umgang mit vorwiegend arabischen Terrorverdächtigen zusammen. Was Ra’ad verdächtig werden lässt, ist nichts anderes als seine in den Augen der Verhörenden wertlose Kunst, die nutzlosen Bilder: Von sich, nackt vor Wolkenkratzern in New York, von toten Tieren, von Sicherheitshinweisen verschiedener Flugzeuge und eben von Autobomben-Explosionen im Libanon, die durch arabische Inschriften bezeichnet sind. Erst als der Verhörende erkennt, dass er es mit einem Künstler zu tun hat - kommt Ra’ad frei. Was ihn, wie er sagt, gerettet hat, war die Tatsache, dass der Polizist in seiner Freizeit Hobby-Maler war. Ra’ad sitzt bei dieser Lecture-Performance mit Laptop vor einer Leinwand und wenig unterscheidet ihn dort zunächst von den Handelsvertretern, Managern und Dozenten, die sich heute in ihren Vorträgen der Powerpoint-Präsentationsform bedienen. Und doch wird schnell deutlich, dass diese Form hier entgegen dem ersten Anschein Teil des Konzepts ist. Ihr Minimalismus lässt Ra’ad so flexibel und autonom bleiben wie nur irgend möglich; 35 zugleich vermindert er jenen “Himmelsrest des Scheins zu tragen peinlich”, der, um es mit Adornos Verdikt über den Dadaismus zu formulieren, jenen künstlerischen Versuchen anhaftet, die dem Schein absagen wollen und doch von der “realen politischen Wirkung abgeschnitten” bleiben, die sie ursprünglich inspirierte. 36 Dass Ra’ad seine Erzählung im Stuttgarter Kunstmuseum präsentiert und nicht zum Beispiel vor dem Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte in Stuttgart-Vaihingen, also als öffentliche Demonstration, wird vielleicht vor allem dadurch gerechtfertigt, dass er in diesem der Kunst gewidmeten Raum mit Vorsatz die Kunst verlässt, um die Möglichkeit von Kunst zu behaupten, sein in anderen Arbeiten verfolgtes Spiel mit der Illusion zu verteidigen. Ausgehend von einer Exposition der eigenen spielerischen Anfänge (des Jungen, der zum Vergnügen fotografierte und ohne Nutzen sammelte, was er in seiner vom Krieg gezeichneten Heimatstadt Beirut vorfand, des jungen Mannes, der Kunst studierte, später in die USA zog und dort die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm) nähert Ra’ad sich zügig dem Ereignis im Herbst 2004, welches im Zentrum seiner Powerpoint-Performance steht: den Prakti- (Un-)Glauben. Das Spiel mit der Illusion 147 ken der amerikanischen Sicherheitsbehörden. Der merkwürdige, in der Performance unerklärte Titel - Ich verspüre eine große Begierde, den Massen wieder einmal zu begegnen - kann dabei nicht zuletzt als ironischer Kommentar zu einer Aktion begriffen werden; einer Aktion, deren politische Intention ins Leere läuft, solange das Unrecht, von dem sie Zeugnis ablegt, Massen betrifft, die nicht als Massen in Erscheinung zu treten vermögen, weil sie sich aus unzähligen, global zerstreuten marginalisierten Einzelfällen zusammensetzen. Das aufgekratzte, gut situierte Premierenpublikum, welches statt der begehrten ‘Massen’ den Bericht entgegennimmt, wird nolens volens zur lebendigen Skulptur in dieser Performance, zeugt modo negativo vom illusionären Charakter des im Performance-Titel ausgedrückten Begehrens. 