eJournals Forum Modernes Theater 23/1

Forum Modernes Theater
fmth
0930-5874
2196-3517
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0601
2008
231 Balme

Tanzgeschichten

0601
2008
Gerald Siegmund
fmth2310003
Tanzgeschichten Gerald Siegmund (Bern) Die Tanzgeschichte ist in Bewegung gekommen. Noch vor zehn Jahren bedeutete sich mit Tanzgeschichte auseinanderzusetzen, sich an den kanonisch gewordenen Künstlerinnen und Künstlern abzuarbeiten, die sich in der Wahrnehmung der Wissenschaftler wie der Öffentlichkeit als Pioniere einer bestimmten Tanzästhetik durchgesetzt hatten. Versuche, ihre jeweiligen Bewegungs- und Körperkonzepte zu verstehen and gegeneinander abzugrenzen, standen dabei ebenso im Vordergrund wie die Frage nach den Ästhetiken ihrer Inszenierungen. Das erstrebenswerte Aufarbeiten von bis dato vergessenen Biografien und Werken diente in erster Linie dazu, Traditionslinien zu komplettieren, Einflüsse, Besonderheiten oder Abweichungen innerhalb eines Stils oder einer Schule zu unterstreichen. Niemals geriet dabei jedoch die konzeptionelle Grundlage des Geschichtsbildes selbst ins Blickfeld. Die Position, die etwa eine Isadora Duncan an der Wende zum 20. Jahrhundert als Revolutionärin des Tanzes besetzt hielt, blieb bei allen widersprüchlichen Auslegungen ihres Schaffens unangetastet. Angeregt durch die Diskussionen des New Historicism sowie der Cultural, Postcolonial und Gender Studies, die im anglo-amerikanischen Raum auch im Bereich der Dance Studies schon viel länger und nachhaltiger ihre Spuren hinterlassen haben, tauchen auch im deutschsprachigen Raum vermehrt Fragen nach dem Fremden, dem Anderen sicher geglaubter Traditionslinien auf. Anstelle der Beschäftigung mit den “großen Namen” rücken nun übergreifende Fragen nach dem Unabgegoltenen innerhalb historischer Positionen in den Vordergrund. Neuorientierungen und Neukontextualisierungen quer zu etablierten Traditionslinien werden auf diese Art möglich. Die Tanzwissenschaft im deutschsprachigen Raum beginnt nach ihrer Phase der institutionellen Selbstvergewisserung, die immer auch eine Vergewisserung über den künstlerischen Stellenwert des Tanzes war, gerade erst, Tanz in diesem Sinne als ausgedehntes Feld zu begreifen. Vor diesem Hintergrund bieten die sieben Aufsätze des vorliegenden Bandes von Forum Modernes Theater Einblicke in größere, zum Teil noch ausstehende Forschungsprojekte, die, ausgehend von aktuellem Tanzgeschehen, ihren Blick in die Ordnungen der Tanzgeschichte richten. Gabriele Klein fragt in ihrem Aufsatz grundsätzlich nach dem Konzept, das der “Geschichtsschreibung der europäischen Tanzmoderne” zugrunde liegt, und kommt dabei zu dem Schluss, dass die Tanzhistoriografie einer dringenden Revision bedarf. In Schillers Konzept der Universalgeschichte und Hegels vernunftgeleitetem Fortschrittsdenken hin zur Freiheit entdeckt sie das “koloniale europäische Bewusstsein”, das es durch Einbeziehung des Einflusses von Migrantenkulturen auf den Tanz zu durchbrechen gilt. Dass Tanzgeschichte nicht als ein chronologischer Ablauf von Stilen und Ereignissen zu denken ist, sondern vielmehr ein verzweigtes und gebrochenes dynamisches Gebilde darstellt, dafür plädiert auch Christina Thuner in ihrem Beitrag. An die Stelle der linearen, forschrittsorientierten Zeitachse traditioneller Geschichtsschreibung setzt sie die Metapher des Raumes, in dem einander ausschließende sich widersprechende Praktiken ihren Platz haben. Hegels und Schillers weißer Geschichtsschreibung hält Sabine Sörgel die Brüchigkeit Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 1 (2008), 3-4. Gunter Narr Verlag Tübingen 4 Gerald Siegmund der Traditionslinien und deren unabänderliche Rückbindung an den zeitgenössischen Betrachter entgegen. Ausgehend von Walter Benjamins Denken versteht sie den Tanzkörper auf der Bühne als eine barocke Allegorie, “deren kinetische Verweise sich als performatives Körpergedächtnis lesen lassen”, das immer wieder aktuell aktiviert und neu konstruiert werden muss. Auch Jens Giersdorf fragt in seinem Text nach dem lebendigen Köperarchiv. Er verfolgt die Spuren des chilenischen Choreografen Patricio Bunster zwischen Lateinamerika und der DDR und fragt nach dem Funktionswandel seiner Choreografien in unterschiedlichen historischen Kontexten. Wurden Bunsters Arbeiten in den siebziger Jahren als direkte Repräsentation des Klassenkampfes verstanden, stellen deren Wiederaufnahmen im Chile des Jahres 2006 ein lebendiges Körperarchiv dar, das utopische und transnationalen Identitäten zu artikulieren vermag. Harmony Bench folgt der Spur des kolonialen Diskurses in der Figur des “no-place”, die sie historisch am weißen Blatt Papier festmacht, auf dem Raoul Auger Feuillet an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert die Bodenwege der Tänzer notierte, um mit ihnen den leeren unbeschrieben Raum zu erobern. In aktuellen Videotanzinszenierungen findet das Konzept des “no-place” seine Entsprechung im Bildschirm, der nicht nur den Raum von jeglichen geschichtlichen Spuren befreit, sondern auch dem Körper eine phantasmatische Beweglichkeit und Ausdehnung zuspricht. Bench richtet ihr Augenmerk auf die kritischen Rahmungen, die die Geste und den Körper des Kolonisators selbst in den Blick nehmen. Ramsay Burt beschäftigt sich mit der Abkehr vom klassisch gewordenen Modern Dance und liest Xavier le Roys Self Unfinished und Jérôme Bels Veronique Doisneau als widerständige Inszenierungspraktiken. In der Entmenschlichung der Körper, die beide Choreografien durch mechanische Bewegungen im hierarchischen Apparat der Tanzbühme fokussieren, entdeckt Burt ein unverrechenbares menschliches Potential, das Optionen für die Zukunft bereit hält. Mary Connolly schließlich wendet sich dem Blickregime in den Stücken des Choreografen Raimund Hoghe zu und fragt nach dem monströsen von der Bühne ausgeschlossenen Körper, dessen Anblick die Zuschauerposition in Frage stellt. Bern, im März 2008 Gerald Siegmund