Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
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2008
231
BalmeVon der Manie zur Melancholie
0601
2008
Sabine Sörgel
fmth2310019
Von der Manie zur Melancholie: Tanzhistoriographie im kulturhistorischen Vergleich Sabine Sörgel (Aberystwyth) I. Steinbruch Tanzhistoriographie: Eine tanztheoretische Reflexion auf Walter Benjamin Was die Antike hinterlassen hat, sind ihnen Stück für Stück die Elemente, aus welchen sich das neue Ganze mischt. Nein: baut. Denn die vollendete Vision von diesem Neuen war: Ruine. 1 In seiner Abhandlung zum Ursprung des deutschen Trauerspiels beschreibt Walter Benjamin die uns gegenwärtige Ruine der Historie vorausdeutend als eben jene “allegorische Physiognomie der Natur-Geschichte, die auf der Bühne durch das Trauerspiel” dargestellt werde. 2 Für den Tanz relevant erscheint hier insbesondere seine Deutung des Allegorischen, dessen nicht abschließbare Bildmacht das Gestern im Heute vereint, wenngleich sich das Bild selbst längst in die Erinnerung des subjektiven Betrachters verflüchtigt hat. Benjamins Geschichtsphilosophie rettet so die Erinnerung über Zeiten und Räume hinaus als kulturelles Gedächtnis der Kunst, das fortwirkt in der allegorischen Kontemplation des Betrachters. Der tänzerischen Bewegung gleich bezeichnet die Allegorie damit den “Fortschritt in einer Reihe von Momenten” und unterscheidet sich in ihrer transitorischen Prozesshaftigkeit nur all zu deutlich von der “momentane[n] Totalität” des klassischen Symbols. 3 In nahezu paradoxer Verschränkung von Flüchtigkeit und komplexer Dichte ähnelt die Allegorie darin jedoch nicht nur dem Tanz, sondern bezeichnenderweise auch der Hieroglyphe als gleichsam enigmatisch erscheinendes “Bildzeichen […] im Rahmen der sakralen Unterweisung als letzte Stufe einer mystischen Naturphilosophie”, d.h. als ein System komplexer dialektischer Verweisung von Schein und Sein als unmittelbarer Ausdruck und damit “Urgeschichte des Bedeutens” schlechthin. 4 Die barocke Allegorie steht für Benjamin also schlussendlich für nichts weniger als die “versinnlichte, verkörperte Idee”, quasi als deren “Begriff selbst in diese Körperwelt herabgestiegen […]”. 5 Allegorien werden damit zu abstrakten Formeln, deren Geheimcode sich ausschließlich in der kontemplativen Versenkung zu erschließen scheint. Als vereinnahmendes Theater der Grausamkeit, ganz im Artaudschen Sinne, ritualisiert die Allegorie demzufolge das intime Verhältnis des Betrachters zu seinem Gegenstand, der die absolute Hingabe an den wechselseitig entstehenden Bedeutungsprozess einfordert. Am Beispiel des Barock, von dem schon immer streitbar war, ob er denn nun als Epoche oder Stil zu gelten habe, führt Benjamins komplexes Gedankenspiel fernerhin jene politische Dimension der Ruine ein, welche die Historie künftig nur mehr als allegorisches Bruchstück aufscheinen lässt. 6 Während im Barock die Allegorie primär “der frommen Mortifikation des Leibes” dienen sollte, um so die dämonische Natur antiker Götter im historischen Wandel christlich zu domestizieren, lassen sich heute eine Vielzahl analoger Strategien postmoderner Pastiche finden, deren politische Ziele hingegen wesentlich diffuser zu erkennen sind. 7 Das Faszinosum der Ruine jedoch besteht für deren Lektüre gerade darin fort, dass sie diese Vielschichtigkeit der Historie eben als deren Bruchstück gleichzeitig auf dem Theater präsent werden lässt. Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 1 (2008), 19-28. Gunter Narr Verlag Tübingen 20 Sabine Sörgel Im Sinne einer gegenwärtigen Tanzhistoriographie wäre demnach die These aufzustellen, dass der Tanzkörper auf der Bühne eine ebensolche barocke Allegorie in den Raum schreibt, deren kinetische Verweise sich als performatives Körpergedächtnis lesen lassen, quasi Tanzgeschichte als ruinöses Bruchstück re-inszenieren, wobei sich Vergangenheit und Gegenwart der ausgeführten Körperpraktiken überlagern. Choreografie entsteht so aus Fragmenten der historischen Ruine im Benjaminschen Sinne, die sich im Neuen stets artikuliert und Teil des performativen Fortschreibens aber auch Umschreibens von Geschichte darstellt. Der zeitgenössische Tanz wird in