eJournals Forum Modernes Theater 23/1

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0601
2008
231 Balme

Zeitschichten, -sprünge und -klüfte

0601
2008
Christina Thurner
fmth2310013
Zeitschichten, -sprünge und -klüfte Methodologisches zur Tanz-Geschichts-Schreibung Christina Thurner (Bern) “Dance historians! The past is now! ” 1 Mit diesem Aufruf will die Tanzhistorikerin Ann Hutchinson Guest erreichen, dass die Gegenwart des Tanzes für die Zukunft präserviert werde. Ihr Appell kann aber ebenso als Einforderung eines eigentlich paradoxen Zugangs zur Geschichte gelesen werden. Er mahnt nämlich auch an die Gegenwärtigkeit von Vergangenheit beziehungsweise von deren Behandlung und macht auf diese Weise deutlich, dass jeder Historiker, jede Historikerin immer von Aktuellem ausgeht, wenn er oder sie sich mit Vergangenem auseinandersetzt. Damit ist eine bestimmte Auffassung von (Tanz-)Geschichte formuliert, der zufolge Geschichte stets eine Konstruktion von Vergangenheit ist, die im ‘Jetzt’ “hergestellt” wird - nicht zuletzt auch, um die Ereignisse des ‘Jetzt’ über die Vergangenheit besser zu verstehen und umgekehrt. Im Zuge eines solchen historischen Bewusstseins hat sich Tanzgeschichte generell als ein wesentlicher Bestandteil der Tanzwissenschaft mittlerweile gut etabliert; dies stellt u.a. auch die britische Forscherin Alexandra Carter im Band Rethinking Dance History aus dem Jahr 2004 fest. 2 Allerdings räumt sie ein: “Paradoxically, the traditional discipline of history has come under attack from critical and cultural theories which question the very nature and status of knowledge, and how that knowledge is retrieved, organised, recorded and received.” 3 Gerade wie sich in der Tanzforschung also das historische Erkenntnisinteresse durchsetzt, ist man - gemäß Carter - in anderen Disziplinen im Zuge postmoderner Theorien bereits dabei, dieses zu hinterfragen, grundsätzlicher Kritik zu unterziehen und zu dekonstruieren. Hinkt man in Bezug auf den Gegenstand ‘Tanz’ da wieder einmal hinterher? Oder aber reflektieren Tanzwissenschaft und -kunst die Probleme mit der Historie auf ihre eigene Weise? Und schließlich: Wo liegt oder läge das Potential einer kritischen Aufarbeitung, Aufschreibung respektive Erzählung der eigenen Geschichte(n)? Und wie sähe(n) diese aus? Solche Fragen sind Ausgangspunkt eines Projekts, dessen erste Schritte im Folgenden vorgestellt und skizziert werden sollen. Dazu muss weiter ausgeholt und zunächst einleitend etwas zu den Symptomen der Krise der Geschichtsschreibung allgemein gesagt werden. Ausgehend davon komme ich über die Kategorie von der ‘Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen’ auf die spezifischen Schwierigkeiten und Chancen der Tanzhistorie zu sprechen. Ich werde alternative Modelle der Geschichtsschreibung aus anderen Disziplinen, insbesondere der Literaturwissenschaft, im Hinblick auf den Tanz diskutieren und schließlich einige Vorüberlegungen zu einer nicht-vektoriellen, einer ‘verräumlichten’ Historiographie zum Tanz des 20. Jahrhunderts präsentieren. Es handelt sich dabei um methodologische Vorüberlegungen und (noch) nicht um die Präsentation eines fertigen oder bereits in Angriff genommenen ‘Produktes’. Dennoch scheint es mir sinnvoll, zunächst die epistemologischen Prämissen fundiert zu reflektieren, bevor dann in einem nächsten Schritt ein eigentliches historiographisches ‘Erzeugnis’ folgt. Die Krise der Geschichtsschreibung “[M]it den Verzeitlichungsstrategien und Bewegungsstrukturen der einen Geschichte” Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 1 (2008), 13-18. Gunter Narr Verlag Tübingen 14 Christina Thurner ist - so Burkhart Steinwachs - “der Komplexität gesellschaftlicher Prozesse” heute nicht mehr beizukommen. 