eJournals Forum Modernes Theater 23/1

Forum Modernes Theater
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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0601
2008
231 Balme

Von der Utopie zum Archiv

0601
2008
Jens Richard Giersdorf
fmth2310029
Von der Utopie zum Archiv: Patricio Bunster und die politische Funktion der Choreographie Jens Richard Giersdorf (New York) Prolog Als ich am 11. August 2006 am Flughafen Heathrow ankam, um von London nach Santiago de Chile zu fliegen, hatte die Regierung Großbritanniens gerade einen Terroranschlag aufgedeckt, bei dem mehrere Passagierflugzeuge simultan über dem Atlantischen Ozean gesprengt werden sollten. Heathrow stürzte ins komplette Chaos. Unser Gepäck wurde untersucht und eingecheckt, wieder ausgecheckt und nochmals untersucht. Fast alle Flüge wurden storniert, der Flughafen füllte sich mit Passagieren, die stundenlange Verspätungen hatten. Keiner wusste, was eigentlich los war, wie reagiert werden sollte und wie die Situation zu lösen sei. Letztendlich wurde uns gestattet an Bord zu gehen, allerdings ohne jegliches Handgepäck. Kein Laptop, kein iPod, kein Buch, keine Medikamente, keine Augenmaske für den 22 Stunden währenden Flug. Die mögliche Gefahr eines Terroranschlages stellte plötzlich jegliche globale Mobilität in Frage. Ich hatte eigentlich geplant, den Flug damit zu verbringen, meine Notizen in Vorbereitung für mein Interview mit dem chilenischen Choreographen Patricio Bunster zu überarbeiten. War Bunsters internationale Karriere nicht nur ein faszinierendes Beispiel für die internationale Migration von Vokabularien aus der Ausdruckstanztradition, interessierte mich vor allem Bunsters Affirmation einer politische Funktion von Choreographie während seiner gesamten Karriere. Ähnlich wie der Philosoph Ernst Bloch sah Bunster Potential für Veränderung und Entwicklung in allen Manifestationen der Gegenwart und bot damit die Möglichkeit für gesellschaftlichen Fortschritt außerhalb des marxistischen Verständnisses von Klassenkampf als der treibenden Kraft für sozialen Umbruch. Identitätsformationen Mein Interview mit Bunster sollte sein letztes werden. Er starb fünf Wochen nach unserem Treffen in seiner Wohnung unweit der Tanzabteilung, welche er mit Joan Jara nach seiner Rückkehr aus zwölfjährigem Exil 1985 gründete. Ausgebildet unter anderem von Kurt Jooss und Sigurd Leeder, war Bunster vor seinem Exil einer der führenden Choreographen Chiles. Nach dem Pinochet-Putsch 1973 hatte Bunster politisches Asyl in der DDR gefunden, wo er unter anderem an der Palucca Schule in Dresden unterrichtete. Mit Susanna Borchers - einer Palucca Schülerin - entwickelte er Trainingsetüden, in welchen er von Jooss und Leeder inspirierte Untersuchungen dynamischer Bewegungsqualitäten und deren Nutzung der Spannung zwischen Stabilität und Labilität mit Paluccas Wertschätzung von Linien, Sprüngen und Bewegungsfluss sowie Übungen aus der Release Technik kombinierte. Als Bunster 1985 wieder nach Chile zurückkehren konnte, hatte er eine eigenständige Generation von Tänzern und Choreographen in der DDR ausgebildet. Die Kulturfunktionäre der DDR sahen in dem kommunistischen Künstler aus Chile ein Musterbeispiel für die revolutionäre Bewegung in den jungen Nationalstaaten (ein marxistisch-leninistischer Code für entkolonialisierte Staaten in Afrika, Asien und Latein- Forum Modernes Theater, Bd. 23/ 1 (2008), 29-36. Gunter Narr Verlag Tübingen 30 Jens Richard Giersdorf amerika). Das bedeutete, dass die DDR-Offiziellen Bunsters revolutionäre Leidenschaft naturalisierten, indem sie seine Arbeit auf eine