dieser Betrachtungsweise also zum Steinbruch einer Tanzhistoriographie, die der Entwicklung kulturhistorischer Körpergenealogien von der antike in die postmoderne Gegenwart nachspürt. Insbesondere konzentriert sich dieser Rückblick im Folgenden auf die dem Tanzkörper kulturell eingeschriebenen Ideologien kollektiver Manie und individuell-psychologischer Melancholie als einer gleichsam sich fortschreibenden kulturhistorischen Wellenbewegung performativen Körperwissens. Ausgehend von Foucaults Genealogie-Begriff, insbesondere in Bezug auf den geschichtlichen Körperdiskurs, stellt ein solcher Ansatz somit den Ansatz einer Tanzgeschichtsschreibung vor, die Tanzhistoriographie im Sinne einer chronologisch rückwärtsgewandten Spurensuche notwendig vor dem Hintergrund des Zeitgenössischen situiert. 8 II. Bruchstück Antike: Griechische Tragödie und Manie Es geht darum, den Kopf zu vergessen und den Fuß sich erinnern zu lassen. 9 Theodoros Terzopoulos’ jüngste Produktion Die letzte Maske des Athener Theatro Attis verdeutlicht in der mnemotechnischen Arbeit mit den Schauspielern sowie der Komplexität choreographierter Bewegung wie sich die hier vorangestellte tanztheoretische Reflexion auf Benjamin im Zusammenhang zeitgenössischer Körperkonstruktionen im Tanz deuten lässt. Denn wie im Verlauf der Analyse zu zeigen sein wird, handelt es sich bei dieser Produktion um eine Allegorie postmodernen Tanztheaters, das verkörperte Erinnerung als kulturelles Gedächtnis an die historisch überlieferte mania der griechischen Kultur im 6.-5. Jh. v. Chr. heraufbeschwört. So bezieht sich bereits die Tragödienvariation des studierten Altphilologen und Gegenwartsdramatikers Logaras auf die Ursprungsthese, laut der die griechische Tragödie im Ritual des Dionysos-Kult und der bacchantischen Ekstase zu verankern sei. 10 Basierend auf einem tatsächlichen Ereignis in der Stadt Patras Anfang der 1960er Jahre, entwirft Logaras lyrisch-dramatischer Text somit das abstrakte Tableau einer rächenden Kindsmörderin, die als Variation des Medea- Mythos, das Kind ihres sie verleugnenden Liebhabers tötet und sich schließlich selbst als modernen pharmakos im ritualisierten Selbstmord opfert, während zeitgleich ihre Maske im örtlichen Karneval auftritt, wo sie von der Bevölkerung gebrandmarkt und ihr puppenhaftes Ebenbild letztlich den Flammen anheim gegeben wird. In der Verschränkung von Mythos und Gegenwart erscheint die Frauenfigur dergestalt als allegorisches Körper/ Sprach/ Bild im die Figur charakterisierenden Fremdkommentar des Chorführers, der sie wie folgt charakterisiert: “Sie nannten sie die Maria des Mansar/ und Patrinella,/ eine Zauberin, Ehebrecherin/ wahnsinnig und verwirrt/ die tief liebte/ und wie eine Mänade/ bis in den Tod ging”. 11 Mit dieser Eröffnung erkennt der Zuschauer die Figur bereits als Stereotyp weiblichen Rollenverhaltens, welches im Verlauf der Inszenierung sowohl im Botenbericht als auch über die getanzte Maske des Chors männlicher Schauspieler im neo-antiken Wechselgesang von Chor, Chorführer Von der Manie zur Melancholie 21 Abb. 1: Der ekstatische Schauspieler während der manischen Anrufung der Patrinella in der Inszenierung Die letzte Maske. Foto: Martin Kaufhold. und erstem bis sechstem Schauspieler fortgeführt wird. Wenngleich die Figur selbst als solche nicht in Erscheinung tritt und die Rolle der Patrinella somit nach einem naturalistischen Verkörperungskonzept streng genommen nicht besetzt wird, entsteht ihr allegorischer Bild/ Körper als “Frau, die tief liebte” - und, man entnimmt es während der Inszenierung dem Wehklagen des Chors, ebensoviel litt - um so nachdrücklicher in der Imagination des Zuschauers. Als Archetyp des Weiblichen konstituiert sich dieser Bild/ Körper vermittels der theatralen Körpermaske des Chors männlicher Darsteller, welche die eigentlich Abwesende im Sinne einer beschwörenden Anrufung zur Hauptfigur der dramatischen Handlung werden lassen. Diese theatrale Anrufung der Figur durch den Chor bemächtigt sich in diesem Zusammenhang interessanterweise einer abstrakten Form der rituellen mania als eben jener bacchantische Ekstasetanz des antiken Dionysos-Kults, wie ihn Terzopoulos für seine Schauspieler als Körpertechnik nutzbar zu machen sucht. Im Sinne Grotowskis geht es dem Regisseur dabei um das Herunterreißen der gesellschaftlichen Alltagsmasken und die Befreiung des inneren Energiezentrums wie es etwa in Ergänzung hierzu die biodynamische Methode Meyerholds in seiner Arbeit mit den Schauspielern lehrt. Terzopoulos beschreibt diesen avantgardistischen Ansatz als die befreiende Dimension des theatralen Prozesses für sein Theater als “Lebensform” wie folgt: Die Arbeit mit dem Körper ist wie ein bestimmter Modus zu leben. Das ist das Konzept des Lebens. Eine lebenswerte Lebensform. 