eJournals Forum Modernes Theater 23/1

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0601
2008
231 Balme

Inventur der Tanzmoderne

0601
2008
Gabriele Klein
fmth2310005
Inventur der Tanzmoderne Geschichtstheoretische Überlegungen zur tanzwissenschaftlichen Forschung Gabriele Klein (Hamburg) Der Begriff Inventur stammt vom lat. Wort invenire: etwas finden, aber auch etwas ausfindig machen, etwas erdenken oder ersinnen. Und genau in dieser Mehrdeutigkeit liegt auch die Problematik, die dieser Text in Bezug auf eine “Inventur der Tanzmoderne” thematisieren will. Wie finde ich das, was ich finde und zur “Geschichte mache”? Dies ist eine zentrale Frage, die die Konstitutionsbedingungen des kulturellen Archivs des Tanzes berührt. Die - hier zwangsläufig verkürzte - Inventur der Tanzmoderne fragt danach, welche Konzepte der Geschichtsschreibung der europäischen Tanzmoderne zu Grunde liegen. Der Fokus richtet sich dabei auf eine Revision von Tanzhistoriografie und dies vor allem in Bezug auf den europäischen Tanz in der Moderne. Unter Moderne soll der Zeitraum von der europäischen Aufklärung bis zur Mitte bzw. dem Ende des 20. Jahrhunderts verstanden werden. Die Geschichtskonzepte, die diesen Zeitraum geprägt haben, werden sowohl zueinander als auch zur Tanzgeschichtsschreibung in Beziehung gesetzt mit dem Ziel, ein Geschichtskonzept zur Diskussion zu stellen, das Tanzgeschichte nicht als einen chronologischen Ablauf von Ereignissen versteht, die evolutiv aufeinander folgen. Tanzgeschichte soll vielmehr als ein vielfach verzweigtes, mitunter gebrochenes, aber dennoch mit Struktureigentümlichkeiten ausgestattetes dynamisches Gebilde präsentiert werden, das zahlreiche, nicht eindeutige und eindimensional zuzuordnende Bezugspunkte aufweist. Die Moderne ist gerahmt durch umfassende Umwälzungen: Mit der Aufklärung, der französischen Revolution und der in England einsetzenden Industrialisierung erfolgte der Aufbruch in eine moderne Gesellschaft, die nationalstaatlich organisiert war und sich mit industrieller Wirtschaft, politischer Demokratie, bürgerlicher Kultur und “Freier” Kunst durchsetzte; auf der anderen Seite der Aufbruch in eine globalisierte und neoliberale Gesellschaft, die die nationalstaatliche Organisation in Frage stellt und den bisherigen ökonomischen, politischen und kulturellen Status, den Europa als Kontinent der Kolonialmächte seit dem 15./ 16. Jahrhundert innehatte, verändert und noch fundamental verändern wird. In beiden Zeiträumen vollziehen sich auch radikale Umwälzungen in den Wissenskulturen des Tanzes. Tanzwissen prägt in komplexer, konstitutiver Wechselwirkung die Imaginationen über Tanz, die Erfahrungen von Tänzern sowie die Lebenswelten von Tanzschaffenden. Über diese Wissensformationen entsteht das, was in Anlehnung an Benedict Anderson “imagined communities” genannt werden kann, also Gemeinschaften, die ortlos sind und über sprachliche oder bildliche Traditionalisierungen ihre Identität finden. Insofern ist gerade die Tanzgeschichtsschreibung eine zentrale Wissensform der Tanzmoderne. Ihr fällt die Position eines legitimierten Sprechers, eines Diskursverwalters zu; mit ihren Narrationen prägt sie das kulturhistorische Gedächtnis des Tanzes. Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 1 (2008), 5-12. Gunter Narr Verlag Tübingen 6 Gabriele Klein Tanzhistoriografie als vernetzte Tanzgeschichte 1789 - in jenem Jahr, das ausgehend von den revolutionären Ereignissen in Paris, eine Zäsur für das moderne politische Europa bedeuten sollte, veröffentlichte die deutsche Zeitschrift Der teutsche Merkur die Antrittsrede Friedrich Schillers, die dieser in Jena gehalten hatte. Sie trug bekanntlich den Titel: “Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? ” Schiller vertrat ein für die Aufklärung charakteristisches Geschichtskonzept einer Weltgeschichte, die sich als “Universal History” Mitte des 18. Jahrhunderts in England, der ersten Industrienation Europas, entwickelt hatte. Durch die Übersetzung von Siegmund Baumgarten hatte dieses Konzept auch in Deutschland einen universalhistorischen Diskurs provoziert, der bedeutende Historiker, Philosophen und Theologen in Bann hielt. An diesen Diskurs knüpfte Friedrich Schiller in seiner Antrittsvorlesung an. Wie Hegel unterschied auch Schiller zwischen dem Weltgeschehen und dem Gang der Weltgeschichte. Voraussetzung für das, was er als Weltgeschichte verstand, ist das durch objektive Aufzeichnungen von Zeitzeugen festgehaltene Weltgeschehen. Dies kann nur standortgebunden und mit Hilfe von Quellenmaterial erfolgen; Weltgeschichte erscheint demnach immer als das Verhältnis der jeweiligen historischen Zeit zur aktuellen Weltsicht. Universalgeschichte aber war für Schiller weit mehr. Sie ist das teleologische Prinzip, welches das Weltgeschehen lenkt. Universalgeschichte studieren heißt demnach, sich philosophisch zu bilden mit dem Ziel, “das Problem der Weltordnung aufzulösen und dem höchsten Geist in seiner schönsten Wirkung zu begegnen”. 1 Schillers Antrittsvorlesung gehörte zu jenen Arbeiten, die das 19. Jahrhundert, das das ‘historische Jahrhundert’ genannt werden sollte, gedanklich vorbereiteten. Es war das Jahrhundert der Universalgeschichte, das vor allem von der Geschichtsphilosophie Hegels geprägt war. Geschichte, so hieß es bei Hegel, erfordere notwendigerweise ein dialektisches Zusammenwirken zwischen Einzelfakten und einer übergreifenden Darstellung des Geschichtsprozesses. Denn, so die Kurzformel Hegels: “Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit.” 2 Hegel verstand den historischen Prozess als einen vernunftgeleiteten Vorgang, der auf Emanzipation und Freiheit hinaus läuft. Sein Konzept der Freiheit formulierte er genau zu jener Zeit, als das westliche Wirtschaftssystem sich auf der systematischen Versklavung von Nicht-Europäern als Arbeitskräfte in den Kolonien etabliert hatte. Hegel selbst hatte das Konzept der Freiheit aus seiner Vorstellung des Verhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft abgeleitet, das er erstmalig in der Phänomenologie des Geistes niedergelegt hatte, die 1805/ 06 zeitgleich mit Schillers Antrittsrede ebenfalls in Jena und ein Jahr nach der haitischen Revolution erschienen war. Diese Revolution galt schon damals als Schmelztiegel der französischen Aufklärungsideale und über ein Jahr lang wurde in der deutschen Zeitschrift Minerva, die auch Hegel las, regelmäßig darüber berichtet. Fragt man in der Philosophiegeschichte, worauf Hegels Geschichtskonzept basierte, findet man immer wieder dieselben Antworten: Sie beruhte auf der Auseinandersetzung mit den Schriften anderer Philosophen, nicht etwa auf der Kenntnis der Freiheitsbewegungen gegen koloniale Unterdrückung. 3 Ganz im Gegenteil: Das koloniale europäische Bewusstsein der Aufklärer formulierte sich in einem evolutiven, von der Barbarei zur Zivilisation fortschreitenden Geschichtsmodell, das eine Akkulturation an die europäische Kultur einforderte und dies aus der Höherwertigkeit der eigenen Kultur ableitete. Diesem Muster folgte auch die Antrittsvorlesung Schillers: Inventur der Tanzmoderne 7 Die Entdeckungen, welche unsere europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein eben so lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herum stehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist. Wie beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben! Was erzählen uns die Reisebeschreiber nun von diesen Wilden? 