4 Eine generelle Skepsis des 20. Jahrhunderts gegenüber der Historiographie wird verschiedentlich festgestellt. 5 Insbesondere die Epochentheorien stehen in der Kritik, wobei - laut Niklas Luhmann - vor allem einzelne Prämissen derselben auf Ablehnung stoßen: “zum Beispiel: Linearität, Irreversibilität, Kontinuierlichkeit, Notwendigkeit”. 6 Neben einer kritischen Haltung lässt sich derzeit aber auch eine “steigende Konjunktur der historischen Studien (z.B. New Historicism)” beobachten, 7 die sich allerdings bei genauerem Hinsehen häufig gerade durch diese kritische Haltung auszeichnen und autoreflexiv einen Paradigmenwechsel im Geschichtsverständnis herbeigeführt haben. So weist etwa Reinhart Koselleck bereits in den 1970er Jahren darauf hin, dass ‘Geschichte’ das Geschehene nicht minder wie die Geschichtserzählung sei, historia rerum gestarum und die res gestae selbst, Ereignis und Erzählung. 8 Damit macht er auf den konstruktiven Charakter der Historiographie aufmerksam. Diese bilde keinen mimetischen Diskurs, als Abbildung einer ‘wahren Wirklichkeit’, vielmehr konstruierten oder konstituierten Geschichtsschreibende die Historie(n) nach bewussten oder unbewussten Erkenntnisinteressen. 9 Wir ‘hätten’ die Geschichte nicht anders als in Form einer akzelerierenden Geschichte von interpretierenden Geschichten, schreibt auch Uwe Japp: “D.h. wir haben sie in einem genauen Sinne niemals, sondern arbeiten beständig an ihr.” 10 So gesehen kann es die eine umfassende, chronologische Geschichte nicht geben respektive hat es sie nie in der Weise gegeben, wie uns der Historismus seit dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert weiszumachen versucht hat. Dabei wurde die “ältere Pluralform von Geschichte […] zu einem singulären Leitbegriff” 11 , zu einem “Kollektivsingular” 12 zusammengefasst. Jean- François Lyotard hat demgegenüber anstelle der großen Geschichte die kleinen Geschichten propagiert. 13 Die Konsequenz daraus für die historische(n) Wissenschaft(en) ist die Akzeptanz von Partialität anstelle von Totalität, von Pluralität und Differenz statt Homogenität, Kontingenz statt teleologischer Notwendigkeit sowie Diskontinuität statt linearer Kontinuität. Wenn man diese allgemeinen epistemologischen Modifikationen ernst nimmt, welche Fragen und Erkenntnisse ergeben sich sodann spezifisch im Hinblick auf die Tanzgeschichte? June Layson bezeichnet den Tanzhistoriker als “both chronicler and interpreter” 14 , und sie verweist damit auch auf den konstruktiven Charakter seiner keineswegs exakten Wissenschaft, die außerdem “always amenable to reinterpretation”, also immer offen für Neuinterpretationen sein sollte. 15 Der tanzästhetische Kanon stützt sich stärker als jener anderer Künste auf sehr vages Material, weil der historische Gegenstand, die Aufführung, schlicht nicht mehr vorhanden ist und es bei jeder Historiographie darauf ankommt, welche Quellen überhaupt verfügbar sind und - spezifisch im Tanz - welcher Art diese sind (Abbildungen, Beschreibungen, Notationen, körperlich gespeicherte Erinnerungen oder elektronische Aufzeichnungen). Kategorie von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Dass sich die eine Geschichte der Künste nicht aufrechterhalten lässt, belegen in Bezug auf den Tanz auch die Hilfskonstruktionen der Epochenbegriffe, deren Chronologie teilweise nicht mit jener anderer Kunstformen übereinstimmt (z.B. die Reihenfolge von Klassik und Romantik im Ballett). Unnötige Abgrenzungen und vermeintliche Kontinuitäten geben dabei