22 Sabine Sörgel Technisch gesprochen geht es um die Befreiung der sieben kritischen Punkte der Wirbelsäule, so dass der Energiefluss vertikal nicht mehr blockiert ist. […] Man wird Dionysos. Wenn die Energie fließt, in alle Richtungen fließt, ist der Körper äußerlich ganz ruhig, aber die innere Geschwindigkeit ist enorm hoch. 12 Worum es Terzopoulos und seinen Schauspielern also geht ist die Reaktivierung uralten Körperwissens, dass auf der körperlichen Ekstase beruht, die im Kontext der griechischen Tragödien an den Zustand der rituellen mania anknüpft. Ekstase unterscheidet er dabei von der oft mit ihr verwechselten Trance, wenn er erklärt: Die Ekstase ist die Situation, in welcher der Schauspieler die Realität überwindet. Er findet zu einer Realität auf höherem Niveau. Das ist die Differenz zur Trance. In der Trance flieht man die Realität wie unter Drogen, während der Körper des Schauspielers in der Ekstase die Realität zu einer anderen, energetisch dichteren, energetisch konzentrierteren Wirklichkeit überwindet, die näher zu Gott ist. Er wird dem Gott ähnlich. […] Um in den Zustand der Ekstase zu gelangen, muss der Körper sich seiner Füße bewusst sein. In Trance hat man kein Bewusstsein der Füße. […] Wenn man die Füße reibt und dadurch diese Nervenenden erwärmt, wenn man das eine Stunde macht, erweckt man das Diaphragma, und das setzt Energie frei. Diese Energie steigt hinauf zum Kopf. Die Aboriginies in Australien benutzen eine Technik mit dem Fuß, um zu ihren Ahnen zu gelangen. Auch in Afrika gibt es das. Im Fuß enden alle Nervenstränge, und wenn man sich die Füße blutig tanzt, kommt es zur Explosion. Das ist alles Natur. Es geht darum den Kopf zu vergessen und den Fuß sich erinnern zu lassen. 13 Diese zuletzt durchaus martialisch formulierte Beschreibung der Ekstase als Resultat gesteigerten Körperbewusstseins durch Technik bezieht sich in der Tat auf kulturelle Praktiken wie sie nicht zuletzt in der Theater- Anthropologie und in ethnographischer Forschung zu Ritualen und Schamanismus weltweit beobachtet worden sind. 14 Denn obwohl hier als Schauspieltechnik veranschlagt, handelt es sich eigentlich um den Rückgriff auf rituelle Tanzformen, welche die Nähe bzw. den Ursprungsmythos des Theaters aus Ritual und Tanz zu erhärten scheinen. Die Verdrängung der mania bzw. des Tanzes aus der Rezeptionsgeschichte der griechischen Tragödie aufgrund fehlender Quellen bzw. entsprechend privilegierter Deutung der aristotelischen Poetik als Dramentheorie ist bekannt und soll daher an dieser Stelle nicht weiter referiert werden. Interessant jedoch erscheint im Zuge einer solchen Körper- und Tanzverdrängung innerhalb der westlichen Kultur die damit einhergehende Unterdrückung eines als traditionell weiblich veranschlagten Geschlechterdiskurses, der die ursprünglichen Fruchtbarkeits- und Opferrituale der Göttin Kybele marginalisiert und aus dem gesellschaftlichen Alltag zu bannen sucht. Wie David Wiles in seiner Einführung Greek Theatre Performance (2000) kritisch anmerkt spielten gerade Frauen eine große Rolle in der athenischen Religion, deren Verehrung der zwölf kanonischen Gottheiten erst in der demokratischen Phase mit der Substitution der häuslichen Göttin Hestia (häuslicher Herd) durch den androgynen Dionysos die zahlenmäßige Übermacht männlicher Gottheiten einleitet. Wenngleich Dionysos also den weiblich konnotierten Ritualen Raum gibt, so wird er doch tendenziell eher als männliche Gottheit angesehen, welche die kosmologische Harmonie in Ungleichgewicht bringt und deren nachhallendes Chaos bzw. gewaltsames Zusammenbrechen der gesellschaftlichen Ordnung