eJournals Forum Modernes Theater 22/2

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/1201
2007
222 Balme

Zeitlupensound und Standbildklang – Intermediale Bezüge zwischen Musik und Videobild

1201
2007
Bianca Michels
fmth2220167
Zeitlupensound und Standbildklang - Intermediale Bezüge zwischen Musik und Videobild Bianca Michaels (München) Wir leben in einem von (audio-)visuellen Medien geprägten kulturellen Umfeld; dies hat auch im Musiktheater seinen Niederschlag gefunden. So ist ein Ausdruck dieser visuell geprägten Kultur der mittlerweile fast schon zum Normalfall gewordene Einsatz audiovisueller Medien. Technische Innovationen ermöglichen Hybride aus Musik, Film, Video und Theater, wobei die Integration insbesondere von Film und Video im Musiktheater sowohl auf der Ebene der Inszenierung als auch auf konzeptueller Ebene stattfindet. Bei der Untersuchung ästhetischer Bezugnahmen zwischen verschiedenen Medien und ihrer Versuche, “in einem Medium die ästhetischen Konventionen und/ oder Seh- und Hörgewohnheiten eines anderen Mediums zu realisieren” 1 stehen häufig Theater, Film, Video und Internet im Mittelpunkt, so dass sich die Untersuchungen zur Intermedialität auf visuelle Wahrnehmungskonventionen konzentrieren. Die folgenden Überlegungen fokussieren hingegen intermediale Bezüge zwischen musikalischer und visueller Ebene. Anhand von Steve Reichs gemeinsam mit der Videokünstlerin Beryl Korot konzipierter Oper Three Tales möchte ich der Frage nachgehen, wie sich innerhalb hybrider Formbildungen das Zusammenwirken von Klang und Video-Bild gestaltet und welche Rolle hierbei (mediale) Tradition und (technische) Innovation spielen. In der wechselseitigen Realisierung von Wahrnehmungskonventionen setzen die Künstler die medialen Bedingungen und Möglichkeiten von audiovisuellen Medien in Relation zu denen der Musik. Zentrale Fragen hierbei werden sein, wie Reich und Korot mit den spezifischen medialen Bedingungen und Möglichkeiten audiovisueller Medien in der Musik und im Klang umgehen und wie sich thematische, musikalische und visuelle Komponenten wechselseitig beeinflussen. Three Tales: “Dokumentarvideooper” Three Tales, 2002 im Rahmen der Wiener Festwochen uraufgeführt, 2 ist als ‘documentary music video theater’ konzipiert und basiert auf historischen Filmmaterialien, Fotografien, Text und Videoaufzeichnungen von Interviews, die mit Hilfe von Computerprogrammen bearbeitet und auf eine große Leinwand projiziert werden. 3 Die Videoprojektion stellt sowohl den Schauplatz des Geschehens als auch die sichtbare Handlung dar. Die Musiker und Sänger sind auf der Bühne unter der Leinwand platziert. Dabei agieren die Sänger auf der Bühne nicht als dramatische Figuren, sondern eher oratorienhaft als Chor, der in erster Linie die im Videomaterial transportierten Gedanken kommentiert, unterstreicht oder in Frage stellt. Das Theater als Rahmenmedium ermöglicht die lebendige Präsenz und unterstützt das Video und die Musik, so dass sich die sichtbare Handlung weitgehend auf die Videobilder beschränkt. 4 Inhaltlich umkreist Three Tales anhand von drei herausragenden historischen Ereignissen das Thema des technischen Fortschritts im 20. Jahrhundert. Als Motive wählten der Komponist und die Videokünstlerin für ihre zweite gemeinsame Oper den Absturz des Luftschiffes Hindenburg am 6. Mai 1937, die amerikanischen Atombombenversuche Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 2 (2007), 167-179. Gunter Narr Verlag Tübingen 168 Bianca Michaels Abbildung 1: Szenenphoto Three Tales 8 auf dem Bikini-Atoll vor den Marshall-Inseln 1946 bis 1954 und das geklonte Schaf Dolly. Während die mit Hindenburg und Bikini übertitelten Teile von Technologien der Vergangenheit handeln und zahlreiche historische Ton- und Filmdokumente verarbeiten, stellt Dolly vor allem die Auseinandersetzung mit Technologien der Gegenwart und Zukunft in den Mittelpunkt. Ausgehend von dem 1997 in Schottland geklonten Schaf Dolly behandelt diese Geschichte unterschiedliche Themen, wie beispielsweise die Auffassung vom menschlichen Körper als Maschine, Gentechnik, technische Evolution sowie Cyborgs und Unsterblichkeit. Der gesamte dritte Teil basiert auf Interviewfragmenten von herausragenden Persönlichkeiten aus den Bereichen Wissenschaft und Religion, wie z.B. James D. Watson, Richard Dawkins und Marvin Minsky. Ausgehend von den drei genannten, in historischen (Film- )Dokumenten festgehaltenen Ereignissen kreisen die ‘Geschichten’ oder Akte um die Frage, wie technischer Fortschritt die Lebensbedingungen prägt und diese in Zukunft möglicherweise verändern wird. Indem die technisch-apparative Anordnung der Produktion integraler Bestandteil der Gesamtkonzeption ist, fungieren die technischen Medien selbst als Raum der Darstellung. Three Tales erscheint demnach als Musiktheater durch Medien. 5 Hierbei weist bereits die räumliche Anordnung auf intermediale Austauschprozesse hin, die im weiteren Verlauf der Analyse konkretisiert werden. 6 Im ästhetischen Umgang mit den verschiedenen Medien und Materialien verfolgen Reich und Korot klare intermediale Strategien. Außergewöhnlich ist hierbei nicht nur die Konsequenz, mit welcher auf andere Medien Bezug genommen wird, sondern insbesondere auch die wechselseitige Verschränkung: Die Musik nimmt ebenso Wahrnehmungsgewohnheiten aus audiovisuellen Medien auf, wie die Videobilder nach satztechnischen Prinzipien aus der Musik strukturiert sind. Three Tales löst mediale Wahrnehmungskonventionen der Oper auf: Theater stellt zwar das Rahmenmedium dar, bestimmendes Binnenmedium ist jedoch eine groß dimensionierte Videoleinwand die eigentliche Bühnenaktion der Sänger und Musiker dominiert. 