Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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BalmeDirk Szuszies, Karin Kaper: Resist! Die Kunst des Widerstands. Living Theatre. DVD Edition. Deutschland: Karin Kaper Film, 2006, 89’+ Archivmaterial.
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Wolf-Dieter Ernst
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212 Rezensionen Druck der Legitimation war offenbar derart groß, dass gestandene Tanzlehrer sich berufen fühlten, Minister, Konsuln und andere Honoratioren als Referenz anzugeben. Man fragt sich, ob hier tänzerische und pädagogische Qualität verbürgt werden soll oder eher Moral und polizeiliche Führung. Völlig unklar bleibt nämlich, worin die Qualifikation eines Tanzlehrers und einer Tanzschule inhaltlich bestünde und wer im Schulamt sie nach welchen Kriterien begutachten sollte. Als harte Kriterien für Zulassung und Ausschluss vom Bildungsmarkt fungierten offensichtlich nur zwei Befunde: Professionelle Geschäftsführung und Trennung von Administration und Ausbildung. Auf institutioneller Ebene wird als Schutz der Bezeichnung ‘Tanzschule’ also die Durchsetzung eines bürgerlich-konservativen Kunst- und Kapitalbegriffs ersichtlich: Welche Bewegung wie und mit welcher Legitimation erlernt und im künstlerischen Tätigkeitsfeld ausgeübt werden soll, darüber befindet eine staatliche Behörde - und sie lässt sich die Verleihung dieses Ausbildungsrechtes zudem mit einer nicht unerheblichen Lizenzgebühr bezahlen. Im krassen Gegensatz zu dieser Reglementierung stehen die Ausführungen der Lehrpläne und Schulberichte in diversen Schreiben ans Ministerium, die sich in der groben Skizze einer Ausbildung zum Tänzer und im Nachweis von Schüleraufführungen erschöpfen. Von der “Stählung und der einheitlichen Durchbildung des gesamten Körpers”, von der “Erweckung der schöpferischen Fantasie” und von der “Lösung verschütteter Ausdrucks- und Gestaltungskräfte” ist hier die Rede - ganz im Sinne der Kulturkritik dieser Jahre. Ein Bild der Methoden und Übungen, mit denen diese Körper erzogen und trainiert wurden, lässt sich aus dieser Akte nicht direkt recherchieren. Vielmehr steht als Legitimationsfigur der Name Wigman über allem. Hier bestätigt sich also einmal mehr, dass die Schulenbildung - und Wigman war ja insbesondere für die Tanzszene in den U.S.A. und den dortigen modern dance schulenbildend - immer bereits mit der Aufführungspraxis verknüpft ist und auf diese zurück wirkt. Ferner erhebt sich dann die Frage nach dem Stellenwert von Körpermodellen und Notationsverfahren in den darstellenden Künsten: Wenn etwa Wigman ihre ‘Methode’ über zeitweilig acht Schulen als eine Art oral history transferiert, Wigmans Lehrer Rudolf von Laban hingegen diese als System entwickelt und publiziert, welche Rückschlüsse über die Transferwege des Wissens lassen sich gerade in Hinblick auf Körpertechniken daraus ziehen? Und welche theaterhistoriografischen Konsequenzen hat dieser Befund? Wünschenswert wäre, dass diese wichtigen Materialien tatsächlich eingehender interpretiert und in den Kontext aktueller theater- und tanzhistoriografischer Debatten gerückt würden. Die Beiträge unter der Rubrik “Kontext” bieten hierzu einen ersten Aufriss und hilfreiche bibliografische Hinweise, könnten aber durchaus pointierter das Material aufbereiten. Vielleicht wäre diese Aktualisierung ja Grund für eine zweite Auflage? Die Möglichkeiten der digitalen Speicherung von Daten und des willkürlichen Zugriffs darauf würden jedenfalls für ein derartig ‘anwachsendes’ Kompendium sprechen. München W OLF -D IETER E RNST Dirk Szuszies, Karin Kaper: Resist! Die Kunst des Widerstands. Living Theatre. DVD Edition. Deutschland: Karin Kaper Film, 2006, 89’+ Archivmaterial. Hat politisches Theater die Kraft, gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern? Diese Frage, die in den zwanziger Jahren von Bertolt Brecht und Erwin Piscator aufgenommen und in szenischen Arrangements ausgearbeitet wurde, gewinnt aktuell wieder an Brisanz. Antworten werden freilich weniger auf der Guckkastenbühne formuliert, als vielmehr auf der Straße und in einer durch Verbreitungsmedien wie Fernsehen, Internet und Mailinglisten organisierten Öffentlichkeit. So übernehmen etwa Globalisierungskritiker oder revolutionäre Bewegungen in den ehemaligen kommunistischen Staaten theatrale Formen des Agitprop Theaters, des Theaters der Unterdrückten (Boal) und des Living Theatre. In der Theaterwissenschaft ist es dabei Konsens, dass sich politisches Theater weniger als ein Genre verstehen lässt, welches durch spezifische Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 2 (2007), 212-214. Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen 213 Stoffe und Formen charakterisiert werden könnte. Vielmehr bestehe das politische Moment einer szenischen Darbietung im weiteren Sinne in der Herstellung experimenteller Wahrnehmungs- und Handlungsfelder, einer “Politik der Wahrnehmung” (Lehmann), welche den Zuschauern Entscheidungen und Partizipationen abfordere. Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Theorie und Praxis des politischen Theaters gewinnt Dirk Szuszies’ Film über das Wirken des Living Theatre unter der Leitung von Judith Malina, welcher nun mit zusätzlichem Material als DVD (herausgegeben von Karin Kaper) vorliegt, eine besondere Relevanz: als theaterhistorisches Dokument. Der Film beleuchtet die 50jährige Geschichte des Living Theatre als Statement zur aktuellen Debatte um die Politizität des Ästhetischen und in Zusammenhang damit als Beispiel für eine ästhetische Strategie, welche die Zwänge filmischer und archivarischer Repräsentation hinterfragt. Die DVD umfasst zwei Teile, den Dokumentarfilm Resist! und Archivmaterial, welches Sequenzen des Filmes vertieft. Im Archiv findet man eine Reihe von Filmsequenzen, die einen Überblick über die einschlägigen Produktionen des Living Theatre bieten. Dazu gibt es Interviews mit Judith Malina, den Mitschnitt der Podiumsdiskussion “Politisches Theater heute” mit Malina, Christoph Schlingensief, Daniel Wetzel und Matthias Lilienthal, sowie den Kurzfilm Little Mysteries über die szenische Arbeit im Living. Damit liegt ein umfangreiches audiovisuelles Archiv vor, welches die Arbeitsweise, Programmatik und Geschichte dieser wichtigen Gruppe des freien Theaters für Lehre und Forschung zugänglich macht. Beide Teile, der Film und das Archiv ergänzen sich dabei gegenseitig. Zunächst zum Film. Resist! verfolgt engagiert die Arbeit der Gruppe, fokussiert auf deren Aktionen am Ground Zero in New York, beim blutig eskalierten G8-Gipfel in Genua und an der Grenze des Libanon zu Israel. Der Film bietet einen Überblick über die Geschichte dieser Theatergruppe, jedoch ist er weit mehr als eine Dokumentation. Der Schnitt und der Musikeinsatz erzeugen assoziative Sequenzen und damit eine emotionale Atmosphäre, welche das Pathos einer revolutionären Haltung - insbesondere verkörpert durch Judith Malina - spiegelt. Diese Emotionalität wird zugleich immer wieder mit distanzierenden Markierungen versehen, mit denen der Film den Zuschauer in eine fragende Haltung versetzt. So etwa gibt sich der Erzähler bereits früh als ehemaliges Mitglied der Gruppe zu erkennen und stellt damit zugleich die Objektivität der Nacherzählung dieser Theater-Geschichte in Frage. An die Stelle einer Erzählperspektive rückt ein Polylog zwischen Kommentator, der Stimme von Malina, den Rezitationen von dramatischen Stoffen und den Songtexten. Auffällig ist auch, dass dem Problem der Mythenbildung Raum gegeben wird. Der Film ist eine Hommage an Malina und das Living und zugleich verdeutlicht er, wie die Gruppe sich mit ihrem Thema des Widerstands dem Wandel des politischen Klimas stellt. Diese Stellungnahme ist geprägt von Enthusiasmus und Skepsis zugleich. So sieht man etwa, wie die Aktivisten im hektischkommerziellen New York in der Manier des sehr plakativen Straßentheaters der sechziger Jahre die Spannung zwischen Freiheit und Gemeinschaft nachstellen. Passanten gehen vorbei, Werbung im Hintergrund. Zugleich wird im voice over die Frage gestellt, ob politischer Widerstand, als Theater artikuliert, nicht eigentlich “anachronistisch” sei. Es ist sehr erhellend, wie die im Film formulierten Fragen eine entsprechende Vertiefung im Archiv finden. So bezieht der Film etwa Stellung zum legendären Status, den Judith Malina und das Living Theatre inzwischen innehaben. Im Archiv ist dann zu verfolgen, wie Malina eben diese Legende wiederum für ihre aktuellen Anliegen nutzt, etwa in ihrem Auftritt während der Podiumsdiskussion in der Akademie der Künste zu Feier ihres 80. Geburtstages, welcher zu einem sehenswerten Schaulaufen verschiedener Generationen von Theatermachern wird. Man fragt sich: Ist es ihre Legende welche sich überträgt, ist es die Faktizität des von ihr gelebten Theaters oder schlicht ihre an Antigone gemahnende Haltung des Widerstandes, die hier als eine Energie erscheint, - aller