die oft körperlich spürbar werdende Gewalt der Tragödien kennzeichnet und deren gesellschaftspolitischen Konsequenzen wir vermittels der entsprechenden Rezeptionsgeschichte bis in die heutige Zeit nachspüren können. Von der Manie zur Melancholie 23 Einer solch dichotomisierenden Betrachtungsweise männlicher Vormachtstellung einerseits steht jedoch die gleichzeitige Vielzahl komplexer Frauenfiguren der erhaltenen griechischen Tragödien auf der anderen Seite gegenüber, die durchaus für die Komplexität des antiken Genderdiskurses zu sprechen scheint. Denn obgleich die Frauen auf dem Theater durch den männlichen Blick des Autors geprägt wurden anonymisiert die Maske deren Vermittlung, öffnet sie für die, man könnte behaupten, manische Einnahme der Figur, deren vorgestellte Rolle daher keineswegs mit geschlechtlicher Minderwertigkeit gleichzusetzen ist. Und interessanterweise verweist Wiles in diesem Zusammenhang nachdrücklich auf die Substitution der als feminin kodierten Trauer- und Begräbnisrituale durch die Maske des männlichen Schauspielers, die der rituellen Klage auf dem Theater weiterhin Raum bietet, während sie aus dem öffentlichen Leben der athenischen Demokratie zusehends verdrängt wird. 15 Die Verdrängung der Trauer und ihrer getanzten Rituale begründet also die Polis Athens, in deren Nachfolge sich Logozentrismus, modernes Staatswesen und Kapitalismus der so genannten westlichen Welt systemisch ausbilden. Und dennoch bleibt die Spur dieses verdrängten Körperwissens um den Tod als die Macht des Tanzes - wie es als Paraphrasierung Joachim Fiebachs zum Theater Afrikas zu formulieren wäre - in der Abstraktion des Tanzes und Theaters erhalten und wird im hier diskutierten Beispiel des Theaters des Theodoros Terzopoulos exemplarisch über das beschworene Gedächtnis des Fußes als unsere direkteste Verbindung zur Erde und deren Regenerationsriten reaktiviert. 16 Wie nun anhand der Schlusssequenz der Inszenierung verdeutlicht werden soll, tritt der letzte der sechs Schauspieler an dieser Stelle aus der ursprünglichen Chorformation aus, indem auch er sich des uniformen dunklen Jacketts und des weißen Hemdes - als Insignien der Alltagsmaske eines Geschäftsmanns - entkleidet. In diesem Moment erkennt der Zuschauer die Transformation des Schauspielers, der von der Figur der Patrinella bzw. ihrer Maske gerade zu mystisch verzückt erscheint, d.h. die Figur der Patrinella nimmt den Schauspieler in Besitz. Man beobachtet an dieser Stelle recht deutlich die für Terzopoulos’ zwar schauspieltechnisch evozierte dennoch typische Geste einer theatralisierten Referenz an die mania wie sie die flatternde Hand über dem neurophysiologischen Zentrum der Ekstase charakterisiert, indem sie unser menschliches Gehirn als kosmologisch verankertes Tanz- und Bewegungszentrum markiert. Das von Schmerz und Klage verzerrte Gesicht sowie der tief aus dem Beckenboden emporsteigende Schrei intonieren den für die Ekstase entscheidenden langen Rhythmus während dieser Sequenz. Terzopoulos selbst beschreibt diesen ekstatischen Tanz, der dem Schauspieler letztlich Harmonie und Freiheit des Ausdrucks verleiht: Wenn der Schauspieler frei ist, dann bilden Körper und Stimme eine Einheit. Dann entsteht echte Harmonie. Dann ist der Schauspieler glücklich und so entsteht auch Schönheit. Mit dieser Einheit ist man frei und kann die Instinkte mobilisieren. Das ist die Schönheit auf dem Theater. Also Ausdruck der Utopie. Das bedeutet aber auch, dass die Tragödie keine Charaktere kennt. Dargestellt wird die Manie, nicht die Mainade. 17 Es ist dies die erschütternd einfache und zugleich hoch politische Botschaft seines Theaters, die den befreiten Schauspielerkörper als Kosmosmenschen feiert und konventionell tradierte Geschlechterdichotomien transzendiert. Der ekstatische Schauspielerkörper ist weder Frau noch Mann - allenfalls übergeordnete Figur, Maske oder Gottheit, die durch ihn spricht. Damit rückt ein solches Theater des ekstatischen Tanzens in die Nähe der von Victor Turner theoretisierten communitas oder auch 24 Sabine Sörgel Abb. 2: Befreiung des Energiezentrums als Referenz an die rituelle mania im Tanztheater des Theodoros Terzopoulos. Foto: Martin