7 Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, vereinigt Three Tales durch die dispositive Anordnung des Publikums, des künstlerischen Personals auf der Bühne und der die gesamte Breite der Bühne einnehmenden Leinwand die Rezeptionssituation des (Musik-)Theaters mit der des Kinos. 9 Zeitlupensound und Standbildklang 169 Intermediale kompositorische Verfahren bei Steve Reich Der 1936 in New York geborene Steve Reich gilt als einer der bekanntesten und erfolgreichsten amerikanischen Komponisten der Gegenwart. Zu seinen wichtigsten Konzepten und Kompositionstechniken gehören die frühen Tonbandversuche mit dem Konzept der Phasenverschiebung, Musik als gradueller Prozess, afrikanische und balinesische Trommeltechniken, Sampling und Minimal Music. Bereits seit den 1960er Jahren experimentierte er im Umfeld des San Francisco Tape Music Center, einem bedeutenden Begegnungsort für Vertreter innovativer Musik, mit den Möglichkeiten zeitgenössischer technischer Medien für seine Kompositionen. Insbesondere die Möglichkeiten des Tonbandgeräts wurden für seine Kompositionen It’s Gonna Rain und Come Out zentral. Hierbei verwendete Reich sein Tonbandgerät wie eine Filmkamera: It struck me that the tape recorder was best used to record real sound, particularly speech, just as a movie camera records real moving images. To present this real material in a recognizable way, as opposed to altering and disguising it, as in the Musique Concréte of the time, seemed to me to be the key to keeping the emotional thrust of the original speech or real sound intact. […] The analogy of film and tape as both recording media whose temporal ordering was then later manipulated via editing struck me as significant. 10 Da Steve Reich mit den spezifischen medialen Bedingungen und Möglichkeiten des Tonbandgeräts im Umgang mit Tondokumenten gesprochener Sprache experimentierte, waren bereits seit den 1960er Jahren vieler seiner Kompositionen geprägt von Austauschprozessen zwischen technischen Medien und Musik. Im Zusammenhang mit Three Tales korrelieren die intermedialen Bezüge nicht zuletzt mit der Thematik der Oper, die zwar insbesondere den technischen Fortschritt zum Thema hat, gleichzeitig jedoch auch durch die intensive Verwendung von historischem dokumentarischem Material auch die wichtigen Kommunikationsmedien des 20. Jahrhunderts, Zeitung, Radio und Film, thematisiert. Zeitlupensound Der Zeitlupensound, den der Komponist durch Dehnung von aufgezeichneten Sprachsamples erreicht, ist ein häufig auftretendes kompositorisches Verfahren in Three Tales. Die Idee der Slow Motion Music ist bei Reich zurückzuverfolgen bis in das Jahr 1963, als er sich für experimentelle Filme zu interessieren begann und Film als analog zum Tonband betrachtete: “Extreme slow motion seemed particularly interesting, since it allowed one to see minute details that were normally impossible to observe”. 11 Da eine Verlängerung der ursprünglichen Dauer gesprochener Sprache mit der damals vorhandenen Tonbandtechnik nicht zu verwirklichen war, 12 existierte Reichs Idee nur als Partitur, die aus den Worten besteht: “Very gradually slow down a recorded sound to many times its original lengths without changing its frequency or spectrum at all”. 13 Die 1970 entstandene Komposition Four Organs stellt eine erste instrumentale Umsetzung dieser Idee dar. Erst mit heutigen digitalen Techniken ist es möglich, aufgezeichnete Klänge zu dehnen, ohne dass sich hierbei die Tonhöhe oder die Klangfarbe verändern. Reichs Anliegen war es hierbei, die Dauer einer Note sehr langsam und stark zu verlängern “until a kind of slow motion music was arrived at”. 14 An besonders exponierter Stelle findet sich ein Beispiel für den Zeitlupenklang gegen Ende von Bikini im unmittelbaren Zusammenhang mit der Zündung der Bombe: Während des gesamten Aktes ist der Originalcountdown in Einschüben präsent, bevor in der genannten Szene die aufgezeichnete 170 Bianca Michaels Stimme mit dem Kommando “zero” den Augenblick der Explosion anzeigt. 15 Der Moment in der Oper, welcher der Explosion unmittelbar vorausgeht, ist gekennzeichnet durch dramatisch aufgepeitschte Bilder, die während des Bikini-Countdowns durch Wiederholungen und Multiplikationen gleichzeitig angeheizt und irritiert werden. Am Ende des Countdowns folgt die Überraschung: Statt eines Atompilzes und einer Explosion sind mit dem Erklingen des zero- Kommandos lediglich orange glühende, sich auflösende Palmen wahrzunehmen. Das bis kurz zuvor präsente drängende Motiv aus drei Vierteltriolen mit anschließenden vier Achteln, welches unisono von Vibraphonen, Pianos, Sampler (z.B. als Klang von Schiffshörnern) und Streichern gespielt wurde, weicht einer plötzlichen ‘Stille’ aus liegenden Akkorden. Hierdurch konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf das eingespielte zero- Sample, welches insgesamt drei Mal erklingt, wobei jede Wiederholung stärker gedehnt wird. Beim ersten Auftreten in Originalgeschwindigkeit notiert Reich eine oktavierte Folge aus einer