37 Was die konzeptuelle Lecture-Performance darüber hinaus deutlich werden lässt, ist die politische Dimension von Ra’ads Spiel mit der Illusion: Das Reale kommt in diesem Spiel vor als Leerstelle zwischen der bekannten, mit tagesjournalistischen Bildern erzählten Geschichte und Ra’ads mit eben diesen Bildern erzählten anderen, kunstvoll erfundenen Geschichten. Das Spiel des Kindes und später des Künstlers mit den nutzlosen Resten unbekannter Geschichten ist der Anfang einer Aufkündigung jener “transzendentalen Illusion”, 38 die in allen medialen Formen ‘realistischer Darstellung’ unerkannt am Werk ist - in Dokumentationen, journalistischen Berichten und Polizeiprotokollen. Die Verwechslung gewisser Vorurteile über die Welt mit der Wirklichkeit wird aufgekündigt (etwa das eines ihr zugrunde liegenden narrativen Prinzips: eines durch Kausalität verknüpften linearen Handlungsverlaufs); und zwar durch nichts anderes als das Insistieren auf dem, was dem ungebrochen an die Illusion der ‘Realität’ Glaubenden als bizarr, absurd, verquer, kurz: als sinnlos erscheinen muss - und unter Umständen als verdächtig. Ra’ad betreibt, anders gesagt, den Abbau des Glaubens an die eine, mit ökonomischer, politischer und - wie der Abend über das Verhör zeigt - auch konkret polizeilicher Macht autorisierte und verbreitete Geschichte, lässt sie auf dem Weg des Aufbaus einer anderen, gleichsam homöopathisch wirkenden Illusion selbst als illusionär erscheinen und befördert so das Nachdenken über die Macht der Bilder und den Glauben an die Illusion. “Die Geschichte, die man sich erzählt und der Aufmerksamkeit und Glauben geschenkt wird”, so schreibt er, “mag nichts mit dem zu tun zu haben, was in der Vergangenheit geschehen ist, aber es ist jene Geschichte, die in der Gegenwart und für die Zukunft von Bedeutung sein mag”. 39 5. (Un)glauben Galt es im Falle Kaegis darüber nachzudenken, ob Theater mit Wirklichkeitsmaterial nicht lediglich einen illusionären Schein der Wirklichkeit erzeugt, so muss sich der Zuschauer in Ra’ads Fall fragen, ob Theater auf dem Weg der Erzeugung einer Illusion nicht gleichwohl etwas über die Wirklichkeit verrät. Wird bei Kaegi der Glauben an die 1 zu 1 abgebildete Realität des Vorgestellten im Lauf der Vorstellung sukzessive erschüttert, so stellt sich bei Ra’ad allmählich ein Glauben an den Realitätsgehalt noch des bloß Imaginären, Fiktiven, noch der durchschauten Illusion ein. Nebeneinander betrachtet verraten beide Fälle etwas über das Verhältnis von Illusion und Realität, das man vielleicht als kantische Einsicht bezeichnen könnte: Illusion kann paradox als ‘notwendiger’ oder ‘objektiver Schein’ begriffen werden, als Verkennung der Wirklichkeit, die zugleich den einzig möglichen Zugang zu ihr darstellt. 40 Sie gleicht dem, was der junge Marx unter dem Begriff der Ideologie, 41 die Psychoanalyse unter dem des Phantasmas beschrieb. Als notwendige Täuschung behält die Illusion insofern ein Recht, als sie selbst eine Realität ist, auch 148 Nikolaus Müller-Schöll wenn das Illudierte keiner Realität entspricht, ja qua Definition das Reale verfehlt. Was das Spiel mit der Illusion in theatralen Formen der Gegenwart nahe legt, ist ein anderer Wahrheits- und ein anderer Realitätsbegriff, ein Begriff, der diese nicht länger nach dem Modell der adequatio intellectu et rei zu fassen versucht, sondern vielmehr als niemals restlos bestimmbare, gleichwohl aber nicht inexistente Größen. Obwohl oder eben weil sie sich uns immer entziehen, müssen wir an ihnen festhalten, wenngleich nicht länger im Modus des Habens, als vielmehr in dem des Glaubens an eine immer schon im Abbau befindliche Illusion. Der französische Schauspieler und Essayist Daniel Mesguich illustriert die Paradoxie des Glaubens an die Illusion, der immer auch ein Un-Glauben ist, mit der folgenden These der Psychoanalytikerin Maud Mannoni: “Eine Wolfsmaske ängstigt uns nicht nach Art eines Wolfs, sondern nach Art des Wolfsbildes, das wir in uns tragen.” 