Kaufhold. feministischer Theorien des multiplen Subjekts bzw. einer neu zu denkenden Bisexualität nach Cixous wie sie vielleicht der androgyne Dionysos avant la lettre schon immer verkörpert hat. Denn eine solch ekstatische Tanzfigur erlaubt, der als feminin codierten Passivität und Durchlässigkeit eine empfangende Großzügigkeit, die das Andere oder Fremde in sich aufnimmt und als Geschenk weder vereinnahmt noch ablehnt. Während die konventionell männliche Geschlechterposition das vermeintlich Weibliche als dunkel, passiv, dem gefürchteten Tode verwandt ausschließt und auf das eigene phallozentrische Identitätsmodell diskursiv fixiert scheint, erlaubt der Tanz seit jeher die Begegnung mit dem Anderen der Rolle bzw. der Gottheit. Wie Hélène Cixous diesen Prozess einer expandierenden Identitätsbzw. Subjektkonstitution für letztendlich beide Geschlechter theoretisiert hat: Femininity and bisexuality go together, in a combination that varies according to the individual, spreading the intensity of its force differently and (depending on the moments of their history) privileging one component or another. It is much harder for man to let the other come through him […] In the past, when carried to a rather spectacular degree, it was called ‘possession’. Being possessed is not desirable for a masculine Imaginary, which would interpret it as passivity - a dangerous feminine position. It is true that a certain receptivity is ‘feminine’. One can, of course, as History has always done, exploit feminine reception through alienation. A woman, by her opening up, is open to being ‘possessed’, which is to say, dispossessed of herself. But I am speaking here of femininity as keeping alive the other that is confided to her, that visits her, that she can love as other. The loving to be other, another, without its necessarily going rout of abasing what is same, herself. 18 Von der Manie zur Melancholie 25 Das über den Tanz aktivierte Körpergedächtnis transfiguriert damit nicht nur die Geschlechterdichotomie, sondern schlägt auch die Brücke von der Gegenwart in die Vergangenheit als kosmologische Verknüpfung der Lebenden mit den Toten wie das in auf den Tanz fokussierten Kulturen schon immer Teil kultureller Praxis von Religion und sozialer Feier ist. III. Bruchstück Mittelalter: Die Melancholie und der Totentanz Wenn die Manie also wie im erwähnten Beispiel dargestellt repräsentativ für das ekstatische Moment selbstvergessener Tanzwut zu stehen scheint, die das Subjekt in kosmischer Verschränkung an seinen Ursprung zurück bindet, so ist die Melancholie schon immer die janusköpfige Kehrseite dieses selbstvergessenen Rituals als die ontologische Trauer des vereinsamenden Subjekts, das irgendwann einmal zu tanzen aufhört, indem es den kosmischen Kreis durchbricht. Melancholie wäre dann gleichzusetzen mit der Vorahnung auf den Tod, just in dem Moment, wo mythologisch gesprochen uns die Mutter-Gottheit der Kybele verlässt und die Hybris des sich formierenden Subjekts einsetzt, das sich als narzisstisch-allmächtiger Gott selbst zu wähnen beginnt. Melancholie wäre also vorerst zu bezeichnen als das Ende der im Diskurs als weiblich veranschlagten Durchlässigkeit und folglich ein nicht zu befriedigendes Begehren, das keine Erfüllung kennt. 19 Diese körper-kastrierende Angst vor einem erfüllten - man möchte im Gedenken an die Funktion der Myal-Tänze der rebellierenden Sklaven des kolonialen Jamaikas fast sagen - (Auf)Begehren bricht sich ebenso deutlich in der Unterwerfung der Tanzwut sowie der Kirchhofs-, Tarantell- und Totentänze des europäischen Mittelalters Bahn. 20 Entfesselte Erotik wie die während der Weiberfastnachten wird verteufelt und die Gemeinschaft mit den Toten als Teil des Lebens in ein Jenseits gedrängt, das die Angst vor dem Tod durch die Verdrängung nur umso größer werden lässt. Indem man das Volk seines Körperwissens zu berauben versucht, verliert es Teil seiner revolutionären Freiheit und wird leichter kontrollier- und beherrschbar. Gleichzeitig wird das neue Wissen in Form von Büchern Teil einer gesellschaftlichen Elite, die nach politischer Macht strebt. Entsprechend einer solchen Verdrängung des Mütterlichen als letztendliche Angst vor dem Tod