Achtel- und einer Sechzehntelnote von cis nach b. Bei der ersten Wiederholung des Wortes erklingt die gleiche Notenfolge im Rhythmus von zwei Vierteln und bei der zweiten Wiederholung schließlich von zwei halben Noten. Unterstützt wird dieser Zeitlupeneffekt von der ersten Violine und der Viola-Stimme, die rhythmisch analog zum Sprachmaterial erst Achtel (bzw. Sechzehntel), dann Viertel und schließlich halbe Noten spielen. In allen übrigen Stimmen erklingen lediglich wenige über ein bis zwei Takte liegende Akkorde. Der Effekt dieser Szene liegt in der Verbindung von Zeitlupensound und Wiederholung, durch welche die Verlangsamung des voraufgezeichneten Materials deutlich wahrnehmbar wird. Ebenso wie musikalisch ein deutlicher Bruch zwischen den spannungssteigernden Elementen vor der Explosion und der ‘Stille’ danach komponiert ist, zeigt sich dieser Bruch auch in den Videobildern Beryl Korots. Reich beschreibt die Szene folgendermaßen: “you don’t hear the bomb, you don’t see the bomb; what you hear is this very sad music and what you see is palm trees against the garish orange of the Hydrogen bomb light slowly disintegrating one frame gradually dissolving into the next. Looks like an expressionist rendering of palm trees slowly, painfully blow [sic! ] to bits”. 16 Hier steht die in Zeitlupe vor sich gehende Zerstörung des Bikini-Atolls in starkem Kontrast zu den vorher gezeigten, in raschen Bildfolgen aufblinkenden Kontrolleinheiten, Knöpfen und Metronomen, die die letzten Vorbereitungen vor der Explosion darstellen. Neben dem Motiv der durch die Wasserstoffbombe sich auflösenden Palmen besticht vor allem der farbliche Kontrast, da hier erstmals der gesamte Bildschirm mit leuchtenden Farben ausgefüllt ist. Obgleich keine Explosion zu sehen oder zu hören ist, lassen die visuelle wie musikalische Gestaltung keinen Zweifel an der Zerstörung des zuvor in den Bildern des Insel-Idylls evozierten Paradieses. Standbildklang Ein anderes mit den Konventionen des Films assoziiertes Verfahren ist der Freeze Frame oder Stop Action Sound, welcher aus dem filmischen Standbild abgeleitet ist und als musikalisches Äquivalent hierzu betrachtet werden kann. Insbesondere in der Dolly- Sequenz, in welcher das musikalische Material im Wesentlichen auf den Samples der interviewten Personen beruht, deren jeweilige Sprachmelodie Anlass und Ausgangspunkt für die Musik ist, findet sind der Standbildklang häufig neben dem Zeitlupensound. Im Standbildklang wird eine Silbe des Sprachsamples ausgehalten und bildet den harmonischen Untergrund für die folgenden Worte des Sprechers. Während einer der Interviewpartner sprechend auf dem Video zu Zeitlupensound und Standbildklang 171 sehen und zu hören ist, wird ein einzelner Vokal so lange gehalten, bis er zu einer Art hörbaren Spur und damit auch zu einem Teil der Harmonie wird, durch die der jeweilige Sprecher seine persönliche akustische Umgebung erhält. Dabei wird ein Vokal des zuvor aufgezeichneten Materials angehalten und bleibt für einige Zeit akustisch ‘stehen’, während die übrigen Stimmen fortfahren. Gerhard Persché beschreibt die Wirkung der zum Teil zu mehrstimmigen Akkorden verdichteten Standbildklänge als “Dampfspur, die sich zu akkordlichen Gebilden spreizt”. 17 Diese ‘akkordlichen Gebilde’ entstehen dadurch, dass der stehen bleibende Ton eine zusätzliche harmonische Textur bildet, über der sich die restlichen Stimmen weiter bewegen. Damit ist das Verfahren eng verbunden mit Beryl Korots Übereinanderschichtung mehrerer visueller Ebenen, bei der immer wieder ein Bild im Hintergrund stehen bleibt, während sich der Vordergrund verändert. Während das Standbild im Film in der Regel das narrative Geschehen anhält, ist es in Musik und Video möglich, eine Ebene anzuhalten und gleichzeitig nahezu beliebig viele andere Ebenen, akustisch oder visuell, im Vorder- oder Hintergrund weiterzuführen. Gerade im ersten Teil von Dolly überwiegt dieser, die Persönlichkeit des Sprechers unterstreichende Effekt des Verfahrens, wenn die interviewten Wissenschaftler die Fakten des Klon-Prozesses erläutern. So beginnt Dolly mit dem Interview der Vorsitzenden der U.K. Human Fertilisation & Embryology Authority und stellvertretenden Rektorin der Universität Oxford Ruth Deech, die im Bild vor dem Hintergrund einer mikroskopischen Aufnahme einer gerade entkernten Eizelle gezeigt wird. Rechts neben ihr erscheint die gleiche Videoaufnahme von ihr noch einmal in einem etwas kleineren Rahmen. Dieses Muster eines Großbildes mit daneben im Hintergrund erscheinenden kleineren gerahmten Köpfen wird über weite Strecken des Aktes als Motiv beibehalten. Mit Ruth Deech und ihren Worten “The process is as follows” beginnt die als Cloning überschriebene Szene. Dieser Satz (in Verbindung mit der im Bild sichtbaren Sprecherin) wird wiederholt. Bei seinem zweiten Auftreten bleibt der Klang des Wortes is akustisch stehen. Gleichzeitig stoppt das Videobild und zeigt Deech als Standbild vor dem Hintergrund der sich weiter bewegenden mikroskopischen Zell-Aufnahmen. Standbild und Standbildklang laufen hier somit parallel. Die Synchronisation von visuellem und akustischem Standbild geht jedoch über die zeitliche Ebene hinaus und zeigt sich auch in einer quasi-räumlichen Synchronisation von Bild und Klang: in der gleichen Szene entspricht die musikalische Aufteilung in Vorder- und