42 Mesguich bemerkt dazu, dass man im Theater weder glaube, noch nicht glaube, weder je direkt schaue, noch direkt höre. Man sehe und höre vielmehr das Kind oder den Idioten in uns, der glaubt. Jacques Derrida bemerkt dazu, dass man im Moment der Beobachtung des glaubenden Kindes oder Idioten in sich zugleich das identifikatorische Gedächtnis wie auch die absolute Trennung betrachte. Man erfahre die Teilung im Theater - das Teilen im Sinne der Teilnahme wie im Sinne einer Spaltung. Der Übergang vom teilnehmenden Kind zum die Teilung vollziehenden Erwachsenen scheint ihm dabei undefinierbar und unreduzierbar zu bleiben. Weshalb er seinen Kommentar zu Mesguichs Bemerkung mit einer unbeantworteten Frage schließt: “Was ist ein Akt des Glaubens im Theater? Warum muß man ans Theater glauben? Man muß. Aber warum muß man? ” 43 Worauf der Philosoph der ‘Dekonstruktion’, einer anderen Form des ‘Ab-baus’, dabei hinzuweisen scheint, ist zweierlei: Zum einen deutet sich in Derridas Insistieren darauf, dass ihn das Phänomen des ‘Glaubens’ ans Theater interessiere (aber auch desjenigen an den Film, wie er an anderer Stelle bemerkt) 44 , an, dass für ihn die Spaltung des illudierten Betrachters in das glaubende Kind einerseits, eine um dessen Illusion wissende Instanz der Vernunft andererseits einen Sonderfall in der Geschichte des dezentrierten neuzeitlichen Subjekts darstellt. Diese Einschätzung wäre in theaterwissenschaftlichen Untersuchungen in Beziehung zu setzen zur bemerkenswerten Tatsache, dass es eine Illusionsbühne erst im neuzeitlichen Theater gibt, wie es sich, beginnend mit der Renaissance, herausbildet. Die theatrale Illusion, so könnte man als heuristische Hypothese im Anschluss an Derridas Bemerkung formulieren, ist co-originär mit der Geschichte des neuzeitlichen Subjekts und von der seiner Herausbildung nicht ablösbar. (Am Rande sei erwähnt, dass in diesem Zusammenhang auch das Verhältnis des die Illusion quasi-transzendental begründenden Glaubens zur Bildung von Gemeinschaft(en) zu bedenken wäre.) Mit Blick auf das Verhältnis von Theater und Medien wäre schließlich anknüpfend an Derridas Bemerkung festzuhalten, dass die Auseinandersetzung mit der Illusion eine Auseinandersetzung mit dem In-der-Weltsein ist, zugleich aber auch mit dessen medialer Verfasstheit: Eben weil wir (und genauer: jede[r] einzelne und jede[r] anders) immer schon in Illusionen verfangen sind, vermögen wir sie niemals restlos zu beseitigen. Es erhält sich ein Rest von Glauben. Eben deshalb, weil wir andererseits redlicher Weise niemals nur in einer Illusion zu verharren vermögen, gehen wir nie restlos in ihnen auf, verkehrt sich der Glaube im Angesicht anderen Glaubens in (Un-)Glauben. Was bleibt, ist ein Wissen um die gleichzeitige Unumgänglichkeit wie Unabschließbarkeit des Abbaus der Illusion im (un-)gläubigen Spiel mit ihr. (Un-)Glauben. Das Spiel mit der Illusion 149 Anmerkungen 1 Vgl. den Mitschnitt einer Diskussion des zitierten Titels im Rahmen des Berliner Theatertreffens 2006, die als Download zur Verfügung steht unter http: / / www.theaterkanal.de/ fernsehen/ monat/ 05/ 204323382, abgerufen am 25.3.2007; Christian Biet, Pierre Frantz (Edd.), Le théâtre sans l’illusion, Critique 2005, pp. 699-700. 2 Peter Laudenbach, “Hexenküche Wirklichkeit. Theatertreffen 2006: Das Dokumentarstück ist wieder da”, Süddeutsche Zeitung, 22.5.2006, S. 11. 3 Christian Biet, Pierre Frantz, Le théâtre sans l’illusion, p. 565. 4 Vgl. http: / / www.forum-freies-theater.de/ archiv/ 09sept/ symposium.html, abgerufen am 25.3.2007. 