triumphale Vision proletarischen Kampfes in den ehemaligen Kolonialstaaten und eine siegreiche Fortsetzung des proletarischen Klassenkampfes gegen den Imperialismus reduzierten. Mit anderen Worten, die DDR- Regierung essenzialisierte Bunsters choreographische Arbeit zum Tropus der marxistisch-leninistischen Doktrin. Aufgewachsen mit DDR-Ideologie und unter anderem trainiert mit Hilfe von Bunsteretüden in den 80er Jahren bewertete auch ich Bunsters Choreographien als Agitprop-Kunst und als sozialistische Ideologie. Erst später, durch ein besseres Verständnis von Identitätsformationen im Sinne Stuart Halls, als nicht nur Einigkeit vermittelnd, sondern auch als einen Prozess der Differenzierung und Diskontinuität innerhalb gegenwärtiger Identitätskonstruktionen, begann ich Bunsters Karriere als komplexer zu sehen. 1 Meine Ankunft in Santiago überschnitt sich mit der zweiten Retrospektive von Bunsters Choreographien Antalogia II, in welcher fünf Arbeiten, geschaffen von 1969 bis 2005, gezeigt wurden. 2 Alle diese Choreographien entstanden in Chile, mit Ausnahme von A Pesar de Todo, einem Werk, welches Bunster 1975 während seines Exils in der DDR im Auftrag der DDR Regierung unter dem Titel Trotz Alledem - Venceremos choreographiert hatte. Die Choreographie fiktionalisiert Bunsters Erlebnisse während des Pinochet Putsches 1973, eine reale, zutiefst persönliche Erfahrung, welche er allerdings durch eine theatralisierte Vision eines erfolgreichen Aufstandes gegen das faschistische Regime vervollständigte. DDR Kulturfunktionäre priesen die Arbeit als Nachweis dafür, dass die sozialistische Ideologie über nationale Grenzen hinweg verkörpert werden kann und als eine Demonstration der Relevanz und Notwendigkeit der Solidarität mit der chilenischen Arbeiterklasse. Die Wiederaufführung von A Pesar de Todo 2006 erfüllte in Chile einen entschieden anderen Zweck. Zum einen funktionierte Bunsters Choreographie nun als historisches Dokument für die Generation von Chilenen, welche in Chile nach dem Putsch aufwuchsen und durch die bereinigende Geschichtsschreibung in Chile oft nicht mit der Realität des Putsches konfrontiert wurden. Diese Aufführung schrieb damit die Ereignisse des Putsches wieder in die chilenische Geschichte und damit in das öffentliche Gedächtnis ein. Zum anderen gab die Choreographie der Generation, welche den Putsch erlebte, einen Mechanismus, sich noch einmal mit den Ereignissen vom 11. September 1973 zu konfrontieren und eine Möglichkeit, sich - mehr als 20 Jahre nach dem Putsch - zu erinnern. Genau diese Verschiebung von Choreographie als Verkörperung einer ideologischen Utopie in der Uraufführung 1975 in der DDR zur Choreographie als lebendigem Archiv im zeitgenössischen Chile verbindet eine Untersuchung von choreographischen Prinzipien mit einer breiteren politischen Eruierung von Sozialutopien und Identitätsstrukturen im globalen Kontext. Bunsters Karriere, die sich zwischen Chile, Westdeutschland, England und der DDR bewegte, signalisiert daher nicht nur einen Nachvollzug der Migration von Tanzvokabularien, sondern verlangt auch die Erschaffung eines alternativen Verständnisses von Tanz und Globalisierung durch das Verfolgen einer ideologischen Diaspora, in diesem Falle der Bewegung von Ausdruckstanz, beeinflusst von revolutionären und sozialistischen Ideologien. Dieser Artikel baut daher auf Analysen anderer Tanzwissenschaftler auf und ergänzt sie gleichzeitig, wie z.B. Karl Töpfers Untersuchung der Tanzentwicklung der Weimarer Republik, Marion Kants Aufdeckung der Kollaboration von Choreographen mit dem Naziregime, Susan