Hintergrund auch der Anordnung der Videobilder. Die zunächst als Standbild im Hintergrund sichtbare mikroskopische Aufnahme einer in eine Zelle eindringenden Kanüle beginnt sich erst mit Einsatz des Orchesters zu bewegen. Ebenso wie die Instrumentalstimmen vor der angehaltenen Stimme weiterlaufen, bewegt sich auch die in diesem Moment in den Vordergrund überblendete mikroskopische Aufnahme vor den beiden Standbildern der interviewten Ruth Deech weiter; so wie in der Musik mehrere selbständige Stimmen zu hören sind, gestaltet Beryl Korot die verschiedenen Bildebenen als jeweils eigenständige, jedoch rhythmisch mit der Musik koordinierte Elemente. Zudem illustriert die angesprochene Szene, wie der angehaltene Klang des Standbildsounds als Teil des musikalisch-harmonischen Untergrundes fungiert. In anderen Passagen unterstreicht das akustische Standbild zusätzlich vor allem inhaltlich herausgehobene Passagen, die somit unterschwellig als Verlängerung der Gedanken in das Folgende präsent sind. Der Standbildklang fungiert sowohl als akustische Erinnerung an das vorher Gesagte als auch als Intensivierung des ausgesprochenen und akustisch verlängerten Gedankens. 18 172 Bianca Michaels Besonders bemerkenswert an den beiden Techniken Zeitlupensound und Standbildklang ist der Umstand, dass die Idee zu den intermedialen Verfahren der Übertragung der ästhetischen Konventionen des Films auf die Musik entstand, lange bevor die hierzu notwendigen technischen Voraussetzungen entwickelt waren. Erst in der Video-Oper konnte Steve Reich nicht nur die Technik für seine Musik nutzen, sondern diese zudem mit dem ursprünglich als Inspiration fungierenden Medium Film bzw. Video verknüpfen. Das folgende Beispiel geht den umgekehrten Weg: Hier übernimmt nicht die Musik die medialen Möglichkeiten von Film und Video, sondern das Videobild ist nach satztechnischen Prinzipien der Musik strukturiert. Visueller Kanon Am Verhältnis zwischen Video und Musik ist besonders auffällig, dass Korot viele rhythmische und satztechnische Kompositionsprinzipien in der Organisation der vielschichtigen Videobilder aufnimmt. Hierbei geht die rhythmische Organisation der Bilder weit über einfache Schnitte - z.B. an markanten musikalischen Passagen - hinaus und zeigt so, wie eng sich Beryl Korot im Entstehungsprozess an den strukturellen Merkmalen der Musik orientiert hat. Die folgenden Ausführungen beruhen auf der These, dass die musikalische Konzeption, die ja im Entstehungsprozess der des Videos voranging und diese somit gerade im Hinblick auf die Schnitte wesentlich geprägt hat, 19 nicht nur Aufschluss über die Struktur der Videokomposition geben kann, sondern dass das Vokabular der Musik auch besonders geeignet ist, um die Organisationsformen der Bilder angemessen zu beschreiben. Der Kanon stellt eine Struktur dar, die in Three Tales als Satztechnik und Montageprinzip sowohl im Bild wie auch in der Musik verwirklicht und in einen neuen Zusammenhang gestellt wird. In der traditionellen Satztechnik des Kanons, die mehr als jede andere Technik Reichs Musik dominiert, hat der Komponist eine besonders geeignete kompositorische Form gewählt, um ein Objekt aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. 20 Die erste Szene von Hindenburg ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie Video und Musik sowohl in ihrer temporalen Struktur wie auch in ihrem Aufbau der verschiedenen Stimmen und Bildebenen nach den gleichen Prinzipien konstruiert sind. Es zeigt, wie der Kanon als übergreifende Struktur die Szene insgesamt gliedert und sowohl in der Musik als auch im Video die verschiedenen Stimmen und Bildelemente miteinander koordiniert. Auf der Grundlage dieser traditionellen musikalischen Satztechnik bildet sich ein komplexes Gefüge aus Live-Stimmen und aufgezeichneten Samples. Die Szene beginnt mit einer Schlagzeile aus der New York Times vom 7. Mai 1937, die instrumental von snare drum und kick drum rhythmisch ‘ausgetrommelt’ wird, 21 während sie zugleich visuell als typographisches Schriftbild aus der New York Times erscheint und damit das Medium Zeitung thematisiert. Rhythmisch synchron mit dem Schlagwerk erscheinen die Buchstaben der Zeitungsschlagzeile “Hindenburg burns in Lakehurst crash, 21 known Dead, 12 missing, 64 escape” nach und nach auf der Leinwand. Anschließend werden auf dem Bildschirm die ebenfalls der New York Times entnommenen Worte des deutschen Botschafters sichtbar “It could not have been a technical matter”, welche mit anderen Textstellen des Artikels visuell kombiniert erscheinen. Neben dem gleichzeitig durch Percussion im Orchester rhythmisierten ‘Titeltext’ sind in collagenartiger Zusammenstellung Textausschnitte und Bilder aus der New York Times zu sehen. Aus dem zentralen Satz “It could not have been a technical matter” bildet Reich mit dem zweiten Schlagzeug einen ‘rhythmischen Kanon’. Indem der Einsatz der zweiten Zeitlupensound und Standbildklang 173 Abbildung 2: Hindenburg Szene 1, ‘Visueller Kanon’ Percussion-Stimme wie ein zweites Notensystem unterhalb des ersten Textfeldes im Videobild erscheint, kann der Zuschauer den Kanon der Schlagwerke anhand der Schrift mitverfolgen. Weiter ausgebaut wird diese Kanonstruktur, wenn ab Takt 23 die Singstimmen hinzutreten und - unterstützt von den Streichern - einen dreistimmigen Kanon auf den gleichen, bis dahin