5 Vgl. Hans Thies Lehmann, “TheatReales”, in: Theater der Welt 1999 in Berlin. Arbeitsbuch, Berlin 1999, S. 59-65, hier S. 67; ders., Postdramatisches Theater. Frankfurt/ M. 1999, S. 185-193. 6 Jean-Jacques Chartin, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy, Samuel Weber, “Zum Kolloquium : ‘Die Gattung’”, Glyph 7 (1980), pp. 233-237, hier p. 234. 7 Cargo Sofia-Zollverein, Regie: Stefan Kaegi, Rimini Protokoll. Premiere : 7 Juli 2006 im “Choreographischen Zentrum PACT Zollverein”, Essen; vgl. zu Walid Ra’ads Arbeit My neck is thinner than a hair: engines die Dokumentation in: Kassandra Nakas, Britta Schmitz, The Atlas Group (1989-2004) A Project by Walid Raad. Köln 2006, S. 96-103; die Lecture Performance I feel a great desire to meet the masses once again feierte Premiere am 23.6.2005 im Rahmen des Festivals Theater der Welt im Stuttgarter Kunstmuseum. 8 Lambert Wiesing, “Von der defekten Illusion zum perfekten Phantom. Über phänomenologische Bildtheorien”, in: Gertrud Koch, Christiane Voss (Hrsg.), …kraft der Illusion, München 2006, S. 89-102, hier S. 89. 9 Vgl. Werner Strube, “Illusion”, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1976, S. 204-215; Patrice Pavis, “Illusion”, in: Ders., Dictionnaire du Théâtre, Paris 1996, S. 167-169; Pierre Frantz, L’esthétique du tableau dans le théâtre du XVIIIe siècle. Paris 1998, S. 30-32; Jan Ladzarzig, “Illusion”, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hrsg.), Metzler Lexikon Theaterheorie, Stuttgart und Weimar 2005, S. 140-142. 10 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie. Stuttgart 1981; Denis Diderot, “Von der dramatischen Dichtkunst”, in: Friedrich Bassenge (Hrsg.), Denis Diderot Ästhetische Schriften, aus dem Franz. von Friedrich Bassenge und Theodor Lücke. Frankfurt 1968, S. 239-347. 11 Vgl. Andrea Kern, “Illusion als Ideal der Kunst”, in: Koch, Voss, …kraft der Illusion, S. 159-174, hier S. 172. 12 Vgl. dazu Werner Strube, Ästhetische Illusion, Bochum 1971, S. 85ff. u. 181-183; Koch Voss, …kraft der Illusion, S. 7. 13 Vgl. Ulrike Haß, Ulrike, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform. München 2005. Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt, Frankfurt a.M., Basel 2000. 14 Christian Biet, “L’avenir des illusions ou Le théâtre et l’illusion perdue”, in: Litteratures classiques 44 (2002), pp. 175-214; ders., “Rechteck, Punkt, Linie, Kreis und Unendliches. Der Raum des Theaters in der Frühen Neuzeit”, aus dem Franz. von Nikolaus Müller-Schöll, in: Nikolaus Müller-Schöll, Saskia Reither (Hrsg.), Aisthesis. Zur Erfahrung von Zeit, Raum, Text und Kunst, Schliengen 2005, S. 52-72. 15 Vgl. Bertolt Brecht, “Der Messingkauf”, in: Ders., Werke. Bd. 22, Schriften 2, Berlin, Weimar, Frankfurt a. M 1993, S. 695-869; vgl. ders., Gesammelte Werke 16. Schriften zum Theater 2, Frankfurt a.M. 1967, S. 497-657, hier S. 578-585. “Der Messingkauf” stellt ein besonders anschauliches Stück Brechtscher Theoriearbeit dar: Brecht arbeitete daran von 1937-1955 und hinterließ schließlich eine nicht synthetisierbare Masse von Bruchstükken in Typoskriptform mit handschriftlichen Anmerkungen. Die Herausgeber der Ausgabe von 1967 versuchten auf der Grundlage der nachgelassenen Schriften eine “editorische Rekonstruktion” (Brecht 1967, Anmerkungen 3), eine “Lesefassung”, die “lesbare […] An- 150 Nikolaus Müller-Schöll ordnung” sein, gleichwohl die “Nahtstellen” sichtbar bleiben lassen sollte. Das Resultat ist heute nur noch als Dokument des Brecht- Bildes der 60er-Jahre von Interesse. Die neue