sind diese Mythen bekannterweise von der Psychoanalyse rezipiert worden. So verweist beispielsweise Julia Kristeva in Black Sun - ihrem Werk zur Melancholie - auf das Wechselspiel zwischen Subjektkonstitution, Melancholie und westlicher Metaphysik seit der Antike. Sie spricht in ihrer Analyse der Melancholie unter anderem davon, dass der Verlust bzw. die Sehnsucht nach der Mutter über Sprache und andere symbolische Referenzsysteme sublimiert werde, wenngleich diese Sublimation im Sinne einer Repräsentation der Mutter notwendigerweise unvollständig bleibt bzw. diese sogar als das Andere des Subjekts verleugnet. Die Trauer um diesen Verlust des Ursprungs, so des Weiteren ihre These, äußere sich demnach als enigmatischer Affekt, der nicht eindeutig im Sinne eines Ursachebzw. symbolischen Austauschprozesses zuzuordnen sei. Affekt sei also vielmehr anzusehen als eine komplexe psychosomatische Energieverschiebung, die zum Sprachbild gerinnt, das sich laut dieser Argumentation unmittelbar ins Bewusstsein als Voraussetzung des Imaginären und Symbolischen einschreibe. 21 Wenngleich Kristeva zwar Melancholie als Impuls kreativer Schöpfung deutet und auf deren therapeutische Funktion verweist, richtet sich ihr Augenmerk doch primär auf die Kunst und Literatur, deren Energien im Verhältnis zur Funktion des Tanzes in diesem Zusammenhang in gewisser Weise sekundär erscheinen bzw. deren primär semiotische 26 Sabine Sörgel Vermitteltheit der kinästhetischen Übertragung und Rezeption gegenübersteht. Wie aber ließe sich ihre Analyse in Bezug auf den Tanz und die Tanzhistoriographie deuten, als ja eben gerade der Tanz mit einer psychosomatischen Energieverschiebung arbeiten kann, wenn man beispielsweise an die Figuration der Maske der Patrinella bei Terzopoulos denkt. Gerade über die Befreiung der Energiezentren als Ausdruck von ritualisierter Klage und Trauer stellt sich ja die Frage nach der soziokulturellen Bedeutung des Tanzes als Therapie in diesem Zusammenhang zumindest anders wenn nicht unmittelbarer. Tatsächlich konfrontieren der Tanz und sein Theater den Zuschauer mit einer äußerst komplexen Verdichtung solch allegorischer SinnBildlichkeit, wie abschließend noch kurz am Beispiel der Opernchoreographie Trisha Browns zu Monteverdis L’Orfeo aus dem Jahr 1998 veranschaulicht werden soll. IV. Bruchstück Barock: Trisha Brown L’Orfeo (1998) Auch Trisha Browns Choreographie der Operninszenierung L’Orfeo aus dem Jahr 1998 unter der musikalischen Leitung von René Jacobs präsentiert allegorische Körper/ Sinn/ Bildlichkeit im Benjaminschen Sinne, insofern ihre Choreographie das komplexe Zusammenspiel von Affekt/ Geste des Tanzes als die verdrängte Mania bzw. Melancholie des Mythos zum Tragen bringt. Im Folgenden soll an dieser Stelle nur recht kurz auf einige Aspekte der Choreographie in diesem Zusammenhang eingegangen werden, um daran aufzuzeigen, inwiefern auch diese zeitgenössische Tanzchoreographie einen Beitrag zur Tanzhistoriographie leisten kann, indem sie Bruchstücke der Tanzgeschichte als Ursprung des Musiktheaters offenbar werden lässt. Trisha Browns Choreographie etabliert den Tanz als der Musik gleichwertige Isotopiebene der Inszenierung über die originelle Umsetzung des Prologs der Musica, die nicht wie sonst üblich als ätherische Stimme aus dem Orchestergraben emporsteigt, sondern am mondhellen Bühnenprospekt in illusionistischer Schwerelosigkeit, die Gesetzte der Gravität unterläuft. Ein heikles Unterfangen für eine Tänzerin, deren Balance und Erdgebundenheit üblicherweise zum Rüstzeug ihres gewohnten Bewegungsrepertoires gehören. Allerdings erscheint dieser Bühnentrick seit Browns legendärer Choreographie Man Walking Down the Side of a Building (1970) heute nur mehr weniger spektakulär als im Benjaminschen Sinne allegorisch, überkreuzen sich auch hier: antike Mythologie mit barocker Bühnenästhetik und postmodernem Selbstzitat, das inzwischen das vormals Postmoderne bereits schon wieder hinter sich gelassen zu haben scheint. Brown erklärt ihre Motivation für diese Besetzung der Rolle entsprechend dramaturgisch motiviert: In my estimation La Musica is the embodiment of music and so she would be free to travel anywhere in time and space; she is a ceiling painting, yes, and she’s also the guide from one world into the next, leading us through the passage from one plane to another. It was a matter of working with the strophes and the ritornelli, and the music and text really dictated the movements, as in that moment when she suddenly drops from the top to the bottom edge of the sphere - that’s when she commands everyone to listen, and you need to use both a dramatic movement and introduce stillness. 