ein falsches Bild - dies zeigt sich in Hinsicht auf den Tanz deutlicher noch als in den traditionell historiographisch bearbeiteten Disziplinen wie etwa der Literatur Zeitschichten, -sprünge und -klüfte 15 oder der bildenden Kunst. Vor allem im 20. Jahrhundert lassen sich die verschiedenen Strömungen im theatralischen Tanz nicht linear aneinanderreihen und klar abgrenzen, vielmehr bilden sie ein komplexes Gefüge von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit und verlangen eine vergleichende und auch für Kontingenzen, Pluralitäten und Differenzen offene Interpretation. Das sogenannte ‘Ballett’ beispielsweise existiert in seiner Heterogenität neben verschiedenen Formen Modernen Tanzes, die sich wiederum gerade auch in der Abgrenzung beeinflussen. Die Kategorie von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gilt auch in der allgemeinen Geschichtswissenschaft “als ein Indiz für wachsende Schwierigkeiten mit der Epochenkonstituierung”. 16 Koselleck schreibt dazu: “Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In dieser zeitlichen Brechung sind einmal verschiedene Zeitschichten enthalten, die je nach den erfragten Handlungsträgern oder Zuständen von verschiedener Dauer sind und die aneinander zu messen wären.” 17 Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen kann also als alternatives Denkbild zum vektoriellen Modell der chronologisch fortschreitenden (Entwicklungs-)Geschichte gesehen werden. Die Zeitschichten, die Koselleck erwähnt, lagern dabei vielmehr über-, neben- und greifen ineinander, je nachdem, welche Handlungsträger man in den Blick nimmt. Dies kann kurz an einem Beispiel, einem beliebigen Datum aus dem Bereich der Tanzgeschichte verdeutlicht werden: Am Ende der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts bringt Sergei Diaghilew die Ballets Russes nach Paris. In der Historiographie wird dieses Ereignis immer wieder als Beginn der Moderne im Ballett gedeutet. Dies stellt sich gewiss im Rückblick so dar. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass einige der Protagonisten der Ballets Russes in verschiedenen Zeitschichten verankert waren. So choreographierte etwa Michail Fokin sowohl für die Pariser Truppe als auch für das Mariinski Ballett in St. Petersburg, und auch Waslaw Nijinski tanzte in beiden Kompanien, also erste Schritte der Ballettmoderne wie auch ein traditionsgeprägtes Repertoire. Zur gleichen Zeit hatten amerikanische Pionierinnen des Modernen Tanzes, Loïe Fuller, Isadora Duncan und Ruth St. Denis, bereits während einiger Jahre den freien Tanz in Europa revolutioniert, alle drei hielten sich aber in jener Periode wieder in ihrer Heimat auf. Fuller gastierte 1909/ 1910 in verschiedenen Städten der USA, St. Denis kehrte ganz nach New York zurück und Duncan ging auf Amerikatournee. Im selben Zeitraum stirbt Marius Petipa, werden Birgit Cullberg und José Limón geboren und kehrt die damals siebenjährige Gret Palucca mit ihrer Familie aus Kalifornien nach Dresden zurück, wo sie später den deutschen Ausdruckstanz entscheidend mitprägen wird. Diese scheinbar willkürlich zusammengestellten Ereignisse geben als Momentaufnahme einen Aufriss mehrerer Zeitschichten, die synchronisch zusammenhängen, aber diachronisch auf je verschiedene “Zustände”, um bei Kosellecks Terminologie zu bleiben, verweisen - zurück oder voraus in der Zeit sowie geographisch gestreut. “Writing about the past”, schreibt auch die Tanzwissenschaftlerin Lynn Garafola, “one has many […] gaps to fill, places to imagine, people to resurrect, and frames of reference to inhabit.” 