Brecht-Ausgabe gibt durch ihre Anordnung der Fragmente nach dem Prinzip der Chronologie einen genaueren Eindruck vom fragmentarischen Charakter und dabei speziell auch von den unterschiedlichen Tendenzen Brechts: Zur Ordnung einerseits, zur Auflösung von Ordnung entsprechend der auftauchenden Fragen und Probleme andererseits. Gleichwohl lässt auch sie den Leser leicht verkennen, dass die Wiederholungen, Korrekturen, Widersprüche, Revisionen und letztlich das Scheitern Brechts am zu Beginn avisierten und konzipierten Lehrbuch mindestens ebenso große Aufmerksamkeit verdient wie die in den Texten niedergelegten Inhalte. Darüber hinaus greift sie durch die Auflösung der fast durchgängigen Kleinschreibung massiv in Brechts Text ein, der deshalb hier, wo möglich, nach den im Brecht-Archiv liegenden Typoskripten zitiert wird. 16 Vgl. Brecht-Archiv, BBA 124/ 88 sowie Brecht 1993, S. 719. 17 Vgl. Brecht-Archiv, BBA 126/ 13 sowie Brecht 1993, S. 773. 18 Vgl. BBA 127/ 48 sowie Brecht 1993, S. 803. 19 Vgl. Brecht 1993, S. 612/ 613. 20 Vgl. BBA 127/ 55 sowie Brecht 1993, S. 823. 21 Vgl. zur Formulierung der “Distanz zur Distanz” Hans-Thies Lehmann, “(Sich) Darstellen. Sechs Hinweise auf das Obszöne”, in: Krassimira Kruschkova (Hrsg.), Ob? Scene. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film, Wien, Köln, Weimar 2006, S. 33-48, hier S. 40, wobei ich mit Blick auf die hier untersuchte Textpassage allerdings hinzufügen möchte, dass diese Haltung nicht erst in Absetzung von Brecht, etwa bei Heiner Müller, sondern bereits bei Brecht selbst zu finden ist. 22 Vgl. etwa Castorfs Produktionen Endstation Amerika und Forever Young. Für Endstation Amerika hat dies beispielhaft Ulrike Haß herausgearbeitet. Vgl. Ulrike Haß, “Wo glaubten die Szenographen, dass sich ihr Publikum befände. Eine genauso alte wie neue Frage”, noch unveröffentlichter Vortrag im Rahmen der Tagung “Theater sucht Publikum”. Evangelische Akademie Tutzing, 5.-7.3.2004. 23 Ausführlich habe ich dies am Beispiel der Wooster Group-Produktion To You, The Birdie! zu zeigen versucht. Vgl. Nikolaus Müller-Schöll, “Lügen Tränen nicht? Ausdruck, Konvention und Körper in der Wooster Group-Produktion ‘To you the birdie (Phèdre)”, erscheint in: Krassimira Kruschkova, Unmögliche Tränen. Wien 2008. 24 Heiner Goebbels, “Eraritjaritjaka, Das Museum der Sätze” (2004, vgl. dazu Gertrud Koch, “Müssen wir glauben, was wir sehen? Zur filmischen Illusionsästhetik”, in: dies., Voss. …kraft der Illusion, S. 53-70, hier S. 62f.). 25 Vgl. Jacques Derrida, Memoires für Paul de Man, aus dem Franz. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 1988. S. 31. 26 Zit nach http: / / www.dramaturgische-gesellschaft.de/ dramaturg/ 2005_02/ 24.pdf 27 Vgl. http: / / www.rimini-protokoll.de/ project_ frontend_index.php 28 Essener Premiere am 7. Juli 2006. Die folgende Beschreibung bezieht sich auf die Vorstellung am 10.7.2006. 29 Vgl. zum Begriff des Nicht-Orts Marc Auge, “Des lieux au non-lieux”, in: Ders., Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris 1991, pp. 97-144, wo der Nicht- Ort zu einer zeitspezifischen Erscheinung dessen erhoben wird, was Augé mit Blick auf die heutige Gegenwart als “Surmodernité” beschreibt. 30 Vgl. zum hier nur angedeuteten Begriff des Theatralen - und von Theatralität im Sinne der französischen théatralité Nikolaus Müller- Schöll, Das Theater des “konstruktiven Defaitismus”. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt und Basel 2002, insb. S. 45-71 u. S. 183/ 184 sowie Samuel Weber, Theatricality as Medium, New York 2004. 