22 Indem der Zuschauer die Musik als getanzte Verkörperung der Schwerelosigkeit wahrnimmt, wird deren grundlegende Ambivalenz als Paradox offenbar, das sich als Dädalus- Motiv durch den Orpheus-Mythos zieht und zusammenfassend vom Chor der Geister am Ende des 3. Akts vorgetragen wird: “Nichts unternimmt der Mensch vergebens/ und die Natur steht ihm unbewaffnet gegenüber./ […] Um auf seiner Reise durch die Lüfte zu ziehen,/ entfaltete der einfallsreiche Dädalus Von der Manie zur Melancholie 27 seine leichten Flügel”. 23 Wenngleich wir ob der Virtuosität der illusionistischen Darbietung staunen, so ist die Schwerelosigkeit der an Bühnenmaschinerie geketteten Tänzerin doch nur allzu offenbarer Schein. Als Luftwesen tanzt sie nach neo-platonischer Lesart die Musik der Sphären kosmischer Harmonie in Anbetracht des Mondes, dessen nachtblauer Himmel bereits auf Klage und Melancholie der orfeischen Trauer ganz im Sinne der Benjaminschen Komplexität kontemplativer Bildversenkung vorausdeutet. So steht der Mond zum einen als Verbindung zum Reich der Toten und der dort zu verlierenden Euridike, zum anderen für die Kehrseite der Sonne und des apollinischen Prinzips, das Orpheus vermittels der Musik in das Reich der Toten lenkt. Verbleibt man in der neo-platonischen Lesart der Renaissance so geht man fernerhin davon aus, dass Musik und Tanz hier gleichzusetzen bzw. als Einheit verschränkt aufzufassen sind. Nach antikem Brauchtum des 5. Jh. handelte es sich während dieser Szene also um nichts weniger als die durch Rhythmus, Musik und Bewegung eingeleitete mania, welche Orpheus hier über den Styx geleitet, wenn der Sänger in Anrufung der Gottheit die bekannte Arie Possente Spirito zu singen beginnt: “Mächtiger Geist und gewaltiger Gott,/ ohne den zum anderen Ufer zu gelangen/ die vom Körper befreite Seele vergeblich hofft […]”. 24 Jedoch verhält es sich hier anhand des barocken Librettos, ebenso wie Benjamin für die Allegorie als Ruine beschwört: dass sich nämlich christlicher Heilsmythos mit pantheistischem Daimon vermischt, wie es im Übrigen auch den zwei überlieferten Endfassungen der Oper entspricht, die Brown in der unmittelbaren Aufeinanderfolge inszeniert. Orpheus Hybris besteht demnach in seinem jugendlichen Begehren, welches ihn sich umwenden lässt. Er zweifelt an den Göttern - der Macht der Verkörperung als mania, die ihn Euridke im bacchantischen Ritual wiederfinden lässt - und gehorcht dem Begehren des sich allmächtig wähnenden Blicks. Laut christlichem Verständnis der zweiten Fassung vergöttlicht folglich Apoll denjenigen, der die Melancholie gegen den Himmel singt, während Orpheus in der mythischen Fassung von den zürnenden Backchen ob seiner Missachtung ihres Rituals zerrissen wird. Tanzästhetisch ging es Trisha Brown in der Zusammenarbeit mit den Sängern interessanterweise darum, den aus unserem heutigen Musiktheater oftmals zurückgedrängten Tanz im Sinne von grundlegenden Bewegungsmustern und affektiven Gesten wieder zu finden. Nach der musikalischen Partitur Monteverdis sowie des Librettos entsteht eine solch choreographische Geste dabei vor dem Hintergrund des narrativen Textes, wenngleich sie abstrakt bleibt und entspricht damit der frühbarocken Operndramaturgie für die der lyrisch-allegorische Text ebenfalls zentral war. An anderer Stelle beschreibt Trisha Brown diesen choreographischen Prozess wie folgt: If one is working with form and not formula, then the ideas take a visual presence in the mind and one must find a method to decant that vision. I start by describing the idea to the dancers, they query the request (I don’t blame them), I say the same thing with other words, they try, I articulate what is missing, they try again, process is in motion. We keep heaving ourselves at each other like this until one or the other breaks through. We have a beginning. The metaphor is physically in existence. Now we have a template as reference to complete the phrase (theme). 