4 Und hier zählte Schiller blumig auf, welche Kulturtechniken und Leistungen den “Wilden” fehlen. Die Erzählung ‘Universalgeschichte’ fußt also auf der Diskrepanz zwischen idealem Gesellschaftsbild und realer kolonialer Gesellschaft. Sie setzte sich im 19. Jahrhundert fort in teleologischen Geschichtsentwürfen, beispielsweise von Karl Marx, Herbert Spencer oder Auguste Comte. Es ist heute ein geschichtstheoretisches Grundtheorem, dass Universalgeschichte ein Geschichtsentwurf ist, der Allgemeingütigkeit beansprucht, aber eurozentristisch ist; eine Geschichte schreibt, die die des weißen, bürgerlichen europäischen Mannes ist, eine Geschichte der Eroberer und Kolonialherren. In dem Konzept der Universalgeschichte wird Geschichte als räumlich und zeitlich unbegrenzt gedacht, obwohl das Schreiben einer Weltgeschichte praktisch erst möglich geworden ist, seitdem ein Teil der Menschheit in die Lage versetzt wurde, den gesamten Planeten in den Blick zu nehmen, konkret: seit den Entdeckungsfahrten der Europäer und dem Beginn der europäischen Expansion ab der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Es ist - und darauf zielt dieser Text - nach wie vor eine offene Frage, wie dieses eurozentristische und auf kolonialer Herrschaft basierende männliche Geschichtsbild die Tanzgeschichte der Moderne geprägt hat. Von daher ist auch in Bezug auf die Tanzgeschichte die Frage virulent: Wozu und zu welchem Ende schreibt man Tanzgeschichte? Geschichtsschreibung der Tanzmoderne Tanzgeschichte ist bis weit in das 20. Jahrhundert hinein im Stile der im 19. Jahrhundert in der Geschichtswissenschaft üblichen Universalgeschichte geschrieben worden. 5 Noch heute tauchen nach wie vor Publikationen auf, die eine Weltgeschichte des Tanzes in den Blick nehmen. 6 Auch diese Weltgeschichten des Tanzes behandeln in der Regel die Geschichte des Westens - und setzen diese mit denen jener Länder und Tanzkulturen in Verbindung, mit denen Europa sich verbunden fühlte. Schwarzafrika, Südostasien und Ozeanien beispielsweise gehören bis heute nicht dazu. Neben den Weltgeschichten des Tanzes wird in den jüngeren europäischen Dance Studies die Geschichte des Tanzes in Europa vornehmlich als Geschichte des europäischen Kunsttanzes und diese aus der Genealogie europäischer Kulturen oder auch aus der Perspektive einer nationalen Gesellschaftsgeschichte geschrieben und gedeutet. Hierbei dominieren Werke, die ganz im Sinne einer traditionellen Geschichtsschreibung, die Geschichte des Tanzes als Geschichte herausragender Tänzer erzählen oder als Begriffsgeschichte - so z.B. Modern dance, moderner Tanz - vorstellen. 7 Der inhaltliche Aufbau tanzgeschichtlicher Buchpublikationen weist dabei erstaunliche Ähnlichkeiten auf, die sich vor allem an den folgenden vier Merkmalen zeigen: 8 • Wenn überhaupt wird in der Geschichte des künstlerischen Tanzes - ob in Deutschland, England oder Frankreich - lediglich auf tänzerische Einflüsse aus 8 Gabriele Klein anderen Ländern und Kulturen bei der Entstehungsgeschichte des Tanzes hingewiesen. Hierbei wird vor allem der Einfluss des ‘modern dance’, made in USA hervorgehoben. • Die Geschichte des künstlerischen Tanzes wird erzählt