nur rhythmisierten Text singen. Gleichzeitig mit dem Einsatz der Sänger tritt die Collagenoptik zurück und auf dem Videobild sind nun historische Aufnahmen des Luftschiffabsturzes zu sehen. Die Zeitungsschrift selbst bleibt jedoch im Vordergrund erhalten. Mit jeder neu hinzutretenden Stimme tritt auch im Bild unter die bereits vorhandene ‘Stimme’ eine neue hinzu. Angesichts der Entsprechungen der ästhetischen Verfahren von Musik und Video bezeichne ich diese Visualisierung von Text und Rhythmus der drei Tenorstimmen als ‘visuellen Kanon’. Abbildung 2 illustriert, wie Korot die Form des Kanons mit den nacheinander einsetzenden Stimmen mittels dokumentarischer Zeitungsausschnitte auf die visuelle Ebene überträgt. Hierbei verleiht die räumliche und zeitliche Anordnung den Textstellen mit ihrem an der musikalischen Form des Kanons orientierten Bildaufbau eine zusätzliche Dimension. Diese Dimension wiederum ist auch im rhythmischen Aufbau der Musik zu finden. Steve Reich hat die Abstände der Stimmeneinsätze sehr kurz gehalten, so dass sich der Eindruck eines Nachhalls ergibt, wenn der zweite und dritte Tenor jeweils nur zwei Achtel nach seiner jeweiligen Vorgängerstimme einsetzt. Zusätzliche Komplexität erhält diese Struktur dadurch, dass zu dem dreistimmigen Kanon der Tenöre die aufgezeichnete Stimme des Radiosprechers Herbert Morrison hinzutritt, dessen Sprachsample sich nach wenigen Takten selbst verdoppelt und somit als sein eigenes Echo erscheint. Bei der ersten Wiederholung des Kanons von den drei Tenorstimmen bildet die aufgezeichnete Stimme von Morrison einen weiteren Kanon mit dem bereits beim ersten Erklingen des Kanons vorgestellten Sprachsample (vgl. Abb. 3). Akustisch erweckt diese Passage den Eindruck eines unüberschaubaren Chaos, das 174 Bianca Michaels Abbildung 3: Hindenburg Szene 1 Takt 96-101, Singstimmen und aufgezeichnete Stimmen. 22 mit der nicht unmittelbar zu überblickenden Vielschichtigkeit des Bildaufbaus im Video korrespondiert. Erhöht wird der Eindruck der Unüberschaubarkeit durch das Tempo der Schnitte, welches es unmöglich macht, alle Texte auf der Leinwand auf Anhieb zu lesen und die Schwarz-Weiß-Aufnahmen auf Anhieb zu decodieren. Erst in der mehrmaligen Wiederholung erscheint die Struktur durchsichtiger. 23 Der fünfstimmige Kanon aus live-Stimmen und aufgezeichneten Stimmen wird schließlich stark gedehnt. Diese Dehnung der Stimme Herbert Morrisons geht einher mit einer Variation in der Melodieführung der Tenorstimmen sowie einer drastischen Tempoverlangsamung, wobei zum Teil Achtelnoten zu ganzen Noten verlängert werden (mitunter sogar auf über zwei Takte ausgehaltene Noten). Ebenso wie die live-Sänger nun in Zeitlupe zu singen scheinen, wird auch die Stimme des Moderators verlangsamt, ohne dass sich dabei jedoch die Tonhöhe der Stimme verändert (Takt 105ff. und 129ff). 24 Dadurch ergibt sich ein akustischer Zeitlupeneffekt: Die gedehnte Stimme Herbert Morissons wird mit einer ‘Verlangsamung’ des Kanons in den Gesangsstimmen kombiniert, die sich entsprechend im Videobild in häufig wiederholten Zeitlupenaufnahmen des Absturzes der Hindenburg manifestiert. Die Dehnung des akustischen Materials verlängert das Thema und bewirkt dadurch auch eine Steigerung des dramatischen Effekts. Die für die live-Stimmen verwendete ‘Dehnung mit Variation’ hat einen ähnlichen Effekt wie Reichs im Zusammenhang mit aufgezeichneten Materialien verwendeter Standbildsound. In beiden Fällen werden die lang ausgehaltenen Noten als unterliegende Harmonie wahrgenommen. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die im Zeitlupensound Zeitlupensound und Standbildklang 175 deutlich hervorgehobene emotionale Komponente der Stimme. Reich nutzt die durch die Verlangsamung besonders deutlich wahrnehmbaren Glissandi, um einen emotional intensiveren Eindruck zu erreichen, der dem Thema seiner Ansicht nach angemessen ist. 25 Der Zusammenhang von Emotion und Glissandi wird insbesondere dann deutlich wahrnehmbar, wenn die Stimme des Nachrichtensprechers zum Teil verzerrt und zugleich gedehnt wird, während gleichzeitig im Bild das verglühende Luftschiff zu sehen ist. 26 Das Ausmaß der Katastrophe vermittelt die Oper dadurch, dass sich Passagen akustischer und visueller Zeitlupe abwechseln mit Passagen, in welchen Musik und Bild im Anfangstempo bzw. üblicher Bildabspielgeschwindigkeit erscheinen. Durch den Kontrast verschiedener Tempi charakterisieren Reich und Korot das Außerordentliche des historischen Ereignisses, wobei sich auch visuell eine vielschichtige kontrapunktische Struktur dadurch ergibt, dass verschiedene Bildebenen gleichzeitig mit verschiedenen Rhythmen belegt sind. Intermedialität und Remediation Anhand von Zeitlupensound, Standbildklang und visuellem Kanon in Three Tales wurde deutlich, dass die Videobilder nach ähnlichen Prinzipien strukturiert sind wie die Musik und andererseits die Musik Strukturelemente und Wahrnehmungsgewohnheiten aus audiovisuellen Medien aufweist. Bei genauer Betrachtung der oben beschriebenen Kopplungen von Video und Musik fällt jedoch auf, dass Zeitlupensound und Standbildklang nicht nur als Versuch gedeutet werden können, die Sehgewohnheiten audiovisueller Medien in der Musik zu realisieren, sondern dass die Dehnung wie auch das Anhalten von Klängen auch einen Rückgriff auf traditionelle kompositorische Verfahren darstellen: Die Verlangsamung musikalischer Bewegung wird traditionell als Augmentation oder Vergrößerung bezeichnet, weil sich hier alle Notenwerte proportional zu ihrer ursprünglichen Länge vergrößern. Mit der bereits im Mittelalter verwendeten Satztechnik der Augmentation arbeitete Reich bereits lange vor Three Tales. 