Mannings feministische Sicht auf Ausdruckstanz, oder generell eines US-zentristischen Modernismus im Tanz. 3 Von der Utopie zum Archiv 31 Migrationsbewegungen Wenn wir Körper als das Vehikel verstehen, welches Tanz und Ideologien über Räume und Zeiten bewegt, dann ist es wichtig, die Komplexität von Bunsters internationaler Bewegung zu untersuchen. Während Bunster Ende der 30er Jahre Architektur in Santiago studierte, sah er ein Gastspiel von Kurt Jooss’ Kompanie, die sich während Jooss’ Emigration von Nazideutschland auf einer ihrer Latein-Amerika-Tourneen befand. Inspiriert von Jooss’ Choreographien begann Bunster wenig später bei Ernst Uthoff, Lola Botka und Rudolf Pescht zu trainieren, alles ehemalige Jooss-Tänzer, welche mit Ausbruch des zweiten Weltkrieges nach einem Lehrauftrag in Chile gestrandet waren, da kein Schiff mehr Deutsche an Bord nehmen wollte. Als Uthoff Leiter des von ihm etablierten chilenischen Nationalballetts wurde, folgte Bunster ihm als Solotänzer und trat unter anderem in Jooss’ Klassiker Der Grüne Tisch auf. Jooss selber wurde von 1947 bis 1949 von Uthoff nach Santiago eingeladen, um zu unterrichten und zu choreographieren. Auf solch eine Einladung folgte auch Sigurd Leeder von 1959 bis 1964. Jooss und Leeder führten Rudolf Labans Untersuchungen im Hinblick auf ein praktisches Verständniss von Raum und Bewegungsqualitäten weiter, einen Fokus, den Bunster in seiner eigenen Arbeit weiterdachte. Durch seine Architekturausbildung war Bunster besonders von Jooss’ choreographischer Entwicklung der architektonischen Spannung zwischen Gruppe und Solist beeinflusst, welche sein lebenslanges Interesse an räumlichen Konfigurationen in der Choreographie initiierte. Auch politisch identifizierte Bunster sich mit Jooss und Leeder, die, da sie sich weigerten ihre jüdischen Tänzer zu entlassen und mit dem Naziregime zu kollaborieren, 1933 über Nacht aus Deutschland fliehen mussten. Mit Jooss’ Rückkehr 1949 nach Essen kam auch Bunster nach Westdeutschland, um in der Kompanie zu tanzen. Als während einer England Tournee 1953 die Stadt Essen die Finanzierung strich und sich somit die Kompanie auflösen musste, entschied sich Bunster in London zu bleiben und bei Leeder zu studieren, womit er sein Verständnis der Jooss-Leeder Trainingsmethode und Labans Theorien noch weiter vertiefte. 1954 kehrte Bunster zurück nach Chile und übernahm schließlich die Leitung des chilenischen Nationalballetts, wo er in seinen Choreographien das Ausdruckstanzvokabular mit lateinamerikanischer Folklore und Alltagsbewegung zu verschmelzen begann. 1968 gründete er die erste Tanzabteilung an einer Universität in Chile, in welcher er und seine Kollegen in enger Zusammenarbeit mit Leeder ein Ausbildungskurrikulum entwickelten. Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre arbeitete Bunster mit dem kommunistischen Volkssänger Victor Jara an der Choreographie und Regie von Massentheateraufführungen für die Unidad Popular im Nationalstadium in Santiago de Chile zusammen. Die Unidad Popular war die sozialistische Partei, welche mit Salvador Allende die nationalen Wahlen im November 1970 gewonnen hatte. Auch Bunsters Wissen um die Bewegungschöre der frühen Ausdruckstanztradition erlaubte ihm die erfolgreiche Kreation von Aufführungen mit bis zu 100 000 Teilnehmern, unter anderem Bauarbeitern, Bergarbeitern, Bauern, Studenten, Kindern und sogar Bewohnern der Slums am Rande Santiagos. General Pinochets faschistischer Putsch von 1973 gegen die Unidad Popular-Regierung Allendes unterbrach Bunsters egalitäre Massenchoreographien. Das Nationalstadium, welches