als eine Geschichte ihrer Protagonisten. D.h. in allen Werken wird eine Chronologie oder Typologie hergestellt und einzelne Choreographen zu einzelnen Zeitphasen systematisch zusammengefasst. • Die aufgeführten Choreographen und Choreographinnen sind im wesentlichen Europäer, genau genommen West-Europäer. Sie erscheinen als die herausgehobenen Figuren, die zu der Geschichte der Tanzmoderne einen wesentlichen Beitrag geleistet haben. • Die Geschichte des Tanzes wird implizit als eine evolutionäre Geschichte erzählt, die zumeist als eine Geschichte des Fortschritts gedacht wird. Kurz gesagt: Die europäische Tanzgeschichte der Moderne wird als eine Geschichte des Westens, also als eine Geschichte einer weißen bürgerlichen Kultur und ihrer Avantgardebewegungen vorgestellt. Sie erscheint als ein, mit Niklas Luhmann gesprochen, autopoietisches System, insofern suggeriert wird, dass die Tanzkunst nur ihre Bezugnahmen in ihrer eigenen Geschichte - und damit ist zumeist die Nationalgeschichte thematisiert - findet. Und sie erscheint mitunter als eine Geschichte der permanenten Modernisierung, des Fortschreitens der tänzerischen Entwicklung. Demnach grenzt sich der Ausdruckstanz vom klassischen Ballett ab, das Tanztheater entwickelt die Ideen des Ausdruckstanzes weiter, der postmodern dance grenzt sich vom modern dance ab usw. Sie erscheint drittens als eine Geschichte ihrer Protagonisten, als Geschichte einer überschaubaren Anzahl von Choreographen und Tänzern, deren Stellenwert für die Tanzkunstgeschichte hervorgehoben wird. Es sind demnach diese Choreographen, die zu den Subjekten der Geschichte erklärt werden, die ‘Geschichte gemacht haben’. Tanzgeschichte wird aus dieser Perspektive als Personen- und nicht als Strukturgeschichte vorgestellt oder anders ausgedrückt: Die historischen Einzelfakten oder Einzelwerke werden ganz im Sinne des Individualitätskonzeptes der modernen Gesellschaft als Einzelleistungen archiviert. Sie werden damit weder eingebettet in einen kollektiven Schaffensprozess, durch den sich gerade zeitgenössische Tanzkunst auszeichnet noch kontextualisiert in das komplexe Netzwerk von künstlerischer Produktion und ihren kulturellen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen, Prozessen und Ereignissen. Schließlich scheint sich bei einem evolutiven, auf Tanzkunst konzentrierten Geschichtskonzept die Kunstgeschichte des Tanzes allein aus sich selbst zu entwickeln; der Anteil der populären Tanzkulturen im 20. Jahrhundert, der Einfluss von Migrant/ innen und die Tanzästhetiken anderer Kulturkreise bleiben zumeist unerwähnt oder werden in spezifischen Publikationen thematisiert. 9 In die Arbeiten fließen also Konzepte von Kunst, Nation, Subjekt, Fortschritt, Emanzipation, Avantgarde etc. ein, die zu impliziten Strategien von In- und Exklusion - von ethnischen Gruppen, Migranten, tänzerischen Ästhetiken - führen. Eine derart angelegte Tanzgeschichtsschreibung reproduziert und repräsentiert nicht nur die für eine Gesellschaft und Kultur konstitutiven Narrationen. Sie bestätigt und aktualisiert diese Konzepte auch performativ, indem sie in die Tanzgeschichte implizit Eingang finden und beglaubigt werden. Diese tanzgeschichtlichen Konzepte widersprechen aber dann den “sozialen Tatsachen” globalisierter Tanzkulturen und das meint: der Multikulturalität von Tanzkompanien und der Vielzahl von Tanzstudierenden Inventur der Tanzmoderne 9 aus allen Ländern der Welt, wenn sie auf Einheitlichkeit angelegt sind und den hybriden Charakter von Tanzkulturen nicht zu fassen