31 Vgl. Bertolt Brecht, Werke, Bd. 21, Schriften 1, Berlin und Weimar, Frankfurt a.M 1992, S. 469; vgl. dazu auch, darauf aufbauend Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode. Frankfurt a.M. 1975, S. 203. Die Affinität der Arbei- (Un-)Glauben. Das Spiel mit der Illusion 151 ten von Rimini-Protokoll - wie auch von Walid Ra’ad - mit Alexander Kluges Arbeiten, speziell für das Fernsehen, wäre an anderer Stelle ausführlicher zu beleuchten. 32 Eine Auswahlbibliographie zu Veröffentlichungen von und über Walid Ra’ad findet sich bei Nakas, Schmitz, The Atlas Group, S. 133. Die folgende Darstellung stützt sich daneben auf eine persönliche Begegnung mit Ra’ad im Rahmen des von Christine Peters kuratierten “Performer’s Guesthouse”, Theater der Welt / Akademie Schloß Solitude, Stuttgart, 23./ 24. Juni 2005. Vgl. außerdem die Homepage des Künstlers www.theatlasgroup.org. 33 Zit. nach Nakas, Schmitz, The Atlas Group, S. 96. 34 Meine Darstellung bezieht sich auf die Performance vom 23. Juni 2005 im Kunstmuseum Stuttgart. 35 Ra’ads Minimalismus verbindet ihn mit einer ganzen Reihe von libanesischen Künstlern, die am Politischen interessiert sind, etwa mit Rabih Mroué oder Ali Cherri. Inwiefern das Fehlen von Mitteln für aufwendigeres politisches Theater dabei den Ausschlag für die Wahl dieser Form gab, muss dahingestellt bleiben. In jedem Fall handelt es sich bei Ra’ads Arbeiten erkennbar um künstlerische Setzungen, die nicht zuletzt im Kontext zeitgenössischer Konzeptkunst und Konzepttheaters weiter zu betrachten wären. 36 Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M., 9. Aufl., 1989, S. 159. 37 Vgl. zur Definition der Illusion im Ausgang von der Motivierung eines Glaubens durch die Wunscherfüllung Sigmund Freud, “Die Zukunft einer Illusion”, in: Ders., Studienausgabe Band IX. Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt/ M. 1982, S. 135-190, hier S. 165. Freuds Definition der “Illusion” und des Glaubens an sie kann derjenigen am ehesten verglichen werden, die wir hier nachfolgend ausgehend von Kant und in Affinität zum Ideologiebegriff bei Marx vorschlagen, insofern sie einerseits absieht vom Verhältnis der Illusion zur Wirklichkeit, andererseits ihrer Tendenz nach erneut eine unvermeidliche, ja notwendige Täuschung bezeichnet. 38 Jacques Derrida, “Above All, No Journalists! ”, in: Hent de Vries, Samuel Weber (Edd.), Religion and Media, Stanford 2001, pp. 56-93, hier p. 86. 39 Zit. nach Kassandra Nakas, “Bilder der Verfehlung, fehlende Bilder”, in: Nakas, Schmitz, The Atlas Group, S. 21-24, hier S. 24. 40 Vgl. dazu die Kant-Deutung von Astrid Deuber-Mankowsky, “‘Eine Aussicht auf die Zukunft, so wie in einem optischen Kasten’. Transzendente Perspektive, optische Illusion und beständiger Schein bei Immanuel Kant und Johann Heinrich Lambert”, in: Koch, Voss, …kraft der Illusion, S. 103-120. Ausführlicher entwickelt Deuber-Mankowsky diese Lektüre in “Praktiken der Illusion. Kant, Nietzsche, Cohen, Benjamin bis Donna J. Haraway”, Berlin 2007. 41 Karl Marx, Friedrich Engels, “Die deutsche Ideologie”, in: Dies., Werke, Band 3, Berlin 1978, S. 9-580; Paul de Man, “The resistance to theory”, in: Ders., The Resistance to Theory, Minneapolis 1989, pp. 3-20. 42 Zit. nach Jacques Derrida, “Le Sacrifice”, in: La Métaphore, No 1., 1993, zit. n. http: / / www.hydra.umn.edu/ Derrida/ sac.html vom 10.5.2006, p. 6, meine Übersetzung (NMS). 43 Derrida, “Le Sacrifice”, p. 6. 44 Jacques Derrida, “Le cinéma et ses fantômes”, in: Cahiers du Cinema 556 (2001), pp. 74-85, hier p. 78.