die Massenaufführungen beherbergt hatte, war nun als Konzentrationslager missbraucht, in dem Tausende von Zivilisten - des Widerstandes oder des Kommunismus verdächtigt - gefoltert und ermordet wurden. Bunster, der das Regime bereits am Tag des Putsches in der Universität verurteilte, musste noch am gleichen Abend 32 Jens Richard Giersdorf ins Exil gehen. Letztendlich, nach mehreren Stationen in anderen Ländern, fand er - wie viele andere Anhänger Allendes - Asyl in der DDR, welche damit ihre Solidarität mit der chilenischen Linken untermauern wollte. Bunster fand nicht sogleich Zugang zur ostdeutschen Tanzszene und arbeitete am Theater in Rostock. In den 1970er Jahren war die DDR von einer Neuinterpretation des Balletts geprägt. Vor allem Udo Schillings eigene Version des Tanztheaters an der Komischen Oper versuchte durch eine Verschmelzung von choreographischen Prinzipien aus dem Ausdruckstanz mit Ballettvokabular eine sozialistische Version zu schaffen. Die Ausdruckstanztradition als alleinstehende Tanzform war jedoch, mit der Ausnahme der Arbeit Paluccas (einer Schülerin und Zeitgenossin von Mary Wigman) an ihrer Schule in Dresden, fast vollständig verschwunden. Und es war die Palucca Schule, die Bunster schließlich einlud zu unterrichten. 4 Bunster, zu Beginn nur die Jungen unterrichtend, vermittelte seine eigene Interpretation der Ausdruckstanztradition, wie er sie durch seine Arbeit mit Jooss und Leeder als auch im Austausch mit der chilenischen Folklore verstand, aber auch mit einem Glauben an das transformierende Potential von Tanz. Mit dieser leistungsfähigen Kombination von ästhetischen und politischen Prinzipien beeinflusste er eine neue Generation von Tänzern und Choreographen. Utopische Identitäten Bunster choreographierte mit Erfolg Werke wie ….porque tenemos solo una vida (Denn wir haben nur ein Leben, 1984), Leuchten wird mein Schatten (1979), and Trotz Alledem- Venceremos (1975). In Trotz Alledem-Venceremos, wiederaufgeführt in der Retrospektive im Jahre 2006 in Santiago de Chile als A pesar de Todo, arbeitet Bunster mit lateinamerikanischem Folklorematerial und Ausdruckstanzvokabular, um den Putsch darzustellen. Choreographisch ist das Stück aus einer Reihe von Tableau-ähnlichen Formationen aufgebaut, die in einer ständigen Abfolge entstehen und sich wieder auflösen. Die räumliche Spannung zwischen verschiedenen Gruppen sowie der Gruppe und dem Solisten erinnert an ähnliche choreographische Untersuchungen im Ausdruckstanz. In der Anfangsszene tanzen Tänzerinnen und Tänzer zelebrierend im Kreis um einen Solisten, der ein großes rotes Tuch manipuliert, welches zuerst als ein Poncho benutzt wird, später als eine Fahne und dann als ein Totentuch. Gekleidet in simple, ländliche Kostüme (die Frauen in Röcken, Tücher schwenkend und die Männer mit Kniebundhosen und einfachen kragenlosen Hemden), springen und drehen sich die Tänzer um die zentrale Figur herum, um danach mehrfach in einer Keilformation direkt auf das Publikum zuzumarschieren. Victor Jaras rhythmisch treibende Musik wird von einer Peruanischen Flöte dominiert und verleiht dem Stück eine volkstümliche, lateinamerikanische Atmosphäre. Schließlich wird die nunmehr getragene und melancholische Musik von Schüssen und Sirenen überlagert, während die Tänzer verschiedene Tableaus bilden und auflösen, die Gewalt, Trauer und Widerstand durch eine durchdachte Wiederverwendung von Material aus den Anfangszene darstellen. Erhobene Arme mit offenen Händen werden zu gestreckten Fäusten, folkloristisch abgerundete Armpositionen werden zu Pietaähnlichen Haltungen und der