27 Erst im Übergang zum 21. Jahrhundert jedoch wurde es möglich, den Effekt der Vergrößerung auch auf aufgezeichnete (Sprach-)Samples zu übertragen. So ließe sich fragen, inwiefern nicht die Filmtechnik der Slow Motion auch vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Kompositionstechnik der Vergrößerung zu betrachten wäre. Ähnliches gilt für den Standbildklang: Dieser hat seine traditionelle Entsprechung oder vielmehr sein musikalisches Vorbild im Orgelpunkt. Als Orgelpunkt wird in der Musiktheorie ein lang ausgehaltener oder in einem bestimmten Rhythmus wiederholter Ton bezeichnet, zu welchem sich andere Stimmen frei bewegen. 28 Reich überträgt den Orgelpunkt auf aufgezeichnete Sprachsamples, wobei erst die technischen Fortschritte des Synthesizers es ermöglichten, die gesprochene Sprache in dieser Weise als musikalisches Material zu behandeln. 29 Musikalisch neu ist das technische Verfahren, mit welchem die traditionellen musikalischen Kompositionsprinzipien auch auf aufgezeichnete gesprochene Sprache übertragen werden können. So zeigt sich in der wechselseitigen Übernahme von Wahrnehmungskonventionen in Three Tales, was Jay David Bolter und Richard Grusin als “remediation” bezeichnet haben, nämlich das Phänomen, dass neue Medien ältere Medien umgestalten bzw. sich ältere Medien als Reaktion auf jene neuen Medien selbst umgestalten. 30 Im Video finden sich mit dem visuellen Kanon Strukturprinzipien aus der Musik und in der Musik mit dem Zeitlupen- und Standbildklang Strukturprinzipien aus audiovisuellen Medien. In letzterem Fall ist jedoch gerade bezüglich des von Reich verwendeten Zeitlupen- und 176 Bianca Michaels Standbildklangs nicht mehr recht auszumachen, ob die Musik hier nicht vielmehr über den Umweg der visuellen Medien “eigene” Verfahren anwendet, indem sie auf alte Satztechniken zurückgreift und diese mit neuen technischen Verfahren des Sprachsampling verbindet. Bemerkenswert ist hier der kategoriale Unterschied in der Wahrnehmung der jeweiligen Verfahren auf visueller und klanglicher Ebene: Während die Dehnung bzw. das Anhalten des musikalischen Geschehens auf die Wahrnehmung der gleichzeitig erscheinenden Zeitlupen- und Standbilder keine wesentlichen Folgen hat, ist umgekehrt durch die konsequente Verknüpfung der klanglichen Verfahren mit ihren visuellen Entsprechungen eine den musikalischen Eindruck erweiternde Wirkung festzustellen. Die Videobilder machen die musikalischen Vorgänge ‘anschaulich’. Auffallend ist, dass durch die zeitweise Doppelung von Zeitlupe und Stillstand in Bild und Ton in der Rezeption häufig nicht mehr zu entscheiden ist, ob die Musik die Strukturprinzipien des Videobildes aufnimmt oder ob das Geschehen auf der Leinwand den Regeln der Musik folgt. Weiterhin wird in der Untersuchung von Three Tales deutlich, dass es auch bei offensichtlichen intermedialen Bezugnahmen nicht immer klar sein muss, welches Medium welches Medium zitiert, d.h. in diesem Fall: ob das Videobild Wahrnehmungskonventionen aus der Musik, die Musik Wahrnehmungskonventionen zeitgenössischer Bildschirmmedien realisiert, oder ob vielleicht sogar die Musik auf ihre ‘eigenen’ traditionellen Satzprinzipien zurückgeht, welche sich die audiovisuellen Medien im 20. Jahrhundert lediglich zu Eigen gemacht haben. Hier zeigt sich die insbesondere von Jens Schröter konstatierte paradoxale Struktur von Intermedialität: Wenn ein ästhetisches Verfahren von einem Medien auf ein anderes übergehen können soll, muss dieses Verfahren einerseits medien-un-spezifisch genug sein, um in einem anderen medialen Kontext als identifizierbares Prinzip auftreten zu können. “Andererseits muss das Verfahren medienspezifisch genug sein, um in seinem neuen medialen Kontext noch auf das Medium, dem ‘es’ entliehen wurde bzw. von dem es ‘herkommt’, verweisen können”. 31 Gerade die oben genannten ästhetischen Verfahren in Three Tales unterstreichen, dass es sowohl vom jeweiligen historischen Kontext als auch von den individuellen Vorerfahrungen des jeweiligen Rezipienten abhängig ist, was als kontaktgebendes Medium identifiziert wird. Ob beispielsweise die Dehnung von Bild und Klang als Verfahren aus audiovisuellen Medien wie Film und Fernsehen oder als musikalisches Verfahren wahrgenommen wird, ist abhängig von gegenwärtigen und individuellen Wahrnehmungsgewohnheiten. Folglich wird bei einem gleichzeitigen Auftreten von Standbild und angehaltenem Vokal in der Musik in einem visuell geprägten Umfeld zunächst eher das visuelle Standbild auffallen als das ebenso deutlich wahrnehmbare musikalische Verfahren des Orgelpunkts bzw. Standbildklangs. Zeitlupensound, Standbildklang und visueller Kanon unterstreichen die von Volker Roloff in Anlehnung an Schröters Begriff einer übergeordneten intermedialen Struktur oder auch ‘Ur-Intermedialität’ vorgeschlagene Denkfigur von intermedialen Strukturen als variablen Spielformen einer ästhetischen Wahrnehmung. 