25 Es scheint also, dass solch physische Metaphern letztlich im Rückgriff auf erinnerte sowie instinktive Bewegung rekurrieren, wie Brown das zuvor für den Improvisationsprozess und seinen Eingang in die Choreographie beschreibt. Tatsächlich wird der Tanz damit zur Therapie: manisch-kosmologische Fußmetaphern gegen kopflastige Trauer und Melancholie. Oder wie Trisha Brown die 28 Sabine Sörgel Metaphysik von Schein und Sein in postmodern neo-platonischer Mystik neu formuliert: I loved the give and take between idea and physical enactment with instinct sorting out the problems along the way. The body solves problems before the mind knows you had one. I love thinking on my feet, wind in my face, the edge, uncanny timing and the ineffable. 26 Abschließend ließe sich also für die Ausführungen zu den genannten Beispielen vorerst festhalten, dass die Tanzgeschichte ihre manisch-kosmologischen Füße tanzmächtig gegen kopflastige Trauer und Melancholie in unsere Kulturgeschichte stemmt. Als sozusagen kinästhetisch-therapeutisches Korrektiv tanzt sie sich frei, erdmächtig und ungebunden, gegen vereinnahmenden Rationalismus, visuell-illusionistische Höhenflüge und sich allmächtig wähnende Hegemonie. Gleichzeitig und das nicht nur nebenbei, verleiht sie den Frauen wie dem Volk als Rückhalt jeder Gesellschaft ihr revolutionäres Recht als innere Stärke und schützenswertes Potential. Anmerkungen 1 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a.M. 1963, S. 198. 2 Benjamin 1963, S. 197. 3 Benjamin 1963, S. 181. 4 Benjamin 1963, S. 186; 182. 5 Benjamin 1963, S. 181. 6 Vgl. hierzu Erwin Panofsky, “Was ist Barock? ”, in: Michael Glasmeier und Johannes Zahlten (Hg.), Was ist Barock? , Hamburg & Berlin 2005, S. 13-99. 7 Benjamin 1963, S. 151. 8 Vgl. hierzu auch Sabine Sörgel, “Tanz(Ge)schichte(n) der Moderne im Tanztheater der Gegenwart am Beispiel von Kurt Jooss, Pina Bausch, Sasha Waltz und Wanda Golonka”, in: Forum Modernes Theater 21.1 (2006), S. 61-78. 9 Theodoros Terzopoulos, “Die Metaphysik des Körpers”, in: Frank M. Raddatz (Hg.), Reise mit Dionysos. Das Theater des Theodoros Terzopoulos, Berlin 2006, S. 158. 10 Manfred Beilharz (Hg.), Neue Stücke aus Europa 2006. Theaterbiennale des Staatstheaters Wiesbaden 15.-25. Juni, Wiesbaden 2006, S. 75. 11 Kostas Logaras, Die letzte Maske - Fallimento, Wiesbaden 2006, S. 3. 12 Raddatz 2006, S. 169. 13 Raddatz 2006, S. 158. 14 Siehe hierzu u.a. Richard Schechner, Theater- Anthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich, Reinbek 1990. 15 David Wiles, Greek Theatre Performance. An Introduction, Cambridge 2000, p. 67. 16 Vgl. hierzu Joachim Fiebach, Die Toten als die Macht der Lebenden: zur Theorie und Geschichte von Theater in Afrika, Berlin 1986. 17 Raddatz 2006, S. 171-172. 18 Héléne Cixous, “Sorties”, The Newly Born Woman (1975), in: Susan Sellers (Ed.), The Hélène Cixous Reader, London & New York 1994, p. 42. 19 Hélène Cixous, “First Names of No One” (1974), in: Sellers 1994, p. 30. 20 Vgl. hierzu Monica Schuler, “Myalism and the African Religious Tradition in Jamaica”, in: Margaret E. Grahan, Franklin W. Knight (Edd.), Africa and the Caribbean: The Legacies of a Link, Baltimore 1979, pp. 65-79 sowie Stephan Cosacchi, Makabertanz, Meisenheim am Glan 1965, Justus F.C. Hecker, Die großen Volkskrankheiten des Mittelalters, Berlin 1865 und Andreas Kotte, “Simulation als Problem der Theaterwissenschaft”, in: Forum Modernes Theater 1 (1996), S. 33-44. 21 Julia Kristeva, Black Sun, New York 1989, pp. 21-22. 22 “Trisha Brown in interview with Melanie Eskenazi”, http: / / www.musicweb-internation al. c om/ s andh/ 2002/ May02/ Trish a_ Brown.htm 17.08.2007. 23 Claudio Monteverdi, L’Orfeo. Favola in musica, ed. Claudio Gallico, London 2004, S. 130. 24 Monteverdi 2004, S. 128. 25 Trisha Brown, “How to make a modern dance when the sky’s the limit”, in: Hendel Teicher (Ed.), Trisha Brown: Dance and Art in Dialogue, 1961-2001, Cambridge 2002, p. 289. 26 Brown 2002, p. 289.