Poncho wird zur Flagge, die im Widerstand geschwungen wird. Die Ausschreitungen kulminieren letztendlich im Tod des Protagonisten, der von drei Frauen und einem Mann in einer Trauerprozession aufgebahrt wird; die Fahne wird zum Totentuch. Aus der Prozession heraus entsteht ein Aufbegehren gegen die Unterdrücker, für dessen erfolgreiches Ende die Tänzer in einer Reihe direkt auf das Publikum zum Bühnenrand marschieren. Eine der Von der Utopie zum Archiv 33 drei Frauen nimmt das Totentuch auf, um es nun wieder als Poncho zu tragen. DDR-Kulturfunktionäre feierten die Choreographie mit ihren erhobenen Fäusten, strengen Gruppenformationen und dem utopischen Duktus als eine Affirmation eines proletarischen Aufstandes, der zu einem neuen sozialistischen Lateinamerika im marxschen Sinne führt. Auch für Bunster war der Zusammenhang zwischen Tanz und sozialen Veränderungen in Lateinamerika wichtig. Allerdings hatte er eine andere Vorstellung von dem Verhältnis von Tanz und Politik. In seinem Manifest-ähnlichen Essay “Perspektiven des Amerikanischen Balletts” von 1961 machte Bunster auf das -wie er meinte - Verschwinden einer lateinamerikanischen Identität durch die allzu bereitwillige Akzeptanz der Einflüsse von unterschiedlichen dominierenden Kultursphären aufmerksam und verlangte eine Besinnung auf einheimische kulturelle Identität. 5 Er bezeichnete diesen Kampf als eine Wiederentdeckung der kulturellen Reichtümer und schrieb der Choreographie eine Hauptrolle darin zu. Für Bunster war Choreographie nicht nur eine Kreation und Organisation von Bewegungsvokabular in Raum und Zeit. Er glaubte, dass Choreographie nicht nur sozialen Aufschwung unterstützen, sondern auch potentielle Wege in eine bessere Zukunft weisen könne. Diese Funktion von Choreographie verlangt eine Untersuchung existierenden Bewegungsmaterials auf dessen Werte und Eignung für eine revolutionäre Umstrukturierung der Gesellschaft. Am wichtigsten bewertete Bunster jedoch das Studium von Alltagsbewegung als mögliches Ausdrucksmittel und als Rohmaterial für revolutionäre choreographische Strukturen. 6 Beeinflusst von Labans, Jooss’ und Leeders Arbeiten, sprach sich Bunster für die Beobachtung und Benutzung von Bewegungen aus manueller Arbeit, Freizeit, täglichen Ritualen, Natur und der Struktur von Architektur aus. Seiner Meinung nach tragen alle diese Bewegungsreservoire Spuren zukünftiger Choreographien für die Schaffung transnationaler, lateinamerikanischer und utopischer Identitäten in sich. Es ist die Aufgabe des Choreographen, diese Spuren aufzufinden, deren revolutionäres Potential freizulegen (indem er sie in wirksame Choreographien strukturiert) und damit den Weg in eine neue Gesellschaft zu zeigen. Ernst Bloch, einer der bedeutendsten Theoretiker von Utopie, determiniert die Gegenwart ebenfalls als hoffnungstragend und damit das Potential der Erfüllung enthaltend. 7 Während der Marxismus das Klassenbewusstsein als die treibende Kraft hin zur klassenlosen Gesellschaft definiert, sieht Bloch Potential und Hoffnung in allen Erscheinungen der Gegenwart. Durch seine philosophische Evaluierung von Sein als Noch-Nicht- Erfüllung, erlaubt Bloch eine Neubewertung von artistischer Produktion im Dienste des sozialen Fortschritts, da jede dieser Produktionen bereits die Möglichkeit einer eventuellen Verwirklichung einer erfüllten Zukunft enthält. Sowohl Bloch als auch Bunster sehen daher die Möglichkeit des Fortschritts bereits in Erscheinungen der Gegenwart, jedoch betonen beide auch die Notwendigkeit von Restrukturierung und Entwicklung. Bloch postuliert das Potential der Gegenwart