32 Diese variablen Spielformen einer ästhetischen Wahrnehmung sind immer schon - in der Kombination der verschiedenen Sinne und der Sinnlichkeit des Menschen - intermedial […], synästhetisch nicht im Sinne einer Synthese und ursprünglichen Einheit, sondern als ein ständiger Prozess der Kombination und Konfusion der Sinne, der als solcher Brüche, Differenzen und Zwischenräume miteinbezieht. 33 Zeitlupensound und Standbildklang 177 Fazit Im Falle von Three Tales bewirken die intermedialen Verfahren Zeitlupensound, Standbildklang und visueller Kanon eine veränderte Wahrnehmung der Medien: Indem insbesondere der Bewegungsduktus von Videobild und Klang in Three Tales eng gekoppelt sind, macht das Videobild die Struktur der Musik sichtbar und erscheint stellenweise fast als Visualisierung der Musik. Dies betrifft sowohl den zeitlichen Verlauf und die rhythmische Struktur als auch die vertikale Schichtung der verschiedenen Stimmen im Kanon. Darüber hinaus schafft Korot in der oben beschriebenen Szene aus Dolly visuelle Vorder- und Hintergründe, die sich auch in der Musik finden. Hierbei sind Vorder- und Hintergrund auf dem Bildschirm nicht nur anhand der Überlappungen der einzelnen Bildelemente zu unterscheiden, sondern sind insbesondere durch ihre jeweilige zeitliche Organisation zwischen Bewegung und Stillstand gekennzeichnet, welche wiederum der Zeitstruktur in der Musik entspricht. So erhält die Musik durch die Videobilder eine räumliche Dimension und das Videobild erhält dadurch, dass Vorder- und Hintergrund auch akustisch wahrnehmbar werden, eine noch stärker temporale und gleichzeitig auch räumliche, gleichsam tiefenscharfe Komponente. 34 Im Rekurs auf Niklas Luhmanns Medium/ Form-Unterscheidung weist Joachim Paech darauf hin, dass Intermedialität nur auf der Ebene der Formen ihrer Medien stattfinden kann, deren Differenz ihrerseits als Form figuriert, in der sich die Medien unterscheiden und in Beziehung setzen lassen. 35 Vor diesem Hintergrund machen die intermedialen Bezüge in Three Tales deutlich, dass die Modifizierung medialer Erscheinungen und Wahrnehmungskonventionen zwar nur auf der Ebene der Formen sichtbar wird, dass diese jedoch gleichzeitig immer auch eine Erweiterung des Repertoires der Medien selbst bewirken. Durch neue Formzusammenhänge werden auch die Medien selbst - d.h. in diesem Fall sowohl Musik als auch Video - und ihr jeweiliges Ausdrucksrepertoire neu wahrgenommen. Diese neuen Bedeutungs- und Stukturierungsdimensionen von Musik und Video entstehen in Three Tales durch die Differenz von medialen Wahrnehmungsgewohnheiten bei gleichzeitiger Vertrautheit. Die wechselseitigen intermedialen Bezüge erschließen so neue Wahrnehmungsdimensionen. Anmerkungen 1 Balme, Christopher: “Robert Lepage und die Zukunft des Theaters im Medienzeitalter”, in: Erika Fischer-Lichte u.a. (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin 1999, S. 135. 2 Uraufführung am 4. Mai 2002; musikalische Leitung: Bradley Lubman; Ensemble Modern und Synergy Vocals; Regie: Nick Mangano. 3 Steve Reich, “My Life With Technology”, in: Contemporary Music Review, 13/ 2, p. 20. Im Programmheft der Uraufführung wurde Three Tales als Dokumentarvideooper angekündigt. 4 In der Partitur schlägt Steve Reich vor, die Sänger links und rechts des Orchesters zu platzieren und macht somit durch ihre Anordnung im Raum deutlich, dass die Sänger ähnlich wie Instrumentalisten behandelt werden sollen. In diesem Sinne stellt Beryl Korot fest: “Es ist kein Theater mit einem großen T im Sinn einer klassischen Opern- oder Dramenform. Das Theater ist in erster Linie zur Unterstützung des Videos und der Musik da” (Steve Reich, Beryl Korot: “Ein Theater der Ideen - Steve Reich und Beryl Korot über im Gespräch mit David Allenby”, in: Wiener Festwochen (Hrsg.), Programmheft Three Tales, Wien, S. 11). Ausgeklammert werden muss an dieser Stelle eine eingehende Diskussion zum Verhältnis von Liveness und Mediatisierung und nach der Rolle, welche die hier gegebene apparative und räumliche An- 178 Bianca Michaels ordnung für die Rezeption dieser Organisation von Klang und Bild spielt. 5 Three Tales ist nicht nur hinsichtlich der Bühnenaufführung als Aufführung durch Medien konzipiert: Der Audio-CD von Three Tales ist eine DVD-Version der Oper beigefügt, auf der nur das von der Musik ‘begleitete’ Video selbst sichtbar ist, d.h. die Sänger und die Instrumentalisten (sowie der Dirigent) lediglich auf dem Bonusmaterial zu sehen sind (Steve Reich, Three Tales. CD + DVD, Nonesuch Records, 79662-2). 6 Eine zusätzliche, die Ambivalenz der Rahmung unterstreichende Komponente erhält die Anordnung durch die Plazierung des Orchesters auf der Bühne unter der Leinwand. Dies weckt einerseits Assoziationen mit Musiktheaterexperimenten beispielsweise von Mauricio Kagel (Staatstheater) oder an ein Filmorchester der Stummfilmära. Insbesondere letztgenannte Assoziation wird im ersten Akt Hindenburg unterstützt durch die Verwendung von historischem Filmmaterial. 7 Zu den Begriffen Rahmen- und Binnenmedium vgl. Christopher Balme, “Theater zwischen den Medien: Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung”, in: Christopher Balme, Markus Moninger (Hg.), Crossing Media. Theater - Film - Fotografie - Neue Medien. München, S. 13-31. 8 Abbildung aus: US OperaWeb, Vol. 2, No. 4, Autumn 2002. 9 Die Ausführungen zur Inszenierung beziehen sich im Folgenden auf die Angaben in der Partitur sowie auf die von der Verfasserin gesehene Uraufführung. 