vermögen. Aber wie ist Tanzgeschichte angesichts einer globalisierten Welt und hybrider Tanzkulturen möglich? Globalisierte Tanzgeschichte Das am nationalstaatlichen Denken ausgerichtete Konzept von Universalgeschichte ist spät, erst in den 1960er Jahren - also in der Zeit, als nahezu alle Kolonien in die Freiheit entlassen waren und sich der Umbruch zu einer globalisierten Gesellschaft ankündigte - in Verruf gekommen. Es ist heute ein Allgemeinplatz der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft, dass das Schreiben von Geschichte sich nach Kriterien vollzieht, die vom Geschichtsbegriff des jeweiligen Historikers her bereits beeinflusst sind und dass der Blick auf die Geschichte stets Wandlungen unterworfen ist, die das permanente Neu-Schreiben von Geschichte und damit auch die permanente Reflexion der geschichtstheoretischen Grundlagen erfordern. Historische ‘Fakten’, so heißt es heute - anders als noch bei Hegel - , werden letztlich nach weltanschaulichen Kriterien ausgewählt, neu erzählt, geordnet und gedeutet. Geschichtsschreibung ist somit niemals Re-Konstruktion sondern immer eine permanente Neu-Konstruktion und als solche ein Deutungs- und Verständigungskonstrukt für die Gegenwart und Zukunft von Gesellschaften, Kulturen oder von bestimmten Gruppen. Geschichtsschreibung ist von daher auch immer Geschichtspolitik. Entsprechend knüpfen aktuelle geschichtstheoretische Konzepte einer “Weltgeschichte” oder “Global History” nicht an die universalhistorischen Entwürfe der Aufklärung an. Auch stammen die Konzepte nicht aus Europa, sondern aus den USA, wie einst England eine Weltmacht, von der aus heute das (postkoloniale? ) Konzept von Weltgeschichte entworfen und gelehrt wird. Und diese positioniert sich anders als die Universalgeschichte, deren Prinzipien Friedrich Schiller 1789 dargelegt hatte: Schiller ging davon aus, dass die Geschichte ein zielgerichteter Prozess sei, der notwendig zur Verbesserung der ‘conditio humana’ führe. Die Universalgeschichte steuerte auf ein Telos zu; sie war ein progressiver, nur aus dem Zeithorizont des 18. Jahrhunderts heraus zu verstehender Ansatz. Ihren Wurzeln in der Aufklärungsphilosophie zufolge hatte die Geschichte Ziel, Auftrag und Richtung. Das Ziel lag in der Verbesserung der Gesellschaft; sie verfolgte die Mission, der Welt die Prinzipien westlicher Kultur und Philosophie nahe zu bringen, davon versprach man sich einen allgemeinen, menschheitsgeschichtlichen Fortschritt. In dieser Konzeption war Europa das unbestrittene und klar definierte Zentrum. Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie war für jeden Gebildeten klar definiert. Die Welt präsentierte sich nicht, wie heute, als hoffnungslos dezentriert. Die Frage nach der ‘agency’, nach der Handlungskompetenz in der Geschichte, war ebenfalls eindeutig geklärt: Die Welt bestand, der Weltgeschichte zufolge, aus denkenden, rational handelnden (weißen) Männern, anstatt, wie heute, aus komplex handelnden und unter mannigfachen, sich nicht selten widersprechenden Anforderungen stehenden Menschen, die - durch Migration, prekäre Arbeitsverhältnisse, flexible Lebensformen und ‘Bastelbiographien’ - hybride Subjektstrukturen aufweisen. Zusammengefasst bedeutet das: Was ältere, zumeist in der Aufklärung und in eurozentrischen Weltbildern verankerte welt- oder universalhistorische Entwürfe von den heutigen geschichtstheoretischen Bemühungen unterscheidet, sind erstens die Konstruktion des handelnden historischen Subjekts bzw. handelnder Kollektivsubjekte; zweitens die apodiktische