nicht einfach in der Zukunft erfüllt, sondern sieht Hoffnung als eine treibende Kraft, die die derzeitigen sozialen Systeme radikal umstrukturiert. Bunster spricht sich in vergleichbarer Weise gegen eine simple Nutzung von gegenwärtigem Bewegungsvokabular und aktueller Bewegungstechnik aus und fordert das Freilegen der Essenzen dieser Bewegungen, welches nicht nur neue choreographische Lösungen schafft, sondern auch für diesen Prozess verlangt. Bloch schreibt Kunst einen bedeutenden Platz in der Umstrukturierung der sozialen Gegenwart zu, da Kunst (Tanz und Choreographie sind darin eingeschlossen) sowohl durch Inhalt als auch Form im Alltag wirksam wird. 34 Jens Richard Giersdorf Von der Repräsentation zum lebendigen Körperarchiv Solch ein Verständnis von Tanz und Choreographie ist natürlich nicht einzigartig. Delsarte und Laban hatten bereits Körperpotentiale untersucht, um konstruktive Möglichkeiten in Kunst und Alltag zu finden. Bunsters Lehrer Jooss und Leeder entwickelten ein Trainingssystem, welches den Tänzer für diese komplexe Aufgabe vorbereitet. Sie legten vor allem einen hohen Wert auf das Ausdruckspotential von Tanz und lehnten rein ästhetische Projekte ab. Wie bereits gesagt, glaubte Bunster, dass es nötig sei, die Essenz des Gegenwärtigen im Bewegungs- und Trainingsmaterial zu finden, um das Potential für neue choreographische Lösungen zu schaffen. Jedoch, wo Bunster dieses Potential in allen sozialen Strukturen sah, ein Potential welches freigelegt, choreographiert und im Dialog mit dem Publikum kommuniziert werden musste, fanden die DDR Kulturfunktionäre nur eine direkte Repräsentation des Klassenkampfes in den sogenannten jungen Nationalstaaten, welche eine der drei revolutionären Kräfte in der marxistischleninistischen Ideologie darstellten. Auch ich teilte dieses marxistische Verständnis, als ich Trotz Alledem - Venceremos zum ersten Mal 1985 sah. A Pesar de Todo in Chile zu erleben forcierte mich, meine erste Rezeption zu überdenken. Im März 2006 hatte Chile Michelle Bachelet zur neuen Präsidentin gewählt, eine Frau, welche vom Pinochet Regime eingesperrt und gefoltert worden war und die auch als Exilantin in der DDR gelebt hatte. Unter den vielen von Bachelet initiierten Reformen war auch eine Aufhebung der Immunität für Verbrechen aus der Pinochet Ära, die ehemaligen Mitgliedern der Pinochet Regierung seit fast 30 Jahren ein Leben unbehelligt von jeder Anklage wegen Mordes oder Folter ermöglichte. Trotz solcher weitreichenden Initiativen ist Chile nicht vereint in einer Re-Evaluierung der Verbrechen des Pinochet Regimes. Die oberen Schichten der Gesellschaft hatten die Immunität unterstützt und bekämpften eine progressive Revision der jüngsten chilenischen Geschichte. Die Wiederaufführung von Bunsters Choreographie kam somit zu einem wichtigen Zeitpunkt, da sie eine eigene Stimme in den ausbrechenden nationalen Dialog einwarf. Zur Zeit der Uraufführung im Jahr 1975 repräsentierte die Choreographie den Putsch und seine verheerenden Auswirkungen, entwarf allerdings auch eine erfolgreiches Aufbegehren und inszenierte damit eine utopische Vision einer vereinten und freien Welt. Die Wiederaufführung 2006 zeigte eine Version von Geschichte, wie sie von Chilenen gelebt wurde und lieferte damit einen Beitrag zu einem lebendigen nationalen Archiv durch die korporeale Auseinandersetzung mit Geschichte. Im Gegensatz zu Performance Studies Professor Diana Taylor, welche einen Unterschied zwischen einem aufführbaren Repertoire auf der einen Seite und einem Archiv im eher klassischen Sinne als materielle und evidentielle Spuren von Aufführungen auf der anderen Seite etabliert, möchte ich das Verständnis von Archiv erweitern, indem ich die wiederholte korporeale Auseinandersetzung mit Tradition, Geschichte und Gegenwart einbeziehe. 