10 Reich, “My Life With Technology”, p. 15. 11 Steve Reich, Writings on Music 1965-2000, Oxford 2002, p. 27. 12 Diese Komposition war zum Zeitpunkt ihrer Entstehung lediglich als Konzeptkomposition von Bedeutung, nicht jedoch mit den zu dieser Zeit vorhandenen Mitteln technisch zu realisieren. 13 Reich, Writings on Music, p. 27. 14 Reich, “My Life With Technology”, p. 17. 15 Alle Textangaben sind der Partitur entnommen: Steve Reich, Three Tales, Partitur, Boosey & Hawkes 1998-2002. 16 Rebecca Y. Kim, “From New York to Vermont: Conversation with Steve Reich”, http: / / www.stevereich.com/ articles/ NY-VT.htm (06.09.07). 17 Gerhard Persché, “Steve Reichs und Beryl Korots neues Musiktheaterwerk im Auftrag der Wiener Festwochen uraufgeführt”, in: Opernwelt, H. 7 (2002), S. 22. 18 Vgl. Steve Reich, Beryl Korot: “Ein Theater der Ideen - Steve Reich und Beryl Korot über im Gespräch mit David Allenby”, in: Wiener Festwochen (Hg.), Programmheft Three Tales, Wien, Wiener Festwochen, S. 9. 19 Beryl Korot beschreibt in einem Interview mit der Komponistin Julia Wolfe den Kompositionsprozess als enge Zusammenarbeit, in welcher beide Künstler gemeinsam das dokumentarische Material durchgehen, dieses dann jedoch weitgehend unabhängig voneinander bearbeiten. Hierbei bestimmt vor allem die Musik den Rhythmus der Bilder: “I use his [Steve Reich’s] score to determine places in the video where I want to make edits. The music is always a few minutes ahead of the video, but it’s a very back-and-forth process until we’re finished” (Julia Wolfe, “Steve Reich and Beryl Korot” [2002], http: / / www.bombsite.com/ reich/ reich.html2002 20 Letztlich lassen sich auch Reichs Kompositionen der Phasenverschiebung zurückführen auf Variationen der Kanontechnik. 21 Reich orientierte sich bei der Rhythmisierung dieser wie auch aller folgenden Schlagzeilen am Rhythmus der amerikanischen Sprache. 22 Auzug aus Reich, Three Tales. 23 Dies kann im Zusammenhang mit der Zeitlupen- und Wiederholungsästhetik der Szene interpretiert werden als struktureller Verweis darauf, dass es erst im Nachhinein möglich ist, eine solche Katastrophe zu erklären oder zumindest zu überblicken, nicht jedoch im Moment des Geschehens. Diese Interpretation deckt sich mit der Thematik der gesamten Oper und der darin implizit gestellten Frage, inwiefern die Folgen des technischen Fortschritts zum Zeitpunkt neu entwickelter Möglichkeiten überhaupt zu überschauen sind. 24 Reichs den Fluxus-Stücken nahestehende Partitur Slow Motion Sound (Zeitlupenklang) besteht aus nur einem Satz: “Very gradually Zeitlupensound und Standbildklang 179 slow down a recorded sound to many times ist original length without changing its frequency or spectrum at all” (nach Steve Reich, Writings on Music 1965-2000, Oxford 2002, p. 28). 25 Vgl. Rebecca Y. Kim, “From New York to Vermont: Conversation with Steve Reich”, http: / / www.stevereich.com/ articles/ NY-VT. htm (06.09.07). 26 In Szenen wie diesen drängen sich zusätzliche Analogien auf, in welchen die Stimme sich angesichts der Außerordentlichkeit des Ereignisses ebenso zu verformen scheint wie der Stahl unter der glühenden Hitze des Feuers. 27 Reich äußerte sich in Zusammenhang mit Proverb, einem Vokalstück, in welchem er mit kompositorischen Mitteln des Komponisten Pérotin den Satz des Philosophen Wittgenstein, “How small a though it takes to fill a whole life”, umsetzt: “Augmentation is kind of a subtext in a lot of my music” (Kim, “From New York to Vermont”. http: / / www.stevereich.com/ articles/ NY-VT.htm (06.09.07). 28 Darüber hinaus könnte man den Effekt des Standbildsounds als Weiterführung von Reichs Idee des Slow Motion Sound betrachten: der angehaltene Vokal wirkt dann weniger als musikalische Entsprechung des Standbildes mit elektronischen Mitteln als vielmehr wie ein extrem gedehnter Klang. 29 Insbesondere in den ersten beiden Akten Hindenburg und Bikini macht Reich auch ausgiebigen Gebrauch von dokumentarischen Geräuschsamples, wie beispielsweise ein von der interviewten Freya von Moltke angesprochenes ‘humming noise’, mit welchem sie den Zeppelin Hindenburg beschreibt oder die Hupgeräusche eines Schiffshorns in Bikini, die entweder der Musik als durchgehender Orgelpunkt unterlegt oder in die Instrumentierung eingearbeitet sind. 30 Vgl. Jay David Bolter, Richard Grusin, “Remediation. Understanding New Media”, Cambridge Massachusetts, London, 1999, p. 15. 31 Jens Schröter, “Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs”, in: montage/ av, Jg. 7, Nr. 2 (2002), http: / / www.theorie-der-medien.de/ text_detail.php? nr=12. 32 Vgl. Volker Roloff, “Intermedialität und Medienumbrüche: Anmerkungen zur aktuellen Diskussion”, http: / / www.uni-konstanz.de/ paech2002/ zdm/ main.htm (2002). 33 Ebd. 34 Die Tatsache, dass die Vielschichtigkeit der Musik gerade durch die enge Verknüpfung mit dem Videobild zum Vorschein kommt, widerspricht der bei vielen Musikhörern verbreiteten Befürchtung vor der ablenkenden Funktion jeglicher Visualisierung. Vgl. hierzu u.a. Lothar Prox, “Metamorphose der musikalischen Kommunikation durch Fernsehen und Video”, in: Joachim Paech (Hrsg.) Film, Fernsehen, Video und die Künste. Strategien der Intermedialität, Stuttgart, Weimar 1994, S. 152. 35 Vgl. Joachim Paech, “Vorwort. Film und …”, in: Ders., Film, Fernsehen, Video und die Künste, S. 2.