18 Historiographie tut also nichts anderes als (imaginär) Klüfte zwischen einzelnen Zeitschichten und Orten zu überwinden, sie lässt Menschen oder “Handlungsträger” wieder aufleben und stellt sie in - explizit oder implizit definierte - Bezugsrahmen. Stephanie Jordan sieht diesen Vorgang - ausgehend von der Kunstform Tanz - gar als “political manoeuvre to establish a power base for cultural identity as well as for the art itself.” 19 Eine Kunst etabliert sich somit auch in ihrer und über ihre Geschichtsschreibung. Wie sie dies tut beziehungsweise sinnvoll und vielleicht auch 16 Christina Thurner politisch wirksam tun kann, soll Thema des Folgenden sein. Alternative (räumliche) Geschichtsmodelle Auch hier muss ich wieder etwas ausholen und auf andere ästhetische Disziplinen mit einer längeren wissenschaftstheoretischen Tradition eingehen, um schließlich zum Tanz zurückzukommen. Die Literaturwissenschaften beispielsweise machen sich in größerem Ausmaß seit den 1980er Jahren Gedanken zu adäquaten geschichtlichen Schreibtechniken. 20 Dabei stößt man verschiedentlich auf Projekte, die sich nicht mehr an einem linearvektoriellen Zeitmodell, sondern vielmehr an räumlichen Metaphern orientieren. Zwei dieser Projekte stellt Miltos Pechlivanos in seinem Aufsatz “Literaturgeschichte(n)” vor: Die Columbia Literary History of the United States, 1988 bei Columbia University Press, New York erschienen; 21 sowie ein Projekt der Yale University, A New History of French Literature, 1989 bei Harvard University Press in Cambridge (Massachusetts) von Dennis Hollier u.a. herausgegeben. 22 Letztere gewann den James Russell Lowell Prize of the Modern Language Association. Beide sind Gemeinschaftswerke verschiedener Autorinnen, Autoren, Herausgeberinnen und Herausgeber. Sie bestehen aus einzelnen Kapiteln respektive Aufsätzen, die gängige Darstellungsmodelle von Literaturgeschichten ablehnen und weder alphabetisch geordnete Enzyklopädien noch kontinuierliche Narrationen bieten. 23 Stattdessen orientieren sie sich - wie erwähnt - an räumlichen Konzeptionen. Die Columbia Literary History of the United States nimmt für sich die Architekturmetapher in Anspruch: Die neue Geschichte […] sei konstruiert nach dem Modell einer Bibliothek bzw. Kunstgalerie; mehrere Eingänge sollen den Eintritt in die jeweiligen Korridore gewährleisten. Im Gegensatz zu älteren Literaturgeschichten, die ‘monumental’ seien und eine lineare wie einheitliche Darstellung des Vergangenen anstrebten, mache sie die Diversität, die Komplexität und die Kontradiktion zu ihren Strukturprinzipien und versuche, den Eindruck sowohl der Vollständigkeit wie auch der Homogenisierung der jeweiligen Standpunkte zu vermeiden. […] Der Leser und die Leserin sollen dabei die ‘paradoxe Erfahrung’ machen, sich ‘sowohl mit der Harmonie als auch mit der Diskontinuität der Bausteine’ konfrontiert zu sehen. 24 Einzelne Bausteine arrangiert oder montiert auch A New History of French Literature, und sie setzt dabei ausdrücklich auf Diskontinuität, Heterogenität und Fragmentierung. 25 Die räumliche Metapher, die ihr zugrunde liegt, ist jene eines “historische[n] und kulturelle- [n] Feld[es], betrachtet aus einem breiten Spektrum zeitgenössischer kritischer Perspektiven”. 