8 Solch ein Verständnis von Performance als Archiv lehnt sich an Joseph Roachs klassische Untersuchung von kulturellem Gedächtnis als inszeniert und Inge Baxmanns Definition von Körpern als Gedächtnisorten an. In seinem preisgekrönten Buch Cities of the Dead befähigt Roach Performance im Zusammenspiel mit oraler Geschichtsschreibung und historischem Schriftgut durch komplexe kulturelle Praxen der Surrogation, Wiedererfindung und transnationale Zirkulation kontinuierlich Geschichte und mit ihr gegenwärtige Strukturen umzugestalten. 9 Baxmann geht einen Schritt weiter durch die explizite Definition von Körperlichkeit und Bewegung als Archivierungs- Von der Utopie zum Archiv 35 prozessen. Solch ein Verständnis verleiht Körperlichkeit nicht nur das Potential Gesellschaft umzustrukturieren und gemeinschaftliche Utopien zu schaffen, Baxmanns Definition etabliert Korporealität als den Ort dieser Umstrukturierungen und Imaginationen. 10 Diese beiden theoretischen Zugänge zu Performance und Verkörperlichung als Archiv teilen eine Ausrichtung auf das Vergangene mit einer gleichzeitigen Betonung des Gegenwärtigen und damit der Kapazität, jetzige Strukturen zu beeinflussen und sogar utopische Visionen aufzuführen. Für Bunster war die Aufführung seiner 30 Jahre alten Choreographie immer noch notwendig - nicht nur für eine Generation, die unter dem Pinochet Regime lebte und nun mit den Nachwirkungen kämpfte, sondern auch für eine Generation, welche den Putsch nicht selbst erlebte. Die Aufführung, die ich besuchte, gab Bunsters Überzeugung Recht. Das Publikum sprang von den Sitzen auf und kommentierte wortreich die Aktionen auf der Bühne, als wären sie Teil der aufgeführten Geschichte. Der passionierte Beifall am Ende stellte mehr als nur eine positive Reaktion auf die Choreographie dar, es war eine Zelebration des Sieges, der auf der Bühne dargestellt wurde. Der fast kathartische Einfluss auf das Publikum erhob die Choreographie jenseits einer simplen Darstellung einer unerreichbaren Utopie zu einem greifbaren lebendigen Archiv, welches Tanz und Choreographie nicht nur als reflektive und imaginäre Medien befähigt, sondern auch als Strukturen, welche Realität transformieren können. Addendum Nach der Aufführung und meinem Interview mit Bunster flog ich zurück von Chile nach Hause nach New York. Ich finde es immer wieder überraschend, dass ich als ein ehemaliger DDR Bürger - jahrelang umgeben von einer fast unüberwindbaren Grenze - mich nun so frei bewegen kann. Dieses Privileg des sich Frei-Bewegens, in der westlichen Welt als Normalität konstruiert, wird durch einen Terroranschlag wie den am Flughafen Heathrow in London komplett in Frage gestellt. Solche Infragestellungen legen nicht nur die privilegierte Mobilität, sondern auch die Bewegung ermöglichende globale Demokratie als ein Konstrukt bloß. Dieses dominierende Konstrukt gibt sich als nicht-ideologisch, da es als die Norm definiert wird, gegen welche andere marginalere Sozialutopien - seien sie regional, religiös oder national - gemessen werden. 