Innovationen der Theaterformen, aller Paradoxie und Ironie von politischem Theater im ‘Medienzeitalter’ zum Trotz. Besonders hervorzuheben ist eine Sequenz des Filmes, in der Ausschnitte eines Workshops im Libanon und einer Aufführung im ehemaligen 214 Rezensionen israelischen Gefängnis Khiam gezeigt werden. Hier werden die aktuellen Grenzen politischen Theaters aufgezeigt. Das Gefängnis, welches nun von der Hamas als Mahnmal militanten Widerstandes umgedeutet wird, ist ein vielfach durch Politik und Gewalt aufgeladener Grenzort. Gezielt sucht sich das Living Theatre diesen Ort aus, um sein Anliegen des Gewaltverzichts zusammen mit libanesischen Workshopteilnehmern darstellerisch umzusetzen. Jedoch muss das Theater vor den konkreten Lebens-Geschichten weichen: Den Verzicht auf Gewalt wollen die Workshopteilnehmer aus dem Libanon nicht darstellen, zu groß sind hier die Verletzung und das Ressentiment, die Gruppe teilt sich. Diese Sequenz relativiert den Eindruck, das Living Theatre sei in seiner Forderung nach einem “totalen Theater” anachronistisch. Hier nämlich fungiert die plakative Spielweise des Agitprop als ein wirksamer “Katalysator” (O-Ton Szuszies), um strukturelle Gewalt und einen verdeckten Ausnahmezustand aufzudecken. Im Archiv kann nun auf der Mikroebene szenischer Erprobung nachvollzogen werden, worin diese katalytische Funktion politischen Theaters besteht. In einer konzentrierten Studie nämlich können wir verfolgen, wie der Darsteller John Anthony dem libanesischen Schauspieler Mohammed Issa eine Rolle aus der Living Theatre- Produktion Mysteries and smaller pieces beibringt. Anthony wird für einen Auftritt verhindert sein und muss ersetzt werden. Es handelt sich also um eine Umbesetzung, wie sie im kommerziellen Theater üblich ist. Die Aufgabe Issas besteht darin, eine Gruppe von Rekruten in größter Verausgabung der Stimme anzubrüllen. Es wird englisch gesprochen; der Stimmeinsatz gemahnt an das Klischee amerikanischer Marines. Der libanesische Schauspieler jedoch zeigt auf Grund seines anders gearteten kulturellen Hintergrundes großes Unverständnis für diese Art stimmlicher Verausgabung. Er möchte die Rolle eigentlich nicht spielen. Die Zeit drängt, Anthony leitet an, insistiert, drängt und ist genervt. Vorbei ist es mit dem partnerschaftlichen Dialog der Kulturen. Hier stellt sich die Frage nach Herrschaft und Gewalt also bereits auf der Ebene der Theaterarbeit selbst. Gelingt die Aufführung von Mysteries and smaller pieces in Beirut, die wohl wichtig ist für den Erfolg des anschließenden Workshops, welchen das Living Theater veranstaltet? Andererseits, was erfordert die Präsentation des Stückes an (Proben)Disziplin? Welches Herrschaftswissen und welches Herrschaftsverhältnis schreibt sich hier konkret ein, wenn eine Verkörperung, ein Stimm-Körper gegen deutlichen Widerstand übertragen werden muss, damit die Show funktioniert? Szuszies’ Studie zur Vorgeschichte des Auftritts zeigt, dass die Politizität des Theaters bereits in dem Moment einsetzt, da Menschen zusammen auf einer Bühne etwas miteinander machen. Es ist ein besonderes Qualitätsmerkmal dieser DVD, die Singularität des Living Theatre als einem nunmehr 50 Jahre andauerndem Experiment aufzuzeigen. Solche Singularitäten sind genau dann wichtig, wenn eine Debatte um politisches Theater und dessen Möglichkeit die konkreten Ausdrucksformen zu nivellieren droht. Dass aber das Ästhetische des Theaters nicht von seiner Politizität zu trennen ist und dass es sich erst im Widerstreit von Programmatik, theatraler Praxis und eigener Geschichtlichkeit zeigt - dies lässt sich in Szuszies und Kapers DVD-Archiv studieren. München W OLF -D IETER E RNST Friedrich-Wilhelm-Murnau Stiftung (Hg.): Ernst Lubitsch Collection. Anna Boleyn. Die Austernprinzessin. Die Bergkatze. Ich möchte kein Mann sein. Sumurun. Restaurierte Fassungen mit neuer Musik. 6 DVD-Set. München: Transit Film, 2006. Ernst Lubitsch gehört zu jenen Regisseuren aus der Frühzeit des Kinos, die sich in den letzten Jahren eines erstarkenden Interesses erfreuen können. Obwohl Lubitsch vor allem aufgrund seiner in den USA produzierten Filme immer schon zu den kanonischen Autoren der Filmgeschichte gehörte, galten seine ersten filmischen Versuche als ein Frühwerk, über das man eher mit gnädiger Diskretion den Mantel des Schweigens decken sollte - vor allem jene, in denen er selbst die Figur des Forum Modernes Theater, Bd. 22/ 2 (2007), 214-216. Gunter Narr Verlag Tübingen