Annahme, dass Europa das Zentrum, der Rest der Welt hingegen die Peripherie sei; und 10 Gabriele Klein drittens die Vorstellung, dass der historische Prozess mehr oder weniger automatisch auf Fortschritt, Modernisierung, Demokratie sowie eine vernünftige Weltordnung hinauslaufe. Global History ist ein mehrperspektivistisches Geschichtskonzept. Wenn dieses nicht postkolonialen Mustern folgen und das Globalisierungskonzept affirmativ auf Geschichtsschreibung übertragen will, muss Geschichtsschreibung kombinierbar werden: mit ‘area studies’ sowie ‘cultural studies’ und ‘postcolonial studies’. Während ‘area studies’ die regionale empirische Forschung in den Mittelpunkt rücken, konzentrierten sich cultural studies und postcolonial studies darauf, kulturelle Praktiken in den Kontext von Politik und Ökonomie, von Wissenschaft und Macht zu stellen und Kulturentwicklung politisch zu rahmen. Dabei spielen sozialwissenschaftliche Strukturkategorien wie Gender, Nation, Ethnie und Kultur eine zentrale Rolle. Tanzgeschichte als Strukturgeschichte Es ist eine Grundlage der Geschichtstheorie seit den 1960er Jahren, dass die impliziten Kategorien und Konzepte, die in das Schreiben von Geschichte einfließen, reflektiert und transparent werden und damit als genuiner Bestandteil der Geschichtsschreibung in Erscheinung treten können. Ausgehend von dieser Erkenntnis wurde auch die Tanzgeschichte seit den 1970er Jahren neu geschrieben. So zum Beispiel in Bezug auf Gender: Meine 1992 erschienene Dissertation Frauen- KörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes 10 sowie die ein Jahr später publizierte Dissertation von Anke Abraham mit dem Titel Frauen Körper Krankheit Kunst 11 haben in Deutschland den Weg bereitet für eine geschlechtertheoretische Fundierung der Tanzforschung. Gender-Forschung war im Anschluss an die zweite Frauenbewegung und die Frauenpolitik an den Universitäten sehr virulent, ist aber ein spezifisches Thema und zudem ein Zeitgeistthema geblieben und bis heute keine zentrale Kategorie des Tanzforschung und Tanzgeschichte geworden. Auch internationale Publikationen wie die von Ramsay Burt The Male Dancer” 12 haben bislang keine nachhaltigen Folgen für tanzgeschichtstheoretische Konzepte gezeigt. Zwar gebührt Ramsay Burt das Verdienst herausgearbeitet zu haben, dass Vorurteile über den männlichen Tänzer 150 Jahre lang dazu gedient haben, immer wieder die Normen heterosexueller Männlichkeit zu aktualisieren. Wie aber thematisiert die Tanzgeschichtsschreibung die sexuellen Orientierungen von Tänzern und Tänzerinnen oder der Entsexualisierung der Tanz-Körper, beides ja nicht unwichtig für die Frage einer tänzerischen Ästhetik und künstlerischen Produktivkraft. Oder die AIDS-Problematik, die im sozialen Feld des Tanzes keineswegs ein marginales Thema ist. Und ist schließlich das strukturelle Ausblenden der Geschlechterfrage nicht immer auch eine implizite Bestätigung kolonialer, präkolonialer und postkolonialer Heteronormativität? Diese Fragen stellen sich insbesondere, da ‘Rasse’ nicht einfach Hautfarbe und Geschlecht nicht nur kulturelles und biologisches Geschlecht oder sexuelle Orientierung thematisieren. Vielmehr verbergen sich dahinter immer auch Strategien von unterworfener Arbeit, kolonialer Ausbeutung und sozialer Ausgrenzung auf der einen Seite bei gleichzeitiger Exotisierung, Erotisierung und Essentialisierung von Körpern auf der anderen Seite. Genau hier zeigt sich, mit Zygmunt Bauman gesprochen, die “Ambivalenz der Moderne”, die in der Dialektik der Aufklärung liegt: Der ‘schwarze Tänzer’ oder der ‘Latino’ z.B. sind nach wie vor die mythischen Figuren des westlichen Denkens. Sie sind heute jene mystifizierten und zugleich sozial und diskursiv ausgegrenzten ‘Anderen’, wie es noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der orientalische Tänzer war. Inventur der Tanzmoderne 11 Wie die Sexualität ist auch die Konstruktion von Whiteness im europäischen Tanz als implizite Kategorie der Tanzgeschichtsschreibung eher unbeleuchtet. Buchtitel oder Buchkapitel wie “Vom anderen Ende der Welt” oder “Der exotische Tanz”, “Der schwarze Tanz” oder schlicht “außereuropäische Einflüsse” verweisen auf Grundmuster der Konstruktion des ‘anderen’ Körpers und damit auf die implizite Herstellung von Whiteness. Und nicht selten geht diese Konstruktion des Anderen mit einer Differenzierung von Hoch- und Populärkultur einher. Wie die Tanzmoderne des 20. Jahrhunderts ohne Migration nicht darstellbar ist, ist auch der Einfluss der Populärkultur auf den künstlerischen Tanz nicht zu vernachlässigen. Mitunter ist der ‘andere’ Tanz - auch in der Tanzgeschichtsschreibung - marginalisiert worden, indem er als populärer Tanz, als Showtanz etikettiert und archiviert wurde. Dieses für die europäische Tanzkultur charakteristische In- und Exklusionsprinzip zwischen Hoch- und Populärkultur zeigt sich auch darin, dass der Zusammenhang von Tanzmoderne und Populärkultur nur in spezifischen Buchpublikationen zur Populärkultur oder zu einzelnen Tänzerinnen 13 thematisiert wird. So zeigen beispielsweise Brygida Ochaim und Claudia Balk in ihrem Buch über Varieté-Tänzerinnen um 1900 14 , dass nicht nur einige der wichtigsten Wegbereiterinnen des modernen Tanzes wie Ruth St. Denis, Löie Fuller oder Isadora Duncan ihre Karrieren in Varietés begonnen hatten, während andere große Tänzerinnen jener Zeit sich in den “Pläsierkasernen” und Vergnügungslokalen der Halb- und Demimode verdingten wie Anita Berber. Zwar ist die These nicht neu, dass lange vor Isadora Duncans ersten Auftritten in Europa bereits Tanzbewegungen entstanden waren, die als praktischer Beginn der Tanzmoderne anzusehen sind, die Namen der wichtigsten Tänzerinnen aber - wie La Goulue, La belle Otéro, Saharet, Sada Yacco beispielsweise - sind aus der Tanzgeschichtsschreibung weitgehend verschwunden, ihr Beitrag zur Tanzmoderne damit unsichtbar. 15 Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Orte der Tanz-Kunst, das Publikum und der Diskurs darum sehr entscheidend für die Wahrnehmung dessen geworden sind, was Tanzkunst ist und sein soll, was tanzgeschichtlich relevant ist und was nicht. Allerdings waren es gerade die populären Tänze, die zum Inbegriff der modernern, hybriden, von Migranten geprägten Stadtkultur wurden: Migrationswellen aus Lateinamerika transformieren bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die europäische Tanzkultur fundamental: Schwarze Tänze, begleitet vom “Niggerjazz” eroberten die Tanzpaläste, die Vergnügungslokale der neuen Stadtmenschen. Diese Tänze dekonstruieren auf eine sehr subtile, da vorreflexive Weise das tradierte Körperkonzept des europäischen Tanzes, indem sie nicht nur andere geschlechtsspezifische Paarfigurationen erlebbar machen, sondern auch Prinzipien der Polyzentrik und Polyrhythmik in den europäischen Tanz einführen und das Becken als Bewegungszentrum vorstellen. Von Charleston bis HipHop - die populären Tänze sind ein eruptiver Ausdruck sozialer und urbaner Erfahrung; sie werden zu wichtigen Seismographen einer am Körper wahrnehmbaren fragmentierten Sozialität