11 Durch Terrorakte oder nationalistische Aufstände ist solche globale Normalität allerdings wesentlich gestört und wird eindeutig als ideologisch enttarnt. Diese Störungen werden daher immer als negativ und anti-progressiv durch die globale Demokratie charakterisiert. Auch eine Choreographie, wie die von Bunster, könnte wegen ihrer eindeutig ideologischen und nationalen Funktion von unserem westlich dominierten Verständnis von Demokratie und sozialer Entwicklung als nicht progressiv gesehen werden. Wenn man sie allerdings im Kontext einer Historisierung von Migration von Bewegungsvokabular über nationale Grenzen hinweg analysiert, Grenzen, welche nicht immer in unserer ökonomisch definierten Globalisierung wahrgenommen werden, da sie entweder an der Peripherie liegen (Chile) oder nicht mehr existieren (DDR) - wird die globale Demokratie gezwungen, sich zu diesen regionalen Territorien ins Verhältnis zu setzen. Unausweichlich wird dadurch globale Demokratie als ideologisch offenbart. 12 Oder wie Lisa Lowe für kulturelle Produktionen in der Migration postuliert: Sie stellen nicht metophorisch das Erlebnis von Immigranten dar, sondern finden in den lokalen Widersprüchen der Immigration zum einen die kritische Intervention in das nationale Paradigma genau dort, wo sich dieses mit internationalen Strukturen überschneidet 36 Jens Richard Giersdorf und zum anderen den theoretischen Nexus, der die globale Ökonomie vom Standpunkt des Lokalen anficht. 13 Der transnationale Wert einer Re-Evaluation von Bunsters choreographischer Arbeit liegt genau in dieser doppelten Intervention seines Lebenswerkes. Anmerkungen 1 Vgl. Stuart Hall, “Cultural Identity and Diaspora”, in: Williams, Patrick, Laura Chrisman (Edd.), Colonial Discourse and Postcolonial Theory: A Reader, New York 1994, pp. 392-402. 2 Antalogia I wurde im Jahr zuvor aufgeführt. 3 Vgl. Töpfer, Karl, Empire of Ecstasy, Berkeley 1997; Karina, Lilian & Marion Kant, Hitler’s Dancers, London 2004; Manning, Susan, Ecstasy and the Demon, Minneapolis 2006; Gitelman, Claudia, Liebe Hanya, Madison 2003, Partsch-Bergsohn, Isa, Modern Dance in Germany and the United States: Crosscurrents and Influences, Newark 1994. 4 Es ist nicht ganz klar, wieviel Druck auf Palucca ausgeübt wurde, um Bunster an ihrer Schule zu akzeptieren und damit eine weitaus analytischere und politische Interpretation des Ausdruckstanzes zuzulassen. 5 Kühl, Edith, Patricio Bunster: Wege - Begegnungen, Berlin 1989, S. 33. 6 Ibid. S. 35. 7 Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, Franfurt am Main 1993. 8 Vgl. Diana Taylor, The Archive and the Repertoire, Durham 2005. 9 Vgl. Joseph Roach, Cities of the Dead, New York 1996. 10 Inge Baxmann, “Der Körper als Gedächtnisort.” In: Baxmann, Inge und Franz Anton Cramer (Edd.), Deutungsräume, München 2005, S. 15-35. 11 Ich denke hier Althussers Weiterenwicklung der Marxschen Staatstheorie weiter, in der er die Notwendigkeit des ideologischen Staatsapparates, sich in die Privatsphären auszubreiten und damit zu normalisieren und scheinbar entideologisieren, beschreibt. Althusser, Louis, Lenin and Philosophy and other Essays, New York 1971, pp. 143-145. 12 Ich versuche mit dieser sehr generellen Aussage zu vermeiden, dass über eine Untersuchung des Spezifischen in Bunsters Choreographie der generelle politische Wert dieser Analyse verloren geht. Wie Ahkil Gupta und James Ferguson warnen besteht nämlich die Versuchung verstreute Beispiele von kulturellem Strömungen, die von den Peripherien in die Zentren der Kulturindustrie fliessen, zu benutzen ohne den totalisierenden Effekt des globalen Imperialismus zu verstehen und damit die politischen Probleme, die mit der westlichen Hegemonie einhergehen zu verdrängen. Vgl. Desai Jigna, Beyond Bollywood: The Cultural Politics of South Asian Diasporic Film, New York 2004, p. 7. 13 Lowe, Lisa, Immigrant Acts: On Asian American Cultural Politics, Raleigh 1996, p. 35. (Meine Übersetzung.)