26 Ausgebreitet auf diesem Feld liegen wie Landmarken historische Datumspunkte, an denen sich Ereignisse bündeln lassen. So befassen sich rund 200 Essays mit je einer Jahreszahl, der dann bestimmte Geschehnisse und überlieferte Begebenheiten zugeordnet und so miteinander in Zusammenhang gebracht werden. Erzählt wird da also nicht - um Pechlivanos’ Beispiel anzuführen - das Leben von Proust vom Anfang über Aufstieg, Reife bis zum Tod, vielmehr finden sich in verschiedenen Aufsätzen jeweils fragmentarische Aspekte zum Leben und zum Werk des einen Autors immer unter bestimmten Gesichtspunkten im Zusammenhang mit anderen historischen Handlungsträgern - möglicherweise aus anderen Zeitschichten, die in demselben Datumsquerschnitt zusammentreffen. Freilich lässt sich an diesen beiden Projekten auch Kritik üben. So könnte man einerseits hinter der jeweils propagierten Kontingenz und Heterogenität auch eine gewisse Beliebigkeit der Blickpunkte und Informatio- Zeitschichten, -sprünge und -klüfte 17 nen sehen; andererseits werden über die Distanzierung von traditionellen Ordnungskriterien aber auch wieder neue kreiert und festgeschrieben, die allenfalls weniger vertraut respektive explizit daherkommen als die herkömmlichen wie Epochen, Perioden, Bewegungen, Schulen, Generationen. Auch wird vielleicht zu wenig deutlich gemacht, wie stark die Herstellung dieser historiographischen Werke nicht nur auf neuen epistemologischen Prämissen beruht, sondern auch mit (neuen) medialen Möglichkeiten zusammenhängt. Die (räumlichen) Verlinkungen des Internets haben die linearen Denk- und Schreibweisen nicht nur im medialen Alltag abgelöst, sondern als Modell sowie als konkretes Hilfsmittel auch Einzug in die Methodik der Wissenschaften gehalten. Eine logische Konsequenz wäre dann wohl die Frage, ob das Buch (noch) das adäquate Medium für solche Projekte ist oder ob nicht auch elektronische Medien oder gar ganz andere, räumliche Formen der Vermittlung dem formulierten Anspruch eher gerecht würden. Damit bin ich zum Schluss bei meinem eigenen Projekt angelangt. All diese wissenschaftstheoretischen Vorüberlegungen sind wichtig für mein Vorhaben, eine nicht-vektorielle Tanzgeschichte zu schreiben beziehungsweise zu initiieren, die eher vom Modell eines Geflechts oder von einer choreographierten Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als von einem gerichteten Vektor ausgeht. Wie das Produkt schließlich aussehen wird, weiß ich noch nicht. Es könnte eine DVD, eine Datenbank, eine Ausstellung, eine Lecture Performance oder eine Kombination von allem sein. Die live im Raum bewegte Kunstform Tanz fordert m.E. mehr noch als andere Künste räumliche oder zumindest an räumlichen Metaphern orientierte Vermittlungsmethoden, damit die spezifischen ästhetischen Traditionen und Zusammenhänge deutlich werden. Ich schließe mich dabei Helen Thomas an, die wiederum mit Referenz auf Mark Franko postuliert: “The construct of tradition with which I would want to work is one that lives and breathes through embodied textual practice (on or off stage), not one that is locked up in ‘performance museums’” 27 - oder in chronologischen Tanzgeschichtsbüchern, könnte man ergänzen. Die ‘neuen’ Ordnungskriterien einer kritischen Geschichtsschreibung wie Partialität anstelle von Totalität, Pluralität und Differenz statt Homogenität, Kontingenz statt teleologischer Notwendigkeit sowie Diskontinuität statt linearer narrativer Kontinuität sind in der Tanzkunst auf der Bühne seit der Moderne und insbesondere der Postmoderne längst Konsens. Zahlreiche Kreationen brechen da mit einer totalitären Blickführung und fokussieren plurale Differenzen statt harmonische Einheiten; sie verweigern sich einer allzu eindeutigen Sichtweise und öffnen die Wahrnehmung statt sie schlicht affirmativ bedienen zu wollen; und schließlich reflektieren sie so auch stets kritisch die eigene(n) künstlerische(n) Tradition(en). Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als ein choreographiertes Nebeneinander von bewegten Szenen könnte also für die Tanzgeschichtsschreibung gleichzeitig als Darzustellendes wie auch als Modell für die Darstellung betrachtet werden. Eine solche Geschichte des Tanzes nähme ihren Gegenstand ernst und würde mit ihren Fragen beziehungsweise möglichen Antworten der kritischen historiographischen Bewegung nicht etwa hinterherhinken, vielmehr könnte sie dieser sogar ein Beispiel sein für eine nicht nur metaphorisch räumlich verstandene Geschichtsschreibung. Anmerkungen 1 Ann Hutchinson Guest, “Is Authenticity to be Had? ”, in: Stephanie Jordan (Hg.), Preservation Politics. Dance Revived, Reconstructed, Remade, London 2000, p. 65-71, hier p. 71. 2 Alexandra Carter (Hg.), Rethinking Dance History. A reader, London, New York 2004, p. 10. Vgl. dazu auch die Auswahlbibliographie 18 Christina Thurner der Tanzgeschichtsbücher in Janet Adshead- Lansdale, June Layson (Hg.), Dance History. An Introduction, Second edition, revised and updated. London, New York 1994, p. 254ff.; außerdem June Layson, “Historical Perspectives in the Study of Dance”, in: ebd., p. 14; Layson betont: “dance history needs to claim a place as an eminently important and worthwhile area of study”. 3 Carter 2004, p. 10. 4 Burkhart Steinwachs, “Was leisten (literarische) Epochenbegriffe? Forderungen und Folgerungen”, in: Hans-Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer (Hg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt a.M. 1985, S. 312-323, hier S. 317. 5 Vgl. u.a. Miltos Pechlivanos, “Literaturgeschichte(n)”, in: ders. u.a. (Hg.), Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 1995, S. 170-181, hier S. 171. 6 Niklas Luhmann, “Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie”, in: Gumbrecht, Link-Heer 1985, S. 11-33, hier S. 13. 7 Vgl. Pechlivanos 1995, S. 171. (Hervorhebung im Original). 8 Vgl. Reinhart Koselleck, “Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen”, in: Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Geschichte - Ereignis und Erzählung, München 1973. S. 211-222. 9 Koselleck 1973, S. 211ff. 10 Japp zit. in Pechlivanos 1995, S. 177. 11 Pechlivanos 1995, S. 175. 12 Vgl. u.a. Koselleck 1973, S. 211. 13 Jean-François Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979. Vgl. dazu auch Gabriele Brandstetter, “Geschichte(n)-Erzählen in Performances und im Theater der Neuzigerjahre”, in: dies., Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin 2005 (= Theater der Zeit Recherchen 26), S. 116-133, hier S. 130. 14 Layson 1994, p. 4. 15 Layson 1994, p. 4. 16 Hans-Ulrich Gumbrecht, “Posthistorie Now”, in: Gumbrecht, Link-Heer 1985, S. 34-49, hier S. 35. 17 Koselleck 1973, S. 213. 18 Garafola 2005, p. ix. 19 Jordan 2000, o. S. 20 Vgl. Pechlivanos 1995, S. 170. 21 Emory Elliot u.a. (Hg.), Columbia Literary History of the United States, New York 1988. 22 Dennis Hollier u.a. (Hg.), A New History of French Literature, Cambridge (Massachusetts) 1989. Vgl. auch Pechlivanos 1995, S. 172ff. 23 Vgl. auch Pechlivanos 1995, S. 173. 24 Pechlivanos 1995, S. 172. 25 Vgl. Pechlivanos 1995, S. 173. Er hält fest, dass die Herausgeber folgende Darstellungsmodelle ablehnten: “das einer alphabetisch geordneten Enzyklopädie und das einer kontinuierlichen Narration. Während das eine Literatur in linearen Genealogien homogenisiert, tauchen der Leser und die Leserin des anderen in die unüberschaubare Fülle der nicht selektierten Informationen unter. Der dritte Weg, den sie vorschlagen, beruht auf dem Prinzip der Montage, eines Arrangements von Fragmenten, die kein einheitliches Bild anstreben.” 26 Pechlivanos 1995, S. 174. 27 Helen Thomas, “Reconstruction and Dance as embodied textual Practice”, in: Carter 2004. p. 32-45, hier p. 42.