und Multikulturalität. Und: Es sind Bewegungs- und Tanzpraktiken, die einen nachhaltigen Einfluss auf die zeitgenössische Tanzkunst genommen haben. Diese skizzierten Desiderate der Tanzgeschichte werfen schließlich die Fragen auf: Wie ist Tanzgeschichte heute möglich? Und wo folgt Tanzforschung einem Denken und Sprechen über Tanz, das implizit der Re- Konstruktion einer weißen, bürgerlichen Kultur folgt? Und: Wie kann der Einbezug von nicht-westlichem Denken und Sprechen über Tanz erfolgen? Konkreter: Inwieweit bemüht man sich in Europa und anderen westlichen Ländern - und hier vor allem die 12 Gabriele Klein über sprachliche Hegemonie verfügenden englischsprachigen Länder - kritische, nichtwestliche Traditionen und Geschichtsschreibungen einzubeziehen und dies zunächst einmal, indem sie Übersetzungen möglich machen und damit hegemoniale Diskurse - auch im Tanz - durchbrechen? 1955, lange vor Edward Saids bahnbrechenden Buch Orientalism und Homi Bhabas Arbeiten hat Césaire im Discourse on colonialism (frz.: Discours sur le colonialisme) 16 die Frage gestellt, inwieweit wir das westlich Partikulare als universell konstruieren. Anders gefragt: Inwieweit sind unsere westlichen Deutungen des Tanzes und der Tanzgeschichte koloniale Repräsentationssysteme? Auf diese Frage aufmerksam zu machen, ist das Anliegen dieses Textes. In Anlehnung an Schiller aber auch in Abgrenzung zu Schiller wäre zu fragen: Was heißt und wie schreibt und studiert man heute Tanzgeschichte? Anmerkungen 1 Friedrich Schiller, “Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? ”, in: Der teutsche Merkur 4 (1789) S. 105-135 (hier S. 132). 2 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Stuttgart 1961, S. 61. 3 Vgl. Susan Buck-Morss, “Hegel und Haiti”, in: Der Black Atlantic, hrsg. Vom Haus der Kulturen der Welt, Berlin 2004, S. 69-98. 4 Friedrich Schiller, “Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? ”, S. 114. 5 Vgl. z.B. Curt Sachs, Eine Weltgeschichte des Tanzes (1933), Hildesheim 1992. 6 Vgl. z.B. Jochen Schmidt, Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts in einem Band, mit 101 Choreographenporträts, Berlin 2002. 7 Vgl. z.B. Sabine Huschka, Moderner Tanz, Konzepte - Stile - Utopien, Hamburg 2002. 8 Grundlage meiner Recherche sind Buchpublikationen zur Tanzgeschichte aus dem deutschen, angelsächsischen und französischen Sprachraum. 9 So z.B. Susan Manning, Modern Dance, Negro Dance, Race in Motion, Minneapolis [u.a.] 2004 oder auch Publikationen, die populäre Tanzkulturen thematisieren wie z.B. Brygida Ochaim, Claudia Balk, Variete-Tänzerinnen um 1900, Vom Sinnesrausch zur Tanzmoderne, Frankfurt am Main, Basel 1998. 10 Gabriele Klein, FrauenKörperTanz, Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes, Weinheim, Berlin 1992. 11 Anke Abraham, Frauen, Körper, Krankheit, Kunst; zum Prozess der Spaltung von Erfahrung und dem Problem der Subjektwerdung von Frauen; dargestellt am Beispiel des zeitgenössischen künstlerischen Tanzes, Oldenburg 1992. 12 Ramsay Burt, The Male Dancer: Bodies, Spectacle, Sexualities, London [u.a.] 1995. 13 Lothar Fischer, Anita Berber, Göttin der Nacht; Collage eines kurzen Lebens, Berlin 2006. 14 Brygida Ochaim, Claudia Balk, Varieté-Tänzerinnen um 1900, Vom Sinnesrausch zur Tanzmoderne, Frankfurt am Main, Basel 1998. 15 Vgl. z.B. zur französischen Tanzgeschichtsschreibung: Jacqueline Robinson, Modern Dance in France, an Adventure 1920-1970, Amsterdam [u.a.] 1997. 16 Aimé Césaire, Discourse on colonialism, übersetzt von Joan Pinkham, New York [u.a.] 1972.